Leseprobe Der Marquis und ich

Kapitel 1

Berkeley Square, Mayfair, London, England, im Mai 1815

Angstschauer liefen Lady Charlotte Carpenters Rücken hinab, und sie kämpfte gegen einen Kloß an, der in ihrer Kehle aufstieg. Ihre behandschuhten Hände wurden feucht.

Nicht einmal als kleines Mädchen, wenn sie Angst vor einem Gewitter hatte, war sie so verängstigt gewesen. Genau so mussten ihre Schwester Grace und ihre Freundin Dotty sich gefühlt haben, als sie entführt wurden. Charlotte atmete zitternd ein. Nun, die beiden hatten überlebt. Das würde sie auch.

Jemand hatte sie grob in die Kutsche geschubst, sie hatte sich dabei die Knie an der Türkante angeschlagen und war fast zu Boden gestürzt. Glücklicherweise hatte ihr Korb den Sturz gebremst, doch dann hatten fleischige Hände nach ihr gegriffen und sie nicht eben sanft auf den in Fahrtrichtung weisenden Sitz gedrängt.

»Macht keinen Ärger, und wir tun Euch nich weh«, hatte der ihr gegenübersitzende Schurke gesagt.

Ohne aufzublicken hatte sie genickt.

Nachdem ihre Schwester gekidnappt worden war, hatte Mattheus, der Earl of Worthington, ihr Schwager und Vormund, dafür gesorgt, dass sie selbst, ihre frischverheiratete Schwester Louisa – eigentlich ihre Schwägerin, aber Charlotte betrachtete all ihre Schwägerinnen wie leibliche Schwestern – und ihre drei Jahre jüngere Schwester Augusta unterrichtet wurden, wie sich selbst schützen konnten und was sie tun mussten, wenn ihnen etwas Derartiges zustoßen sollte.

Jetzt konnte sie nur darauf vertrauen, dass ihr dieser Unterricht zugutekommen und sie sich an alles erinnern würde. Besser, sie konzentrierte sich darauf, anstatt in Panik zu verfallen. Ihr Kopf verweigerte jedoch eine scheinbare Ewigkeit lang die Zusammenarbeit. Sie schloss die Augen und versuchte, ihren Verstand zusammenzunehmen.

Nach und nach erinnerte sie sich an Bruchteile des Gelernten. Als Allererstes hatte sie gelernt, dass sie die Halunken im Glauben lassen sollte, sie hätten sie unter Kontrolle. Dadurch sollten sie denken, ihr Opfer würde keine Flucht wagen. Unter den gegebenen Umständen war das nicht sehr schwer, denn die Kerle hatten sie tatsächlich unter Kontrolle. Beide Männer waren viel stärker als sie, wodurch eine Flucht schwierig wäre.

Als Nächstes sollte sie darüber nachdenken, was genau sie bei sich trug, das ihr bei einer Flucht nützlich sein könnte. Diese Überlegung müsste ihr schon ein besseres Gefühl vermitteln, denn sie hatte einen Dolch an ihrem Bein befestigt. Allerdings bräuchte sie noch mehr Übung, um ihn auf die richtige Art herauszuziehen. In ihrem Korb lag eine eigens für sie hergestellte, geladene Pistole, außerdem fanden sich darin Ersatzpatronen und Schießpulver. Leider war auch ihr Kätzchen Collette in dem Korb. Allerdings trug sie das Geschirr und die Leine, die Charlotte für das Kätzchen gestaltet hatte. Beide Dinge würden ihr gute Dienste tun, wenn sie den Korb zurücklassen musste. Sie umfasste den Griff fester.

Und der dritte Schritt sah vor, dass sie über einen Fluchtplan nachdachte. Das könnte schon etwas schwieriger werden. Sie hatte lediglich quer über den Platz zum Haus der Worthingtons gehen wollen und deshalb kein Geld bei sich. Selbst wenn es ihr tatsächlich gelänge, von den Verbrechern wegzulaufen, würde sie ohne Geld nicht weit kommen. Andererseits wusste sie, wie man eine Kutsche steuerte, also könnte sie selbst fahren, wenn es ihr gelänge, sie zu stehlen.

Ihr Atem ging gleichmäßiger, und sie fühlte sich schon eher, als hätte sie die Lage unter Kontrolle. Zumindest, solange sie die Kerle ignorierte, die sie entführt hatten.

Ein Freund von Matt hatte ihr und ihrer Schwester auch beigebracht, wie man ein Schloss knackte. Vielleicht würde sie eine Weile dafür brauchen, aber sie war sich sicher, dass sie es schaffen würde, wenn es nötig wäre.

Sie trug bequeme halbhohe Lederstiefel und ein Ausgehkleid aus Twill, das praktisch und robust genug war, um nicht auseinanderzufallen, sollte sie sich quer durchs Land schlagen müssen.

Endlich hörte ihr Herz auf, so heftig zu pochen, als wolle es ihr aus der Brust springen.

»Habt Ihr irgendwas an Viktualien in dem Korb da?«, fragte der Mann, der ihr gegenübersaß.

Oh nein, Collette! Wer wusste, was sie ihrem Kätzchen antun würden. Charlotte durfte sie nicht in den Korb schauen lassen. »Nein. Ich wollte ein paar Sachen besorgen.«

Er lehnte sich wieder in die abgewetzten Kissen zurück, und sie widerstand dem Drang, einen erleichterten Seufzer auszustoßen.

Ihre Entführer waren sauber und leidlich gut gekleidet, auch wenn sie nicht so sprachen, wie man es erwarten würde. Sie trugen Kniehosen anstelle der modernen Pantalons und bunte Belcher-Schals anstelle von hellen Leinen-Halstüchern. Zumindest stanken sie nicht und wirkten nicht allzu verdreckt. Das half, weil ihr Magen sich immer noch wie ein knotiges Geflecht anfühlte. Schon eine Kleinigkeit könnte ihr Übelkeit bereiten.

Wenn sie nur wüsste, in welche Richtung sie fuhren, das würde ihr helfen, einen Fluchtplan zu ersinnen.

Wenige Minuten später wurde ihre Aufmerksamkeit von einem großen Anwesen auf einem Hügel geweckt. »Was ist das dort für ein Gebäude?«

Der Entführer, der ihr gegenübersaß, schlug den Laden am Kutschfenster zu. »Geht Euch nix an.«

»Halt den Schnabel, Dan. Wir sollen nich mit der reden.« Der Schurke neben ihr schob das Kinn vor, als wollte er Dan auffordern, sich ihm zu widersetzen.

»Und was meinste, wird unser Opfer machen? Rausspringen und um Hilfe wetzen?« Der Mann namens Dan grinste schmierig. »Da müsste sie uns erst mal beiden entwischen. Ich hab’s nur zugemacht, damit keiner reingucken kann.«

Charlottes Wange fühlte sich brennend heiß an, so als würde der Entführer neben ihr sie anstarren, aber sie wagte nicht, den Blick zu erwidern.

»Wir haben unsere Befehle«, sagte der Mann neben ihr. »Ich kann’s nich brauchen, dass du uns in Schwierigkeiten bringst.«

Dan zuckte die Schultern, und das Brennen auf ihrer Wange verschwand.

Sie hatte kein Gespür dafür, wie lange sie schon unterwegs waren, aber sicherlich würden sie bald anhalten, um die Pferde zu wechseln. Vielleicht fände sie dann jemanden, der ihr helfen konnte. Sie fragte sich, wie es ihrem Kätzchen ging, wagte aber nicht, ihrem Korb irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken. Die beiden Schurken würden es zwangsläufig bemerken, und dann würden sie sowohl die Pistole als auch das Kätzchen finden.

Die Männer waren wieder in Schweigen verfallen. Dans Augenlider sanken herunter, aber sie bezweifelte, dass der andere Halunke auch so nachlässig wäre. Nicht, dass sie ohnehin aus der Kutsche hätte springen können. Der Verkehr war endlich weniger geworden, und sie reisten mit schnellerer, stetigerer Geschwindigkeit.

Etwas später drückte Dans Fuß gegen ihren Schuh. Sie bewegte das Bein, um ihm mehr Platz zu lassen, aber der Fuß rutschte nach.

Plötzlich schrie er auf, und als sie ihm einen verstohlenen Blick zuwarf, hielt er sich das Knie. Der andere musste ihn getreten haben. »Warum machste denn sowas?«

»Lass die Kleine in Ruhe«, grummelte der Entführer neben ihr. »Nich reden, nich berühren.«

Sie sollte erleichtert sein. Irgendjemand wollte offenbar, dass sie unverletzt blieb. Das warf allerdings die Frage auf, wer ihre Entführung angeordnet hatte? Sie war sich sicher, dass sie sich keine Feinde geschaffen hatte. Matt achtete so sorgsam auf sie, dass keine Glücksjäger näher als auf mehrere Meter an Louisa oder sie hatten herankommen können.

Sie schauerte unmerklich zusammen. Diesem Gedankengang zu folgen, würde ihr nicht bei der Flucht helfen. Er würde sie nur ablenken und vielleicht in noch größere Angst versetzen.

Das Horn des Kutschers erscholl, und sie wurden langsamer. Sie mussten an einer Zollstelle angekommen sein. Doch bevor sie darüber nachdenken konnte, was sie tun könnte, beschleunigte die Kutsche wieder. Verflixt! Nächstes Mal müsste sie schneller sein. Etwas später erkannte sie ein Muster, nach dem sie mal rascher, dann wieder langsamer fuhren, aber nicht an den Zollstellen. Der Fahrer schien die Pferde zu schonen, sodass sie nicht gewechselt werden mussten.

»Ich muss ins Scheißhaus«, sagte Dan in verdrießlichem Ton. »Komisch, dass sie nich rumgeheult hat, wir sollen sie gehenlassen. Du hast ihr wohl ordentlich Schiss gemacht.« Er lachte über seinen Witz.

Der Mann neben ihr grunzte nur.

Wenn sie irgendwo anhielten, könnte sie sich vielleicht befreien und Hilfe suchen. Als sie daran dachte, wurde ihr Drang fast zu groß, um anhalten zu können. »Ich muss sehr bald zur Toilette.«

»Burt, du kannst hier anhalten. Ich behalte die Kleine im Auge.« Dan grinste anzüglich, sodass sich ihr der Magen umdrehte.

»Wir sind fast am Inn«, sagte Burt. »Wenn Ihr was sagt oder versucht, jemanden zu finden, der Euch hilft, Euer Ladyschaft, dann verschnür und knebel ich Euch, klar?«

Charlotte nickte. Das Letzte, was sie wollte, war, auf irgendeine Art und Weise gefesselt zu werden.

Wenige Minuten später hielt die Kutsche an.

»Sieh nach den Pferden«, bellte Burt, und Dan stieß die Tür auf und sprang flink wie ein Hase hinunter. Ein Stallknecht kam und klappte die Stufen aus. Der Junge half ihr hinaus, aber Burt griff sie am Ellbogen und führte sie in das Inn.

»Sir«, sagte der Wirt und eilte zu ihnen. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich bin Mister Smith. Für uns sind Zimmer reserviert worden.«

»Oh, ja. Ja, richtig.« Der Besitzer des Gasthofs warf Charlotte einen missbilligenden Blick zu. »Hier entlang.«

Verflixt. Sie hatten dem Hausherrn wahrscheinlich irgendeine erfundene Geschichte aufgebunden, genau wie bei ihrer Freundin Dotty. Da hatte man dem Paar, bei dem sie untergebracht worden war, auch ein Lügenmärchen erzählt. Zwei Tage vor ihrer Hochzeit war Dotty, jetzige Marchioness of Merton, von einem Mann entführt worden, der ihre Heirat mit Merton hatte verhindern wollen. Sie war in ein Haus in Richmond gebracht worden, und den Wirtsleuten hatte man erzählt, sie sei ausgebüxt. Es war reines Glück gewesen, dass Matt und Merton herausgefunden hatten, wo sie war. Die beiden waren wie der Teufel geritten, um ihr zu Hilfe zu eilen. Als Merton ankam, hatte Dotty aber schon eine Möglichkeit gefunden, zu fliehen.

Wäre doch nur Matt nicht aufs Land gefahren. Doch das war er, und Dotty und Merton ebenfalls. Charlotte wusste nicht einmal, ob irgendjemand gesehen hatte, wie sie entführt worden war. Wenn ihre Befürchtung stimmte, gab es nur eines, was sie tun konnte: Sie musste einfach selbst eine Fluchtmöglichkeit finden.

 

»Mylord, Mylord!« Constantine Marquis of Kenilworth blickte zu dem auffälligen, schwarzgekleideten Mann, der wild winkend die Straße entlang gelaufen kam.

Großer Gott! Das war Thorton, der Butler seines Freundes, dem Earl of Worthington. Was zur Hölle war da los?

Er lenkte seinen Phaeton zum Bürgersteig und zog die Zügel an, um seine Pferde zum Stehen zu bringen.

»Mylord.« Mit zitternder Hand zeigte der Diener auf eine schwarze Kutsche, die die Straße hinunter fuhr. »Ihr müsst der Kutsche folgen! Die haben Lady Charlotte entführt.«

»Lady Charlotte?« Er hätte schwören können, dass Worthingtons Gattin Grace hieß.

»Lady Worthingtons Schwester.«

»Wo ist Worthington?« In der Nähe, hoffte Con.

»Seine Lordschaft weilt mit Ihrer Ladyschaft für ein paar Tage außerhalb von London.« Der Butler blickte besorgt der Kutsche hinterher. »Eilt Euch, bitte, Mylord. Ihr müsst sie retten.«

Er sah sich um, aber aus irgendeinem Grund war auf dem Platz niemand zu sehen, den er kannte.

Zur Hölle nochmal!

Er hatte andere Pläne für diesen Nachmittag gehabt.

»Sagen Sie mir alles, was Sie wissen, während ich wende.« Je schneller Con sich um dieses Problem kümmerte, desto schneller konnte er sich wieder seiner eigenen Angelegenheiten annehmen … und seiner Geliebten.

»Lady Charlotte überquerte gerade den Platz von Stanwood House, wo die Geschwister der Lord- und Ladyschaft wohnen, zu Worthington House, da haben die Entführer sie geschnappt. Sie haben sie in diese Kutsche gestoßen und sind losgefahren. Zwei Kerle und ein Kutscher waren es.« Der Butler rang die Hände.

»War denn keine Zofe oder ein Bursche bei ihr?« Er konnte sich nicht vorstellen, dass Worthington bei seinem Mündel so sorglos wäre.

»Er hat versucht, sie aufzuhalten, aber es war schon zu spät.« Der Butler runzelte die Stirn, als versuche er immer noch, sich zu erklären, wie es dazu hatte kommen können, dass er im Schutz der Lady versagt hatte. »Nachdem Lady Worthington …« Die Falten um seinen Mund gruben sich tiefer ein. »Was ich sagen möchte, ist, dass in den ersten paar Wochen nach der Vermählung Seiner Lordschaft alle viel wachsamer waren, aber die Kinder gehen so oft zwischen den Häusern hin und her, dass wir dachten …« Der Butler zog ein Taschentuch hervor und tupfte sich die Stirn ab. »Es gab keinen Grund anzunehmen, dass sie oder die anderen in Gefahr wären.«

Con wollte fragen, wie viele Kinder es denn wären, dass Worthington gleich zwei Stadthäuser bewohnte, doch diese Frage würde bis später warten müssen.

»Besteht die Möglichkeit, dass sie weggelaufen ist?« So skandalös es auch war – nach Gretna Green auszubüxen, war nicht ungewöhnlich. Allerdings waren üblicherweise keine Entführer in eine solche Flucht verwickelt.

Cons Hoffnung, dass seine Aufgabe ganz einfach wäre, erstarb sogleich, als die Züge des Dieners gefroren. Wahrlich kein schöner Anblick. Kein Wunder, dass Worthington sich wünschte, dieser Mann würde auch mal lächeln.

»Gewiss nicht, Mylord.« Die Lippen des Butlers bewegten sich kaum. »Ihre Ladyschaft würde ihrer Familie niemals die geringste Schande zufügen.« Der Mann sah die Straße hinunter, der Kutsche hinterher. »Bitte sputet Euch, Mylord. Sie entwischen.«

Con biss die Zähne zusammen. »Ich lasse die Pferde so schnell wenden, wie ich kann.« Wie schade. Das bedeutete nämlich, dass jemand beabsichtigte, Worthington oder seiner Familie Schaden zuzufügen. Allerdings könnte es auch bedeuten, dass jemand versuchte, die Lady zu einer Eheschließung zu nötigen. »Informieren Sie Lord Worthington darüber, dass ich zu ihrer Rettung eile.« Beinahe überlief Con ein Schaudern. Sollte es doch der Teufel holen. Er hörte sich schon an wie einer der Charaktere aus den Romanen, die seine Schwester so schätzte. »Oder besser, sagen Sie ihm, ich habe alles in die Hand genommen.«

»Jawohl, Mylord. Vielleicht wünscht Ihr auch zu wissen, dass Jemmy, einer der kleineren Jungen, auf die Rückseite der Kutsche aufgesprungen ist.«

Wie klein?, fragte sich Con. Aber es spielte keine Rolle. Er hoffte, dass der Bursche ihm eine Hilfe sein würde. Andernfalls müsste er eine hilflose Dame und einen ebenso hilflosen Jungen retten müssen.

Sollte es doch der Teufel holen.

Heute fand im House of Lords keine Sitzung statt, und er hatte keinen echten Grund, unterwegs zu sein. Er hätte einfach bei Aimée bleiben sollen. Hätte er nicht einen Brief erhalten, in dem es um ein Problem mit seinem Hauptgut ging – das nun noch immer nicht gelöst würde –, wäre er noch bei ihr, anstatt einer farblosen jungen Frau hinterherzujagen.

Auch wenn sie die Schwester eines Freundes war; er war noch keiner jungen Dame begegnet, die nicht zu langweilig wäre, um sie ertragen zu können. Und diese würde aller Wahrscheinlichkeit nach zudem noch hysterisch sein.

Con zog eine finstere Miene. Er hatte nichts getan, womit er diese Unannehmlichkeit verdiente. Er kümmerte sich gut um seine Liegenschaften und um seine Leute, nahm rege an den Oberhaussitzungen teil, und er liebte seine Mutter und die anderen Familienmitglieder, auch wenn er ihr Drängen, endlich zu heiraten, in den Wind schlug. Er hatte noch haufenweise Zeit, bevor er sich eine Fußfessel anlegen lassen musste. Sein Leben war genau so, wie er es sich wünschte.

Bisher.

Ein unangenehmes Gefühl wie das Kribbeln von Ameisen kroch seinen Rücken hinauf. Was für ein Mist. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, sich abstruse Gedanken zu machen.

Er würde die junge Frau retten, Worthington würde ihm einen Gefallen schulden, und alles wäre wieder gut. Mit etwas Glück wäre er zum Abendessen mit seiner bezaubernden Aimée und einem anschließenden Theaterbesuch wieder zurück. Die unschuldigen Frauen hatten für ihn keinen Reiz. Er hielt sich nicht einmal gern in ihrer Gegenwart auf. Dennoch konnte er einem Freund nicht seine Hilfe verweigern.

Er blickte die Straße hinauf und sah, dass die Kutsche noch in Sichtweite war. »Ich werde sie bald zu euch zurückbringen.«

Er gab seinen Pferden das Zeichen, loszulaufen. Glücklicherweise war das Gespann frisch und bereit für etwas Bewegung.

Einige Minuten später hatte Con Gelegenheit, die Einzelheiten des Vehikels wahrzunehmen, dem er folgte. Es war nicht sehr groß, vermutlich eine ehemalige Stadtkutsche. Der Junge – denn die Gestalt war eindeutig ein Kind, ein kleines Kind – hatte einen Absatz auf der Rückseite der Kutsche, der breit genug war, um darauf zu stehen. Außerdem gab es Haltegriffe, dafür aber kein Heckfenster. Diese Kutsche war offensichtlich das Eigentum von jemandem gewesen, der sich zwar um die Bequemlichkeit seiner Dienerschaft sorgte, sie jedoch nicht sehen und nicht von ihr gesehen werden wollte. Das spielte Con nun in die Hände. Denn bis derjenige, der die Lady entführt hatte – verdammt, welchen Namen hatte der Butler genannt? Lady Charlotte, so hieß sie – herausfand, dass Con ihm auf den Fersen war, wäre es zu spät, dass die Entführer ihm noch entkommen konnten.

Noch besser: Er könnte die Lady vielleicht befreien, wenn die Kutsche anhielt, um die Pferde auszutauschen oder eine Pause einzulegen. In einer solchen Situation war eine verdeckte Aktion viel besser, als seinen Rang zu erklären und eine Szene zu machen. Es würde niemandem helfen, wenn bei der Sache der Ruf der jungen Frau ruiniert würde.

Er zügelte sein Gespann und blieb weit genug weg, um sich in den übrigen Verkehr einzureihen, ließ den Abstand aber nicht so groß werden, dass er sie im mittäglichen Verkehr verlieren könnte. Wenn er seine Pistole bei sich hätte, oder wenn es nicht drei Entführer wären, hätte Con versucht, die Kutsche zu überholen und anzuhalten. Aber es war zu viel Verkehr, und er verspürte keine Sehnsucht nach dem Tod.

Er nahm die Zügel in eine Hand, zog seine Taschenuhr heraus und sah darauf. Verdammt noch mal. Es war fast vier Uhr. Das würde ihn lehren, die Vormittage faul zu verplempern.

Trotzdem, wenn die Schicksalsgöttinnen ihm beistanden, würde er die junge Dame innerhalb kürzester Zeit zurückbringen, könnte seine Geschäfte noch erledigen und an diesem Abend ins Theater gehen.

Eine Stunde später gestand Con sich betrübt ein, dass er nicht nur das Abendessen, sondern auch das Theater verpassen würde. Er hatte die südlichen Randgebiete Londons verlassen und war auf dem Weg nach Surrey, zur Küste. Das war kein gutes Zeichen.

Kapitel 2

Dicht hinter der Kutsche, in der Worthingtons Schwester saß, fuhr Con auf den Hof des Hare and Hounds. Er sprang von seinem Phaeton herunter, hastete zur Rückseite der Kutsche und schnappte sich den Jungen, Jemmy, bevor ihn jemand anderes sah.

»Hey!« Der Junge wand sich hin und her, um loszukommen. »Was macht Ihr da?«

Der Junge konnte nicht älter als fünf oder sechs Jahre sein. Wie war es nur möglich, dass er nicht beaufsichtigt worden war?

Bevor Jemmy anfangen konnte, mit seinem Geschrei unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen, beugte Con sich hinunter und flüsterte ihm ins Ohr: »Worthingtons Butler hat mich geschickt, um zu helfen.«

»Ihr seid da, um Lady Charlotte zu retten?«, fragte der Junge.

Con neigte den Kopf. »Richtig. Ich bin Lord Kenilworth, ein Freund deines Herrn.«

Con dachte an den Spruch von alten Seelen in jungen Körpern. Er war sicher, dass er nicht mehr so misstrauisch beäugt worden war, seit man ihn dabei erwischt hatte, wie er einen ganzen Kuchen vom Koch seiner Mutter gestohlen und es dann geleugnet hatte.

Schließlich zeichnete sich auf Jemmys Gesicht Zustimmung ab, und er nickte. »Wie schaukeln wir das Ding?«

Con blickte auf und sah, wie die Lady von einem großen Kerl in das Gasthaus gedrängt wurde. »Ich will, dass du dich als mein Bursche ausgibt, verstehst du?«

Jemmys wache Augen verengten sich. »Wie sollen wir damit meine Lady gesund und proper hier raus kriegen?«

Er war alles andere als dumm. Cons erste Gedanken hatten der Sicherheit des Jungen gegolten, aber jetzt musste er sich einen Plan ausdenken, bevor er für Jemmys Wohlergehen sorgen konnte. »Du hilfst dem Stallknecht mit meinen Pferden. Gleichzeitig schaust du dir den Mann mit den schwarzen Haaren genau an, der in die Ställe gegangen ist. Er ist einer der Gauner, die deine Herrin entführt haben. Während du das erledigst, verwandle ich mich in den pompösesten Lord, den du je gesehen hast. Deine Aufgabe besteht nur darin, zu den Angestellten des Inns freundlich zu sein. Du kannst dir irgendeine Geschichte ausdenken, aber sorg dafür, dass du herausfindest, in welchem Zimmer Lady Charlotte ist und ob sie allein ist.«

Jemmy ging auf die Fußballen, grinste und sah wieder wie ein kleiner Junge aus. »Dann retten wir sie?«

»Dann sagst du ihr, dass ich sie retten werde.« Als der Junge ein langes Gesicht zog, hob Con die Hand, um das bevorstehende Streitgespräch gleich zu unterbinden. »Ich schicke dich zurück nach Worthington House, damit du die anderen über den Aufenthaltsort Ihrer Ladyschaft informierst und dass sie bald in Sicherheit sein wird. Aber zuerst musst du sie finden und ihr sagen, dass ich hier bin. Ich verwende den Namen Lord Braxton.« So würde, wer auch immer herkäme, um nach Lady Charlotte zu suchen, dem falschen Mann folgen. Es war eine Schande, dass Con nicht einfach hineingehen und sie zurückholen konnte, aber der Ruf der Dame stand auf dem Spiel, und außerdem müsste er sich noch mit den Schurken auseinandersetzen, die sie entführt hatten.

Das Gasthaus lag in einem Dorf abseits der großen Zollstraßen, jedoch nicht allzu weit davon entfernt. Er konnte nur hoffen, dass weder Braxton selbst noch einer seiner Bekannten hier auftauchte. Con sah sich das Gasthaus noch einmal an. Es sah nicht wie ein Lokal aus, das Mitglieder der feinen Gesellschaft, des Tons, öfter aufsuchten, aber man konnte nie wissen.

Jemmy schien über Cons Anweisungen nachzudenken, bevor er einwilligte. Verdammt! Benahmen sich überhaupt irgendwelche Diener von Worthington so, wie man es von ihnen erwartete?

»Ich mach’s.« Er nickte betont.

»Gut.« Nicht, dass der Bursche in der Sache wirklich eine Wahl gehabt hätte. »Ich miete ein Pferd für dich, auf dem du zurück nach London reiten kannst.«

Die Augenbrauen des Knaben sanken herunter, und er schüttelte langsam den Kopf. »Kann nich.«

»Was meinst du damit, du kannst nicht?« Con zog eine Braue hoch und bedachte den Jungen mit einem Blick, der bei den meisten Menschen, die ihn abbekamen, Angst auslöste. »Natürlich kannst du.«

»Kann nich, mach ich nich. Ich kann noch nich reiten.«

Hölle und Teufel noch mal. Er rieb sich mit der Hand über das Gesicht. »Finde heraus, ob hier eine Postkutsche verkehrt.«

Auf Jemmys Gesicht erschien ein Grinsen. »Ich war noch nie in ’ner öffentlichen Kutsche unterwegs.«

»Ich hoffe, du genießt es.« Und machst nicht zu viele Probleme. »Spute dich. Diese Pferde müssen abgerieben und eingestellt werden. Sie dürfen nicht warten, bis die Pferde der anderen Kutsche versorgt sind.« Con ging los, dann drehte er sich noch einmal um. »Du weißt, wie das geht?«

»Ich bin echt gut in der Pferdepflege. Nur das Reiten braucht noch ’n bisschen.«

Warum in Gottes Namen Worthington einen Burschen hatte, der noch nicht reiten konnte, ging über Cons Vorstellungsvermögen. Andererseits ergab es auch keinen Sinn, dass ein Kind zu seinen Angestellten gehörte. Er fühlte sich, als wäre er in ein Irrenhaus geraten.

Er wartete und betrachtete das Äußere des Gebäudes durch sein Augenglas. Das Inn war mindestens zweihundert Jahre alt. Wie bei vielen antiken Bauten waren die Fenster nicht sehr groß. Eine kleine Person könnte hinausklettern. Mehr jedoch nicht, denn weder schmückten Spaliere, die zupasskämen, noch Efeuranken die Außenwände des Gasthauses.

Einer der Stallburschen kam heraus, und nach einem kurzen Wortwechsel mit Jemmy holte er die Pferde in die Stallungen. Im Augenwinkel sah Con, wie Jemmy zur hinteren Seite des Baus lief. Er sollte nicht allzu lange brauchen, um herauszufinden, wo die Lady war.

Etwas später, nachdem er das Gelände betrachtet hatte, als wäre er auf der Suche nach etwas Bestimmtem, beschleunigte Con seinen Schritt, stapfte in das Gasthaus hinein und bellte: »Wo ist der Herr des Hauses, ich brauche sofort den Herrn des Hauses.« In einem höheren, verdrießlichen Tonfall setzte er hinzu: »Wisst ihr denn nicht, wer ich bin?«

Ein Mann, der aussah, als wäre er in den Zwanzigern, kam heruntergeeilt und löste eine Schürze von seinen Hüften. »Mein Pa ist sofort wieder da. Kann ich Euch helfen, Sir?«

Con richtete sein Augenglas auf den Mann. »Euer Lordschaft, nicht Sir. Euer Lordschaft. Ich bin Lord Braxton. Mein Leibdiener sollte bereits vor über einer Stunde eingetroffen sein, aber ich sehe meine Reisekutsche nirgendwo. Seine Anweisung war es, ein Schlafgemach und einen privaten Salon für mich zu reservieren, nebst Räumen für ihn und meine Burschen und Diener.«

»Nein – nein, Mylord. Die einzigen Gäste, die wir haben, sind … eine andere Gesellschaft, die soeben eingetroffen ist.«

Der Hausherr und seine Leute wussten also, dass sie Lady Charlotte nicht erwähnen sollten. Das war interessant. Waren sie in die Entführung eingeweiht?

Con reckte die Brust heraus und reagierte verärgert. »Wollen Sie mir sagen, dass Sie keine Zimmer mehr frei haben?«

Der Eigentümer kam heran und stieß den jüngeren Mann aus dem Weg. »Mylord.« Der Hausherr vollführte einen tiefen Diener. »Wir haben tatsächlich ein großes Zimmer und einen privaten Salon.«

Con ließ den Hausherrn noch mehrere Minuten lang beschwichtigend auf sich einreden, um seine vorgespielte Empörung zu kühlen, dann stimmte er den Arrangements zu seiner Unterbringung zu. »Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass mein Leibdiener verschwunden ist. Ich muss meinen Burschen nach London zurückschicken. Verkehrt hier eine Postkutsche?«

»In der Tat, Mylord.« Der Gastwirt verbeugte sich erneut. »In zwei Stunden sollte sie eintreffen.«

Er beschäftigte den Mann weiter, indem er mit ihm über Details sprach, um die er sich sonst nicht kümmerte. Nachdem genug Zeit verstrichen war, um sicher zu sein, dass Jemmy mit Lady Charlotte hatte sprechen können, sagte Con im Ton eines Menschen, dem man es nicht recht machen konnte: »Nun gut denn. Ich habe jetzt lange genug hier gewartet. Ich wünsche meine Kammer zu sehen.«

Wieder dienerte der Gastwirt. »Bitte folgt mir, Mylord.«

Er schritt hinter dem Hausherrn drein und hoffte, dass er Jemmy genug Zeit verschafft hatte, die Lady zu finden. Con wünschte, in nicht allzu ferner Zeit wieder auf dem Heimweg nach London zu sein.

 

Man hatte Charlotte Wasser zum Waschen erwärmt und ihr versprochen, dass in Kürze ihr Abendessen käme. Doch als sie versuchte, ein Gespräch mit dem Zimmermädchen zu beginnen, das ihr das Wasser gebracht und ihr gesagt hatte, was es zu essen gäbe, hatte das Mädchen fest die Lippen zusammengepresst.

Sie seufzte. »Wie ich sehe, darfst du mit mir nur über das Nötigste sprechen.«

Das Mädchen nickte. Offensichtlich war von dieser Seite keine Hilfe zu erwarten.

Verflixt. Sie hatte gehofft, zumindest mehr über das Inn in Erfahrung zu bringen, und wo genau es im Verhältnis zu London lag. Noch schöner wäre es gewesen, für ihre Flucht eine Hilfe zu finden.

Nachdem das Mädchen hinausgegangen war, blickte Charlotte aus dem offenen Fenster. Sie könnte wohl hinaussteigen, aber es schien nichts zu geben, woran man hinunterklettern könnte. Abgesehen davon lag ihr Fenster zur Straße, wo jedermann sie sehen könnte.

Wenn sie nur wüsste, wo die beiden Halunken, die sie entführt hatten, abgeblieben waren. Dann könnte sie, da war sie gewiss, das Türschloss knacken und hinunterschleichen, in dem sicheren Wissen, dass sie sie nicht schnappen könnten. Es würde ihr allerdings nicht besonders gut bekommen, wenn sie bei ihrem Fluchtversuch geradewegs in sie hineinrannte. Sie war sich sicher, dass der eine der beiden seine Drohung, sie zu fesseln, wahrmachen würde.

Es musste im Dorf jemanden geben, den sie um Hilfe bitten konnte.

Charlotte blickte erneut aus dem Fenster. Nicht weit entfernt ragte ein Kirchturm in den Himmel. Vielleicht war dort das Pfarrhaus? Ein Kirchenmann würde gewiss seine Hilfe zusagen und ihre Sache vertraulich behandeln. Schließlich wollte sie nicht alle Welt einweihen, dass sie entführt worden war. Auch wenn nichts daran ihre eigene Schuld war, würde es ihren Ruf vernichten, wenn jemand herausfände, was geschehen war.

Andererseits wollte sie auch niemand anderen in Gefahr bringen. Und dann stand immer noch die Frage im Raum, wer sie überhaupt entführt hatte.

Aus dem Korb erklang ein kratzendes Geräusch.

Bevor sie irgendetwas unternahm, musste sie sich um Collette kümmern. Charlotte öffnete den Deckel des Korbs, und das Kätzchen sprang heraus.

Sie hob das arme kleine Ding hoch und kraulte ihre Wangen, bis die Katze zu schnurren begann. »Ich weiß, Süße. Das war kein besonders schöner Tag.« Sie ging hinter die spanische Wand und entdeckte den Nachttopf, allerdings nicht den Deckel. Den fand sie schließlich in einer Ecke. »Wir müssen etwas Neues ausprobieren.« Zu Hause hatten sie und ihre Schwester Louisa ihre Kätzchen daran gewöhnt, ein kleines Brett zu benutzen, das quer über den Nachttopf gelegt wurde. Was sie jetzt versuchte, würde komplizierter, aber der Deckel hatte zumindest Lederriemen, mit deren Hilfe die eine Hälfte über die andere geklappt werden konnte. Dadurch würde für die Katze ein gewisse Stabilität erreicht. »So, bitte schön.«

Dankenswerterweise war Collette entweder zu froh darüber, sich erleichtern zu können, oder sie war eine viel versiertere Reisende, als Charlotte je gedacht hätte, denn sie zierte sich nicht, sondern erledigte ihr Geschäft.

Sie hatte das Kätzchen gerade abgesetzt, da kratzte jemand an ihrer Tür. Gütiger Gott, das konnte nicht schon wieder das Zimmermädchen sein. Sie müsste Collette verstecken.

Als sie das Kätzchen hochhob, flüsterte eine kindliche Stimme hinter der Tür: »Mylady, ich bin’s, Jemmy.«

Jemmy? Bedeutete das, dass auch einer der anderen Diener hergekommen war? War sie gerettet?

Charlotte hastete zur Tür. »Jemmy, was machst du hier?«

»Ich weiß noch, wie Ihr mir geholfen habt, und als ich diese Männer gesehen habe, bin ich hinten auf die Kutsche aufgesprungen, damit ich Euch helfen kann.«

Sie hatte ihn vor einer der kriminellen Verbindungen gerettet, die Kindern beibrachten, wie man Taschendieb wurde, und noch andere Dinge.

Tränen der Dankbarkeit brannten in ihren Augen. »Ist einer der Burschen oder Kammerdiener mit dir gekommen?«

»Nein, Mylady. Nur ich. Keiner von denen war schnell genug.« In seiner Stimme klang mehr als nur ein bisschen Stolz.

»Sehr gut.« Er wurde mit ihren kleinen Brüdern und Schwestern unterrichtet, und sie lobte ihn für seine Fortschritte. Sie fragte sich, was er allein draußen gemacht hatte. Das wäre allerdings eine Frage, die sie für später aufheben wollte. Jetzt war Charlotte froh, seine Stimme zu hören, auch wenn sie nun einen Weg finden musste, wie sie beide sicher nach Hause gelangten. »Jemmy, du darfst dich nicht erwischen lassen.«

»Mach ich nich, Mylady. Ich komme – kam, um Euch zu sagen, dass ein Freund von Seiner Lordschaft hier ist. Er wird Euch retten. Er hat zum Hauswirt gesagt, er wäre Lord Braxton und hat sich ganz pomp-pomp… irgendwas benommen, damit ich Zeit hatte, Euch zu finden. Er schickt mich mit der Postkutsche zurück nach London.« Seine flüsternde Stimme klang vorfreudig. »Wird das nich ein tolles Abenteuer?«

»Ja, das wird es.« Charlotte legte den Kopf gegen die Tür, und die Angst floss aus ihr heraus.

Gott sei es gedankt, irgendjemand war ihr gefolgt. Beinahe musste sie laut lachen.

Und dank den Schicksalsgöttinnen war es nicht der echte Lord Braxton. Der Mann hatte das größte Mundwerk in ganz London. Weniger als eine Stunde nach ihrer Rückkehr würde der ganze Ton von ihrem Missgeschick erfahren haben, und sie wäre ruiniert.

Aber die Idee war brillant, und Jemmy wäre in Sicherheit. »Was für einen Plan hat der Gentleman?«

»Ich weiß es nich genau …« In diesem Augenblick durchbrach die Stimme eines Adligen die relative Ruhe des Gasthauses. »Das muss er sein. Sagte, er würde ’n bisschen Krawall machen.«

Wenn sie nach Hause kamen, musste sie mit ihm an seiner Ausdrucksweise arbeiten. »Danke, dass du zu mir gekommen bist. Bitte sag ihm, dass ich einen Plan habe, wie ich aus meinem Zimmer entwischen kann, und wenn er freundlicherweise mit einem Beförderungsmittel bereitstünde …« Sie runzelte die Stirn. Sie konnte nicht wissen, wann es im Inn ruhiger würde und ihre Entführer sicher schlafen würden. »Nun, er müsste wissen, wann es sicher ist.«

»Da kommt wer. Ich muss gehen.«

Wenige Augenblicke darauf erklang ein lautes Pochen an der Tür.

»Wenn Ihr nich wollt, dass dem Mädchen was passiert und dass Ihr verschnürt und geknebelt werdet, versucht nich mehr, mit ihr zu sprechen«, grummelte Burt im Flur.

Tja, verflixt. Das Mädchen musste es dem Hausherrn gesagt haben. Sie wollte sicherlich nicht dafür verantwortlich sein, dass dem Mädchen Schaden zugefügt wurde. »Ich verspreche, dass ich es nicht mehr mache.«

»Haltet Euch dran.«

Charlotte lehnte sich mit dem Rücken an die Tür und lauschte auf seine Schritte auf dem blanken Holzboden, als er den Flur entlangging.

Die laute, vornehme Stimme war verschwunden.

Es war gut von dem Gentleman, Jemmy zurück nach London zu schicken. Könnte sie ihn nur begleiten! Immerhin hatte er gesagt, dass der Gentleman eine Kutsche hatte. Mit etwas Glück könnte sie vor dem Morgengrauen zu Hause sein. Sie wollte sich nicht ausmalen, was geschähe, wenn sie bis dahin nicht zurückkehrte. Die Postkutsche wäre die einfachere Lösung gewesen.

Da ihre älteste Schwester, die jetzige Countess of Worthington, und ihr Schwager für mehrere Tage weggefahren waren, und Lord Harrington, der einzige Mann, der Charlotte derzeit den Hof machte, zu seinem Vater gereist war, hatte sie ihre gesellschaftlichen Termine abgesagt, anstatt ihre Base Jane dazu zu nötigen, ihre Anstandsdame zu spielen. Deshalb bestand die Möglichkeit, dass ihre Abwesenheit niemandem auffallen würde. Falls doch – sie zog eine Grimasse – nun, darüber würde sie nachdenken, wenn es so weit war. Sicher könnte sie mit ihrer Familie eine glaubhafte Geschichte ersinnen.

Etwas später verrieten der Lärm eines Pferdegespanns und der Ruf eines Kutschers nach Passagieren Charlotte, dass die Postkutsche angekommen war. Sie betete, dass Jemmy darin saß, als das Gefährt wieder losfuhr.

Sie legte sich auf ihr schmales Bett und setzte ihre Katze dicht neben sich. Sie sollte versuchen, sich so gut wie möglich auszuruhen, um sich auf eine ganze Nacht auf der Straße vorzubereiten, und ein Schläfchen vor dem Abendessen wäre dafür das Richtige.

Sie hatte keinen leichten Schlaf, aber wenn jemand anklopfte oder ihren Namen riefe, würde sie sogleich aufwachen. Wahrscheinlich kam das daher, dass sie die Zweitälteste in einer großen Familie war.

Bevor sie jedoch in den Schlaf gleiten konnte, erklangen feste Schritte im Flur und eine Tür neben ihrer wurde geöffnet. »Bitte sehr, Mylord. Ihr werdet Wasser vorfinden. Das Abendessen ist in einer halben Stunde bereit.«

Kurz herrschte Stille, bevor der Gentleman sagte: »Sind Sie vollkommen sicher, dass dies Ihr bestes Zimmer ist?«

Charlotte unterdrückte ein Lächeln. Wer auch immer Lord Braxton spielte, musste ihn gut kennen.

»Es tut mir leid, Mylord, aber dies ist das Beste, das ich Euch bieten kann.«

Ein lautes Seufzen folgte. »Ich hoffe, Sie bereiten einen besseren Essenstisch vor, als dieses Zimmer erwarten lässt.«

Sie schlug sich die Hände auf den Mund und gab sich Mühe, ihr Lachen zu unterdrücken. Der arme Gentleman könnte von Glück reden, wenn ihm niemand ins Essen spuckte.

Beim Gedanken an Essen begann ihr Magen zu knurren. Glücklicherweise klopfte es an der Tür, und das Zimmermädchen kam mit ihrem Mahl herein. Sie freute sich, dass es sowohl reichlich als auch wohlschmeckend war. Sie aß die Suppe und das Gemüse; das Brot, den Fisch und den Käse teilte sie mit Collette.

Als Charlotte und das Kätzchen sich sattgegessen hatten, wickelte sie das Brot, den Käse und das Fleisch, das übrig geblieben war, ein, um sie als Proviant für den Weg nach London mitzunehmen.

Als sie aus dem Fenster sah, schlenderten mehrere Männer die Straße entlang zum Inn. Es könnte noch einige Zeit dauern, bevor der Gastwirt und seine Leute sich zur Nacht hinlegen würden.