Leseprobe Der Nachtflüsterer

8 Tage zuvor

Jakob

Die Box, so wurde der alte Vernehmungsraum im Keller genannt, war lange nicht mehr benutzt worden. Zuletzt hatte man dort einen jungen Vietnamesen verhört, der in einem Krankenhaus damit gedroht hatte, sich mit einer selbst gebastelten Bombe in die Luft zu sprengen. Die Zündung war von diesem Idioten zum Glück falsch verkabelt worden. Der Vorfall lag sicher zwei Jahre zurück.

Jakob folgte seinem Kollegen Moritz in das Kellergeschoss des Präsidiums. Er musste aufpassen, dass er mit den nassen Turnschuhen nicht auf der glatten Treppe ausrutschte. Moritz hatte ihn mitten in der Nacht aus dem Schlaf geklingelt, und Jakob hatte im Halbschlaf das erste Paar Schuhe angezogen, das er gefunden hatte.

Draußen regnete es seit Tagen ohne Unterbrechung. Den Astra hatte Jakob zwei Straßen weiter parken müssen, da in der unmittelbaren Umgebung vor dem Präsidium nicht einmal Gott selbst einen Parkplatz mehr bekommen hätte. Seit über drei Wochen war der offizielle Parkplatz im Hof gesperrt.

Verdammte Baustelle.

Die schwere Metalltür offenbarte einen langen, mit Neonleuchten erhellten Gang. Die eine Hälfte der Röhren verweigerte ihren Dienst, die andere flackerte wie eine billige Partybeleuchtung in einer Dorfdiskothek. Es war kalt hier unten.

»Wo habt ihr ihn gefunden?«, erkundigte sich Jakob.

»In der Wohnung des Opfers. Die Nachbarn hatten Schreie gehört und die Örtliche angerufen. Als sie ankamen, war er noch da.«

»Wie, er war noch da? Was hat er gemacht?«

»Er saß auf dem Sofa und hat Fernsehen geschaut.«

Jakob blieb stehen. »Er hat was

»Der Typ ist völlig krank.« Moritz forderte ihn mit einer Handbewegung auf, weiterzulaufen.

Im Besprechungsraum warteten bereits Emma und Lukas, ebenso Jürgen, der Chef der hiesigen Mordkommission. Alle begrüßten sich wortlos mit einem Nicken.

Jakob atmete tief ein, schmiss die nasse Jacke auf den Tisch und lief zum Spiegelglasfenster. In der Box saß ein Mann auf dem Verhörstuhl. Mitte vierzig, kurze braune Haare, unauffälliges graues T-Shirt. Seine Hände hatte er zufrieden vor sich verschränkt.

»Was wissen wir über ihn?«

»Gar nichts«, antwortete Jürgen. Der Kriminalchef zog gierig an seiner Zigarette. »Kein Name, keine Daten, nichts.«

»Fingerabdrücke?«

»Fehlanzeige. Noch nicht einmal einen Personalausweis oder eine Bankkarte.«

Jakob musterte den Mann erneut. »Wieder eine junge Frau?«

»Ja«, antwortete Emma.

Jakobs Verhältnis zu ihr war seit Wochen angespannt. Nach einer längeren Affäre – sie wollte eine Beziehung, er nicht – redeten sie nur noch miteinander, wenn es sich um die Arbeit drehte. Jakob fehlten die unverbindlichen Treffen … und der gute Sex.

»Dasselbe wie bei den anderen Opfern?«, hakte er nach.

Emma nickte. »Gerade zweiundzwanzig geworden.«

»Erzählt mir alles, bevor ich reingehe.«

Lukas reichte ihm einen Kaffee, den Jakob ablehnte. »Es ist Wahnsinn. Er hat sie zuerst mit Kabelbinder ans Bett gefesselt, bevor er ihr alle Finger und Zehen einzeln abgetrennt hat. Mit einer Gartenschere.«

Jakob runzelte die Stirn und verzog angewidert das Gesicht.

»Es geht noch weiter«, fuhr Lukas fort. »Die Augen. Er hat sie mit einer Feile ausgestochen. Dann hat er die Frau einfach liegen lassen, sich umgezogen und sich vor den Fernseher gesetzt. Sie war bereits tot, als die Kollegen eingetroffen sind.«

»Was für eine perverse Scheiße«, fluchte Jürgen und steckte sich eine neue Zigarette an.

»Sind die Körperteile diesmal …?«

»Nein«, antwortete Lukas. »Wie vom Erdboden verschluckt. Das Gleiche wie die letzten Male. Keine Ahnung, was er damit gemacht hat.«

»Er wird sie doch nicht …«, setzte Emma an, ohne ihren Satz zu beenden.

Allen war klar, was sie sagen wollte.

»Das finden wir raus, wenn wir ihm eine Kugel in den Kopf jagen und Bruno ihn aufschneidet«, sagte Moritz.

»Ich drück den Abzug«, zischte Lukas.

Jürgen zeigte ihnen den Vogel. »Wir sind hier nicht bei den Russen. Wir müssen rausfinden, was diesen Dreckskerl dazu getrieben hat.«

»Ich frag mich nur, warum er dieses Mal nicht abgehauen ist«, rätselte Jakob. »Und wo zum Teufel sind die Körperteile? Ich geh jetzt rein.«

Moritz öffnete ihm die Tür zur Box. Jakob setzte sich auf den Stuhl gegenüber dem Manne, der seine Arme entspannt auf den Tisch legte und ihn ansah. Der Unbekannte hatte ein markantes Kinn, trug einen Dreitagebart und einen Ohrring am linken Ohr. Auf der Stirn hatte er eine kleine Platzwunde, auf der sich eine dunkle Kruste gebildet hatte. Auf jeden Fall mindestens drei Tage alt.

»Mein Name ist Jakob Sulla, Polizeihauptkommissar. Wie ist Ihr Name?«

»Ich habe keinen Namen mehr.« Die tiefe Stimme des Mannes zeigte weder Unsicherheit noch sonstige emotionale Nuancen.

»Jeder hat einen Namen.«

»Ich nicht.«

»Aber Sie hatten einmal einen?«

»Das stimmt.«

»Und jetzt nicht mehr? Wie kommt das?«

Der Mann antwortete nicht.

Jakob schaute ihm in seine braunen Augen. Die Pupillen waren nicht geweitet, keine Anzeichen für Drogen. »Wissen Sie, was Sie getan haben?«

»Ja.«

»Was haben Sie getan?«

»Ich hab mir von ihr genommen, was nötig war.«

»Nötig wofür?«

Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Mannes aus. Ansonsten keine Reaktion auf Jakobs Frage.

»Ina Ronsbach und Vanessa Durm. Sagen Ihnen diese Namen etwas?«

»Sie waren meine beiden Letzten.«

Jakob schnaufte. »Warum?«

»Warum was?«

»Warum haben Sie diese jungen Frauen getötet?«

»Das verstehen Sie nicht.«

»Erklären Sie es mir.« Die Bilder der beiden Frauen, die letzten Monat tot aufgefunden worden waren, schossen Jakob ins Gedächtnis. Ina Ronsbach war auf dem Küchentisch mit Klebeband fixiert worden, bevor dieser Mistkerl ihr Herz und Lunge mit einem Kai-Shun-Messer herausgeschnitten hatte. Keine chirurgische Meisterleistung, eher das Werk eines Metzgers. Vanessa Durm, dem zweiten Opfer, fehlten nach der Behandlung alle Zähne, beide Ohren sowie ihre Zunge.

Jakob stellte sich die fürchterliche Prozedur vor, die beide Frauen vor ihrem Tod hatten durchleben müssen. Ein solches Martyrium konnte man nicht ansatzweise nachempfinden. Die Panik des hilflosen Ausgeliefertseins. Die Angst vor dem eigenen Tod. Die grauenvollen Schmerzen.

»Das bringt nichts. Sie würden es nicht verstehen.«

»Hör zu, du Drecksack«, begann Jakob unbeherrscht. Er krallte sich an der Tischkante fest. Seine Fingerkuppen pressten sich auf das kalte Metall. »Ich will wissen, wieso du Frauen abschlachtest. Ich will wissen, wo die Körperteile sind.« Jakob spürte Verachtung für diesen Mann.

Ein diabolisches Grinsen überzog das Gesicht des Mannes und sorgte dafür, dass sich Jakobs Nackenhaare aufstellten. Nie zuvor hatte er einen solchen Blick gesehen. Der pure Wahnsinn manifestierte sich im Gesichtsausdruck dieses Mannes. Jakob bekam es mit der Angst zu tun.

1

Samstag, 21:09 Uhr

Ben

Ben stocherte mit dem Strohhalm in den Eiswürfeln seines leer getrunkenen Mai Tais und starrte an die grün beleuchtete Wanduhr über dem Tresen. Der Abend neigte sich früher als geplant seinem Ende zu.

Vermasselt, dachte er sich.

Das Date war bisher bestenfalls mittelprächtig verlaufen, heute war nicht sein Tag.

Den einzigen Lacher hatte er geerntet, als er einen halben Liter Cola über den Kinosessel verteilt und im Anschluss auch noch die Nachos eines Sitznachbarn abgeräumt hatte.

Grandiose Aktion.

Er musterte Viola, die erneut in ihr Smartphone vertieft war und fleißig tippte. Sie hatte schnell klargemacht, was für eine Art Frau sie war: Krankenschwester, selbstbewusst und klug, mit einem trockenen Humor und beileibe nicht auf den Mund gefallen. Viola war dreiunddreißig, zwei Jahre älter als er selbst. Bewusst oder unbewusst hatte sie durchsickern lassen, dass nette Kerle wie Ben normalerweise nicht in ihr Beuteschema fielen.

»Besonders gesprächig bist du nicht, oder?«, fragte Viola und widmete sich wieder ihrem Handy.

»Kommt drauf an«, antwortete Ben, woraufhin ihr Blick zu ihm zurückwanderte. »Aber ja, ein Entertainer bin ich wohl nicht wirklich. War ich noch nie.«

»Schade, dabei bist du doch echt ein Hübscher.«

Ben hatte mit seinen Einsvierundachtzig, den kurzen braunen Haaren und dem recht markanten Gesicht nie Probleme gehabt, Frauen kennenzulernen, auch wenn er weiß Gott keiner dieser aalglatten Schönlinge war. Über seinem linken Auge saß eine auffällige Narbe – ein unschönes Überbleibsel eines Schwimmbadsturzes im Alter von fünfzehn Jahren. Seine hellblauen Augen allerdings, für die er immer wieder mal ein Kompliment bekam, waren sein Kapital.

Ben zuckte mit den Schultern. »Man muss kein großer Schwätzer sein, um Frauenherzen zu erobern. Ich überzeuge wohl eher auf den zweiten Blick.«

Viola lächelte ihn herausfordernd an. »Ich bin sehr gespannt.«

Zumindest wenn es grundlegend passt, fügte Ben in seinen Gedanken hinzu. Denn immer wieder zogen ihn Frauen an, die nicht zu ihm passten. Er hasste es, aber es war nicht zu ändern. Irgendwie interessierten ihn nur diejenigen, von denen er wusste, dass er es schwer haben würde, sie für sich zu gewinnen. Der Reiz der Herausforderung. Wie bescheuert.

Er schaute Viola an, wie er es heute schon unzählige Male getan hatte. Diese Lippen – sinnlich, voll, einfach perfekt. Dann der Leberfleck rechts über ihrer Lippe, der besondere Touch. Jedes Mal, wenn er sie ansah, stellte er sich vor, sie zu küssen. Ihre smaragdgrünen Augen erzeugten eine Sogwirkung auf seine Seele. Er konnte sich darin verlieren. Er wollte sich darin verlieren.

Das schokobraune Haar, schulterlang und leicht gelockt. Perfekte Brüste, versteckt unter einem lässigen schwarz-violett gestreiften Shirt. Sie hatte eine weibliche Figur, nicht zu dürr. Viola war eine Traumfrau, zumindest optisch.

Sie nahm seinen Blick wahr, legte das Handy auf den Tisch und warf ihm ein Lächeln zu, das keine halbe Sekunde andauerte. »Willst du noch was?« Viola blickte erneut kurz auf ihr Smartphone. Es war dieser typische »Wie viel Uhr ist es? Oh, schön so spät?«-Blick.

Ben verneinte mit einem fragenden Schulterzucken und einem zaghaften Kopfschütteln. Ein gediegener James-Morrison-Wohlfühlsong tönte durch die Bar. Ein romantisches Lied für einen unromantischen Abend.

Viola hatte ihm nach dem Kino klargemacht, dass die Pizza ausfallen müsse und sie nur noch Zeit für ein Getränk habe. Einen wirklichen Grund hatte sie ihm nicht genannt. Warum auch?

»Okay, dann zahlen wir, oder?«

»Können wir machen.« Ben sah sich nach der Bedienung um. Sie war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich schob sie gerade ein weiteres dieser Salami-Käse-Baguettes in den Ofen. Fünf Stück hatte sie schon an ihm vorbeigetragen und dafür gesorgt, dass der unverwechselbare Duft aufgebackener Fertigware in seine Nase gezogen war.

»Lustig, wie du immer deine Augen zusammenkneifst, wenn du nach irgendetwas Ausschau hältst.«

Ben zuckte mit den Schultern. »Eigentlich hab ich Kontaktlinsen.«

»Eigentlich?«, hakte sie nach. »Heute nicht?«

»Muss mir neue besorgen«, erklärte er.

»Hast du denn keine Brille?«

»Schon. Aber von Brillen bekomm ich Kopfschmerzen. Die zieh ich nur ab und an zum Autofahren auf. Aber so schlecht seh ich gar nicht. Nur ein klein wenig unscharf eben.«

Viola schmunzelte. »Was verdient man so als Comiczeichner?«

»Kommt drauf an.«

»Worauf?«

»Na ja, ich zeichne nicht nur Comics. Je nach Auftrag sind es auch Bilder für Magazine, Buch- und Website-Illustrationen, Storyboards. Alles Mögliche eben.«

»Und wie ist deine Auftragslage?«

Will sie jetzt einen Kontoauszug sehen? »Kann mich nicht beklagen.«

Violas Mimik zufolge hatte sie mit einer ausführlicheren Antwort gerechnet.

»Aber falls du dir Sorgen um mich machst, kann ich dich beruhigen. Strom und Wasser wurden noch nicht abgestellt.«

Lachgrübchen verzierten Violas Gesicht. »So hab ich das nicht gemeint.« Ihr Smartphone schickte eine kurze Vibration durch das Holz des Tisches, die sich bis zu Bens Ellenbogen ausbreitete. Sie wandte sich sofort ihrem Handy zu.

Langsam nervt es. Am liebsten würde ich dieses Ding im Aquarium in der Ecke versenken. »Scheint eine wichtige Unterhaltung zu sein.«

Viola schnaufte genervt. »Ja, sorry, ist echt wichtig.«

Aha. Na klar. Sicher doch. »Hast du Nouvius?«, fragte er.

»Nein«, antwortete sie, ohne mit dem Tippen aufzuhören. »Bin bei WhatsApp geblieben. Wieso?«

»Schade.« Ben grinste.

Viola legte das Smartphone wieder auf den Tisch. »Wieso schade?«

Ben schmunzelte und zog sein Handy aus der Hosentasche. Er öffnete die Nouvius-App und reichte ihr das Smartphone. »Klick mal auf das grüne Symbol.«

Viola tat es und betrachtete das Display. Sie runzelte die Stirn und schien zunächst verwirrt. »Wessen Chat ist das?«

»Keine Ahnung.«

»Wie, keine Ahnung?«

»Von irgendjemandem im Umkreis von dreißig Metern.«

Viola schaute sich ungläubig um. Auch Ben blickte um sich. Die Cocktailbar war bestens besucht, jeder zweite Gast hatte ein Handy in der Hand oder auf dem Tisch liegen. Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert.

»Jetzt klick mal auf den Pfeil links oben in der Ecke.«

Viola klickte. Sie las einige Zeilen.

»Ein anderer Chat? Auch von hier?«

»Japp.«

»Okaaaay, sehr strange.«

Ben genoss den Augenblick. Er hatte sie verblüfft.

»Sag mal, das ist doch bestimmt illegal.«

»Gut möglich.«

»Ähm, ich hab keine Ahnung, wie so was funktioniert, aber wieso kann dein Handy so was? Also ich meine, bist du irgendwie ein Stalker oder so?«

»Quatsch«, widersprach Ben bestimmt. »Bin ich nicht.«

»Erklärs mir.« Viola schaute erneut neugierig auf das Display.

»Meine Nouvius-Version hat einen kleinen Hack hinter sich. Von Tommy.«

»Dein Bruder? Der Hightechfreak?«

Ben nickte. »Aber ich versteh von diesem Hackerzeug nichts.«

Viola zuckte mit den Schultern. »Mir gehts da nicht anders.«

Tommy hatte ihm vor einigen Wochen sein altes Smartphone vermacht. Bei ihm musste es stets das allerneueste Modell sein, da machte Bens großer Bruder keine Kompromisse. Ben fragte sich jedes Mal, wie man derart viel Geld für ein bescheuertes Handy ausgeben konnte, nur weil es drei Gramm leichter war und die Kamera das siebenmillionste Pixel mehr hatte.

»Unglaublich, dass so was funktioniert. Wenn das der Hersteller wüsste, würde dein Bruder üble Probleme bekommen.« Viola war noch immer verblüfft. »Wenn publik wird, dass Nouvius gehackt wurde, benutzt doch niemand mehr diese App.«

»Na ja, zuerst wollte Tommy den Hersteller über die Sicherheitslücke informieren. Er dachte, dann klingelt die Kasse.«

»Aber?«

»Die wissen über dieses Problem schon längst Bescheid.«

»Bitte was?«

Ben erinnerte sich daran, wie Tommy ausgeflippt war, als er diese Tatsache herausgefunden hatte. Monatelang hatte sein Bruder an der Software gearbeitet. Der Lohn war ein nettes Gimmick, das keinen Cent eingebracht hatte. »Dass es theoretisch möglich ist, Gespräche mitzuverfolgen, steht in den tiefsten Untiefen der AGB. Wie oft hast du schon AGB gelesen?«

Viola schüttelte den Kopf. »Ich glaubs ja nicht. Was für eine Schweinerei.«

»Es interessiert sie deswegen nicht, weil man diese Funktion als Nutzer deaktivieren kann, wenn man denn weiß, dass es sie überhaupt gibt. Dann nutzt auch Tommys Hack nichts mehr.«

»Damit bewegen sie sich wunderbar in der Grauzone.«

»Richtig. Was ich wohl in deinem Chat so gelesen hätte?«

Viola warf ihm einen bösen Blick zu.

»Scherz. Hätte ich nie gemacht.«

Die Verärgerung in Violas Mimik verschwand wieder.

Der Blick der Kellnerin mit den wasserstoffblonden Haaren traf sich mit dem von Ben. Zielstrebig lief sie auf den Tisch zu. »Kann ich euch noch was bringen?« Ihre Stimme klang heiser.

»Wir würden dann gerne zahlen«, sagte Viola und widmete sich wieder Bens Smartphone. Als die Bedienung weit genug weg war, stellte Viola weitere Fragen: »Wieso sieht man hier keine Namen? Also … man sieht nicht, wer mit wem schreibt.«

»So weit war Tommy wohl noch nicht. Sein Hack kann nur die Gespräche entschlüsseln, keine Namen und Nummern.«

»Und was heißen die Zahlen?«

»Die vordere ist einfach nur die Chatnummer, die hintere gibt die Anzahl der Personen an, die gerade miteinander schreiben.«

Viola schmunzelte.

»Was ist?«, wollte Ben wissen. »Um was gehts in dem Chat?«

»Ich bin schon wieder in einer anderen Unterhaltung.«

Ben lachte. Hätte er sein Handy nur schon früher gezückt.

»Was ist eigentlich genau mit deinem Bruder los? Du hast am Telefon nur mal kurz erzählt, dass er nicht mehr vor die Tür geht. Was hat er denn?«

»Nur, wenn es sein muss«, erklärte Ben. »Ich glaube, das letzte Mal, dass er die Wohnung verlassen hat, war, als er seine Tabletten während eines längeren Stromausfalls nicht mehr online bestellen konnte.«

»Wieso hat er dich da nicht angerufen?«

Ben runzelte die Stirn. »Hat er. Aber ich war im Urlaub in Italien. Hab am Telefon live mitbekommen, wie er gefühlt alle zwei Minuten eine Panikattacke bekommen hat. Die Apotheke ist keine achthundert Meter weit von seiner Wohnung entfernt, aber das Ganze hat fast zwei Stunden gedauert.«

Viola rollte mit den Augen und unterbrach kurzzeitig das Lesen der Chatnachrichten. »So krass? Ach herrje.«

»Na ja, er leidet unter ziemlich starken Ängsten, denen er sich einfach nicht mehr aussetzt.«

»Und wie bekommt er dann sein Leben auf die Reihe?« Ihr Blick richtete sich wieder auf das Display.

»Du wirst verwundert sein, wie gut das heutzutage funktioniert. Er bestellt alles online und lässt es sich liefern … von Arzneien, Getränken bis hin zum Obst und Gemüse. Einmal die Woche kaufe ich für ihn mit ein, seitdem ich wieder hier in der Stadt wohne.«

»Klingt echt heftig.« Viola tippte sich weiter durch die verschiedenen Chats.

»Und? Gibt es interessante Gespräche hier?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Schatz, ich liebe dich … Schatz, ich liebe dich mehr als meine Frau … Schatz, ich liebe dich nicht mehr.«

»Das Übliche also.«

»Oh, ach ja! Irgendjemand hat noch geschrieben, wie scheiße die Cocktails hier schmecken.«

Ben zuckte mit den Schultern. »Also meiner war in Ordnung.«

»Du meinst diesen Mädchen-Cocktail?«

Mädchen-Cocktail? So ein Blödsinn! Wahrscheinlich hätte sie es männlicher gefunden, wenn er ein Bier bestellt hätte. Drauf geschissen. Keine Lust, irgendwas zu trinken, um männlicher zu wirken.

Genau solche Kommentare nervten ihn an Viola. Doch ihre perfekten Zähne, die sie mit jedem Lächeln zur Schau stellte, als wären es strahlend weiße Diamanten, machten ihre gelegentlichen Aussetzer vergessen.

Die Kellnerin brachte die Rechnung. »Getrennt oder zusammen?«

Ben griff nach seinem Geldbeutel in der hinteren Hosentasche. Sein Blick streifte dabei Viola, die mit seltsam angespannter Miene auf das Display starrte.

»Zusammen.« Sie deutete Ben an, die Rechnung schnell zu begleichen.

Ähm, okay.

»Sechszehn vierzig«, sagte die Blondine und tippte auf ihrem digitalen Lesegerät.

»Stimmt so.«

»Danke. Einen schönen Abend euch noch.«

»Jaja, danke«, sagte Viola hastig und machte der Kellnerin deutlich, dass sie verschwinden sollte. Der Blick der Blondine sprach Bände. Sie schüttelte den Kopf und machte sich auf zur Bar.

Viola erhob sich sofort von ihrem Platz, zog ihren Stuhl eilig um den Tisch und setzte sich neben Ben. »Schau dir das an.« Sie zeigte ihm das Smartphone. Ein Chat war noch geöffnet.

Wo bist du?

noch in der stadt

Und die beute?

im haus

Die studentin?

ja

Lebt sie noch?

ja, aber nicht mehr lange

Halte dich genau an den plan

keine sorge. ich weiß bescheid.

 

 

Ach du Scheiße!

Ben und Viola sahen sich entsetzt an.

»Denkst du, das ist ein Scherz?« Der Unterton in ihrer Stimme ließ darauf schließen, dass sie selbst nicht mit einem Ja rechnete.

»Keine Ahnung. Verdammt! Ich glaub nicht.«

»Was machen wir jetzt?«

Ben klickte auf distance. »Zwischen den beiden Chatpartnern liegen sieben Kilometer.« Er klickte erneut.

Chat 17-2.

Chatnummer 17, zwei Personen.

Viola drückte seine Hand. »Da! Jemand schreibt wieder was!«

user is typing …

Die beiden starrten gebannt auf das Display. Dann spürte Ben Violas Arm an seinem eigenen. Ihre Haare berührten seine Wange, er konnte ihr Parfüm riechen. Elegant und feminin. Er glaubte, den Duft von Jasmin und Orangenblüte wahrzunehmen. Für einen Augenblick hatte er alles um sich herum vergessen.

Hast du die nächste schon ausgewählt?

es gibt zwei kandidatinnen

Melde dich, sobald alles getan ist

Mach ich.

 

user left chat …
disconnect in …
1:59
1:58
1:57

»Scheiße, der Chat schließt sich gleich!«, zischte Ben aufgeregt. »Wir müssen rausfinden, wer das geschrieben hat. Und die Polizei informieren.«

»Aber wie?«

Ben sprang auf und schaute sich hektisch um. Allein an den Tischen um ihn herum waren fünf Menschen mit ihrem Handy zugange. An einem Tisch direkt nebenan saßen drei junge Frauen, die sich amüsiert unterhielten und lauthals lachten. Eine davon, eine dicke Blondine mit einem zu engen Shirt, tippte auf ihrem Handy.

Auf keinen Fall.

Zwei Männer in Anzügen werkelten ebenfalls mit ihren Smartphones herum, auf dem Tisch lagen Börsenzeitungen und Notizblöcke. An einem anderen Tisch saßen zwei Pärchen. Während das eine Paar Händchen hielt und sich mit verliebtem Blick unterhielt, tippten die anderen beiden gelangweilt auf ihren Mobiltelefonen.

Weiter hinten saß ein Mann mit einem zusammengebundenen Zopf – die schwarzen Haare hingen beinahe bis zu seinem Hintern – allein auf einem Barhocker. Seine Arme waren vollständig tätowiert. Auch er hielt ein Smartphone in der Hand. Er widmete sich kurz dem Barkeeper und schien etwas bei diesem zu bestellen. Der Schönling hinter dem Tresen nickte ihm zu und griff nach einer Flasche aus dem oberen Regal.

Der könnte es sein.

1:23
1:22

»Wir rufen an«, schlug Ben vor.

»Geht das?«

»Ja, aber danach ist der Chat bestimmt weg. Wir haben nur einen Versuch, denke ich.«

»Na dann los.« Viola drückte seine Schulter. »Wir müssen alle hier drin im Blickfeld haben, damit wir sehen können, wer den Anruf annimmt. Ich stell mich da hinten in die Ecke vors Klo. Dann kann ich den ganzen hinteren Bereich sehen. Du gehst am besten vor zum Eingang.«

Noch bevor Ben etwas sagen konnte, war sie bereits losgelaufen. Er schaute noch einmal auf das Display.

0:47
0:46
0:45

Ben lief an dem Frauentisch vorbei. Die dicke Blondine schaute ihm in die Augen. Er wandte seinen Blick ab und lief angespannt durch die Cocktailbar. Weitere Menschen mit Handys: ein älterer Mann an einem der Stehtische, zwei Jugendliche, nicht älter als sechzehn, ein vollbärtiger, dunkelhäutiger Kerl mit einem Afro, der aber wohl eher auf seinem Smartphone spielte, so wild, wie er auf dem Display herumdrückte.

0:28
0:27

Ein Stehtisch in der Ecke des Raumes, unmittelbar neben der gläsernen Eingangstür, erwies sich als geeigneter Platz. Von dieser Position aus hatte Ben jetzt alles im vorderen Bereich im Blick. Auch den tätowierten Mann auf der gegenüberliegenden Seite sah er durch die Bar hindurch gut genug, falls dieser das Handy ans Ohr halten würde.

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Ben zog sein Handy aus der Tasche. Um unauffällig zu bleiben, hielt er es unter den Tisch.

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0:08

Er drückte auf den Text des Chats. Ein Fenster ploppte auf.

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0:03

Ben drückte auf call.