Leseprobe Der Mann meiner Tochter

Damals

Der Wind umkreist das Gebäude und heult wie ein verletzter Wolf, während die alte Holzscheune sich gegen den Wintersturm stemmt. Peitschenhiebe aus silbrigem, eiskaltem Regen dringen durch die Ritzen wie Krallen, die sich ihren Weg hineinbahnen wollen. Heute Nacht gibt es keinen Mond, der diesen schwärzesten aller Berge erhellt. Keine Lichter flackern im benachbarten Bauernhaus und leuchten auf das Tal hinunter. Alles ist in eine erschreckende Decke der Dunkelheit gehüllt.

In der Scheune wirft ein angehobenes Mobiltelefon ein unheimliches weißes Licht auf das feuchte, staubige Innere und enthüllt einen alten Traktor, der in weißen Staub gehüllt ist, leere Tierställe mit Türen, die aus den Angeln hängen, eine zerbrochene Leiter, die nirgendwo hinführt außer in noch mehr Dunkelheit, einen verstreuten Haufen von gesägten Holzscheiten und eine schwere Axt, die auf der Seite liegt und aussieht, als könnte sie einen Mann mit nur einem Hieb töten.

Vernarbtes Fleisch im flüchtigen Licht … der Schimmer von Metall.

Ein Husten ertönt. Dann noch eins. Ein röchelnder Atemzug, der sich anhört, als wäre er der letzte. Eine dunkle Silhouette. Die zusammengesunkene Gestalt eines Mannes, der sich an einen Stapel Heu lehnt. Er hat etwas Glänzendes und Gefährliches in seinen Händen. Es sieht aus wie ein Gewehr. Der mit Heu bestäubte Kopf des Mannes ist auf seine Brust gesunken. Seine Augen, schwarz wie Kohle, sind ganz woanders. Irgendwo anders als hier. Er weiß, was er zu tun hat …

Tu es“, fordert ihn eine Stimme auf. Der Kopf des Mannes wackelt, sein angespannter Körper wird durchgeschüttelt. Er dreht sich um, um denjenigen zu erblicken, der unsichtbar in den Schatten lauert. Seine Augen sind von Bedauern erfüllt, während er ängstlich schluckt. Und dann ist da noch die Furcht.

„Ich kann nicht …“ Seine Stirn ist gerunzelt, während sich seine Brust angestrengt hebt und senkt, und Tränen fließen über seine Wangen. „Bitte“, fleht er.

„Tu es!“, befiehlt die Stimme wieder, diesmal schärfer, gefolgt von einem Scharren, das er nicht hören will. Er schreckt zurück, als eine Handvoll Fotos zu seinen Füßen landen – ein junges Mädchen von etwa neun oder zehn Jahren mit strohblondem Haar und sanften blauen Augen lächelt ihn an. Ein Bild zeigt sie rittlings auf einem weißen Pony, ein anderes beim Schmusen mit einem Babylämmchen. Ein weiteres zeigt sie in einem Badeanzug. Der Mann versucht nicht, eines der Bilder in die Hand zu nehmen, aber ein leises Stöhnen entweicht aus seinem Inneren.

„Jetzt.“ Der letzte Befehl.

Das Geräusch des unerbittlichen Regens, der auf das Schieferdach prasselt, erfüllt seine Ohren. Wird es das Letzte sein, was er hört? Er ist bis auf die Knochen durchgefroren, und seine Schultern sind feucht, während sein Magen, der die Aussichtslosigkeit seiner Lage nicht begreift, vor Hunger krampft. Als er die Waffe hebt, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde, und sie spannt, atmet er den staubigen Duft des Heus vom letzten Jahr ein. Dieses Gras hatte er mit seinen eigenen Händen gemäht, mit Fingern, die vor langer Zeit versehentlich in eine Ballenpresse geraten waren und zerquetscht und blutend herauskamen, was eine umfangreiche Operation erfordert hatte.

Als er den Lauf des Gewehrs in seinen Mund schiebt und seine Lippen darum schließt, schmeckt das Metall nach Schweiß, Salz und Angst. Die Waffe scheint auch ungewöhnlich schwer in seinen Händen zu liegen, aber er bleibt ruhig. Er weiß, dass, wenn er den Abzug betätigt, alles aufhören wird. Ein einziger Druck ist alles, was es braucht … und dann wird es still sein. Kein Regen mehr. Keine Schuld …

Kapitel 1: Beth

Jetzt

Sie sind hier. Ihre Ankunft habe ich vom Küchenfenster aus beobachtet, das eine stachelige Sammlung von Kakteen und einen Flyer für eine Schaf-Auktion auf seiner Fensterbank hat. Die Hunde sind aufgeregt, weil sie wissen, dass wir Gäste haben. Als Cerys’ pinker Fiat in den Hof fuhr, haben sie sofort die prinzessinnenhafte Lackierung erkannt. Alles außer den grünen Land Rover Defendern ist hier einen zweiten Blick wert. Nun laufen sie mir ständig im Weg herum und versuchen zu erahnen, wann ich die stallähnliche Hintertür öffnen könnte, während sie mir ihre dicken Schwänze gegen die Beine schlagen. Sie drehen durch, wenn sie draußen den neuen Welpen von Cerys bellen hören. Bei all diesem Lärm kann ich kaum noch denken.

„Toad. Gypsy. Ruhe!“, tadle ich sie streng, aber obwohl sie sich etwas beruhigen, bleiben sie weiterhin in höchster Alarmbereitschaft. Mit aufgestellten Ohren verfolgen sie, wie Cerys und ihr neuer Ehemann aus dem Fahrzeug steigen. Obwohl es Cerys’ Auto ist, scheint er es in letzter Zeit ständig zu fahren. „Um ihren Bauch zu schonen“, hat er erklärt, obwohl Cerys erst seit vier Monaten schwanger ist.

Durch das Glas beobachte ich meine liebe Tochter, wie sie ihrem Welpen Küsse auf die Nase drückt. Sie besteht darauf, ihn in glitzernde Kostüme zu stecken und ihn auf ihrem Schoß zu behalten, obwohl sie weiß, dass ich das nicht gutheiße. Hunde sollten meiner Meinung nach Hunde sein dürfen. Elvis, der Dackel, ist zwar niedlich, aber mit seinen hastigen, viel zu kurzen Beinen wird er auf einem Bauernhof fehl am Platz wirken. Glücklicherweise haben meine beiden ihn sofort akzeptiert. Sie müssen sich verstehen, wenn wir alle zusammenleben wollen.

Ich kann es noch immer nicht fassen, dass sie heute einziehen. Mein Freund Bryn, von einem Bauernhof weiter unten, hält mich für verrückt, da ich sie bei mir wohnen lasse, aber ich habe meine Gründe. Zumindest kann ich so ein Auge auf Luke haben, solange er unter meinem Dach lebt. Außerdem … da Luke arbeitslos ist – keine Überraschung –, und Cerys schwanger, was hätte ich sonst sagen sollen außer Ja?

Ich versuche, nicht daran zu denken, dass Luke vor nur fünf kurzen Monaten Elvis für Cerys als Verlobungsgeschenk gekauft hat, anstelle eines traditionelleren Diamantrings. Zwei Monate später waren sie verheiratet und schwanger, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Sie haben sich kaum sechs Monate gekannt. Ich hingegen kenne Luke Griffin schon viel länger als meine Tochter.

Als Cerys zum Kofferraum zeigt, geht Luke pflichtbewusst hin, um etwas herauszuholen, doch sein Blick wird zum Haus und zum Fenster gezogen. Er weiß, dass ich ihn beobachten werde, aber er hat keine Ahnung, wie sehr ich dies zu tun gedenke. Ich wende mich vom Fenster ab, als sie auf das Haus zusteuern, zum ersten Mal ohne Händchen zu halten. Liegt es daran, dass er eine Kiste trägt und darauf achtet, sie nicht fallen zu lassen, oder könnten sie gestritten haben? Man kann nur hoffen.

Die Außenansicht des Bauernhauses Pen-y-Bryn, was übersetzt Spitze des Hügels bedeutet, ist eine Mischung aus altem Stein und neueren, auffälligeren gelben Ziegelsteinabschnitten, die im Laufe der Zeit zusammengefügt wurden, um Generationen wachsender Familien unterzubringen. Im Inneren ist es warm und einladend. Meine eigene Mutter und zuvor ihre Mutter hatten einst herzhafte Familienessen auf dem antiken Herd gekocht, der von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang wärmende Umarmungen spendet. Aus diesem Grund konnte ich mich nie davon trennen. Die Zimmer sind groß, die Decken niedrig und die Fenster kleiner, als sie sein sollten, wie es bei walisischen Bauernhäusern üblich ist. Das verleiht den Räumen ein düsteres Erscheinungsbild. Überall außer in der Küche, die den ganzen Tag über direktes Sonnenlicht abbekommt. Sie ist das Herzstück des Hauses. Hier sind sowohl meine Tochter als auch ich zu Frauen herangewachsen.

Auf dem Boden aus Flaggensteinen sind nasse Pfotenabdrücke zu sehen, extra-groß und enorm, sowie umgedrehte Hundenäpfe. Gemütliche Hundebetten sind in jeder Ecke zu finden. Die Leinen hängen an Haken, obwohl sie auf unserem zehn Hektar großen, abgelegenen Grundstück selten gebraucht werden. Die Hunde bewegen sich größtenteils frei. Sie sind mein Schutz als alleinstehende Frau mitten im Nirgendwo. Toad, der Rottweiler, ist groß und hat ein imposantes, schaumiges Bellen, aber er ist alt, sanft und hat nicht mehr viele Zähne übrig. Auf die junge Collie-Hündin muss man mehr achten. Sie ist eine besessene Stalkerin, immer wachsam, und kann manchmal gegenüber Fremden schnippisch sein. Sie mag Luke nicht, das kann ich spüren. Kluges Mädchen.

Mums riesiger walisischer Küchenschrank ist randvoll mit übergroßem Bauernhaus-Serviergeschirr, das nicht mehr benutzt wird, und der verkratzte, vom Weiß zum Vergilben neigende Kiefernholztisch, der acht Personen Platz bietet und früher noch viele mehr unterbringen musste, ist bereits für den Tee gedeckt. Wenn wir Gäste haben, machen wir hier alles auf altmodische Weise. Eine richtige Teekanne. Mit Teeblättern. Milch in einem Krug. Handgehäkelte – nicht von mir – Tischsets. Zuckerwürfel in einer Schale.

Versteht mich nicht falsch, mein Leben ist alles andere als ein Wirbelwind aus Nachmittagsteekränzchen und schicken Kuchen. Das Leben auf dem Berg ist hart. Es gibt Holz zu hacken, unerlässlich, wenn man es warm haben will. Trockenmauern zu pflegen. Zäune zu reparieren. Schafe zu scheren. Und Gäste zu versorgen. Owen, mein verstorbener Ehemann, errichtete Cuddfan, was Versteck bedeutet, eine rustikale Holzhütte, die sich am See hinter dem Bauernhaus befindet, damit wir sie an Urlauber vermieten konnten, um unser Einkommen aufzubessern. Damals gab es nicht viel Geld für Schafzucht und Traktorreparaturen. Und das ist bis heute noch so.

Hier also werden meine Tochter und mein Schwiegersohn wohnen. Nicht im Hauptgebäude bei mir. Auf diese Weise haben wir alle etwas Privatsphäre. Die Hütte ist klein und einfach, aber sie ist ein perfekter Rückzugsort für diejenigen, die dem Alltag entfliehen wollen. Sie wird als skurriles, romantisches Versteck in den Brecon Beacons beschrieben, umgeben von Natur und Tierwelt. Ich mache mir allerdings Sorgen um den Einkommensverlust. Schließlich kann ich Cerys und Luke keine Miete berechnen.

Fünf volle Minuten lang herrscht Chaos, als die Tür aufgeht und Cerys und Luke eintreten. Winseln. Schnüffeln. Hochspringen. Herumwirbeln. Erst als meine beiden Hunde sich beruhigt haben, setzt Cerys Elvis auf den Boden. Er ist temperamentvoll und kann sich selbst verteidigen, unabhängig von seiner Größe. Toad ist ganz in ihn verliebt, sanft wie ein Riese, aber Gypsy sitzt in der Ecke und schmollt, ihre eifersüchtigen blauen Augen wenden sich nie von Cerys ab. Sie war schon immer mehr der Hund meiner Tochter als der meine. Sie war eine Überraschung zur Heimkehr für Cerys, als sie nach ihrer Reise durch Australien mit ihren Freunden zurückkehrte.

„Beth.“ Lukes Augen sind gesenkt, als er mich begrüßt, aber ich bemerkte, wie er sich selbstsicher gegen das Spülbecken lehnt, als wäre er bereits der Herr im Haus. Seine Hände sind jetzt in den Taschen seiner Jeans, nachdem er die Schachtel auf den Tisch gestellt hat. Mir wird klar, dass es sich um einen gekauften Kuchen handelt, zweifellos als nette Geste gedacht, aber er hätte wissen müssen, dass ich mir die Mühe gemacht hätte, einen selbst gemachten zu backen. Mit seinen eins neunzig ist er zu groß für dieses Haus. Und seine Stiefel! Doch in so vielen Dingen ist er klein.

„Luke“, begrüße ich ihn mit einem gezwungenen Lächeln, das er als unecht erkennt.

„Mum, es ist wunderbar, dich zu sehen“, kann sich Cerys, emotional wie immer, nicht zurückhalten. Sie wirft mir ihre dünnen Arme entgegen und klammert sich an mich, als ob wir uns nicht erst vor zwei Tagen gesehen hätten. Irgendwie passt sie noch immer in meine Arme, als ob sie diese nie verlassen hätte.

„Und dich erst“, erwidere ich, die Augen mit unerwarteten Tränen gefüllt, plötzlich daran erinnert, als sie noch ganz mein war und nicht Lukes.

Kapitel 2: Cerys

Der gekaufte Kuchen ist allem, was Mum hätte backen können, weit überlegen, aber ich achte darauf, das nicht anzusprechen. Ihr verbrannter, schwer aussehender Beitrag liegt unberührt auf dem Küchentisch neben den Resten des leichteren, cremigeren Kuchens, den Luke in der Angel-Bäckerei in Abergavenny ausgesucht hat. Ich habe bereits zwei Stücke gegessen, und während das Mum zu erfreuen schien – sie ist darauf bedacht, dass ich etwas Babyspeck zulege –, hat Luke das Gesicht verzogen und mich angegrunzt, als wäre ich ein Schwein, als Mum nicht hingesehen hat, und ich habe gekichert. Er ist urkomisch.

Elvis sitzt auf meinem Schoß, und wenn niemand hinsieht, stecke ich ihm Kuchenstückchen zu. Mum würde das arme Ding draußen in einem Zwinger lassen, bei jedem Wetter, wenn es nach ihr ginge, um den Kleinen abzuhärten. Aber er ist immer noch ein Baby. Ich weiß nicht, was mit Gypsy los ist, denn sie knurrt Luke jedes Mal an, wenn er sich bewegt, und Mum droht ihr ausnahmsweise nicht damit, ihr die Ohren zu langzuziehen.

Der Welpe ist mir noch kostbarer, weil er ein Geschenk von Luke war. Ein viel bedeutsameres Verlobungsgeschenk als ein funkelnder Stein. Das zeigt, wie gut Luke mich kennt. Außerdem habe ich dann den einen Ring bekommen, den ich wirklich wollte: einen goldenen Ehering. Stellt euch das vor. Dreiundzwanzig Jahre alt, verheiratet und ein Kind erwartend. Einige meiner Universitätsfreunde waren überrascht, als ich mich von meinem Studium der Pferde- und Veterinärwissenschaften an der Universität Aberystwyth abgemeldet habe, um zu heiraten und ein Baby zu bekommen. Aber sobald ich erfahren habe, dass ich schwanger bin, wollte ich einfach nur nach Hause. Nach Pen-y-Bryn. Zu Mum. Und meinem schwarzen Berg.

Meine schönsten und schlimmsten Erinnerungen sind von hier. In der Bauernhausküche auf Großvaters Schoß sitzen. Draußen auf dem Hof mit Dad Heuballen pressen und Schafe hüten. Großvater nahm mich mit zu Arbeitshund-Wettbewerben in Pontypool, in seinem abgenutzten alten Truck. Draußen auf dem Berg auf meinem Pferd reiten. Das Fahren des Jeeps unter Großvaters Aufsicht. Dad in der Scheune dabei helfen, Traktoren zu reparieren.

Die Scheune …

Nichts war mehr dasselbe, seit Dad vor elf Jahren gestorben war, aber ich hoffe, dass ich meinem Kind die gleiche wundervolle Kindheit bieten kann, die ich bis zu diesem Tag gekannt habe. Das erste Mal, als sich das Baby in mir regte, verspürte ich einen starken Wunsch, nach Hause zurückzukehren. Kneipen, Clubs, Partys und das Feiern guter Noten interessierten mich nicht mehr. Ich hatte Luke. Und er hatte geschworen, mich für immer zu lieben, mich sicher in seinen Armen zu halten und mir niemals wehzutun. Was könnte ein Mädchen mehr verlangen? Zu wissen, dass meine Zukunft und die unseres Babys in seinen Händen sicher ist, hatte es einfach gemacht, mich von dem Studentenleben zu verabschieden, das ich einst genossen hatte. Ich wusste, ich hatte unglaubliches Glück, Luke zu haben, egal was Mum dachte, denn er war zum Niederknien schön, ein Doppelgänger von Brad Pitt, und auch freundlich und intelligent. Als er mich, Cerys Williams, vor allen anderen ausgewählt hatte, um auszugehen, waren all meine Freunde neidisch gewesen.

Ich war mit den Mädels unterwegs, als wir uns das erste Mal getroffen haben. Wir waren alle so eifrig und ernsthaft gewesen, dass wir nicht nach Männern Ausschau hielten. Bis Luke auftauchte, um meine Welt aufzumischen. Natürlich hatten wir alle ihn an der Bar bemerkt, wer würde das nicht? Aber sein strahlender blauer Blick verweilte auf mir, jagte Schauer über meinen Rücken. Das Nächste, was ich wusste, war, dass ich meine Freundinnen im Stich gelassen hatte und in ein tiefes Gespräch mit ihm verwickelt war, und es stellte sich heraus, dass wir bei einer Vielzahl von Themen gleicher Ansicht waren. Es war, als wären wir füreinander gemacht. Natürlich wusste ich zu dieser Zeit nicht, dass er Mums Luke war, und es hat Wochen gedauert, bis wir es realisierten. Aber da war es schon zu spät. Wir waren verliebt. Und ich wollte ihn für nichts in der Welt aufgeben. „Musst du den Hund am Tisch füttern?“, beschwert sich Mum, bevor ihr empörter Blick zu dem unberührten selbst gebackenen Kuchen zurückkehrt.

„Er ist kein Hund. Er ist der König.“ Ich kichere herzlich, sicher in dem Wissen, dass meine Mum Hunde liebt. Eigentlich alle Tiere. Genauso wie Luke. Luke verzieht das Gesicht, steht auf und rückt einen Stuhl zurück. „Nun ja, vielleicht ist es an der Zeit, dass Elvis das Gebäude verlässt.“

„Du hättest Komiker werden sollen“, kichere ich, beeindruckt von der Witzigkeit meines neuen Ehemannes. Im Gegensatz zu Jungs in meinem Alter, die bei Mädchen meistens sprachlos sind, hat er viel zu sagen. Das liebe und bewundere ich an ihm. Emotionale Intelligenz ist eine der Eigenschaften, die ich beim anderen Geschlecht suche, und Luke hat sie im Überfluss. Er kann über jedes Thema eine Unterhaltung beginnen. Als wir begannen, uns zu treffen, saßen wir oft die ganze Nacht zusammen und unterhielten uns. Das haben wir allerdings schon eine Weile nicht mehr getan.

Ich übergebe Elvis an Luke, der jetzt, da er auf den Beinen ist, von Gypsy verfolgt wird, mit rundem Rücken und zurückgezogenen Lefzen. „Geh mit Papa Pipi machen“, sage ich und küsse den kleinen Kerl auf die Nase. Luke scheint weniger beeindruckt zu sein als Elvis, aber ich weiß, dass er darauf bedacht ist, die Dinge vor Mum nicht zu übertreiben. Er ist rücksichtsvoll, und deshalb verschwindet er jetzt durch die Tür, um uns Frauen zum Reden allein zu lassen.

Sobald die Tür geschlossen ist, stürzt sich Gypsy darauf, kratzt am Griff und winselt leise.

„Siehst du. Gypsy mag ihn doch“, widerspreche ich zu eifrig, was ich merke, sobald die Worte aus meinem Mund kommen. „Sie vermisst ihn schon.“

„Wen, Elvis?“ Mums hochgezogene Augenbrauen sagen alles.

„Du weißt ganz genau, dass ich Luke meinte.“ Ihr Stirnrunzeln geht auf mich über, als ich das sage. Aber sie hat mir schon den Rücken zugewandt, und ihre Schultern wippen auf und ab, während sie das schmutzige Geschirr attackiert.

„Warum benutzt du nicht die Spülmaschine, Mum?“, stöhne ich und werfe einen Blick auf das noch nie benutzte Haushaltsgerät, das Großvater ihr vor vier Jahren als Geburtstagsgeschenk eingebaut hat. „Der Schaum wäscht den Dreck von meinen Fingernägeln.“

„Eklig“, bemerke ich, während ich meine perlig-pinken gellackierten Fingernägel bewundere.

Mum und ich könnten nicht unterschiedlicher sein. Ich bin groß und schlank, mit hüftlangem, blondem Haar und überdurchschnittlich großen, himmelblauen Augen, während sie kräftig ist wie ein Baumstamm und mausbraunes Haar hat, das in kurze, pflegeleichte, wellige Stufen geschnitten ist. „Lesbenhaar“ würden meine LGBTQ-Freunde aus der Universität es nennen. Ihre Augen, die oft voller Missbilligung blinzeln, sind dunkler als meine und nicht so weit auseinander. Ihre typische Alltagskleidung besteht aus einem karierten Flanellhemd, bis zum Ellbogen hochgekrempelt, Jeans und schmutzigen Stiefeln oder Gummistiefeln, während ich es bevorzuge, mich in Weiß und Beige zu kleiden und barfuß zu gehen. Im Gegensatz zu meiner selbstreflektierten, freigeistigen, leicht bohèmehaften Natur ist sie schroff, bodenständig und sieht die Dinge schwarz-weiß. Mum mag zwar nicht weich und feminin sein, aber sie ist jemand, den man immer auf seiner Seite haben möchte.

Seit ich mit Luke verheiratet bin, befinde ich mich auf der anderen Seite dieser Münze.