Kapitel 1: Lauren
Wir hatten uns erst daran gewöhnen müssen – an die Stille, die unser Haus umgab. Nach monatelangen Renovierungen war es jetzt fertig. Mein Mann und ich liebten unser Vorstadthaus im Kolonialstil in Alexandria, Virginia. Wir hatten sichergestellt, dass die Restaurierung seine ursprüngliche Schönheit wiederherstellen würde, mit ein paar modernen Annehmlichkeiten obendrauf.
Als ich gerade meinen Übermantel auf den Rücksitz des Autos legen wollte, wünschte ich mir, ich hätte an diesem kalten Wintertag eine Hose statt eines Kleides getragen. Ich schaute zum Haus zurück und bewunderte es einen Augenblick lang. Die leuchtend weiße Verkleidung. Die mattschwarzen Fensterläden und Türen. Restaurierte Ziegelstufen führten von der Veranda, die das ganze Haus umgab, zum Gehweg.
»Noah, los gehts, mein Kleiner.« Mein vierjähriger Sohn war wieder hineingegangen, da er sein Lieblingsstofftier vergessen hatte. »Wir kommen noch zu spät zur Schule.«
Er kam zur Haustür herausgestürmt und schloss diese hinter sich. Ich ging auf sie zu, um das Schloss zu verriegeln. Als ich nach dem Griff langte, sackten meine Schultern nach unten, da mir einfiel, dass ich das Bauunternehmen wegen der Alarmanlage hätte anrufen sollen. Da fiel mir Noahs Rucksack auf. »Wie viel hast du da reingesteckt?«
Er schaute ihn sich über seine Schulter hinweg an. »Ich habe Dino mitgenommen.«
Dino war sein Stoff-T-Rex. Er war eine braune und hellbraune, leicht zornigere Version von Rex aus Toy Story, doch er war Noahs liebstes Spielzeug, seit sein Vater ihn nach einer Arbeitsreise vergangenen Monat mitgebracht hatte. Jacob verbrachte viel Zeit bei der Arbeit und auf Reisen, und wenn er unserem Sohn dann Kleinigkeiten mit nach Hause brachte, würde ich ihm nicht verbieten, eine davon in die Vorschule mitzunehmen.
»Okay, schon gut. Steig ins Auto und schnall dich an.« Ich ging zu meinem Lincoln Navigator zurück und setzte mich ans Steuer. Die beheizten, geschmeidigen, hellbraunen Ledersitze wärmten mir den Hintern. Es war Februar geworden und es hatte kürzlich geschneit. Nichts Unerwartetes, aber genug, dass die Straßen zur Herausforderung wurden. Selbst unsere Einfahrt war vereist.
Ich schaute zurück zu Noah und vergewisserte mich, dass der Gurt an seinem Kindersitz richtig hielt. »Fertig?«
Er wischte sich ein paar Strähnen seiner lockigen blonden Haare aus dem Gesicht. »Fertig, Mommy.«
Wir fuhren durch unsere Nachbarschaft, wo das Dach eines jeden Hauses mit einer weißen Decke bestreut war. Autos erwärmten sich auf den Einfahrten und stießen weiße Rauchwölkchen aus ihren Auspuffen. Die Sonne schaute gerade hinter dem Horizont hervor und ihre Strahlen brachten den schmelzenden Schnee zum Glänzen. Solche Momente machten mich glücklich – aus den mondänen Routinen des Lebens Wohlbefinden zu schöpfen. Und mein Leben war im wahrsten Sinne des Wortes mondän.
»Noah, willst du heute Abend einen Schneemann bauen, wenn noch genug Schnee da ist?« Seine Fantasie war schon immer so lebhaft und rein gewesen. Ich tat, was ich konnte, um sie zu fördern.
Er strahlte förmlich. »Wirklich, Mommy?«
»Natürlich.« Ich schaute ihn über den Rückspiegel an. »Wir bauen den größten Schneemann aller Zeiten!«
Noah klatschte in die Hände und sein Lachen erfüllte das Auto.
Seine Vorschule war nur einige Minuten von unserem Haus entfernt, doch jeder Augenblick, den ich mit Noah verbringen konnte, kam mir wertvoll vor. Wir redeten über den bevorstehenden Tag, seine Freunde und woran er in der Schule gerade arbeitete.
Als wir ankamen, stellte ich den Motor ab, streckte mich Noah entgegen und drückte ihm ermutigend das Knie. »Ich wünsche dir einen fantastischen Schultag, Kleiner.«
Noah strahlte mich an und streckte seine kleine Hand aus, um mir meine ebenfalls sanft zu drücken. »Danke, Mommy.«
Ich nickte einem der Lehrer zu, der Noah vom Rücksitz zum Schulgebäude begleitete. Als sie ihn an der Hand nahm und hineinführte, fühlte ich mich ein wenig schuldig. Es war natürlich zu erwarten, doch ich hatte mich entschieden, in die Arbeitswelt zurückzukehren, wo mein nächster Zielort lag. Buchhaltung gehörte nicht zu den Dingen, mit denen ich schon immer meinen Lebensunterhalt hatte verdienen wollen. Ich war nicht eines Tages aufgewacht und hatte mir gedacht: Hey, ich würde am liebsten den ganzen Tag auf Zahlen starren und mir überlegen, unter welche Kennzahl sie gehören. Nun war ich da aber, die hauseigene Buchhalterin der Anwaltskanzlei Ackerman and James. Ich hatte Finanzwirtschaft studiert. Ich hatte mir einen Job an der Wall Street erwartet, aber Pläne änderten sich.
Ich hatte hier bei A&J ein Praktikum gemacht und so auch meinen Mann, Jacob, kennengelernt. Wir hatten nicht lange, nachdem ich das College abgeschlossen hatte, geheiratet. Kurz darauf wurde ich schwanger. Jacob war fast sechs Jahre älter als ich und nunmehr ein erfolgreicher Anwalt bei einer anderen Kanzlei, wodurch meine Karriere so gut wie jeden Sinn verlor. Ich hatte jedoch immer arbeiten wollen. Jedem das Seine. So sah es Jacob, strebte aber auch immer nach etwas Größerem und Besserem.
Ich stieg aus meinem SUV, drückte auf den Absperrknopf und ging auf den Eingang zu. Nun schien die Sonne hell und ihr Licht spiegelte sich auf dem eisigen Bürgersteig wider. Ich deckte meine Augen ab und schaute an dem Gebäude hoch. Es stand gerade außerhalb der Innenstadt, war drei Stockwerke hoch und hatte eine Glasfassade mit modernen Akzenten. Es passte nicht zum Herzen der Innenstadt von Alexandria, wo die Ziegelhäuser und die Architektur von einer anderen Zeit sprachen.
Wir waren eine mittelgroße Kanzlei und auf Familienrecht spezialisiert. Scheidungen gehörten zu unseren häufigsten Fällen, aber auch testamentarische, sorgerechtliche und ehevertragliche Angelegenheiten. Nicht dass ich damit zu tun hatte. Meine Aufgabe bestand darin, die abrechenbaren Stunden zusammenzuzählen und Rechnungen zu versenden. Ziemlich simpel. Ziemlich mondän.
Klingelnde Telefone und Gespräche erweckten das Büro zum Leben. Die Rezeptionistin, eine nur etwas jüngere Frau, hob einen Stapel Rechnungen hoch. Mit einem freudigen Blick begann sie: »Guten Morgen, Lauren. Ich habe die neuesten Posten für dich.«
»Na danke«, antwortete ich mit einem Glucksen. »Sieht nach einem weiteren spaßigen Tag bei A&J aus.«
»Das sollte man in unserer Werbung singen«, erwiderte sie.
»Ich werde es bei unserer nächsten Finanzbesprechung vorschlagen.« Ich betrat den Aufzug und fuhr mit Armen voller Papier in den ersten Stock. Mein Büro lag am anderen Ende des Hauptganges, wo sich auch der Rest der Finanzabteilung befand. Die Teilhaber befanden sich im obersten Stock, während die Mitarbeiter ganz unten waren. Sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn.
Ich ließ den Stapel auf meinen Tisch fallen und zog die Jalousien am Fenster hinter mir auf. Die Strahlen der Sonne streiften über meinen Eichenschreibtisch und beleuchteten die Staubteilchen, die darüber schwebten.
Ich fing gleich mit meiner Routine an, gab methodisch Daten ein und beglich unsere Konten. Der stete Arbeitsablauf war beinahe beruhigend, doch dann rüttelte mich ein Klopfen an meiner Tür auf. Ich schaute auf und sah Tammy, meine Zahlendreherkollegin. Ich liebte sie. Sie war älter als ich – Anfang vierzig – und ich spürte eine Art Mutter-Tochter-Verhältnis zwischen uns. Vielleicht weil ich keine Mutter mehr hatte. Ich hatte sie nicht mehr gesehen, seit ich siebzehn gewesen war.
Sie hatte mir meine letzten zwanzig Dollar gestohlen und das war für mich der letzte Tropfen im Fass gewesen. Ein Leben lang gaunern, am Rande der Gesellschaft existieren und kaum über die Runden kommen. Davon hatte ich genug gehabt. Ich würde unter keinen Umständen wie sie werden.
»Hey, Tammy. Was geht?«, fragte ich.
Tammy kam herein, ihre kurzen, lockigen roten Haare lagen sauber hinter ihren Ohren. Sie war groß, schlank, aber ein wenig tollpatschig, was sie mit ihrer warmen Persönlichkeit vollkommen ausglich.
»Ich will die Fotos sehen. Jetzt ist alles fertig, oder?«
Ich hob stolz mein Kinn. »Ja, das ist es tatsächlich. Setz dich.« Ich nahm mein Handy und wischte zu den Fotos. »Schau’s dir an. Die haben das ganz toll gemacht.«
Während Tammy sich die Fotos ansah, hörte ich, wie Räder über die Fliesen auf dem Flur rollten. Meine Tür stand offen und ich schaute auf und sah einen Mann, der einen Reinigungswagen schob. Er schien um die vierzig zu sein, doch ich erkannte ihn nicht. Ich lächelte und er lächelte zurück.
Als er außer Sichtweite war, lehnte ich mich über meinen Tisch. »Wer war das denn?«
Tammy wandte sich ruckartig um. »Wer?«
»Der mit dem Reinigungswagen«, antwortete ich.
»Ach, das ist Gary. Aus der Hausmeisterei. Gerade erst angestellt, glaube ich. Er bereitet sich wohl auf den Feierabend vor.« Sie schaute auf ihre Uhr. »Ja, er macht die Nachtschicht. Netter Kerl, was ich so gesehen habe.«
Tammy kannte jeden im Gebäude und wusste alles, was vor sich ging, also wunderte es mich nicht, dass sie auch diesmal Bescheid wusste. »Ich werde mich vorstellen müssen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe.« Ich schaute mit einem erwartungsvollen Lächeln zu ihr zurück. »Na, was meinst du?«
Sie gab mir mein Handy zurück. »Es ist wunderschön, Lauren. Wirklich schön. Was hält Jacob davon?«
Ich zuckte mit einer Schulter. »Es gefällt ihm ganz gut. Er ist ja nicht oft zu Hause.«
Tammy drückte sich mit ihrem Stuhl ab. »Das ist der Preis dafür, wenn man mit einem erfolgreichen Anwalt verheiratet ist. Hey, sehe ich dich beim Mittagessen?«
Ich legte mein Handy hin. »Aber sicher.«
***
Wir hatten großes Glück mit unserer wunderbaren Nachbarin, die sich nach der Vorschule um Noah kümmerte. Nancy, eine ältere Witwe ohne eigene Kinder, passte bei uns zu Hause auf ihn auf, bis ich von der Arbeit kam.
Nachdem ich sie erst vor ein paar Minuten zur Tür begleitet hatte, schien mir die Kälte von draußen direkt in die Knochen zu fahren. Da unser Kamin wieder betriebsbereit war, legte ich den Schalter um und die Gasflamme entzündete sich. Noch etwas Kleines, das mir Freude bereitete.
Noah war in sein Spielzimmer hinaufgegangen, einen kleinen Dachraum gleich neben dem Treppenabsatz. Der Boden des Raumes war voller Legosteine. Wer das Spielzimmer betrat, der war für sich selbst verantwortlich, denn in dem flauschigen Teppichboden versteckten sich willkürlich Legoteile, die nur auf einen zarten Fuß warteten, den sie aufspießen konnten.
Ich hatte meine hochhackigen Schuhe ausgezogen, tappte mit Strumpffüßen in die Küche und hatte immer noch meine Arbeitskleidung an. Hier war ich im ganzen Haus am allerliebsten. Ich hatte jedes Gerät, jedes Küchenfach, jede Farbe ausgewählt. Die Arbeiter hatten es ganz toll gemacht. Hohe, blaugraue Schränke mit Glaseinlagen. Ein Herd mit sechs Platten, Topffüller und verstellbarer Haube. Eine enorme Insel mit Quarztresen und Rundumverkleidung. Manchmal konnte ich nicht glauben, dass dies dasselbe Haus war oder dass ich hier wohnte.
Jacob hatte mich zweifelsohne aus meinem alten Leben herausgerissen. Er war groß und gut aussehend und ich – seien wir mal ehrlich – naiv. Kaum aus dem College. Jacob war älter als ich. Er war nun vierunddreißig, doch erst Ende zwanzig, als wir uns getroffen hatten und er ein aufsteigender Stern in seiner Kanzlei gewesen war. Ich hatte mich beinahe auf den ersten Blick in ihn verliebt.
Nach meinem Praktikum war ich zuerst als Hilfsbuchhalterin angestellt worden, doch als die Jahre vergingen, wurde ich befördert. Manchmal dachte ich, dass ich nur befördert worden war, um Jacob von dem unglaublichen Angebot bei der anderen Kanzlei abzuhalten. Er hatte es trotzdem angenommen und nun wusste ich nicht mehr, ob ich jemals aus eigenem Verdienst wieder befördert werden würde.
Es stand fest, dass ich nur wegen Jacob hatte, was ich besaß. Mit meinem Job hätte ich mir unser wunderschönes Zuhause nie leisten können. Und dieser Gedanke kam mir gerade, als ich das Öffnen des Garagentors hörte.
Jacob kam durch den Eingangsbereich aus der Garage in die Küche. Er hatte seinen Aktenkoffer in der Hand und trug einen teuren kohlegrauen Anzug. Seine Krawatte war offen und er trug sie lose um den Hals, wie ein Arzt ein Stethoskop trägt. »Hey, Schatz. Du bist früh zu Hause.« Ich ging auf ihn zu und stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Lippen zu küssen. Er hatte getrunken und der Geruch von Whiskey lag noch in seinem Atem.
»Hey, Süße. Wo ist Noah?«, fragte Jacob.
»Im Dachraum. Ich wollte gerade Abendessen machen. Wusste ja nicht, dass du so früh nach Hause kommst.« Ich ging zum Kühlschrank. »Gib mir vierzig Minuten und alles ist fertig.«
»Keine Eile«, meinte er. »Ich muss ein paar E-Mails beantworten.«
»Okay, Schatz.« Ich brachte ein Lächeln mit geschlossenen Lippen zustande, bevor ich den Kopf in den Kühlschrank steckte. Jacob musste es bei der Arbeit schwer gehabt haben, wenn sein Atem nach Alkohol roch. Und dazu noch die leichte Wolke blumigen Parfüms an seinem Kragen, das ganz sicher nicht meines war.
Kapitel 2: Jacob
Als ich mein Zimmer betrat, ließ ich als Erstes meinen Koffer auf meinen Schreibtisch und danach mich selbst in meinen Sessel fallen. Ich lehnte mich zurück, streckte die Beine von mir und atmete aus. Dies war das einzige Zimmer im Haus, das von den Umbauarbeiten ausgeschlossen worden war. Das würde auch so bleiben. Ich liebte meinen Unterschlupf. Die Bücherregale aus Kirschholz. Meine College-Diplome, die hinter meinem Schreibtisch an der Wand hingen. Es war meine Zuflucht. Mein Heiligtum.
Lauren verstand ja nicht, wie schwer ich arbeitete. Wie viel Stress es bedeutete, an einer mörderischen Kanzlei wie meiner beteiligt zu sein. Hatte sie Maddys Parfüm bemerkt?
Ich hob mein Revers an und roch daran. »Verdammt.« Ja, sie hatte es gerochen. Nun stellte sich die Frage, ob sie etwas sagen würde. Noch hatte sie das nicht. Lauren war eine schöne Frau. Lange, wellige brünette Haare, eine schöne Figur. Sie konnte gut mit Zahlen umgehen und besaß einen rasiermesserscharfen Verstand. Warum machte ich also mit einer Anwaltsassistentin rum? Weil ich ein Arschloch bin.
Das Arschloch, das hundert Riesen dafür hingelegt hatte, dass das Haus renoviert wurde. Dachte Lauren überhaupt daran – wie viel mich der ganze Scheiß gekostet hatte? Was ich alles hatte tun müssen, um ihr dieses Leben zu bieten.
Manchmal war es viel einfacher, im Büro zu bleiben, aber wenn ich mir nicht dann und wann die Mühe machte, zum Abendessen nach Hause zu kommen, machte ich mir damit nur selbst Schwierigkeiten. Ich liebte Lauren tatsächlich. Ich liebte unseren Sohn. Aber aus irgendeinem Grund … genügte es nicht.
»Scheiß drauf.« Ich schnappte mir meinen Laptop und machte mich wieder an die Arbeit. Während ich die fünfzehn E-Mails überflog, die seit Feierabend eingetroffen waren, erschien eine Benachrichtigung an meinem oberen Bildschirmrand. Sie kam über eine sichere Nachrichten-App, zu der man nur mit meinen biometrischen Daten Zugang bekam, und verlangte nach meiner sofortigen Aufmerksamkeit. Ich legte meinen Daumen auf den Scanner und die Nachricht öffnete sich.
Es sind jetzt zwei Tage vergangen. Die Zahlung ist überfällig. Wenn wir Ende der Woche nicht haben, was uns zusteht, hörst du wieder von uns. Und wir werden nicht diskret sein.
Die Worte waren kalt, unpersönlich und enthielten eine implizite Drohung, die ich mittlerweile von diesen Leuten erwartete.
»Abendessen.«
Ich hörte Laurens Stimme vom Ende des Flurs, dann das Tappen von Schritten auf der Treppe. Noah. Ich hatte ihm noch nicht einmal Hallo gesagt. Ich machte meinen Laptop zu und verließ mein Zimmer. Noahs Stimme rief seiner Mutter eine Antwort zu. »Komme schon, Mommy!«
Ich kam in den Flur und ging in die Küche. »Da ist ja mein Junge!«
Noah drehte sich um und lächelte. Ein großes, breites, wunderschönes Lächeln. »Daddy!«
Ich streckte meine Arme aus und wartete, dass er hineinsprang, und als er es tat, hob ich ihn ganz hoch.
»Pass auf die Decke auf, Jake«, sagte Lauren.
»Ach, das geht schon … Oder etwa nicht, Kumpel?«
Noah lachte, als ich ihn wieder runterließ und ihn an meine Brust zog. »Wie war dein Tag, Kleiner?«
»Gut. Wir haben Nudelherzen gemacht.«
»Nudelherzen?«, fragte ich und schaute Lauren mit gehobener Augenbraue an. Sie zuckte zur Antwort mit den Schultern. »Warum bringst du’s nicht her und zeigst’s mir?« Ich setzte ihn wieder ab und er rannte davon.
»Es hätte auch bis nach dem Essen warten können«, fügte Lauren hinzu und sah leicht beunruhigt aus.
Ich wimmelte die Bemerkung ab und ging auf sie zu. »Das passt schon. Das Essen läuft nicht weg.« Und als ich sie in meine Arme zog, fühlte ich im Gegenzug ein leichtes Zucken. Eine Spannung auf meine Berührung hin.
»Tut mir leid.« Ich küsste sie auf die Wange, ließ sie los und ignorierte ihre Reaktion. »Essen wir, ja?«
Wir setzten uns an den kleinen Küchentisch für vier, der am Erkerfenster untergebracht war. Unser förmliches Esszimmer war riesig, hatte einen eleganten Tisch für zwölf und kam nur an Feiertagen in Gebrauch.
Noah zeigte mir aufgeregt seine Nudelherz-Kreation. Lauren richtete das Grillhähnchen an, das sie zubereitet hatte. Ihr Lächeln war angespannt. Ich schaute zu, wie sie sich durch die Küche bewegte; ihre Grazie und Eleganz zogen mich immer wieder in ihren Bann.
»Und dann haben wir Plumpsack gespielt und dann wars Zeit fürs Nickerchen …«
Noah quasselte über seinen Schultag und seine Freude erfüllte den Raum. Ich hörte zu, hörte seit einer Weile wirklich mal wieder zu. Sein Lachen war ansteckend.
Wir aßen größtenteils in Stille. Unser Sohn sagte ein paar Worte, während er in seinem Gemüse herumstocherte. Ich aß meinen Teller leer. Lauren war eine ausgezeichnete Köchin und als ich mir die Lippen abwischte, schaute ich sie an. »Das Abendessen war köstlich, Süße. Danke.« Ich schob meinen Stuhl zurück. »Ich muss noch etwas Arbeit erledigen.«
»Du willst Noah heute nicht baden?«, fragte sie.
Ich schaute zu Noah, der das Wort »baden« seinem Gesichtsausdruck nach nicht gehört hatte. »Äh, willst du dich darum kümmern? Die Teilhaber wollen, dass ich mir die Bilanzen ansehe.« Ich hob mich auf die Beine.
»Ja, klar. Ich mach’s.«
Lauren konnte so einiges überspielen, aber für heute hatte ich mein Limit überschritten.
»Hey, Kumpel. Willst du dich für dein Bad fertig machen? Ich komme in einer Minute hoch«, meinte sie.
»Okay, Mommy. Tschüss, Daddy«, sagte er und huschte in sein Schlafzimmer im oberen Stock.
»Danke. Ich bin dir was schuldig.« Ich küsste sie oben auf den Kopf, und während ich wegging, fühlte ich ihren Blick auf mir. Ich wusste, dass ich hätte zurückschauen und lächeln sollen. Als Dankesgeste. Das tat ich aber nicht, denn ich war hier das Arschloch.
Kapitel 3: Gary
Ich stand in der bloßen Nachtluft unter dem überdachten Eingang. Ich hielt meinen Mitarbeiterausweis an die Haupttür und hörte das Klicken. Das Büro der Kanzlei Ackerman and James öffneten sich mir. Die Lobby wurde vom Unterlicht am Rezeptionstisch und einem beleuchteten Schild an der Wand dahinter ausgeleuchtet. Notbeleuchtung hing auf dem Weg zum Lift an der Decke und kleine LED-Lämpchen waren an den Wänden.
Der vertraute Geruch von poliertem Holz und chemischen Reinigungsmitteln schwebte in der Luft. Die Tagschicht hatte bereits ihre Arbeit getan. Ich kam für gewöhnlich vor 17 Uhr an, hatte aber meinen Chef bitten müssen, heute Nacht später kommen zu dürfen. Eine persönliche Angelegenheit, hatte ich ihm gesagt. Nun war es 21 Uhr.
Die Stille des Büros zu dieser Stunde umgab mich und wurde nur von dem leichten Surren des Barkühlschranks unter dem Empfangstisch durchbrochen. Das erinnerte mich daran, dass ich ihn später würde auffüllen müssen. Wasser, Limonaden, kalter Tee in Flaschen. All das war für vorbeischauende Kunden darin verstaut.
Ich ging durch die Lobby, wo der makellose Marmorboden bei jedem Schritt widerhallte. Das Büro der Hausmeisterei war im ersten Stock ganz hinten im Gebäude versteckt. Ich fuhr mit dem Lift hinauf, ging ins Büro und setzte mich an den Schreibtisch. Hier protokollierte ich meine Stunden, füllte Bestellscheine für mehr Putzmittel aus und notierte Dinge, die der Reparatur bedurften. Hinter mir befand sich der Lagerbereich, wo wir die Wagen und diverses Zubehör aufbewahrten.
Ich war froh, dass ich hier angestellt war. Hier brauchte man dringend Hilfe und hatte sich anscheinend nicht daran gestört, dass ich viel herumgekommen und gelegentlich hier und da gearbeitet hatte. Dies aber – das war kein Gelegenheitsjob. Dieser bedeutete mir etwas und ich wollte ihn behalten.
Letztendlich machte ich mich an meine Aufgaben als nächtlicher Hausmeister. Ich war hier allein. Natürlich war die Kanzlei eher klein. Ich hatte schon für größere Firmen gearbeitet. Nur drei Stockwerke mit Schreibtischen und Büros. Ich entleerte Mülleimer, wischte Tische ab, entstaubte Regale und säuberte die Toiletten. Es verlangte einem nicht viel körperliche Arbeit ab.
Ich bevorzugte die Nachtstunden. Die stille Zeit. Die Zeit, in der ich beobachten, lernen und die nächsten Schritte überdenken konnte. Und im Obdachlosenheim war es tagsüber viel ruhiger. Dort wohnte ich zurzeit, obwohl ich das Wort dabei eher lose gebrauchte.
Das Heim war kaum mehr als ein Haufen Stockbetten in einer großen Halle. Ein paar Toiletten und nur drei Duschen. Es gab eine kleine Gemeinschaftsküche mit einer Mikrowelle. Besser als in der Kälte zu hocken war es jedoch. Das hatte ich schon erlebt, hatte jedoch Glück gehabt, als im Heim kürzlich ein Bett frei geworden war. Trotzdem würde ich bald handeln müssen. Ich hatte meine Pläne bereits durchdacht und war auch deshalb heute später gekommen.
Der graue, robuste Reinigungswagen war bis zum Überlaufen mit Zubehör bestückt. Ich schlurfte den Gang hinunter und schob den Wagen vor mich hin, bis ich zu ihrem Büro kam. Lauren Hale. Sie war schöner, als ich es mir hätte vorstellen können. Ich hatte ihren Blick am Morgen nur kurz aufgefangen, doch die Wärme in ihren Augen gefiel mir.
Ich trat ein. Es lag ein Hauch Lavendel in der Luft – der musste von der Kerze auf ihrem Schreibtisch stammen. Ich schaltete das Licht ein, dessen Helligkeit mir kurzzeitig in den Augen stach, und ging auf den Tisch zu. Ich hob die Kerze auf, schloss meine Augen und atmete den Vanilleduft ein, und ja, auch Lavendel.
Ich stellte sie wieder hin und erhaschte einen Blick auf einen Fotorahmen. Die Neugier packte mich, also hob ich ihn auf und schaute mir das Bild an. Ein Lächeln breitete sich aus. Das Bild war von Lauren, einem Mann, der ihr Ehemann sein musste, und einem Jungen von nicht mehr als vier oder fünf Jahren. Dein Sohn.
Ich stellte den Rahmen wieder hin, holte mein Handy hervor und fotografierte das Bild. Damit ich dich mir jederzeit anschauen kann.
Kapitel 4: Lauren
Jetzt, wo das Haus fertig war, waren wir in die gleiche alte Routine verfallen. Jacob war in der Dusche gewesen, als ich aufgewacht war. Ich hatte Noah alleine für die Vorschule und mich selbst für die Arbeit fertig machen müssen. Jacob hatte nur duschen, den von mir gemachten Kaffee trinken und einen ebenfalls von mir gemachten Bagel essen müssen und schon war er zur Tür hinaus. Inzwischen war ich herumgesaust und hatte mich vergewissert, dass jeder alles Nötige hatte, bevor ich gehen konnte.
Es war meine Schuld. Ich hätte darauf bestehen sollen, dass sich das Ganze ändert, doch das hatte ich nicht, denn ich wollte ja keinen Staub aufwirbeln. Jacob hatte mich nie geschlagen oder angeschrien, doch ich hatte trotzdem Angst vor ihm. Ich hatte Angst davor, ihn zu verlieren. Hauptsächlich weil ich mich unglaublich davor fürchtete, meinen Sohn alleine und mit meinem schmächtigen Gehalt großziehen zu müssen. Und obendrein liebte ich Jacob. Ich liebte mein Leben. Also kehrte ich alles unter den Teppich, denn so war es einfacher.
Ich war nicht darauf eingestellt und konnte auch kaum glauben, dass er fremdging. Die Zeit würde kommen, wenn es sich nicht mehr ignorieren ließ. Auf diesen Tag war ich noch nicht vorbereitet.
Ich stand geistesabwesend in der Küche, als das Brot aus dem Toaster ploppte. Ich nahm es in die Hand. »Autsch. Verdammt.«
»Mommy, du hast ein böses Wort gesagt.«
Ich drehte mich um und sah, wie Noah in die Küche kam. »Ich weiß, Süßer. Es tut mir leid. Ich habe was Heißes angefasst. Setz dich. Du hast nicht viel Zeit zum Frühstücken.«
Er kletterte auf den Hocker an der Kücheninsel. Ich setzte ihm den gebutterten Toast mit Erdbeermarmelade obendrauf und ein Glas Milch vor. »Hier bitte. Iss auf. Ich gehe mich oben umziehen.«
»Okay.«
Als ich auf die Treppe stieg, tauchte Jacob oben am Absatz auf. »Oh, hey. Bist du schon auf dem Weg?«, fragte ich ihn.
»Ja.« Er kam mir an der obersten Stufe entgegen und küsste mich auf die Wange. »Bis später, Schatz. Einen schönen Tag.«
»Dir auch«, sagte ich und ging hinauf. Ich schaute zu ihm zurück, wie er in die Küche ging. Ich hörte, wie er sich kurz mit Noah unterhielt, und dann, wie die Küchentür zur Garage aufging. Er war weg. Ein Teil von mir fühlte sich erleichtert.
Als ich mich für die Arbeit angezogen hatte und zurück nach unten ging, hatte Noah sein Geschirr bereits neben die Spüle gestellt. Er war noch nicht ganz groß genug, um sie in das Becken zu stellen. Ich lächelte. »Ganz toll, Kleiner. Danke, dass du hinter dir selbst aufräumst.«
Er zuckte mit den Achseln und ging seinen Rucksack holen. Er hatte keine Ahnung, was mir diese kleine Geste bedeutete. Sie bedeutete, dass ich als Mutter vielleicht besser als meine eigenen Eltern war.
Mein Vater war gegangen, als ich noch ein Baby war. Meine Mutter – ich wusste gar nicht mehr, wo sie wohnte. Als ich erwachsen geworden war, war ich so weit von ihr weg wie nur möglich. Ich hatte sie so oft Leuten Geld abschwindeln sehen, wie sie gestohlen und jeden ausgenutzt hatte, der ihr nur ein bisschen Freundlichkeit entgegengebracht hatte. Ich wollte nicht wie sie werden – niemals. Und es schien, als wäre ich auf dem richtigen Weg.
»Fahren wir, Mommy. Wir dürfen nicht zu spät kommen«, meinte Noah und schwang sich seinen Rucksack über die Schulter.
»Da hast du vollkommen recht. Los gehts.« Ich schnappte mir mein Handy vom Küchentresen und meine Jacke und die Autoschlüssel aus dem Foyer. Während ich die Küchentür offenhielt, fuhr ich fort: »Nach dir, Kumpel.«
Wir folgten unserer üblichen Tagesroutine. Ich lieferte Noah an der Schule ab und fuhr zum Büro. Ich schob die Sorgen und Ängste weg, die sich in meinen Hinterkopf einzuschleichen schienen, und entschied mich stattdessen, mich in meiner Arbeit zu verlieren. Das hatte ich schon früh gelernt und so hatte ich überlebt.
Ich kam zum Eingang und ging weiter in die Lobby. Mit meinem Kaffee in der Hand fuhr ich mit dem Fahrstuhl in den ersten Stock. Die Tür ging auf und ich ging durch den Flur auf mein Büro zu, doch als ich dort ankam, hielt ich einen Augenblick lang inne und runzelte die Stirn. »Meine Tür ist offen.« Ich schloss meine Bürotür jeden Abend gewohnheitsmäßig. Nicht dass ich vertrauliche Informationen darin versteckte, ich wollte irgendwie nur meine Arbeit schützen. Ich ging hinein und schaltete das Licht ein. Es war alles am richtigen Ort. »Muss der neue Hausmeister gewesen sein.«
»Wie bitte, Miss?«
Ich zuckte zusammen und verschüttete beinahe meinen Kaffee. »Oh, mein Gott, Sie haben mich erschreckt.«
»Das tut mir leid.« Er gluckste. »Ich bin Gary. Ich bin der neue Hausmeister für die Nacht und ich wollte gerade gehen, als ich Sie was habe sagen hören.«
Es dauerte eine Weile, bis mein Herz wieder schlug. »Ja, äh, meine Tür stand offen. Ich schließe sie für gewöhnlich am Abend, bevor ich gehe. Haben Sie sie vielleicht offengelassen, nachdem Sie mit dem Putzen fertig waren?«
»Das habe ich. Gott, das tut mir leid«, erwiderte Gary und schien dabei leicht beschämt. »Es wird nicht wieder vorkommen, Miss. Sie werden’s mir nicht zweimal sagen müssen.«
»Ist schon gut.« Ich hob meine Hand. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ist ja nichts passiert. Sie meinten, Sie heißen Gary?«
»Ja, Ma’am. Und Sie müssen Lauren sein.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte ich.
Er zielte mit dem Finger auf die Namenstafel an meiner Tür. »Stimmt«, lachte ich. »Natürlich. Lauren Hale. Schön, Sie kennenzulernen, Gary.«
»Sie auch, Lauren. Ich wollte gerade weg, also schönen Tag noch.«
»Ihnen auch, Gary. Hat mich gefreut.« Ich ging hinein und stellte meine Sachen ab. Einen Augenblick später steckte Tammy ihren Kopf herein.
»Hey.« Sie torkelte herein. »Hör mal, es ist jetzt Monatsende, also lass mich wissen, wann du die Berichte fertig hast, dann sehe ich sie mir an.«
»Klar doch.« Ich ließ mich auf meinen Stuhl fallen. »Hast du beim Mittagessen Zeit?«
Sie legte eine Hand an ihre Hüfte. »Aber immer.«
Kapitel 5: Jacob
Die Innenstadt von Alexandria war mein liebster Teil der Stadt. Meine Anwaltskanzlei befand sich hier in der King Street neben mehreren anderen angrenzenden historischen Gebäuden. Bürgersteige aus roten Ziegeln, sogar Pflastersteinstraßen. Und es mangelte nicht an Restaurants und Bars. Als ich an diesem Morgen in die Lobby kam, sah ich Maddy, die zwei Becher Kaffee aus dem Laden gegenüber hielt. »Gehört einer davon mir?«, fragte ich und lächelte sie an.
»Natürlich.« Sie reichte mir einen. »Genau so, wie du ihn magst.«
»Danke.« Ich schaute zu Joan, die am Empfang saß. Ich musste aufpassen, was ich sagte und in wessen Hörweite ich es sagte.
Madison Price war jetzt ungefähr zwei Jahre bei der Kanzlei gewesen. Sie war Anwaltsassistentin. Wir hatten vergangenen Sommer zusammen an einem Fall gearbeitet und waren uns ziemlich nahegekommen. Zu nahe. Sie war eine junge Frau, dreiundzwanzig Jahre alt. Hatte lange blonde Haare, die sie in losen Locken hinten am Rücken trug. Sie trug dunkelroten Lippenstift, leichter rosa Rouge betonte ihre scharfen Wangenknochen und ihr Körper zog viel Aufmerksamkeit auf sich. Es hatte recht freundlich begonnen. Ich hatte nicht vorgehabt, mir oder meiner Familie alles zu versauen, doch es war passiert, und hier war ich jetzt, mitten in einer Arbeitsaffäre. Ich war mir ziemlich sicher, dass Joan davon wusste. Sie wusste alles.
»Bis später dann, okay?«, sagte ich zu Maddy.
»Klar doch, Jake. Bis später.«
Als ich weiterging, schaute ich zu Joan zurück, deren Adleraugen auf mich gerichtet waren. Nur ein Fehler und es war vorbei mit mir. Die Teilhaber würden nicht darüber hinwegsehen, denn ich war auch Teilhaber und damit Maddys Chef – wenn auch indirekt. Solcher Scheiß ging nicht mehr, nicht nach der #MeToo-Bewegung. Ich riskierte nicht nur meine Ehe, sondern auch meine Karriere. Würde ich es also lassen? Nein. Das würde ich nicht.
Ich fuhr mit dem Lift ins oberste Stockwerk, wo die Teilhaber ihre Büros hatten. Vier Teilhaber, vier Eckbüros. Doch nur drei Namen am Gebäude. Mullen, Gossett und Hale. Der neueste Teilhaber hatte sich seinen Platz noch nicht verdient. Mein Büro schaute auf den Parkplatz hinaus. Victor Mullen gehörte das beste.
Zu jeder Seite meines Schreibtischs war ein hohes Fenster an der Rückwand. Bücherregale standen an den anderen Wänden und waren mit jedem erdenklichen Buch über Rechtswissenschaften beladen. Ein Präzedenzurteil nach dem anderen, und ich hatte sie alle lernen müssen. Ich war vom Familienrecht hergekommen, hatte bei Ackerman and James gearbeitet, wo meine Frau immer noch angestellt war, doch ich hatte zum Gesellschaftsrecht gewechselt. Darin steckte das große Geld. Hochrangige Unternehmen mit tiefen Taschen. Unsere Hauptkunden waren von großen Firmen angestellte Lobbyisten, die mit Politikern in Washington umgingen. Ich hatte gelernt, dass die Konzerne in Washington die Strippen zogen, und das war ein lukratives Geschäft, das ich so lange wie möglich ausnutzen wollte.
Während ich mich meinen Aufgaben widmete und die Mittagszeit näher rückte, hörte ich ein Klopfen an der Tür. »Ja?«, erwiderte ich.
Als die Tür aufging, stand Maddy da und hielt eine Tüte mit Essen in der Hand. »Hunger?«
Ich schaute um sie herum, ob irgendjemand in der Nähe war. »Ich sagte doch, dass du nicht einfach so hier heraufkommen kannst, wenn die Teilhaber in der Stadt sind.«
»Zu deiner Information: Ich habe ihre Assistenten nach ihren Terminen gefragt, und sie hatten alle ihr Mittagessen verplant. Du bist hier der einzige.«
»Und unsere Assistenten«, entgegnete ich leise.
»Komm schon. Du musst essen.«
»Na gut. Komm rein«, sagte ich und gab ihr wie üblich nach.
Sie schlenderte herein und schloss die Tür hinter sich. »Sandwiches von Oscar’s. Ich weiß, dass du die am liebsten magst.«
»Danke, Maddy.«
Wir aßen und unterhielten uns ungezwungen. Und als wir fertig waren, wusste ich, was als Nächstes kam. Maddy stand auf und kam um den Schreibtisch herum auf meine Seite. Dann setzte sie sich auf meinen Schoß.
Ihre Berührung war elektrisch und ihre Finger fuhren die Konturen meines Gesichts nach. Ihre Lippen kamen langsam auf meine zu. Der Duft ihres Parfüms benebelte mich mit Verlangen. Hier fanden wir uns nicht zum ersten Mal untrennbar umschlungen wieder, doch heute fühlte sich irgendetwas anders an.
Das Gewicht unseres Geheimnisses lastete mir auf den Schultern. Ich spielte ein gefährliches Spiel und setzte alles auf verstohlene Augenblicke der Leidenschaft und der Freude. Der Reiz war jedoch unbestreitbar und Widerstand unmöglich.
Maddys Lippen kamen endlich an meine und ein Feuerwerk brach zwischen uns aus. Ihr Kuss war wie eine Droge, machte mich süchtig und berauschte mich. Ich zog sie näher an mich und meine Hände strichen über jeden Zentimeter ihres Körpers. Unsere Affäre war zu einer Zuflucht vor der Vaterschaft, der Ehe und den Pflichten des Brotverdieners geworden.
Als unsere Körper sich umeinander schlangen, fragte ich mich, wie lange wir das noch beibehalten konnten. Wir gingen auf einem Drahtseil und der Abgrund war es, entdeckt zu werden. Das Risiko gehörte mit zu der Aufregung und heizte die Flammen unserer Leidenschaft an, machte mir jedoch auch ein schlechtes Gewissen.
Nur ein Fehler und alles konnte in sich zusammenbrechen. Die Konsequenzen wären katastrophal.
In jenem Moment aber verflogen alle rationalen Gedanken. Die Welt außerhalb dieses Bereiches existierte nicht mehr.
Sie knöpfte mein Hemd auf und drückte mir ihre Hand auf die Brust. Bei jeder Berührung kribbelte es mir und ein Feuer entzündete sich in mir, das mit jeder vergangenen Sekunde heißer brannte.
Die Zeit schien stillzustehen, als wir uns ineinander verloren, doch selbst in der tiefsten Leidenschaft schaffte es die Wirklichkeit, sich durchzusetzen. Das entfernte Klingeln eines Telefons durchschnitt den Nebel und riss mich zurück in die reale Welt, wo die Verantwortungen riefen.
Maddys Lippen ruhten noch einen Augenblick länger auf meinen, bevor sie sich unwillig zurückzog. Ich langte nach meinem Handy, mein Herz raste in meiner Brust, und ich ging ran. »Jacob Hale.«
»Nur eine freundliche Erinnerung an unser Treffen später. Kommen Sie bitte nicht zu spät.« Es klickte in der Leitung.
Ich erstarrte noch mit dem Handy in der Hand, da seine Worte widerhallten. Das war neu. Sie riefen mich bei der Arbeit an, was mir zurecht Sorgen bereitete. Ich legte das Telefon hin und schaute Maddy an. Die Stimmung war verflogen.
»Alles klar?«
Ich hob sie von mir herunter. »Ich sollte wieder an die Arbeit.«
***
Es war fünf Uhr und ich war gerade bei Mill Landing angekommen, einer örtlichen Bar, die ich sonst nie betreten hätte, doch heute wurde meine Anwesenheit nicht von persönlichen Wünschen oder Vorlieben bestimmt.
Drinnen vermischten sich schales Bier und Verzweiflung. Mist. Vielleicht hatte ich es doch verdient, hier zu sein.
Ich lockerte meine Krawatte und setzte mich an einen Holztisch mit ungleichen Beinen. Ich schaute kurz auf mein Handy und sah keine Anrufe oder Nachrichten, dass das Treffen verschoben worden war. Nein, so viel Glück war mir nicht bestimmt.
Die Tür schwang mit einem Knarren auf und zwei Gestalten traten über die Schwelle. Die erste war einen Mann, der mir als Bushnell bekannt war, und sein Gesicht war hart und unnachgiebig. Sein Gefährte, dessen Bekanntschaft ich noch nicht hatte machen dürfen, sah mit seinem spindeldürren Körperbau und Augen, die unangenehm flink hin- und herhuschten, ganz gegenteilig aus.
»Abend, Jake«, grollte Bushnells Stimme. Er ließ sich auf dem Stuhl nieder.
Der andere Mann setzte sich neben ihn. Ein Handlanger? Ich grinste über den Gedanken.
»Was ist so witzig, Jake?«, fragte Bushnell.
»Nichts.« Ich hielt eine Hand für die Kellnerin hoch. »Wollen Sie Bier?«
»Kümmer dich nicht«, entgegnete er. »Wir werden nicht lange hier sein.«
Ich winkte ihr reumütig ab. »Tut mir leid. Wir brauchen erst mal nichts.«
Bushnell neigte den Kopf und eine stille Frage stand zwischen uns in der Luft. »Na, haben wir alles?«
Small Talk schien nicht infrage zu kommen, also langte ich in meine Anzugtasche und holte den Umschlag heraus. »Hier bitte. Alles da.«
»Wirklich alles?« Er schnappte sich den Umschlag und riss ihn auf.
»Ja, nein. Nur was zurzeit fällig ist.«
Seine Lippen kräuselten sich zu einem schiefen Lächeln. »Du meinst, was überfällig ist?«
»Ja, das meine ich wohl.«
Bushnell zählte das Geld gleich dort am Tisch ab. Ich sah mir die wenigen Gäste an, doch keiner schenkte uns Aufmerksamkeit.
Er schien zufrieden zu sein und gab seinem Partner das Geld, ohne je den Augenkontakt mit mir abzubrechen, sodass es keine Missverständnisse geben konnte. »Versäum noch eine Zahlung und es wird nicht mehr nur ums Geld gehen. Alles klar?«
Ich leckte mir über die Lippen, denn seine Drohung provozierte mich. Aber wem konnte ich etwas vormachen? »Glasklar.«
Kapitel 6: Lauren
Ich wollte gerade in den Feierabend starten und schaute mir meinen Schreibtisch an. Es sah alles nicht viel besser aus als bei meiner Ankunft heute Morgen. Die Rechnungen stapelten sich immer noch. Berichte steckten in Mappen und warteten auf die Prüfung. Mir blieben noch zwei Tage, bis die Monatsendberichte fällig waren, aber es war so oder so nicht genug Zeit.
Trotz alledem ging ich heute schon später als üblich. Es war beinahe halb sechs und ich schrieb unserer Nachbarin, Nancy, dass ich spät nach Hause kommen würde. Ich würde uns wohl sogar auf dem Weg ein Abendessen holen, damit ich nicht kochen musste.
Ich schaltete meinen Computer aus und sperrte meine Aktenschränke ab. Wir bewahrten Stundenzettel und Anrufprotokolle in meinem Büro auf, damit ich für die Rechnungen auf sie zurückgreifen konnte, doch aus irgendeinem Grund wollte ich sie wegsperren. Vielleicht weil meine Tür letzte Nacht offengelassen worden war.
Während ich meine Laptoptasche holte, hörte ich ein Klopfen. Meine Tür stand schon offen, ich schaute auf und sah den Hausmeister. »Hi, Gary. Tut mir leid, dass ich noch da bin. Ich wollte gerade raus. Wie geht es Ihnen heute?«
»Mir geht es gut, danke.« Er kam herein. »Dann wars ein langer Tag für Sie, wie, Miss Hale?«
»Mrs. Hale, aber nennen Sie mich bitte Lauren. Und ja, es ist Monatsende, und da werden Sie noch merken, dass das ziemlich typisch ist. Ich werde Sie in Ruhe lassen.« Ich nahm meine Sachen und mir fiel ein, dass ich mein Mittagessen heute nicht angefasst und stattdessen mit Tammy zusammen gegessen hatte. »Sie haben nicht zufällig Hunger, oder? Ich habe ein Sandwich zum Mittagessen mitgebracht, habe es aber nicht gegessen. Es ist nur Schinken und Käse. Ich weiß nicht, ob Ihnen das passt, aber es ist im Mitarbeiterkühlschrank. Sie können es haben, wenn Sie wollen.«
»Ach nein.« Er winkte ab. »Das könnte ich nicht.«
»Doch, ist schon okay.« Gary sah ziemlich dünn aus. Er konnte die Nahrung wohl gebrauchen. »Bitte. Sonst wird es nur weggeworfen.«
Er nickte. »Na gut dann. Danke, Miss Lauren. Das ist nett von Ihnen.«
»Nichts zu danken. Eine schöne Nacht noch, Gary. Wir sehen uns wohl auch morgen Abend.« Ich gluckste und winkte noch einmal zum Abschied.
»Das hoffe ich. Gute Nacht.«
Kapitel 7: Gary
Es war an der Zeit für mich, zu gehen: 23 Uhr. Ich war mit der Hausmeisterei fertig, obwohl meine Schicht erst um 1 Uhr endete. Ich hatte mein Vorgehen geplant und dies war der erste Schritt. Es war am besten, nicht auszustechen. So konnte man mein Kommen und Gehen nicht nachvollziehen. Der beste Ausgang war der hintere, der sich durch die fehlenden Kameras auszeichnete. Ich hatte mir den Sicherheitsraum angesehen und wusste, wo jede einzelne Kamera platziert war. Die Nachsichtigkeit der Chefs war mein Vorteil.
Die Nachtluft fühlte sich frostig an und stach durch mein langärmeliges Shirt hindurch, als ich Ackerman and James durch die Hintertür verließ. Die Straßen der Stadt waren leise geworden. Man hörte nur das eine oder andere Fahrzeug, das vorbeifuhr. Ich zog mir meine Jacke an und setzte mir die Kapuze auf, um mein Gesicht zu verbergen, dann ging ich zu der Bushaltestelle drei Blocks weiter. Die Busse fuhren bis Mitternacht. Es würde eng werden.
Das Busfahren war nicht ideal, doch zurzeit war es mein einziges Fortbewegungsmittel. Das würde ich bald richtigstellen. Als einziger Fahrgast starrte ich zum Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft hinaus. Kahle Bäume. Weiß bestäubte Straßen und Bürgersteige. Die eine oder andere Straßenlaterne.
Die Lichter der Stadt wichen bald den aufgereihten Vorstadthäusern, die jeweils ihren Familien Unterkunft boten. Laurens Haus befand sich inmitten von ihnen.
Als ich nur wenige Blocks von ihrer Nachbarschaft entfernt ankam, stieg ich aus dem Bus und in eine andere Welt hinein. Eine Welt voller Familien und Freunde, gemeinsamer Abendessen und Geburtstagsfeiern. Ich fühlte mich zu Hause.
Unter dem Schatten der Hecken und Ziegelwände, Holzzäune und geschmückten Briefkästen schritt ich voran. Als ich mich Laurens Haus näherte, lieferten sich Freude und Anspannung in meinem Bauch ein Tauziehen. Ich sah mir die lange Einfahrt und das stattliche Haus oben an deren Ende an. Ich hatte mir diesen Augenblick viele Nächte lang ausgemalt und mich gefragt, wie es wohl sein würde, endlich über die Schwelle in ihre Welt zu treten.
Das Licht auf der Veranda umspielte die vordere Treppe mit Wärme und rief nach mir, doch ich musste im Schatten bleiben, während ich mir überlegte, wie ich mir Zugang verschaffen würde. Nicht durch die Vordertür. Noch nicht.
Ich hatte mir Zeit genommen, das schöne Kolonialhaus unter die Lupe zu nehmen. Hatte seine Geheimnisse gelernt und seine Schwächen ausgeforscht. Ich ging rundherum und meine Augen suchten nach weiteren Schwachpunkten, während ich mich vor Sicherheitskameras hütete. Doch es gab keine. Zweifelsohne ein Versehen während des Umbaus, doch eines, auf das ich mich nicht verlassen konnte. Und dann fand ich ihn – meinen Weg hinein.
Eine große Lüftungsöffnung am Ende eines leicht zu besteigenden Metallspaliers, dessen Pflanzen diesen harten Winter über schliefen. Dies würde ich die absehbare Zukunft über mein Zuhause nennen. Ein Zuhause mit Familie. Meiner Familie. Und ich würde sie lieben, wie ich auch die anderen geliebt hatte.