Leseprobe Der Patient

Kapitel 2

Zwei Jahrzehnte zuvor, Manchester.

Knirschend grub sich das Reifenprofil des grauen Ford Focus in den Kies der Einfahrt. Hochgewachsenes Pampasgras säumte den Schotterweg, wog sich sanft im Wind. Der Auspuff knackte einen Moment, als sich das aufgeheizte Metall abkühlte und zusammenzog. Bevor David die Tür öffnete, ließ er seinen Blick durch den Innenraum des Wagens schweifen. Auf der Rückbank lag ein Kuscheltier, ein braunes Kaninchen mit schlaffen Ohren. Mit einem Griff schnappte er sich das Plüschtier und zog es an den Ohren nach vorn. Zwischen den Vordersitzen stand noch der Kaffeepappbecher, den er vor zwei Tagen an einer Tankstelle an der A57 nahe Glossop gekauft hatte. Ein kleiner Rest war übrig geblieben und verströmte einen muffigen Geruch. David packte den Becher, schwang seine Tasche über die Schulter und machte sich auf den kurzen Weg zur Haustür, vorbei an der weißen Rispenhortensie, die jedes Jahr mehr Raum für sich beanspruchte. Wenn er sie nicht bald zurückschnitt, würde sie im nächsten Jahr den Türrahmen erreichen. Es war nur eine von vielen Aufgaben auf einer stetig wachsenden Liste, die er abarbeiten wollte. Doch Zeit war ein knappes Gut. Zwischen der Arbeit, den langen Fahrten und dem Stehen im Berufsverkehr, den Kindern und dem Haus blieb am Ende des Tages oft nur noch genug Energie, um zu essen und zu schlafen. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, drangen Stimmen aus dem Fernseher zu ihm herüber.

Es war keine der Serien, die Nicole so liebte. Ihr Geschmack war ihm ein Rätsel, eine Mischung aus trockenem Humor und Trash-Movies, die oft erst spätabends oder wieder in den frühen Morgenstunden gesendet wurden, wenn die Kinder und er schon lange schliefen.

Das, was jetzt aus dem Wohnzimmer drang, war das vertraute Geplapper einer Zeichentrickserie. Er warf den säuerlich riechenden Kaffeebecher in den Mülleimer und spähte ins Wohnzimmer. Dort saßen seine Töchter Mia und Emily mit starren Augen vor dem Fernseher.

„Hat Mama euch erlaubt, fernzusehen?“, fragte er, lehnte sich mit der Schulter an den Türrahmen.

„Ja“, antwortete Mia, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. Obwohl sie erst sieben Jahre alt war, hatte sie schon die selbstbewusste Art ihrer Mutter angenommen.

„Und wo ist Mama?“

„Oben“, sagte Mia, immer noch ohne den Fernseher aus den Augen zu lassen.

Er hörte das Klacken von Absatzschuhen auf dem knarzenden Holz der Treppe. Seine Frau kam herunter. Sie trug ein elegantes Cocktailkleid, das sie seit Jahren nicht mehr angezogen hatte. Es stammte aus der Zeit vor ihrer letzten Schwangerschaft. Sein heutiger Dienstplan hatte ihr ein paar Stunden Freizeit verschafft. Sie wollte mit Stephanie ausgehen, einer Freundin aus Universitätstagen. Ein seltenes Vergnügen in ihrem sonst so hektischen Alltag. Sie sah schön aus.

„Liebling!“, begrüßte seine Frau ihn knapp, während sie im Gehen ihre Ohrringe anlegte. „Ich muss jetzt schon los, sonst komme ich zu spät.“

Er hielt ihr den Autoschlüssel entgegen. „Du schaffst es noch rechtzeitig“, sagte er.

„Danke dir“, antwortete sie und hauchte einen Kuss auf seine Wange. Sie wühlte in der Handtasche, zog parallel die Speisekarte einer Pizzeria aus einer Schublade hervor. „Die Kinder waren jetzt lange genug vor der Flimmerkiste.“

Er blickte aus dem Fenster, hinter dem die Sonnenstrahlen den Garten fluteten. Die Sonne stand noch hoch am Himmel. Es war das perfekte Wetter für die Kinder, um draußen zu spielen. Der Rasen war etwas wild und hochgewachsen, übersät von Wildblumen.

„Weißt du schon, wie lang du weg sein wirst?“

„Es könnte spät werden. Bestellt euch was Leckeres oder wärmt die Lasagne von gestern auf. Du brauchst später nicht auf mich warten; bring die beiden nur rechtzeitig ins Bett.“

Sie verabschiedete sich mit einem Kuss und ging zur Tür hinaus. Zwei Minuten später hörte er den Motor, der seit einigen Monaten nicht mehr rund lief.

Schon bald würde er sich darum kümmern müssen. Noch eine Aufgabe mehr auf seiner immer länger werdenden To-do-Liste. Doch er schob den Gedanken beiseite und griff nach der Fernbedienung, was den misstrauischen Blick seiner Töchter auf sich zog. Bevor sie protestieren konnten, hatte er bereits den Sportkanal eingeschaltet, auf dem ein Fußballspiel ausgestrahlt wurde.

„Aber Papa …“, jammerte Emily. „Lass uns doch bitte die Serie zu Ende schauen. Nur noch diese eine Folge.“

„Ich habe eine bessere Idee“, erwiderte er und hob beschwichtigend die Hand. „Ich nehme die Folge auf, damit ihr nichts verpasst. Ihr geht raus und spielt ein bisschen an der frischen Luft. Später wärme ich die Lasagne auf und wir schauen die restliche Folge beim Essen. Was haltet ihr davon?“

Sie blickten sich an, als würden sie in einer nur ihnen vertrauten Geheimsprache kommunizieren.

„Einverstanden“, stimmte Mia zu und nahm ihre kleine Schwester an der Hand.

„Aber das bleibt unser kleines Geheimnis. Mama muss davon nichts wissen.“

„Welche Lasagne?“, fragte sie, kurz bevor sie die Terrassentür zum Garten erreichte. Sie drehte sich noch einmal mit einem fragenden Ausdruck im Gesicht um und legte den Kopf schief.

„Die von gestern Abend. Die schmeckt am nächsten Tag noch besser“, antwortete er wahrheitsgemäß und lächelte.

„Können wir stattdessen Pizza haben?“

Mia hatte das Gespräch zwischen ihm und Nicole mitgehört und war eine hartnäckige Verhandlerin. Er dachte an die unglücklichen Seelen, die in der Zukunft versuchen würden, mit seiner Tochter zu debattieren. Sie würden es nicht leicht haben.

„Na gut, dann also Pizza“, seufzte er, um einer weiteren Diskussion aus dem Weg zu gehen.

Er nahm ein kühles Bier aus dem Kühlschrank und ließ sich in den alten, bequemen Sessel sinken. Dieser Sessel war mehr als nur ein Möbelstück  er war sein treuer Gefährte, den er um keinen Preis der Welt austauschen würde, obwohl Nicole das alte Ding schon lange herausschmeißen wollte.

Nicole durfte alles in ihrem gemeinsamen Heim einrichten, aber dieser Sessel war seine letzte Bastion. Das Fußballspiel würde noch eine ganze Stunde dauern. Ein Duell, das genau seinen Geschmack traf. Er genoss diesen Moment der Ruhe, weit entfernt von der Hektik der Arbeit und warf gelegentlich einen prüfenden Blick durch die gläserne Terrassentür, um nach seinen Töchtern zu sehen. Schließlich wurde das Spiel abgepfiffen. Er sah auf seine Uhr. Seine Frau müsste mittlerweile bei ihrer Verabredung angekommen sein.

Mit einem Seufzer hievte er sich aus dem Sessel und schlug die Speisekarte auf, die Nicole ihnen dagelassen hatte. Mit einem Lächeln auf den Lippen lauschte er dem Spiel seiner Töchter.

„Kommt mal rein, ihr beiden“, rief er in den Garten hinein. Innerhalb von Sekunden stürmten die beiden Mädchen aus dem grünen Refugium, streiften nach einem strengen Seitenblick von ihm ihre schmutzigen Schuhe ab und ließen sich auf das Sofa fallen.

Es dauerte nicht lange, bis Mia ihre Wahl getroffen hatte. Die jüngere Emily, die ihrer großen Schwester in allem nacheiferte, wählte das Gleiche. Er gab die Bestellung am Telefon auf und hörte ein Klopfen an der Haustür. Josephine, Mias beste Freundin, stand unangekündigt vor ihm.

„Können Emily und Mia zum Spielen rauskommen?“, fragte sie leise. Er sah über die Schulter zu seinen Töchtern, beide sahen ihn mit flehenden Augen an.

„Na gut“, sagte er und seufzte. „Aber ihr bleibt im Garten und spielt nicht auf der Straße. Und sobald die Pizza geliefert wird, kommt ihr ohne Murren zum Essen rein.“

„Ja!“, ertönte es, als seine Töchter an ihm vorbeistürmten.

„Josephine, möchtest du bei uns mitessen? Dann sag ich deinen Eltern Bescheid“, rief er ihnen hinterher.

Sie schüttelte den Kopf. „Papa kocht später.“

Nach fünfzig Minuten klingelte es erneut an der Haustür. Ein junger Lieferjunge, keine zwanzig Jahre alt. David zog die Scheine aus dem Portemonnaie und nahm im Tausch drei Pizzen, davon zwei kleine und eine große, plus ein kleines triefendes Tütchen mit Fettflecken. Nachdem er die dampfenden Pizzen in der Küche abgestellt und die Pommes in eine blaue Schale umgeschüttet hatte, ging er hinaus in den Garten. Dort waren die drei Mädels nicht zu sehen. Er hatte ihnen doch verboten, auf der Straße zu spielen. Sein Herz raste und pumpte. Am Haus vorbei lief er auf die Schottereinfahrt. „Mia!“ Der Kies knatschte unter seinen Füßen, belegte seine Schuhe mit einer gräulichen Staubschicht. „Emily!“ Er sah die Ashdene Road hinunter. „Wo seid ihr?“, schrie er jetzt, während eine Gänsehaut seinen Rücken emporkroch. Die Kinder waren auch hier nirgends zu sehen. Zurück im Haus öffnete er die Glastür zum Garten und sah dort noch mal genauer nach. Der Garten war nicht groß. Groß genug, dass die Kinder dort spielen konnten, aber zu klein, um sich dort lange zu verstecken. Oft genug fand er sie auf Anhieb. Falls er tatsächlich einmal suchen musste, verriet sie ein leises, zweistimmiges Gekicher.

„Mia, Emily, das Essen ist da“, rief er und wartete auf eine Antwort, die ausblieb, ehe er das Lieblingsversteck der beiden aufsuchte, den schmalen Raum zwischen der Gartenhütte und dem Nachbargrundstück. Spätestens jetzt hätte er ein Kichern vernehmen müssen, aber der Garten blieb still. Er rannte zur Haustür zurück und schob die weißen Blüten der Rispenhortensie zur Seite. Die Kinder hatten sich hier schon einmal versteckt. Doch nicht diesmal.

„Mia, Emily, wenn ihr jetzt nicht reinkommt, esse ich ohne euch“, sagte er laut. Die subtile Drohung würde sie auf jeden Fall aus dem Versteck locken. Doch nichts bewegte sich in der Einfahrt, nichts außer das sich im Wind wiegende Pampasgras, das sanft von der tiefer stehenden rötlichen Sonne in Szene gesetzt wurde.

„Josephine?“, brüllte er. Als noch immer nichts passierte, rief er noch einmal, diesmal lauter. Zurück im Haus rannte er die Treppe nach oben, nahm dabei zwei Stufen auf einmal. Die Kinderzimmer waren leer; das Badezimmer war leer. „Mia! Emily!“, rief er, lauschte, vernahm aber nur die entfernten Geräusche der Straße, die gedämpft zu ihm drangen.

Ein Blick auf das Mobiltelefon verriet ihm, dass Nicole und Stephanie den ersten Cocktail tranken. Nicole trank einen Piña Colada und die Frauen lächelten breit in die Kamera. Er drückte die Nachricht weg und rannte zu den Eltern von Josephine. Wahrscheinlich hatten sie ihr Spiel nach drinnen verlegt und die Zeit aus den Augen verloren.

Das Haus der Millers war drei Grundstücke die Straße hinunter.

David stürzte ins Haus, kaum dass die Tür nach seinem hektischen Klingeln geöffnet wurde. „Walter, sind Emily und Mia hier?“

„Nein, sind sie nicht“, antwortete Walter und runzelte die Stirn.

„Sie haben mit Josephine in unserem Garten gespielt und jetzt finde ich die drei nirgends“, erklärte David und schaute an seinem Nachbarn vorbei.

„Josephine ist schon seit einer Weile zurück, wir essen gerade in der Küche“, erwiderte dieser und deutete mit dem Daumen in den Raum.

„Seit einer Weile?“ Die Panik in Davids Stimme war nun unverkennbar. Sie überrollte ihn wie eine Welle, die sich seit dem ersten unbeantworteten Ruf aufgebaut hatte und nun brach. Ohne ein weiteres Wort drängte er sich an Walter vorbei und eilte in die Küche, wo das Kratzen von Besteck auf Porzellan zu hören war.

Walter folgte ihm.

Cathrine Miller warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu.

„Hi.“ David wandte sich direkt an das kleine Mädchen, das gerade in ihr Abendessen vertieft war. „Weißt du, wo Emily und Mia sind?“

„Weiß ich nicht“, antwortete Josephine und zuckte mit den Schultern.

„Aber ihr habt doch zusammen gespielt, richtig?“

Sie nickte mit vollem Mund.

„Wo habt ihr zuletzt gespielt? Josephine das ist jetzt wirklich wichtig.“

„Auf der Straße, aber dann hat Papa zum Essen gerufen.“

„Ich hatte es doch verboten. Ich hatte euch doch gesagt, dass ihr nicht auf der Straße spielen sollt.“

„Ja schon, aber … Emilys Ball ist aus dem Gartentor gerollt.“

„Emilys Ball?“, flüsterte David und fuhr seine Hand übers Gesicht. „Und dann? Was haben meine Töchter gemacht, als du zum Essen gegangen bist?“

Josephine zuckte erneut mit den Schultern und nahm einen weiteren Bissen, ohne dabei von ihrem Teller aufzublicken.

„Was habt ihr dann gemacht?“, fragte er nun lauter.

„David, das reicht! Sie weiß es nicht“, schimpfte Cathrine.

„Wir helfen dir suchen. Du musst dir keine Sorgen machen. Es wird ihnen nichts passiert sein.“ Walter legte ihm die Hand auf die Schulter und zog ihn beiseite. „Wir suchen die Straße ab. Sie können nicht weit gekommen sein“, ermutigte ihn Walter und griff nach seiner Windjacke. „Wir werden sie finden.“

„Wenn du mir die Schlüssel gibst, bleiben Josephine und ich bei dir zu Hause und rufen dich sofort an, sobald sie zurückkommen“, sagte Cathrine.

David fuhr mit der Hand in die Tasche seiner Jeans, zog den Schlüsselbund heraus. Ein auffälliger Anhänger schmückte den Bund. Ein neongrüner Dinosaurier aus Kunststoff, ihre Lieblingsfigur aus der Kinderserie, die sie jeden Abend gemeinsam sahen. Die Kinder hatten ihn, mit Nicoles Hilfe, ausgesucht und als Geschenk zu seinem Geburtstag verpackt.

„Das ist der Haustürschlüssel“, erklärte David und hielt einen Schlüssel mit rundem Kopf zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. „Und das ist der Kellerschlüssel, drei Plätze rechts vom Haustürschlüssel, markiert mit Weiß.“ Er gab Cathrine den Schlüsselbund und eilte mit Walter hinaus. An der Tür drehte er sich noch einmal um. „Die Mädchen haben Angst vor dem Keller, aber bitte, Cathrine, kontrolliere das noch mal, ja?“

„Mach ich. Ich ruf dich an, sobald wir die Mädchen sehen.“

Als sie die Tür hinter sich schlossen, zeigte das Telefon von David Bennett 18:37 Uhr an.

David wählte die 999 und meldete die Kinder als vermisst. Sie warteten draußen auf das Eintreffen eines Streifenwagens. Ein ums andere Mal ging er die Straße hoch und runter, hielt Ausschau. Als endlich ein Streifenwagen in der Ashdene Road hielt, stiegen zwei Beamte aus.

„Wann wurden die Kinder zuletzt gesehen?“, fragte einer der Polizisten, während der andere ums Haus herumging. David schaute zu seinem Nachbarn.

„Josephine ist ungefähr um 18:20 Uhr nach Hause gekommen“, sagte Walter. David schluckte. „Also siebzehn Minuten bevor …“

Lange genug für zwei kleine Mädchen, um mehrere Straßen zu passieren. Sogar, um bis zum nächsten Supermarkt zu gelangen. Nun konnten sie schon viel weiter weg sein.

„In Ordnung“, antwortete der Polizist. David folgte dem Blick des Polizisten zum Kollegen, der den Kopf schüttelte. Nun griff der Polizist zum Funkgerät.

„Zwei vermisste Kinder, weiblich, fünf und sieben Jahre. Bitten um Verstärkung.“

Kapitel 3

Vor dreiundzwanzig Tagen war Clifford Parker zum Inspector befördert worden und hatte das neue Büro bezogen. Der Raum war im zweiten Stock des blockartigen Gebäudes gelegen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, endlich angekommen zu sein. Es erfüllte ihn mit naiver, kindlicher Freude, seine Stifte in seinen eigenen Behälter einzuordnen. Einige Zentimeter davon entfernt, weit genug, um nicht zu stören, stand ein silberner Bilderrahmen mit einem Foto, das seine Tochter mit der Golden-Retriever-Hündin Ruby zeigte. Natalie war damals acht Jahre und bereite sich nun auf das Studium vor. Ruby war vor fünf Jahren im hohen Alter gestorben. Das Foto war sein einziger persönlicher Gegenstand im Büro.

Gerade arbeitete er sich durch die Einzelheiten eines Falls, den er vor zwei Wochen übernommen hatte. Ein Raubüberfall, ohne allzu großen Wert. Der Verkäufer war verletzt worden, als der Täter ihn zu Boden schlug. Ein sachtes Klopfen an der Tür zog seine Aufmerksamkeit weg von den Zeugenaussagen und hin zum Neuankömmling. Im Türrahmen stand Intendant Higgins, der sich anlehnte.

„Parker, haben Sie einen Moment Zeit?“

„Ich komm gleich, in Ordnung? Geben Sie mir fünf Minuten.“

Higgins lächelte, ging aber nicht fort. „Mapleton möchte uns sprechen.“

Parker schloss das Programm sofort, sperrte seinen PC und folgte ihm hinaus. Mapleton war einer der Chief Super Intendants des Bezirkes und stand im Rang weit über ihnen – weit genug, um über die Geschicke der Polizei mitzubestimmen und nur wenigen Rechenschaft schuldig zu sein.

„Sie hätten damit anfangen können, dass es um Mapleton geht“, sagte Parker und schloss die Bürotür ab.

„Es sollte keine Rolle spielen, um wen es geht. Die Belange Mapletons sind Ihnen nur wichtiger als meine, aber ich verstehe das. Ich war auch so.“

Parker rümpfte die Nase und kam sich ertappt vor.

„Worum geht es denn?“, fragte Parker beiläufig, während sie das Revier durchquerten und an den Kollegen vorbeigingen.

„Das erfahren Sie gleich“, antwortete Higgins und schmunzelte.

Das Büro war mehr als doppelt so groß wie das von Parker und bot genügend Platz für einen geräumigen Tisch, auf dem Karten und Akten ausgebreitet lagen. Mapleton war dort nicht allein. Zwei Männer saßen neben ihm, je einer an jeder Seite.

„Darf ich vorstellen?“ Mapleton deutete auf die Neuankömmlinge. „Intendant Higgins und Inspector Parker.“

Parker nickte.

„Und dies sind unsere Gäste aus der nördlichen Command Area, Superintendant Mallett von der Rochdale Division und Superintendant Nichols von der Bury Division.“

Sie nahmen alle an dem großen runden Tisch Platz und Mrs. Green, Mapletons unverzichtbare Sekretärin, trat mit einem Tablett ein. Sie schenkte Kaffee, Tee oder Wasser aus, stellte eine Auswahl an Gebäck in die Mitte eines Beistelltisches. Parker nutzte diese kleine Pause, um einen Blick auf die Dokumente und Karten zu werfen.

Einige Blätter konzentrierten sich auf den Norden von Manchester, andere zeigten die gesamte Umgebung. Er erkannte Straßenpläne und topografische Karten, die das Gelände in all seinen Details darstellten.

„Danke, Margaret“, sagte Mapleton und entließ seine Sekretärin mit einem Kopfnicken. „Wir sind jetzt vollständig, also lasst uns anfangen.“ Die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme sicherte ihm die Aufmerksamkeit. „Gestern Abend wurden zwei Kinder in der Ashdene Road als vermisst gemeldet. Beides Mädchen – eins sieben, das andere fünf Jahre alt.“ Er lehnte sich vor, griff eine schwarze Akte und reichte sie Parker. Die Akte war dünn – zwei Fotografien, drei Zeugenaussagen. Die Mädchen waren unverkennbar Schwestern. Parker sah es an der Gesichtspartie, noch bevor er ihre Namen gelesen hatte.

Higgins lehnte sich zu ihm herüber und warf ebenfalls einen Blick auf die Berichte. „Sie wurden zuletzt gegen 18:20 Uhr gesehen, danach fehlt jede Spur. Es gibt zwar Zeugenaussagen, aber bis jetzt hat keine davon zu einem Ergebnis geführt.“

„Darf ich eine Anmerkung machen?“, fragte Parker und musterte weiterhin die dünne Akte. „Dieser Fall würde normalerweise in Inspector Cambolts Bereich fallen … Ich möchte vermeiden, dass es zu Unstimmigkeiten bezüglich der Zuständigkeit kommt.“

Mapleton nickte. „Inspector Cambolt hat eine vierjährige Tochter. Angesichts der Natur dieses Falls habe ich es für angebracht gehalten, den Fall jemandem zu übergeben, der emotional weniger involviert ist. Nach Rücksprache mit ihm und Intendant Higgins, natürlich. Ich bin im Bilde, Mr. Parker, dass Ihre eigene Tochter im Sommer bereits aufs College geht, richtig? Ich weiß das, weil ich Ihre Akte gelesen habe und weil meine jüngste Tochter im selben Jahrgang wie Ihre ist. Die vermissten Mädchen sind Teil einer alarmierenden Serie von Kindesentführungen.“ Mapleton beugte sich nach vorn und faltete die Hände. „In den letzten Monaten wurden mehrere Kinder als vermisst gemeldet, bisher ausschließlich im nördlichen Umkreis. Die Command Area in Stockport wurde besonders hart getroffen  vier Fälle. Dieser hier ist der Erste, der uns direkt betrifft.“ Er hielt inne und blickte auf seine Kollegen. „Wir haben uns nach intensiven Gesprächen darauf geeinigt, dass es im besten Interesse der Polizeiarbeit, der Kinder und ihrer Familien ist, unsere Kräfte zu bündeln und eine Sondereinheit mit den Ermittlungen zu betrauen. Und wir möchten, dass Sie diese Einheit leiten, Parker.“

„Dass Sie berücksichtigt wurden, habe ich zu verantworten“, warf Higgins an Parker gerichtet ein. „Mr. Mapleton wollte einen erfahrenen Inspector, aber ich habe ihn überzeugt, dass Sie das kalte Wasser abkönnen. Außerdem können wir einen frischen Blickwinkel gebrauchen. Sehen Sie es als Gelegenheit, als Herausforderung.“

„Higgins wird Ihnen die Einzelheiten mitteilen, insbesondere die Zusammensetzung der Kommission, wo Sie tätig sein werden und so weiter“, erklärte Mapleton, während er sie mit einem Handwink wieder hinausbefahl.

 

Parker folgte Higgins in die Kantine.

„Wollen Sie auch etwas?“, fragte Higgins und wandte sich zu ihm. „Besprechungen machen mich immer hungrig.“

„Milchkaffee und einen Muffin“, antwortete Parker.

„In Ordnung, ich mach das schon. Suchen Sie einen Platz.“

Parker sah sich um. Er wählte einen Tisch mit zwei Stühlen. Higgins nahm ihm gegenüber Platz und stellte das Tablett ab.

„Sie sehen aus, als ob Sie etwas loswerden wollen“, bemerkte Higgins, als er einen Schluck seines Espressos nahm.

Parker zögerte; seine Finger spielten mit dem Rand seiner Tasse. „Ich frage mich nur … Es muss doch andere geeignete Kandidaten gegeben haben.“

„Sicher. Es gibt immer andere“, antwortete Higgins.

Parker hob seine Tasse, setzte sie aber wieder ab, ohne einen Schluck genommen zu haben. „Ich habe wenig Erfahrung in diesem Bereich. Ich meine, ich bin Ihnen dankbar für das Vertrauen, mich zu beweisen, aber ich bin erst seit Kurzem Inspector und …“

„Aber Sie sind schon seit Jahren im Polizeidienst. Sie kennen die Arbeit und wissen, was von Ihnen erwartet wird. Wir brauchen jemanden, der Ruhe und Erfahrung ausstrahlt.“ Higgins hielt kurz inne, sein Blick fest auf Parker gerichtet. „Außerdem scheinen Sie besonnen und lassen sich nicht leicht einschüchtern. Dazu charismatisches Auftreten … Das ist auch im Umgang mit der Presse wichtig. Und Sie können sicher sein, dass dieser Fall großes mediales Interesse wecken wird.“

Parker rührte den Schaum in seinem Kaffee um und legte den Löffel zur Seite. Er nahm einen kleinen Schluck und verzog das Gesicht. Der Milchkaffee war nicht besonders gut, zu dünn. „Darf ich ehrlich und offen sprechen?“

„Nur zu.“

„Ich habe die Befürchtung, dass die Sonderkommission hinter den Erwartungen zurückbleiben wird. Der letzte Fall ist sechs Monate her, der älteste fast ein Jahr. Und alle Spuren verlaufen bis jetzt ins Leere.“

Higgins biss in sein Sandwich und nahm einen Schluck des Espressos. „Ich will ehrlich zu Ihnen sein.“ Er wischte sich den Mund mit einer dünnen Serviette ab. „Jedes Jahr werden über eintausend Kinder entführt, nur in Großbritannien. Die Erfahrungen zeigen, dass die meisten vermissten Kinder in den folgenden Tagen wieder auftauchen. Bei der Zeitspanne, über die wir hier reden, gehen wir nicht davon aus, dass sie noch am Leben sind. Statistisch gesehen sind sie alle tot oder außerhalb unserer Reichweite. Dies gilt umso mehr, da die Entführungen nach unserer Einschätzung nicht durch Familienmitglieder durchgeführt wurden. Also konzentrieren Sie sich nur auf die Bennett-Kinder. Finden Sie die anderen Kinder, wäre das ein Bonus, aber niemand erwartet das.“ Niemals hätte Higgins so vor einer Kamera gesprochen. Jeder Polizist war zu vorsichtigem Optimismus verpflichtet, ohne sich in Zusagen oder Zugeständnisse zu verwickeln. Jede falsche Aussage, jeder mediale Fehltritt, konnte schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen.

„Statistik ist nicht alles“, erwiderte Parker.

„Ich weiß. Um Ihnen die bestmöglichen Voraussetzungen für die Führung der Gruppe zu geben, können Sie sich Polizisten aus unserer Division aussuchen, die mit Ihnen zusammenarbeiten werden. Ich würde Ihnen aber empfehlen, auch über den Tellerrand hinauszublicken.“

„Heißt das, ich kann beliebige Personen auswählen?“ Im Kopf ging Parker schon die Kollegen durch und suchte nach geeigneten Kandidaten.

„Nein. Die gewählten Kollegen müssen von Mapleton abgesegnet werden. Und von mir. Aber ich vertrau Ihrem Urteil.“ Higgins lächelte. „Mapleton hingegen … Er wird Ihnen keinen Kollegen geben, der auf seiner Liste steht.“

Die ‚Mapleton-Liste‘ war eine urbane Legende geworden, die sich seit zwei Jahrzehnten hartnäckig hielt. Einige glaubten, es gäbe tatsächlich eine physische Liste mit den Namen von Polizisten, die bei Mapleton in Ungnade gefallen waren. Nur Mrs. Green wusste, ob diese Liste existierte. Doch sie schwieg beharrlich.

Parker trank einen letzten Schluck seines Milchkaffees und verfiel in nachdenkliches Schweigen. Higgins rutschte auf seinem Stuhl nach vorn, als Parker sein Schweigen brach.

„Wie viele kann ich auswählen?“

„Das Team wird aus acht Leuten bestehen, Sie mitgerechnet. Zwei Kollegen werden von der Rochester- und zwei von der Bury-Division gestellt. Sie haben also noch drei Personen, die Sie vorschlagen können.“

„Geben Sie mir Jones und Sturbridge.“

Higgins zückte einen Notizblock und notierte die Namen, daneben setzte er kleine Anmerkungen. Er nickte. Jones hatte jahrelange Erfahrung mit Entführungsfällen, Sturbridge hatte drei Jahre bei der Missing Persons Unit gearbeitet.

„Haben Sie noch jemanden im Sinn?“

„Geben Sie mir Charles Opton.“

Higgins blickte auf. „Warum in aller Welt Opton?“

„Ich habe fast zwei Jahrzehnte an seiner Seite gearbeitet. Er ist ein guter Polizist. Pragmatisch. Er packt Probleme direkt an der Wurzel und wird uns eine Hilfe sein.“

Higgins rieb sich die Stirn. „Ich kann nicht wirklich sehen, wie er eine Bereicherung sein könnte. Aber ich werde sehen, was ich tun kann.“ Dann stützte Higgins sich mit beiden Händen auf dem Tisch ab. „Sind Sie so weit? Wir haben noch einiges an Arbeit vor uns.“

 

Bereits am Nachmittag begrüßte Parker seine Kollegen im Besprechungsraum. Versteckt am Ende eines ruhigen Flurs waren sie mit Telefonen, Computeranschlüssen und Pinnwänden ausgestattet worden. Er sah sich um. Die Kollegen aus den nördlichen Divisionen hielten sich für sich, Sturbridge und Jones unterhielten sich leise, während Opton schweigend zwischen Jones und Carson saß.

„Guten Abend“, begrüßte er die Gruppe. „Unsere Sonderkommission hat den Auftrag, die Bennett-Kinder zu finden. Ich verzichte auf die Einzelheiten des Falls, da ich davon ausgehe, dass Sie alle das Dossier gelesen haben, bevor Sie hierherkamen. Wir werden methodisch vorgehen. Zunächst brauchen wir die Akten der anderen Alt-Fälle.“ Sein Blick wanderte zu den Kollegen aus Rochester und Bury. „Bringen Sie die Akten hierher – noch heute. Alles, was Sie haben. Wenn irgendwo etwas zu den Fällen notiert wurde, sei es auf Notizzetteln, Servietten oder Bierdeckeln, möchte ich es hier haben.“

Die Männer nickten.

„Darüber hinaus werden wir Zeugenaussagen aufnehmen und das gesamte Gelände samt Umgebung durchkämmen. Ich habe auch die Anordnung gegeben, Spürhunde einzusetzen. Nach Rücksprache mit Higgins wird die Öffentlichkeit eingeschaltet. Sturbridge, könnten Sie das bitte vorbereiten? Wir möchten sowohl im Radio, Internet, als auch im TV auf die Entführungs-Opfer aufmerksam machen.“

„Ich setze mich gleich dran“, antwortete sie.

„Als vierten Punkt durchsuchen wir unsere Datenbanken nach bekannten Sexualstraftätern und Personen, die in Verbindung mit Verbrechen gegen Kinder stehen.“ Er pinnte eine Karte der Stadt an die Wand und nahm einen schwarzen Marker zur Hand. Mit einem roten Fähnchen markierte er die Ashdene Road und malte schwarze Kreise auf die Karte. „Das sind unsere Suchraster. Wir arbeiten sie eins nach dem anderen ab. Diejenigen in räumlicher Nähe prüfen wir zuerst. Morgen werde ich persönlich noch einmal das Ehepaar Bennett aufsuchen.“

Kapitel 4

Die Luft im Raum hatte den Geruch des frittierten Essens angenommen, dass geliefert worden war. Parker wühlte sich durch die Akten. Er spürte die wachsende Anspannung im Nacken, schloss die Augen und massierte sich die Schläfen, um die aufkommenden Kopfschmerzen zu vertreiben.

„Das bringt mich hier nicht weiter“, murmelte er vor sich hin und erhob sich. Frische Luft, der Geruch von Natur und der Geschmack von Tabak. Das war, was er brauchte. Unter dem Vordach zündete er sich eine Zigarette an. Er hatte nicht viele Laster, aber das Rauchen war eines davon. Mit jedem Zug ließ die Anspannung nach. Prasselnder Regen bot ein beruhigendes Schauspiel.

„Was haben Sie?“, hörte er eine Stimme neben sich fragen. Es war keine Frage nach seinem Befinden, sondern eine Aufforderung zur Berichterstattung. Die Stimme gehörte zu Higgins.

„Etliche Treffer für Personen mit einschlägigem Hintergrund im weiteren Umkreis“, erklärte Parker.

„Das war zu erwarten“, antwortete Higgins, ohne eine Spur von Überraschung in seiner Stimme. „Wie gedenken Sie, vorzugehen?“

„Schritt für Schritt. Wir schicken Teams zu allen potenziellen Treffern und lassen sie überprüfen.“ Er schnippte die aufgerauchte Zigarette in eine Pfütze, wo sie sofort erlosch.

Higgins rümpfte die Nase.

„Ich melde mich, sobald ich etwas Konkretes habe.“

„Also gab es bis jetzt nichts Konkretes?“ Higgins’ Frage war mehr eine Feststellung als eine Frage.

Parker schnaubte. „Wir haben Hunderte von Anrufen erhalten und gehen jedem glaubwürdigen Hinweis nach. Aber wenn wir jedem Anrufer Glauben schenken würden, wären die Kinder gleichzeitig an fünf verschiedenen Orten.“ Die Pressekonferenz und die Medienpräsenz hatten Tausende von Stadtbewohnern alarmiert und dazu ermutigt, wachsam zu sein und bei kleinsten Anomalien die Polizei zu informieren.

Mehrere Constables hatten – auf Parkers Bitte hin und mit Higgins’ Zustimmung – die eingehenden Anrufe und Benachrichtigungen entgegengenommen und katalogisiert. Doch ein entscheidender Hinweis auf den Aufenthaltsort der Mädchen blieb aus. Mit jedem neuen Anruf wurde die Frustration größer. Ratlosigkeit herrschte vor.

 

Es war eben diese Ratlosigkeit, die Parker auf dem Weg zur Ashdene Road Kopfschmerzen bereitete. Opton steuerte den Streifenwagen durch den dichten Verkehr, während Parker gedankenverloren die Akten studierte. Dabei ließ er sich nicht von Opton ablenken, der zunächst gut gelaunt war, mit zunehmender Fahrt jedoch eine Aversion gegen die anderen Verkehrsteilnehmer entwickelte. Parker hörte nur mit halbem Ohr zu, doch sie fuhren entweder zu langsam, zu weit rechts oder vergaßen den Schulterblick. Es dauerte über eine halbe Stunde, bis sie endlich im Süden Manchesters ankamen, vorbei an der Baustelle des neuen Stadions, das für die Commonwealth Games errichtet wurde und durch mehrere verstopfte Hauptverkehrsadern. Er legte die Akten erst beiseite, als Opton den Wagen in die Ashdene Road lenkte und am Straßenrand parkte, vor dem Haus der Bennetts.

Schon zu Beginn des Gesprächs mit David Bennett wusste Parker, dass seine Probleme nicht kleiner werden würden.

Bennetts Blick trug Spuren tiefer Trauer. Seine müden, geröteten Augen spiegelten den Schmerz und Verzweiflung wider, die sein Inneres erfüllten. Sein Gesicht wirkte eingefallen und bleich, sein Haar ungekämmt und strähnig, als hätte er vergessen, sich darum zu kümmern. Es war beunruhigend zu sehen, wie wenig Zeit es brauchte, um einem Menschen seine Lebenskraft zu rauben. Nicole Bennett ging es kaum besser. Ihr Blick war leer. In ihren Augen lag der gleiche Schmerz, ihre Lippen zitterten. Noch hielt sie sich beisammen. Sie führte die Polizisten ins Wohnzimmer, bevor sie ihnen Tee brachte.

„Danke Ihnen“, sagte Parker und lächelte. Er legte Wärme in das Lächeln, um ihr ein wenig Halt und das Versprechen zu geben, dass man sie nicht allein lassen würde. Zwar war er sich nicht sicher, ob ihr das Versprechen viel wert sein würde, wenn das Undenkbare eintrat, aber es war alles, was er geben konnte. „Mr. und Mrs. Bennett, ich möchte Ihnen versichern, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun, um Ihre Töchter zu finden. Wir …“

„Und wenn das nicht genug ist?“, stammelte David Bennett und suchte den Blick des Polizisten.

„Wir arbeiten mit Hochdruck an der Suche“, antwortete Parker. Er straffte sich und erwiderte den Blick.

Nicole legte ihrem Mann eine Hand aufs Bein.

„Dürfen wir noch einmal nachfragen, wie Sie den Abend erlebt haben? Haben Sie irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt? Vielleicht ein Auto, das sonst nicht da ist? Einen Fremden, der Ihnen aufgefallen ist? Etwas in dieser Art?“

David schüttelte den Kopf. „Nein, ich hatte gesagt, ich rufe sie rein, sobald das Essen angekommen ist. Die Lieferung kam und ich bin rausgegangen, um sie zu rufen.“

„Wissen Sie noch, wo Sie die Bestellung aufgegeben hatten?“

„Natürlich.“ Er legte die Hand seiner Frau beiseite und stand auf. Aus der Küche hörten sie das Rascheln von Papier, bevor er mit einer zerknitterten Quittung in der Hand zurückkehrte.

Parker zog zwei Gummihandschuhe aus seiner Tasche sowie ein Plastiktütchen. Mit vorsichtigen Bewegungen verstaute er die Quittung darin.

„Und wann haben Sie Ihre Töchter noch mal zuletzt gesehen?“ Parker hatte eine Vorliebe für Kontrollfragen – eine Technik, die er häufig einsetzte, um auf Widersprüche in der Erzählung zu achten. Er wusste, dass Erinnerungen trügerisch sein konnten, sich verändern und anpassen, je öfter sie erzählt werden. Deshalb wiederholte er seine Fragen, soweit es die Situation zuließ, immer wieder, bis er das Gefühl hatte, das wahre Bild dessen zu sehen, was vorgefallen war.

„Als ich die Bestellung aufgegeben habe“, antwortete David. „17:45 Uhr – ich hatte gerade angerufen. Zwei, vielleicht drei Minuten später waren sie draußen zum Spielen. Ich habe kurz danach noch einmal durch das Fenster nach ihnen Ausschau gehalten, doch die genaue Uhrzeit kann ich nicht sagen.“

Parker nickte und machte sich eine Notiz in seinem Heft. Er betrachtete das Ehepaar vor ihm. „Wir sammeln alle Hinweise und haben bereits die Medien eingeschaltet. Ich bin zuversichtlich, dass wir bald einen sachdienlichen Hinweis bekommen werden.“

„Wir danken Ihnen“, sagte Nicole. Ihre Hand suchte die ihres Mannes, drückte sie fest.

„Eine letzte Frage habe ich noch“, sagte Parker. „Haben Sie jemanden, der Ihnen schaden möchte und dabei nicht davor zurückschrecken würde, Ihren Töchtern etwas anzutun?“ Die Bennetts erstarrten auf der Stelle. Ihre Augen wurden größer. Erst starrten sie einander, dann den Polizisten an.

„Sie meinen, Feinde?“, fragte David, runzelte die Stirn und zog seine Frau eng an sich. Sein Mund stand offen. „Welche Feinde denn?“, wisperte Nicole und sah Hilfe suchend zu ihrem Mann hoch. Es war ein weiterer Schlag ins Gesicht, eine weitere schmerzhafte Frage in einer ohnehin schon unerträglichen Situation. Aber es war eine Frage, die gestellt werden musste.

Alles in allem war das Gespräch ein Misserfolg gewesen. Parker wusste nicht, was er erwartet hatte. Nur, dass er mehr erwartet hatte, als eine Quittung für drei Pizzen und Pommes. Jones – derjenige mit der saubersten Handschrift – malte einen Zeitstrahl, auf dem die relevanten Daten standen. Zwischen der letzten Sichtung durch die Freundin der Mädchen und der Lieferung lagen nur wenige Minuten. Hatte der Fahrer also, wie die Karte es vermuten ließ, die Parsonage Road genommen, um in die Ashdene Road einzubiegen? War er an dem Haus der Millers vorbeigefahren?

Es dauerte nicht lange und er schickte einen Streifenwagen auf den Weg zur Pizzeria. Die möglichen Verdächtigen lagen auf einem großen Stapel. Parker hatte sie selbst durchgeschaut und dabei ein Sortiersystem angewendet. Diejenigen, die nah dran wohnten, lagen oben auf dem Stapel. Es war eine Auswahl von Leuten, die in der Vergangenheit auffällig geworden waren. Sie hatten eine großflächige Karte der Umgebung auf die Pinnwand geheftet und diese dann mit zahlreichen Stecknadeln einer breiten Farbpalette bearbeitet. Grün waren die Wohnorte der in Betracht kommenden Mitbürger. Weiß waren Hinweise, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nichts mit den Mädchen zu tun hatten oder falsch waren. Gelb waren Hinweise, die einer näheren Prüfung bedurften. Und Rot markierte die Hinweise, denen sie eine große Bedeutung einräumten.

Als die Beamten von der Pizzeria zurückkehrten, hielten sie vor versammelter Runde ihren Bericht, konnten aber keine konkreten Hinweise vorweisen.

„Der Lieferant muss doch etwas gesehen haben“, murmelte Parker.

Jones trat nach vorn. „Der Pizzabote konnte sich an nichts Ungewöhnliches erinnern, was in direktem Zusammenhang mit dem Verschwinden der Mädchen stehen könnte“, sagte er. „Er hat die Bestellung wie üblich ausgeliefert und konnte uns lediglich Informationen zu Fahrzeugen geben, die ihm auf seiner Route begegnet sind.“

Laut dem Pizzaboten hatte er die Mädchen nicht bemerkt, aber er konnte sich an mehrere Fahrzeuge entlang der Ashdene Road erinnern. Zwei waren ihm entgegengekommen, als er in die Straße hineinfuhr: ein weißer Transporter und ein blauer Kombi. Ein weiteres Fahrzeug  ein gelber Kleinwagen  war in Richtung des School Grove gefahren und möglicherweise weiter in Richtung Stephens Road. Das Kennzeichen konnte er zu keinem der Fahrzeuge nennen.

„Er kann sich allerdings nicht mit Sicherheit erinnern und hatte danach auch direkt die nächste Lieferung“, schloss Jones seinen Bericht.

Parker rieb sich über das Kinn, schlug dann geräuschvoll auf den Tisch vor sich. „Prüft noch einmal die Verkehrsüberwachung an den Hauptverkehrsrouten. Ich will die Kennzeichen dieser Fahrzeuge haben, von jeder Kamera, aus jedem Winkel, sowie die Route, die sie genommen haben. Sämtliche Verkehrskameras an den relevanten Punkten wurden doch bereits ausgewertet, oder?“

„Ja, das wurden sie. Aber ein weißer Van aus der Richtung taucht dort nirgends auf. Das habe ich selbst überprüft“, antwortete Jones.

„Dann möchte ich, dass zwei von euch jeden Nachbarn und jedes Geschäft nach privaten Überwachungskameras befragen. Und außerdem …“ Das Telefon von Leary klingelte. Parker warf einen Blick zu dem Kollegen. Hören, was dieser sagte, konnte er nicht, aber er bemerkte, dass Leary einzelne Worte auf einen Notizblock kritzelte. Leary unterstrich ein Wort doppelt und hielt den Block hoch, damit alle es sehen konnten.

Stockport

stand in Großbuchstaben auf dem Zettel. Parker wandte sich dem Stapel mit den potenziellen Verdächtigen zu und überflog die Wohnorte. Nur zehn von ihnen wohnten in Stockport oder in der direkten Umgebung.

Als Leary auflegte und sich zu Parker drehte, konnte man die Anspannung in seinem Gesicht sehen. „Sir, eine Zeugin behauptet, einen Mann mit zwei Mädchen vor dem Supermarkt an der Water Street gesehen zu haben.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. „Die Beschreibung der Kleidung passt. Ein Mädchen hatte offene Haare, das andere einen Pferdeschwanz. Sie erwähnte Blumen auf der Kleidung.“

Worauf Leary anspielte, war eine auffällige bestickte Blume auf dem linken Ärmel von Emilys T-Shirt  ein Detail, das sie bewusst nicht an die Medien weitergegeben hatten. Das T-Shirt war ursprünglich Mias gewesen, bis sie zu groß dafür geworden war. Eines Tages hatte sie beim Spielen im Garten einen Ast mit dem Ärmel erwischt und das Loch, das dabei entstanden war, wurde von ihrer Mutter Nicole liebevoll in Form einer Blume überstickt. Parker hatte bestimmt, dieses Detail unerwähnt zu lassen. Parker wollte den Entführer nicht unnötig dazu drängen, die Kleidung der Kinder vorzeitig zu wechseln und so das wertvolle Identifizierungsmerkmal zu verlieren. Es war wichtig, dass diese Information so lange wie möglich ihre Gültigkeit behielt. Setzte man den Täter zu früh zu sehr unter Druck, würde er nervös und frustriert werden. Das konnte gefährliche Konsequenzen haben, denn ein Täter ließ diese Frustration nicht selten am Opfer aus.

Parker drückte eine rote Stecknadel in die Karte.

„Das würde zu den Indizien passen, die wir im County Park und am Fred Perry Way gefunden haben“, murmelte Parker. „Haben wir eine Personenbeschreibung?“

„Laut Zeugenaussage trug er einen dunkelgrünen Pullover. Er war schätzungsweise 1,80 Meter groß oder größer, von normaler Statur, hatte dunkle Haare und eine kaukasische Hautfarbe. Keine weiteren markanten äußeren Merkmale“, berichtete Leary.

„Hier gibt es einen passenden Treffer. Scott Reford, 42 Jahre alt. Hat zwei Jahre im Gefängnis verbracht und wurde vor sieben Jahren aufgrund guter Führung vorzeitig entlassen. Er ist vor einem Jahr nach Stockport gezogen“, fügte Opton hinzu.

Parker nahm die Informationen auf, während er durch den Raum ging. „Wo hat er vorher gelebt?“

„Watford“, antwortete Opton, nachdem er die Daten überprüft hatte. „Soll ich die Polizei in Stockport bitten, ihn zu befragen?“

„Das wird nicht nötig sein“, erwiderte Parker und zog seine Jacke vom Stuhl. „Wir kümmern uns selbst darum. Leary, während wir unterwegs sind, hast du das Kommando hier. Frag bei den Kollegen in Watford nach, ob es Auffälligkeiten gab.“

„Verstanden.“

Parker sah zu Opton. „Kommst du mit? Wie in alten Zeiten?“

 

Nach nur wenigen Minuten saßen sie bereits in einem der Polizeiwagen, der sich seinen Weg durch den dichten Verkehr bahnte. Opton bog in die Shawcross Street ein und setzte den Blinker, um zu parken. Die Straße war gesäumt von Bäumen auf der einen, von roten Backsteinhäusern auf der anderen Seite. Er hatte Parker die Zusammenfassung der Akte übergeben, die dieser während der Fahrt durchging.

„Laut unseren Kollegen arbeitet er als Techniker“, las Parker laut vor, noch immer vertieft in die Akten.

„Dann kommt er sicherlich viel herum.“ Opton parkte den Wagen einige Meter vom Haus entfernt, außerhalb des Sichtfelds der Fenster. Parker legte die Akte in das Handschuhfach und trat auf den Bürgersteig. Opton ließ einen Wagen auf der Straße passieren, folgte ihm dann und richtete im Gehen seine Jacke.

Sie erreichten die Eingangstür des Hauses. Opton suchte die Klingelschilder ab und fand schließlich den Namen ‚Reford‘. Noch bevor der Türöffner summte, bemerkte Parker eine Bewegung an einem der Fenster. „Oberes Stockwerk, dicht bebaute Straße“, flüsterte er. „Wenn er wirklich involviert ist, hat er die Mädchen wahrscheinlich nicht hier versteckt. Durchgangsflur, neugierige Nachbarn. Ein zu hohes Risiko.“

Opton nickte, drückte die Tür auf und sie stiegen die Treppe hinauf. Am oberen Ende wurden sie von einem lächelnden Mann begrüßt.

„Mr. Reford? Scott Reford?“

„Ja, das bin ich. Wie kann ich Ihnen helfen?“, erwiderte der Mann.

„Dürfen wir ein paar Worte mit Ihnen wechseln? Vielleicht im Inneren ihrer Wohnung?“

Scott Reford trat zur Seite und wies ihnen den Weg in das Wohnzimmer. „Ich habe gerade etwas auf dem Herd. Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick.“

Parker warf Opton einen bedeutungsvollen Blick zu, der klar vermittelte, dass er die Gelegenheit nutzen sollte, sich diskret in der Wohnung umzusehen. Währenddessen wartete Parker geduldig im Türrahmen zur Küche. Reford kehrte mit drei vollen Tassen Earl Grey zurück, die er auf den Wohnzimmertisch stellte, ohne einen einzigen Tropfen zu verschütten. Der Duft des frischen Tees erfüllte den Raum. Opton gesellte sich wieder zu ihnen und schüttelte kaum merklich den Kopf.

„Also, verraten Sie mir, worum es geht? Was verschafft mir das Vergnügen?“

„Haben Sie von den vermissten Kindern gehört?“, fragte Parker.

„Aus Manchester?“, ergänzte Opton.

„Ja, das habe ich. Die Radiomeldungen waren unüberhörbar und auch im Fernsehen gab es Berichte darüber“, erwiderte Reford und steckte die Hände in seine Hosentaschen.

„Es gibt Zeugen, die behaupten, die Mädchen in Begleitung eines Mannes gesehen zu haben, auf den Ihre Beschreibung passt. Es war vor dem Tesco in der Water Street“, sagte Opton. „Waren sie vor Kurzem in der Nähe dieses Tescos?“

„Welche Beschreibung?“, fragte Reford, ohne auf die vorherige Frage zu antworten.

„Ungefähr 1,80 Meter groß, dunkle Haare, Ihre Statur, heller Teint“, antwortete Opton.

„Es gibt Hunderte, nein, Tausende von Menschen, auf die diese Beschreibung zutrifft. Allein in Stockport.“

„Das stimmt“, sagte Parker. Er selbst entsprach fast dem beschriebenen Profil. „Aber die überwiegende Mehrheit dieser Menschen hat keine vorherige Strafakte.“

Parker wusste bereits von der Zentrale, dass die Mädchen und mit ihnen auch der Täter nicht im Bereich der Überwachungskameras auf dem Parkplatz gesichtet wurden. Sie hatten also nichts Handfestes.

„Wollen Sie mir ernsthaft einreden, Einkäufe bei Tesco seien strafbar? Ist das der einzige Grund, warum Sie hier sind? Ja, ich gebe zu, ich kaufe dort gelegentlich ein. Aber eines will ich hier mal klarstellen: Was ich in der Vergangenheit getan habe, war ein schwerwiegender Fehler, ein verhängnisvoller Fehltritt, den ich zutiefst bereue. Und ich habe bereits meine gerechte Strafe dafür erhalten und abgesessen“, zischte Reford. Seine Antwort klang bitter, fast schon angeklagt, als wäre es eine ungeheure Ungerechtigkeit, dass man ihn nun wegen seiner Vergangenheit aufsuchte. „Ich habe mich seitdem tadellos verhalten und dennoch stehen Sie hier in meiner Wohnung.“

„Wir sind uns bewusst, dass Sie sich seitdem nichts zuschulden kommen ließen“, erwiderte Parker und zwang seine Lippen zu einem Lächeln, um eine Deeskalation zu erreichen.

„Glauben Sie wirklich, Sie wären die Ersten, die seitdem an meiner Tür geklopft haben?“, fragte Reford, seine Stimme schwoll in einem Anflug von Empörung an. „Drohungen, Anschuldigungen, Verleumdungen – ich musste so viel ertragen. Und das völlig grundlos. Nicht nur hier. Überall, wo ich hinkam. Haben Sie eine Ahnung, wie oft ich umziehen musste? Wie schwer es ist, immer wieder von vorn zu beginnen, nur weil jemand etwas an Nachbarn hat durchsickern lassen? Wo waren Sie da?“ Parker machte eine beschwichtigende Geste mit der Hand, räusperte sich laut und verschaffte sich so die Zeit, das Gespräch wieder auf eine professionelle Ebene zu bringen.

„Wir haben nur einige Fragen, dann sind wir auch schon wieder weg.“

Reford atmete tief durch.

„Bitte sagen Sie uns, wo Sie am 13. zwischen 18:00 und 19:30 Uhr waren und wo Sie gestern um 10:00 Uhr waren.“

„Am 13. war ich bei der Arbeit; gestern habe ich meine Verwandten besucht.“

„Gibt es Zeugen, die das bestätigen können?“, fragte Parker.

„Natürlich“, antwortete Reford und diktierte die Adressen der Zeugen.

„Wir werden Ihre Angaben umgehend überprüfen.“

„Selbstverständlich werden Sie das tun. Ich hoffe aufrichtig, dass die Mädchen unversehrt gefunden werden“, erwiderte Reford.

„Opton, leite diese Informationen bitte an Leary weiter. Er soll die Alibis prüfen und uns sofort informieren“, sagte Parker. „Mr. Reford, hätten Sie etwas dagegen, wenn ich einen Blick durch Ihre Wohnung werfe? Ich habe keinen Durchsuchungsbefehl – alles wäre auf freiwilliger Basis. Sie könnten die Durchsuchung jederzeit abbrechen oder von vornherein ablehnen. Es würde nicht lange dauern, nur, bis wir den Rückruf aus der Zentrale erhalten haben. Mein Kollege würde währenddessen bei Ihnen bleiben.“

„Machen Sie nur. Sie verschwenden hier nur unser aller Zeit. Das kann ich Ihnen versichern.“

„Vielen Dank für Ihre Kooperation“, entgegnete Parker und ging zum Wagen, um Handschuhe und andere Hilfsmittel zu holen.

Zurück in der Wohnung blickte Parker sich um: In jedem Zimmer hingen Kreuze. Auf einem Tisch fiel ihm eine zerschlissene Bibel auf. Mit Gründlichkeit, aber auch mit einer gewissen Eile durchsuchte Parker die Wohnung. Er hob Teppiche an, klopfte die Dielen nach Hohlräumen ab, bewegte sogar Möbel, um einen geheimen Durchgang in der Wand auszuschließen. Sogar die Kleidung durchsuchte er nach dem besagten grünen Pullover. Doch er fand nichts. Die Wohnung war klein, und angesichts der Lage des Hauses war es unwahrscheinlich, dass sich die Kinder hier aufhielten. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, bevor er ins Wohnzimmer zurückkehrte, wo Reford immer noch Tee trank und vor sich hinstarrte.

„Gibt es Kellerräume oder einen Dachboden?“ Parker studierte sorgfältig seine Augen, suchte nach einem Hinweis in seiner Mimik. Doch Refords Gesichtszüge blieben unergründlich – kein Muskel zuckte.

„Das Gebäude hat keinen Keller. Aber es gibt einen gemeinschaftlichen Dachboden, der zum Trocknen der Wäsche genutzt wird.“

„Haben Sie etwas dagegen, wenn mein Kollege sich dort einmal umsieht?“, fragte Parker.

Reford kramte in seinen Taschen, zog die Schlüssel heraus und reichte sie Opton.

„Sieh bitte nach, ob es tatsächlich keine Keller, Brunnenzugänge oder Ähnliches auf dem Grundstück gibt“, flüsterte er Opton zu.

Parker widmete sich nun dem Wohnzimmer mit großer Sorgfalt. Reford seufzte und zog sich in die Küche zurück. Dort lehnte er sich lässig gegen den Türrahmen und beobachtete Parker.

Als Opton zurückkam, tauschten sie kurze Blicke aus. Enttäuschung stand in Optons Blick geschrieben. Parker gab das Zeichen zum Aufbruch, während er sich noch einmal umdrehte. „Noch eine letzte Frage. Welches Auto fahren Sie, Mr. Reford?“

„Ich fahre einen silbernen Volkswagen. Er steht vor dem Haus an der Straße.“

„Danke, das war’s dann.“

„Ich begleite Sie nach unten und zeige Ihnen den Wagen.“

Wie angekündigt parkte das Auto am Straßenrand. Es war ein unauffälliges, älteres Modell. Opton inspizierte das Äußere des Fahrzeugs, während Parker einen Blick in das Innere warf. Die Reifen waren abgefahren, das Profil gerade noch innerhalb der gesetzlichen Grenzen. Das Innere des Wagens war besser gepflegt als manch ein Polizeifahrzeug – keine Zigarettenstummel, keine Krümel auf den Sitzen.

Parkers Telefon surrte. Er entschuldigte sich bei Opton und Reford und trat einige Schritte die Straße hinunter, um außer Hörweite zu sein. „Ja, bitte?“

„Wir haben drei weitere potenzielle Verdächtige identifiziert, alle in Stockport“, sagte Leary. „Ich habe unsere Kollegen schon gebeten, nach dem Rechten zu sehen.“ Er wartete auf eine Antwort, aber Parker hatte sich wieder dem Haus zugewandt und betrachtete das schmutzbraune Dach. Opton hatte derweil Reford in ein Gespräch verwickelt. Wenn er Opton richtig kannte, diskutierten sie wahrscheinlich über technische Daten des Fahrzeugs. Ein Thema, das bei diesem Modell nicht allzu viel Gesprächsstoff bieten würde.

„Könnten Sie bitte ein Kennzeichen für mich überprüfen?“, fragte Parker und gab die Kennung sogleich an Leary weiter.

„Wissen Sie schon, wann Sie zurück in der Zentrale sind?“

„Sobald wir das Kennzeichen überprüft haben“, erwiderte Parker und blickte instinktiv nach oben. Er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden.

Die Ankunft des Polizeiwagens hatte die Nachbarschaft aufgeschreckt und die Bewohner an ihre Fenster gelockt. Sein Blick fiel auf das Gesicht eines Knaben, der ungefähr das achte Lebensjahr erreicht hatte und ihn musterte. Parker zog die Handschellen hervor und präsentierte sie. Die Augen des Jungen leuchteten vor Begeisterung auf.

„Der Wagen ist auf Scott Reford zugelassen; erste Zulassung vor fünfzehn Jahren.“

„Weitere Zulassungen? Auffälligkeiten?“, fragte Parker.

„Nichts. Nicht einmal ein Strafzettel.“

Ohne ein weiteres Wort beendete er das Gespräch, gab Opton ein Zeichen zum Aufbruch und machte sich auf den Weg zu ihrem Streifenwagen.

***

Die Akten zu den bisherigen Vermisstenfällen füllten drei Kartons voller Zeugenaussagen, Befragungsprotokollen und Berichten. Moric und Demir hatten die Kartons von den verschiedenen Polizeistationen gesammelt und in den Konferenzraum geschleppt, wo Parker sie stichprobenartig durchsah.

„Ich habe an dem Fall Kathleen Smith mitgearbeitet“, sagte Moric.

Parker war gerade dabei, die Protokolle zu überfliegen. „Erzählen Sie mir mehr über den Fall.“

„Ich glaube nicht, dass wir sie noch finden werden. Wenn überhaupt, dann nur ihre Leiche, und selbst das nur, wenn wir Glück haben.“

Diese nüchterne Tatsache hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Parker hatte seinen Namen in vielen Protokollen und Berichten gesehen. Moric war sehr aktiv gewesen, hatte mit Dutzenden von Zeugen gesprochen. Die damals verfolgte Strategie ähnelte der seinen. Parker konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob das ein schlechtes Omen war.

„Wissen Sie, Parker, mit jedem vergehenden Tag wird die Suche schwieriger. Mit jedem Ticken der Uhr schwinden nicht nur die Chancen, dass sie je zu ihren Eltern zurückkehren, nein, es zermürbt einen auch. Diese Arbeit … Dieses ständige Suchen und Hoffen frisst einen von innen heraus auf.“

Parker blieb still, ließ Moric seine Gedanken aussprechen. „Besonders schwer wiegt bei mir der Fall der kleinen Lacie. Sie war das erste entführte Kind. Bei jedem Besuch, jeder Befragung brach die Mutter zusammen. Es gab Lebenszeichen. Spuren, denen wir folgten.“

„Welche Art von Spuren?“

„Darf ich?“, fragte Moric und trat neben Parker. Er griff nach einem Ordner und blätterte darin. Moric legte seinen Zeigefinger auf eine Seite, tippte darauf und schnaufte. „Damals führten wir umfangreiche Suchaktionen durch, oft bis tief in die Nacht hinein. Drei Tage lang durchkämmten wir die Nachbarschaft; erst am vierten Tag fanden wir etwas. Ein Kuscheltier, das offenbar Lacie gehörte. Weniger als zweihundert Meter vom Haus entfernt lag es. Auch hier trudelte eine konkrete Zeugenaussage ein, die glaubwürdig war. Wieder auf einem Supermarktparkplatz, aber nicht bei Tesco. Der Täter wusste genau, wo die Überwachungskameras positioniert waren. Er bewegte sich mit einer beängstigenden Sorglosigkeit über das Gelände, blieb jedoch stets im toten Winkel. Vielleicht nutzte er diese unsichtbaren Ecken, um die Kleidung der Kinder zu wechseln oder das Fluchtfahrzeug zu tauschen. Wir konnten es nie mit Sicherheit sagen.“ Moric ließ die Schultern hängen und seufzte, sein Zeigefinger verweilte auf einem Foto. „Das war der einzige Fund. Bei den anderen Mädchen hatten wir weniger Glück.“

„Waren DNA-Spuren vorhanden?“ Parker betrachtete das dazugehörige Bild. Ein kleiner Teddybär mit braunem Fell, verloren im nassen Gras.

„Nur die der Familie. Wir vermuten, dass sie ihn fallen ließ, als sie in ein Auto gezogen wurde.“

„Lacie, Kathleen und Ella. Wenn es tatsächlich ein und derselbe Täter sein sollte, wird er neue Opfer auswählen, sobald er sich der alten entledigt hat“, sagte Parker. Moric öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn jedoch ohne etwas gesagt zu haben, als würde er über die Konsequenzen dieser Möglichkeit nachdenken. Die Schlussfolgerung war unvermeidlich. Sie führten einen Wettlauf gegen die Zeit.

 

Mit wachsender Sorge beobachtete Parker im Laufe der Wochen, wie die Polizisten, die ihm nach langem Ringen für den Telefondienst zugeteilt worden waren, sich trotz Bereitschaftsdienst zunehmend anderen Aufgaben widmeten. Mangels Informationen aus der Bevölkerung hatten sie kaum noch etwas zu tun. Anfangs, als die medialen Aufrufe Wirkung gezeigt hatten, waren zahlreiche Hinweise eingegangen – hunderte innerhalb weniger Stunden. Doch mittlerweile blieben die Telefone immer öfter stumm und der Informationsfluss ebbte ab. Einer der Kollegen führte gerade ein Gespräch. Nach kurzer Zeit legte er auf, wartete zehn Sekunden, ob ein neuer Anruf in der Warteschleife war, und erhob sich dann. Er streckte sich ausgiebig und zuckte zusammen, als er Parker an der Wand bemerkte.

„Entschuldigung, ich habe Sie nicht gesehen“, sagte der junge Polizist.

Parker winkte ab, nahm die Protokolle aus dem Fach und überflog sie, bevor er das Telefonzentrum verließ.

Zurück im Besprechungsraum legte er den Stapel auf den Tisch und durchsuchte ihn. Er markierte die wichtigsten Details und machte die Orte auf der Karte kenntlich, bevor er Kollegen zu den ausgewählten Orten schickte, die wahrscheinlich unverrichteter Dinge zurückkehren würden. Die Spuren verloren sich im Nichts. Die Kinder hatten sich förmlich in der Luft aufgelöst.

Kapitel 5

„Wir sind da“, sagte Opton und lenkte den Wagen an den Rand der Fairholme Road, die parallel zur Ashdene Road verlief. Das Haus der Bennetts lag nur zwei Grundstücke weiter auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Während der Fahrt waren Optons Gedanken immer wieder zu dem Fall abgeschweift, der sie in den letzten Monaten so intensiv beschäftigt hatte und der ihm jetzt wiederholt Routineeinsätze einbrachte. Parker hatte etliche Gefälligkeiten eingefordert. Dies führte dazu, dass jedenfalls ein Mitglied der Taskforce bei Einsätzen in der unmittelbaren Umgebung dabei war. Angesichts des offenbaren Scheiterns der Taskforce war es kein leichtes Unterfangen gewesen.

Seine zugewiesene Partnerin, Constable Peers, blickte von ihrem Mobiltelefon auf, verstaute es dann in der Tasche.

„In Ordnung, dann auf geht’s. Das ist die Hausnummer. Der Name lautet Fisher“, sagte Opton. Kaum war Opton aus dem Auto gestiegen, erblickte er einen Mann, dessen Gesicht eine Maske aus Sorge und Resignation war.

„Constable Opton“, stellte er sich vor, „und das ist meine Partnerin, Constable Peers.“

„Angenehm. Declan Phillips. Ich bin der Vermieter von Mrs. Fisher.“

„Sie haben am Telefon erwähnt, dass die Post seit einigen Wochen unangetastet bleibt, stimmt das?“

„Genau. Der Briefkasten von Mrs. Fisher ist zum Bersten voll.“

„Könnten Sie uns bitte die Wohnung zeigen?“

Phillips kramte in seiner Hosentasche und zog einen Schlüssel hervor, mit dem er die Haustür aufschloss.

Er wies auf den Briefkasten, der mit Post, Prospekten und Zeitschriften überfüllt war.

„In diesem Gebäude leben sechs Parteien, hat niemand etwas bemerkt?“, fragte Peers.

„Wir befinden uns noch immer in einer Großstadt, unabhängig davon, wie weit wir vom Zentrum entfernt sind“, erklärte Phillips. „Für die anderen Mieter wurde Mrs. Fisher erst interessant, als aus ihrer Wohnung ein unangenehmer Geruch drang und sie sich dadurch gestört fühlten. Die Dame ist schon älter. Solange sie keine Pakete für die Nachbarn annimmt, scheint niemand bei ihr nach dem Rechten zu sehen.“

„Und niemand hat sie gesehen?“, fragte Opton.

„Nicht, dass ich wüsste“, antwortete Phillips und kratzte sich am Hinterkopf, „sie könnte natürlich im Krankenhaus liegen oder eine Kur machen, aber es kommt ein unangenehmer Geruch aus der Wohnung. Jedenfalls wurde ich gebeten, etwas dagegen zu unternehmen.“

„Wonach riecht es?“

„Als würde etwas in der Wohnung verrotten. Nach verdorbenem Essen, altem Parmesan, nur noch durchdringender und schwerer.“

Opton wusste, was er meinte. Zu oft hatte er ihn schon in der Nase gehabt. Es war eine von vielen möglichen Arten von Verwesungsgeruch. Er behielt es für sich.

Der Vermieter führte sie die Treppe hinauf. Auch vor der Tür lagen Briefe auf der Fußmatte.

Opton läutete die Klingel. Wie erwartet gab es keine Reaktion.

„Mrs. Fisher?“ Er polterte an der Tür, wieder keine Reaktion.

„Ich habe doch gesagt, sie ist nicht da.“ Phillips blickte den Polizisten an und verkniff die Lippen.

„Geduld, Mr. Phillips. Ich vermute, dass Frau Fisher in der Wohnung ist. Bitte warten Sie draußen, bis wir uns bei Ihnen melden“, sagte Opton und wandte sich zu ihm um.

Phillips nickte und reichte Opton den Schlüssel. „Ich warte draußen an der frischen Luft.“

Sie warteten, bis sie die Haustür ins Schloss fallen hörten, bevor Opton den Schlüssel umdrehte und die Wohnungstür öffnete. Der schwere Geruch verstärkte sich schlagartig. Instinktiv hielt sich Opton den Arm vor die Nase und verzog das Gesicht.

„Mrs. Fisher?“, rief Peers in die Wohnung. „Polizei! Wir kommen herein.“

Opton hatte so etwas schon oft genug erlebt, um zu wissen, dass niemand antworten würde. Wie erwartet, blieb alles still.

Peers ging voraus. Ihre Schritte verstummten abrupt. „Ich hab sie gefunden“, sagte Peers und blieb am Eingang zum Wohnzimmer stehen. „Darf ich vorstellen, Mrs. Fisher.“ Sie deutete mit der Hand auf den Boden, auf dem ein Frauenkörper übersät von Maden und Fliegen lag. Ein Fleck hatte sich auf dem Boden ausgebreitet – einst feucht und nun ausgetrocknet –, dort, wo die Körperflüssigkeiten der Leiche absorbiert und verteilt worden waren.

Die Hitze hatte ein makabres Meisterwerk erschaffen. Der Geruch war bestialisch – ein olfaktorisches Manifest des Verfalls.

Opton zog sein Telefon hervor und hielt es in die Höhe. „Ich übernehme die Anrufe, geh ruhig raus zu Mr. Phillips. Du siehst etwas blass aus.“

 

Nachdem die Überreste von Mrs. Fisher von den angeforderten Mitarbeitern in einem schwarzen Leichensack abtransportiert worden waren, wandte Opton seine Aufmerksamkeit der Wohnung zu. Das Schlafzimmer war das erste Zimmer. Das Bett war ordentlich gemacht und unbenutzt, die Schränke waren geschlossen und makellos eingerichtet. Das Bett war nicht sehr breit, ganz klar für eine einzige Person konzipiert. Der Rahmen war aus edlem Holz gefertigt. Rechts neben dem Bett stand ein dazu passender Nachttisch. Opton durchquerte den Raum und beugte sich hinab.

Ein Blick in die Schränke konnte intim sein, aber es war notwendig, um mögliche Medikamente zu identifizieren.

Er räumte drei alte Zeitschriften aus dem Weg und schob die Unterwäsche beiseite. In der untersten Schublade fand er eine King-James-Bibel. Medikamente entdeckte er keine, aber alten Goldschmuck und eine Bernsteinkette. Keine Unregelmäßigkeiten, keine Anzeichen für einen Einbruch. Die Dame war bereits in einem fortgeschrittenen Alter. Wahrscheinlich war sie gestürzt und konnte nicht mehr allein aufstehen. Es handelte sich auf um einen alltäglichen Vorfall. Doch die genauen Umstände, die feinen Nuancen des Geschehens, würden erst durch eine Obduktion bekannt werden.

***

Unter normalen Umständen wäre eine Obduktion nicht notwendig gewesen. Aber Parker kämpfte mit der Führung um jede zusätzliche Genehmigung. Er klammerte sich an Unregelmäßigkeiten und Ereignisse, gleich wie unbedeutend, die sich innerhalb des Radius der Ashdene Road ereignete.

Nach Phillips‘ Aussage hatte er nie Angehörige oder Besucher in der Wohnung gesehen. Die Dame starb, wie sie gelebt hatte. Abgeschieden von der Welt. Allein.

Kapitel 6

Der zuständige Mediziner, Joseph Blyth, begrüßte sie und führte sie in einen der lichtarmen Räume der Pathologie und ließ sie stehen.

„Warten Sie einen Augenblick, ja?“ Blyth schlüpfte in ein Paar Latexhandschuhe und zog eine Bahre aus einem der Fächer.

„Mir ist nicht wohl dabei“, wisperte Peers. Opton sah sie an. Peers würgte ob des Geruches, der sich nun ausbreitete, und wandte die Augen von der Bahre. Blyth beachtete die Polizisten nicht, holte einige Instrumente und trank einen raschen Schluck Wasser, bevor er sich wieder den Besuchern und dem Metalltisch widmete.

„Obduktionen nehmen doch normalerweise etwas Zeit in Anspruch. Vor allem, wenn der Körper stark verwest ist. Wie kommt es, dass Sie bereits Ergebnisse haben? Nur wenige Stunden später?“, fragte Opton.

Blyth hielt inne und umfasste das Leichentuch mit seinen Händen. „Das ist richtig. Die Obduktion von Mrs. Fisher ist noch nicht abgeschlossen. Aber bei der Erstuntersuchung habe ich etwas entdeckt, dass ich nach einer gründlicheren Untersuchung als mutmaßliche Todesursache festlegen konnte.“ Er seufzte. „Ich bin über diesen Weg auch nicht glücklich, aber ihr Vorgesetzter drängte auf eine rasche Vorlage der Ergebnisse. Am liebsten hätte er sie sofort auf seinem Schreibtisch gehabt. Ich kann jedoch keinen unvollständigen Bericht abgeben – das müssen Sie verstehen“, entgegnete Blyth in einer Mischung aus Entschuldigung und Verteidigung. „Sie werden das Gesagte also inoffiziell an Ihren Vorgesetzten weitergeben müssen. Ich versichere Ihnen, ich gebe mein Bestes, um den vollständigen Bericht so schnell wie möglich zu erstellen.“ Mit diesen Worten zog er das Tuch zurück und legte den Leichnam frei.

„Ach, kommen Sie schon“, stöhnte Peers und drehte sich von der Bahre weg. „Sie hätten uns auch eine Nachricht schicken oder es einfach sagen können.“

„Es ist wichtig, dass Sie es sehen, um zu verstehen, womit wir es zu tun haben“, sagte Blyth und griff nach einem Laserpointer, mit dem er auf den Halsbereich zeigte.

„Sehen Sie genau hin“, sagte er sie mit fester Stimme und zog mit dem Laserpointer kleine Kreise. „Das Gewebe ist natürlich stark geschädigt und teilweise komplett zersetzt, aber wenn Sie hier genau hinsehen, können wir Strangulationsmale erkennen.“

„Ich erkenne dort nichts“, sagte Peers.

„Genau hier.“ Blyths Finger strichen über die Haut. „Die Struktur dieser Male lässt darauf schließen, dass Mrs. Fisher nicht mit bloßen Händen gewürgt wurde, sondern mit einem Band oder einem ähnlichen Gegenstand. Die Fasern, die wir gefunden haben, sind bereits auf dem Weg ins Labor für weitere Untersuchungen.“ Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort. „Es gibt keine Fingerabdrücke. Der Angreifer war vorbereitet, hat vermutlich Handschuhe getragen.“ Er ließ Opton und Peers kurz an dem Tisch stehen und kam zwei Minuten später mit einer kleinen Schale zurück. „Hier ist eine der Stofffasern. Vermutlich hat sie sich abgerieben.“

„Wir hatten angenommen, sie wäre unglücklich gestürzt“, sagte Opton.

Blyth ließ seinen Blick über den Leichnam schweifen. „Ich würde gänzlich ausschließen, dass es sich um einen natürlichen Tod handelt. Mehr noch. Eine Tat im Affekt würde ich ebenfalls ausschließen.“

„Wenn das so ist, müssen wir den Fall an die Kriminalpolizei übergeben“, sagte Peers.

„Du hast zwar recht, aber nein …“ Opton zog sein Telefon aus der Tasche. „Würde es Ihnen etwas ausmachen?“

„Nur zu“, erwiderte Blyth.

Mit dem Mobiltelefon in der Hand trat Opton vor die Tür der Gerichtsmedizin und wählte Parkers Nummer. Er wartete, bis das Freizeichen verstummte.

„Cliff? Blyth glaubt, dass Mrs. Fisher erdrosselt wurde.“

Die Stimme am anderen Ende der Leitung zögerte kaum. „Wann? Wann genau ist sie gestorben?“

„Warte kurz“, sagte Opton und öffnete erneut die Tür zur Pathologie. „Blyth“, rief er durch den Raum, seine Stimme hallte von den sterilen Wänden wider. „Wann genau hat Mrs. Fisher ihr Leben verloren?“

Der Gerichtsmediziner blickte auf. „Vor etwa zwei Monaten, schätze ich“, antwortete er, seine Stimme war so emotionslos wie das Metall des Seziertisches unter seinen Händen. „Ich kann es zu diesem Zeitpunkt noch nicht genauer bestimmen“, sagte er und musterte die Tote. „Sobald meine Untersuchungen abgeschlossen sind, wird es im Bericht stehen.“ Er hob den Blick und sah Opton direkt in die Augen. „Aber zwei Monate könnten durchaus hinkommen.“

„Hast du das gehört?“, fragte Opton an Parker gerichtet.

„Zwei Monate? Das passt zu der Zeit, als die Bennett-Kinder verschwunden sind. Ihr beide kommt sofort zurück.“

„Verstanden“, sagte Opton, hörte das Klacken der Leitung und rümpfte die Nase. „Doktor Blyth, vielen Dank für die Erkenntnisse und Einblicke, aber wir müssen wieder los.“

***

„Seht euch die Misere an“, raunte Parker und breitete eine Reihe von Fotos über den Tisch aus. Die Winkel, die Helligkeit und die Schärfe variierten von Bild zu Bild, doch die Bilder hatten einen gemeinsamen Nenner. „Das ist die Scheiße, für die man uns öffentlich durch den Dreck ziehen wird.“

„Wieso zeigen Sie uns das?“, fragte Demir und nahm eines der Bilder in die Hand.

„Das sind die sterblichen Überreste von Mrs. Jenny Fisher, Fairholme Road. Mrs. Elizabeth Laughlin, Sunhill Close, Rochdale. Mrs. Jane Whiteside, Woods Avenue, Bury. Und zuletzt Mrs. Miriam Knox, North Light Way, Heywood.“ Die Kollegen verstummten, vor allem die Gäste aus Bury und Rochester mieden seinen Blick.

Als er seine Darstellung abgeschlossen und die Fotografien an der Wand befestigt hatte, kennzeichnete er die Wohnorte mit Fähnchen auf einer Landkarte.

„Das sind die Wohnorte von vier Personen, die samt und sonders tot in ihren Wohnungen aufgefunden wurden.“ Er griff sich einen Block vom Tisch und las die dort niedergeschriebenen Daten ab. „Mrs. Laughlin – Todesursache: Sturz, gefunden: drei Wochen nach dem Versterben. Keine Fremdeinwirkung sicher feststellbar. Mr. Whiteside – Todesursache: Sturz, gefunden: einen Monat nach dem Versterben. Keine Fremdeinwirkung sicher feststellbar.“ Das war genug, um das Muster zu erkennen. Er hielt inne, ließ einen Moment verstreichen und gab seinen Kollegen die Gelegenheit, das Gesagte, die Karte und ihre Bedeutung in sich aufzunehmen.

„Was fällt euch auf?“, fragte er und ließ seinen Blick über die Kollegen schweifen. Emsiges Gemurmel machte sich im Raum breit, doch niemand ergriff das Wort. Parker wandte sich um, griff sich weitere Fähnchen und steckte sie in die Karte. Parker lehnte sich vor, seine Hände auf der Tischplatte abgestützt. „Wir haben vier Todesfälle, alle in unmittelbarer Nähe zu den Häusern der vermissten Kinder. Dreimal hat die Obduktion ergeben, dass keine Fremdeinwirkung vorlag und die Fälle – angesichts des Alters der Damen und des Umstands, dass keine Einbruchsspuren zu sehen waren, zu schnell ad acta gelegt. Mrs. Fisher jedoch wurde getötet. Es mag dahingestellt bleiben, ob wir einen Zusammenhang zwischen den Toten und den Kindern hätten feststellen können, die Presse wird sagen ja, aber wichtig ist nur eines. Wir haben einen Mord und wir haben eine Entführung.“ Er deutete auf die Karte. „Zwei unterschiedliche Verbrechen, zwei unterschiedliche Abteilungen, aber: was wäre, wenn die Verbrechen zusammenhängen würden? Wenn derjenige, der Mrs. Fisher umgebracht hat, auch die Bennett-Kinder entführte?“

Demir räusperte sich und legte seine Stirn in Falten, während er die Karte mit den verschiedenen markierten Punkten betrachtete, die aufgrund des Maßstabs nur wenige Millimeter voneinander entfernt waren.

„Die Wohnungen von alten, gebrechlichen Frauen standen nie im Fokus unserer Suche“, erklärte er. „Aber wir können uns nichts vorwerfen, und ich bin sicher, auch Mapleton wird das so sehen.“ Er blickte sich um, suchte bei den anderen nach Zustimmung.

„Lass Mapleton mal außen vor“, antwortete Parker, „konzentrieren wir uns auf das Wesentliche. Wie kommen wir in den Ermittlungen voran? Wie finden wir die Töchter von David und Nicole Bennett? Die Presse wird zu Recht sauer sein, aber uns ist das für den Moment egal.“

„Wäre es nicht sinnvoll, die damaligen Zeugen erneut zu befragen? Vielleicht können sie uns noch wichtige Hinweise geben?“, fragte Opton.

Parker wiegte seinen Kopf hin und her, als würde er das Für und Wider abwägen. Optons Vorschlag war durchaus berechtigt, doch der Nutzen dieser Maßnahme blieb ungewiss.

„Das werden wir sicherlich tun“, entgegnete er, „aber ich bin skeptisch, ob dies uns weiterbringen wird. Die meisten Zeugen können sich nach ein paar Tagen kaum noch an Details erinnern – sechs oder neun Monate später? Die Chancen sind gering. Unser Fokus sollte auf Mrs. Fisher’s Wohnung liegen. In den anderen Wohnungen werden wir kaum noch etwas finden. Nachdem die Vermieter die Todesfälle bemerkt hatten, wurden alle Wohnungen gründlich gereinigt. Sie sind vermutlich bereits renoviert und wieder bewohnt. Weniger kontaminierte Tatorte könnten wir kaum auswählen.“

„Gibt es irgendein Indiz für Abwehrspuren, Selbstverteidigung, etwas in dieser Richtung bei Mrs. Fisher?“, fragte Moric in die Runde.

Opton, mit zwei Berichten vor ihm – seinem Einsatzbericht und dem Autopsiebericht – nahm das Wort. „Keine Spuren eines Einbruchs. Die Tür war unversehrt, an den Fenstern nichts Auffälliges. Kein Raub und auch keine Anzeichen von Selbstverteidigung. Mrs. Fisher wurde schnell und effizient erdrosselt. Eine Tatwaffe haben wir nicht gefunden, aber die Spuren an ihrem Hals weisen auf einen Strick hin. Fasern konnten von der Gerichtsmedizin sichergestellt werden. Die Todesursache bei den anderen Opfern auf das Alter, Stürze oder andere natürliche Umstände zurückgeführt. Wenn wir von einem Zusammenhang zwischen den Toten und den entführten Kindern ausgehen, waren diese eventuell nicht natürlichen Ursprungs. Möglicherweise war Mrs. Fisher noch am Leben und hat um Hilfe gerufen, weshalb er sie zum Schweigen bringen musste. Keiner der Nachbarn hat etwas gehört, oder sie trauen sich nicht, dies gegenüber der Polizei zuzugeben. Aber Spekulationen bringen uns nicht weiter. Könnten wir nicht die Leichen exhumieren lassen? Eine zweite Obduktion?“

Parker schüttelte den Kopf; sein Gesicht war ernst und nachdenklich. „Das habe ich bereits in Betracht gezogen“, sagte er. „Alle potenziellen Opfer lebten isoliert und ohne nahe Verwandte, die sich um eine Grabstätte gekümmert hätten. Sie wurden rest- und ausnahmslos eingeäschert. Das ist also eine Sackgasse.“ Er rieb sich das Kinn, starrte ins Leere, während er alle Optionen abwog. „Was wäre jedoch, wenn der Täter die Kinder von diesen Wohnungen aus beobachtet hat?“, fragte Parker und warf mit einem Laserpointer einen roten Punkt auf das betroffene Haus an der Stellwand. „Die Wohnungen befinden sich jeweils in den oberen Etagen und bieten einen freien Blick auf die Straße, auf die Häuser oder die Wohnungen, in denen die Kinder lebten. Oder er hat sich dort zusammen mit den Kindern versteckt gehalten und erst später seinen Standort gewechselt.“

„Glauben wir das wirklich?“, fragte Moric und blickte in die Runde. „Glauben wir wirklich, dass er so abgebrüht ist, die Kinder direkt vor unserer Nase zu verstecken?“

„Es wäre eine logische Wahl“, antwortete Parker. „Sobald der Verdacht aufkam, dass ein Fahrzeug im Spiel war, richteten sich alle Augen der Polizei auf die Straßen. Im Fall der Bennett-Kinder haben wir die Öffentlichkeit einbezogen, was bedeutet, dass Aufenthalte in der Öffentlichkeit gefährlich waren. Niemand kam auf die Idee, dass die Kinder auf der gegenüberliegenden Straßenseite bei einer älteren Dame sein könnten. Vor allem, weil die Spürhunde auf der Straße die Fährte verloren haben.“

„Keiner von ihnen schlug an, nachdem die Fährte abrupt mitten auf der Straße geendet hat. Wie erklären wir uns das?“ Morics Einwand war berechtigt.

„Ich weiß es nicht“, sagte Parker. „Die Kinder hatten ja auch zuvor auf der Straße gespielt. Vielleicht hat er sie in sein Fahrzeug verfrachtet und ist von der anderen Straßenseite direkt auf das Gelände gefahren. Ich kann hier nur spekulieren. Aber es kann nicht der gleiche Wagen gewesen sein. Eines der Häuser in der Nachbarschaft verfügt über eine Überwachungskamera an der Einfahrt. Sie hat die Kinder beim Spielen eingefangen, aber keines der Autos ist zweimal an der Linse vorbeigefahren.“ Er hielt inne, ließ die Information wirken. „Auch die Kinder sind diesen Weg nicht zurückgekommen, außer Josephine.“ Seine Faust knallte auf den Tisch. „Die Kamera ist kurz nach dem Haus von Mrs. Fisher positioniert. Ist er um den Block gefahren? Hat er dabei auch noch das Auto gewechselt und sich dann in Ruhe das Spektakel aus der ersten Reihe angesehen?“

„Aber jetzt haben wir ein anderes Problem“, sagte Opton. „Peers und ich waren in der Wohnung … Die Kinder waren nicht dort. Wann also hat er sie weggebracht? Und wohin?“

„Ich habe die Spurensicherung bereits in die Wohnung geschickt und Ihnen die Aufgaben für morgen gegeben, damit wir möglichst bald Antworten auf diese Fragen bekommen“, antwortete Parker.

Am nächsten Morgen war Parker gerade erst im Revier angekommen, als sein Diensttelefon schrill klingelte und vibrierte. „Das Labor“, sagte er knapp, nahm den Anruf entgegen und stellte ihn auf Lautsprecher. „Parker hier. Sie sind auf Lautsprecher. Was haben Sie für mich?“

„Wir haben in der Wohnung von Mrs. Fisher mehrere DNA-Spuren sichergestellt und mit den vorliegenden Proben verglichen – Mia und Emily Bennett waren in der Wohnung.“ Die Stimmung im Raum kippte schlagartig. Dass die Kinder in der Wohnung der ermordeten Frau versteckt wurden, war bisher nur eine grausame Theorie gewesen. Nun standen sie vor der Gewissheit.

„Kranker Bastard“, murmelte Opton und brachte damit zum Ausdruck, was alle dachten.

„Eine Sache noch“, fuhr der Mitarbeiter vom Labor fort. „Es gibt mehrere Spuren einer unbekannten Person, die jedoch zu stark verunreinigt sind und nicht für einen Abgleich ausreichen. Aber wir haben auch vollständige Spuren gefunden, die wir einem gewissen Simon Pollock zuschreiben konnten.“

„Danke Ihnen“, beendete Parker das Gespräch und wandte sich an die Gruppe von Polizisten. Sie hatten eine Spur. Doch wer zum Teufel war Simon Pollock?

„Ich will, dass sofort jemand das Mietshaus von Mr. Declan Phillips aufsucht. Befragt jeden Bewohner, klärt die Situation um ihre Autos und findet heraus, ob vor zwei Monaten ein unbekanntes Fahrzeug dort abgestellt wurde. Ich vermute, eines der drei von uns gesichteten Autos hat die Kinder transportiert.“ Parker hielt inne. „Er ist clever, hat das Auto gewechselt, weil er damit rechnen musste, dass wir gezielt nach diesem suchen werden. Er ist mit einem neuen Auto in die Ashdene Road eingebogen, von derselben Seite wie beim ersten Mal. Ich will diesen Wagen!“ Parker lauschte, wie im Raum rege Betriebsamkeit ausbrach. Die Gruppe von Polizisten stob auseinander und folgte den Anweisungen. Indes widmete er sich den Akten.

Simon Pollock war ein Name, der in Verbindung mit einer Reihe von Vergehen stand. Ein 38-jähriger Mann, vorbestraft wegen Diebstahl und Raub. Seine Akte erzählte die Geschichte einer Jugend, die vorzeitig in Kriminalität abdriftete und zu einer Gefängnisstrafe führte.

Auf seinem Bürostuhl grübelnd, konnte Parker keine Hinweise auf eine Verbindung zwischen Pollock und den Bennetts finden, die Licht ins Dunkel bringen konnte. Allerdings gab es einen Aspekt im Lebenslauf von Pollock, der eine plausible Erklärung lieferte, weshalb er sich in der Wohnung aufgehalten haben konnte - seine Berufswahl. Pollock war Klempner, tätig in Manchester und Umgebung. Seine Online-Präsenz warb damit, dass er weit über die Grenzen der Stadt hinaus arbeitete. Reparaturarbeiten waren eine Erklärung für seine Präsenz in der Wohnung und warum Mrs. Fisher die Wohnung freiwillig öffnete. Parker wandte sich an Jones. „Ich möchte, alles über diesen Mann erfahren. Jedes Detail zählt. Wenn er jemals ein Knöllchen für Falschparken bekommen hat, will ich es wissen. Ich brauche alle Informationen, und zwar so schnell wie möglich.“

Kapitel 7

Ein schwarzer Pick-up – das war es, was sie suchten. Niemand im Mietshaus besaß einen solchen Wagen; keiner der Partner oder Besucher konnte ihm zugeordnet werden. Sie befragten auch die Bewohner aller angrenzenden Häuser, doch der Eigentümer des Fahrzeugs blieb ein Phantom. Er tauchte auch auf keiner Überwachungskamera auf, musste also die Hauptverkehrswege gemieden haben und die Ashdene Road nie komplett zu Ende gefahren sein.

Parker, bewaffnet mit einem Arsenal an bunten Pinnnadeln, beugte sich über die Karte, die auf der Leinwand prangte. Es war nicht mehr die Karte, die sie zu Beginn ihrer Ermittlungen genutzt hatten. Mit jeder neuen Entdeckung, jedem neu gesetzten Pin und jeder zusätzlichen Markierung wurde die Karte unübersichtlicher, bis sie schließlich ausgetauscht und die bisherigen Ergebnisse archiviert werden mussten. Währenddessen durchforsteten Demir und Moric erneut die alten Fallakten.

„Gibt es ein Muster? Einen Ort, bei dem sich die Sichtungen in Verbindung mit Pollock häufen?“, fragte Demir, als Parker mit weißen Pins die neuesten Sichtungen markierte.

„Es gab die letzten Wochen kein nachvollziehbares Muster“, antwortete Parker und doch steckte er eine Stecknadel nach der anderen in die Karte – jede Nadel war ein Punkt in einem chaotischen Muster.

„Was ist dort?“ Demir und Moric standen auf und betrachteten die Ansammlung von Nadelköpfen. Drei Stecknadeln, die in kurzen Abständen voneinander in der Karte steckten und vermeintliche Sichtungen der Bennett-Kinder markierten.

„Eine Wohngegend“, raunte Parker und griff nach der Akte über Pollock, die auf dem Tisch lag. Er markierte die Adresse im Osten Manchesters mit einem roten Textmarker. Der Kreis lag nicht in unmittelbarer Nähe zu den Nadeln, aber nahe genug, um einen Zusammenhang zumindest in Betracht zu ziehen.

„Was wissen wir bereits über Pollock? Abgesehen von dem, was in seiner Akte steht?“, fragte Parker in die Runde. „Haben wir irgendetwas Neues? Etwas Konkretes?“

„Nein, er ist zum ersten Mal für uns auffällig geworden. Bisher hatten wir ihn nicht auf dem Radar; optisch passt er ins Raster“, antwortete Moric.

„Wo genau in der Wohnung wurden Pollocks DNA-Spuren gefunden?“

Moric blätterte durch den Abschlussbericht der Spurensicherung, der in der Nacht eingegangen war.

„In der Wohnung selbst, am Teppichboden, an zwei Schränken, aber nicht bei Mrs. Fisher.“

„Gibt es Neuigkeiten bezüglich der anderen DNA-Spuren?“

„Keine Chance“, sagte Moric und schüttelte den Kopf. „Die anderen Spuren konnten nicht ausreichend analysiert werden. Sie haben sie nochmals durchlaufen lassen.“

Parker nahm einen Schluck Wasser aus einem hohen, stielförmigen Glas, um seinen Geist wieder in Schwung zu bringen. „Wir werden folgendermaßen vorgehen“, verkündete er schließlich. „Mit den DNA-Spuren haben wir einen hinreichenden Verdacht, um Pollock vorläufig festzunehmen. Wir werden seine Wohnung durchsuchen und wenn es eine Verbindung zu den Mädchen oder zum Tod von Mrs. Fisher gibt, werden wir sie im Laufe eines Verhörs aufdecken. Zumindest werde ich versuchen, das durchzusetzen.“ Während er sprach, wandte er sich der Karte zu und betrachtete noch einmal die markierten Punkte. Zwei der Pins, die er vor wenigen Minuten gesetzt hatte, waren nahe Pollocks Wohnort, die Mehrheit jedoch nicht.

 

„Es ist lediglich eine Vermutung“, bemerkte Higgins, als Parker ihm seine Hypothese vorlegte. Er schloss die Mappe, in der Parker die Beweismittel zusammengetragen hatte.

„Ja“, entgegnete Parker. „Aber es ist eine Hypothese, die auf konkreten Indizien beruht. Pollocks DNA wurde in Mrs. Fishers Wohnung gefunden. Ich weiß selbst, dass er eventuell nur beruflich für Klempnerarbeiten dort gewesen war.“

Higgins wiegte den Kopf hin und her, seine Gedanken sichtbar in Bewegung. „Es wäre sinnvoll, seinen Arbeitsplan oder seine Aufträge zu überprüfen.“ Er erhob sich von seinem Stuhl und legte eine Kaffeekapsel in die Maschine. Für einen kurzen Moment erfüllte das Geräusch der arbeitenden Maschine den Raum, bevor der frisch gebrühte Kaffee in eine Tasse floss.

„Er war dort, wir wissen es, auch ohne die Unterlagen. Und? Was halten Sie davon?“, fragte Parker, während er die Mappe anhob und Higgins ein Foto der Karte zeigte, auf der sie einen bestimmten Bereich eingekreist hatten. „Sehen Sie hier“, sagte er und deutete auf zwei markierte Punkte. „Wir haben zwei unabhängige Berichte über mögliche Sichtungen. Beide in einem Radius von zwei Kilometern um seine Wohnung. Das optische Profil stimmt ebenfalls mit Pollock überein. Mehr haben wir im Moment nicht. Ich würde es mir aber nie verzeihen, wenn wir dem nicht gründlich nachgehen würden.“

„Bis heute haben wir etwa siebenhundert Anrufe erhalten.“

Parker zögerte einen Moment, als die Zahl ausgesprochen wurde. „Ein beachtlicher Teil davon betrifft mögliche Sichtungen. Wenn wir jedem dieser Anrufe Glauben schenken würden, müssten wir annehmen, dass die Mädchen gleichzeitig durch ganz Manchester irren“, sagte Higgins.

„Das ist mir durchaus bewusst“, erwiderte Parker, seine Augen fest auf die Karte vor ihnen gerichtet. „Aber diese Hinweise wurden von meinen Kollegen als glaubwürdig eingestuft. Sie haben Erfahrung in solchen Angelegenheiten. Wir können es uns nicht leisten, sie zu ignorieren.“ Seine Fingerspitze drückte sich nachdrücklich in das Papier der vor ihm liegenden Akte.

Higgins stöhnte, die Anspannung in seinem Ausdruck war unübersehbar.

„Pollock ist wahrscheinlich nicht derjenige, den Sie suchen“, sagte Higgins.

„Möglicherweise. Aber wie ich bereits erwähnt habe, deuten eine Reihe von Indizien auf seine Wohngegend hin. Er passt vielleicht nicht in unser ursprüngliches Täterprofil, aber er hat eine kriminelle Vergangenheit und das reicht aus, um ihn ins Visier zu nehmen.“

„Und wenn es sich als weiterer Fehlschlag herausstellt, wie wollen sie dann vorgehen?“

„Gleichzeitig werden wir den schwarzen Pick-up weiterhin suchen. Da er bisher auf keiner Verkehrskamera aufgetaucht ist, müssen wir unseren Suchradius erweitern. Mein Team durchkämmt bereits alle Nebenstraßen, Schleichwege und Landstraßen. Sie fragen bei jedem Geschäft auf den Wegen nach möglicher Videoüberwachung. Wir müssen das Kennzeichen herausfinden. Und was noch wichtiger ist, dieser Pick-up wird uns zu den Mädchen führen. Davon bin ich überzeugt.“

Higgins schüttelte nachdenklich den Kopf. Dann griff sich Higgins die Kaffeetasse und stürzte den Kaffee in einer Art hinunter, die Parker glauben machte, er hätte unbemerkt etwas Hochprozentiges dazu gemischt.

„Sollte das hier schiefgehen, liegt die Verantwortung bei Ihnen. Wenn Pollock die Öffentlichkeit einschaltet, um sich zu wehren, dann werden Sie dafür geradestehen müssen“, sagte er schließlich. „Ihnen droht ein Spitzenplatz auf ‚Der Liste‘.“

Parker dachte an seine Tochter, die gerade in einer Vorlesung sitzen sollte. Würde sie entführt werden, würde er alles tun, um sie zu retten. Ganz gleich, wie viel es kostete. Er schuldete den Bennetts und den anderen Eltern genau diese Entschlossenheit. Andernfalls würde sein Gewissen ihm keine Ruhe lassen.

„In Ordnung“, erwiderte er schließlich. „Wenn es schiefgeht, übernehme ich die volle Verantwortung und die Konsequenzen.“

„Das wollte ich hören.“ Mit einem resignierten Seufzen griff Higgins zum Telefon und wählte die Nummer eines befreundeten Richters. „Ich stelle Ihnen zwanzig Leute zur Verfügung, darunter ein bewaffnetes Einsatzteam, falls die Situation eskalieren sollte.“

Zwanzig Mann waren mehr, als er erwartet hatte, doch die Zusage eines Armed Response Teams ließ ihn innehalten. Es bedeutete maskierte Polizisten mit Maschinenpistolen, hoch qualifizierte Spezialisten, die bis an die Zähne bewaffnet waren.

„Sie wollten doch ein Zeichen setzen, oder nicht?“, fragte Higgins, zwinkerte und lächelte wölfisch.

Kapitel 8

In dem gedämpften Licht des Polizeireviers lag eine drückende Stille. Die Vorhänge verdeckten die Fenster und nur das schwache Flackern des Projektors schnitt durch die Dunkelheit. Parker trat vor die Leinwand, auf der schemenhafte Bilder erschienen. Er räusperte sich.

Die Stimmung im Raum war angespannt. Jeder Einzelne verstand die Tragweite der Situation, die Bedeutung ihrer Aufgabe. Die Gesichter der Ermittler spiegelten Konzentration und Entschlossenheit wider, während die Schatten, die von den Bildern auf der Leinwand geworfen wurden, über die Gesichter der Anwesenden tanzten.

Es war das erste Mal, dass Parker eine solche Besprechung leitete. Zwei Dutzend Mal hatte er in seiner Karriere an ähnlichen Vorbesprechungen teilgenommen, jedoch stets auf der anderen Seite des kleinen Pults, oft genug in den hinteren Reihen. Nun saßen einundzwanzig Einsatzkräfte ihm gegenüber. Die Blicke der Kollegen lagen auf ihm, aber er ließ sich nichts anmerken.

Er sah Mitglieder der Armed Response Unit. Das bedeutete, sie wurden nicht nur von Polizisten mit entsprechender Waffenausbildung begleitet, sondern von taktisch ausgebildeten Einsatzkräften. Diese waren mit kugelsicheren Westen, Pistolen und halbautomatischen Maschinenpistolen ausgestattet, speziell geschult und bereit, potenziell gefährliche Individuen festzunehmen und schwierige Situationen zu entschärfen.

Parker war dankbar für die Unterstützung. Er hatte selbst miterlebt, wie effektiv diese Kollegen vorgingen. Doch es gab auch ein unbestreitbares Risiko. Sollte der Einsatz scheitern, würden unweigerlich Fragen aufkommen.

„Unser Ziel ist Simon Pollock, wohnhaft in der Windermere Road, Stockport. Mr. Pollock steht unter dem Verdacht, in das Verschwinden der Bennett-Kinder verwickelt zu sein.“

Parker drückte einen Knopf auf der Fernbedienung und das Bild eines selbstsicher lächelnden Mannes, Mitte dreißig, erschien auf der Leinwand. „Wir wollen ihn unvorbereitet erwischen. Wir werden in zivilen Fahrzeugen im Konvoi fahren, ohne Kennzeichnungen. Er wird erst wissen, was los ist, wenn wir vor ihm stehen. Einzig zwei Streifenwagen werden den Konvoi abschließen und Straßensperren errichten – einer sperrt die Zufahrt zur Patterdale Road, der andere zur Nangreave Road. Constable Opton und ich werden etwas versetzt losfahren und die Koordination übernehmen.“

Die Anwesenden schwiegen. Wenn jemand Bedenken hatte, behielt er sie für sich.

„Da unsere Unterlagen darauf hinweisen, dass Mr. Pollock durch seine Mitgliedschaft im Jagdverein im Besitz mehrerer Feuerwaffen ist, wird eine schwer bewaffnete Einheit den Zugriff durchführen. Die Fahrtzeit beträgt zwanzig Minuten, die Festnahme selbst sollte nicht länger als zehn Minuten dauern. Währenddessen werden die übrigen Polizisten die Umgebung sichern und verhindern, dass mögliche Zivilisten in die Schusslinie geraten. Wir werden dieses Haus bis ins Detail durchsuchen, um jeden Hinweis auf das Schicksal der verschwundenen Mädchen zu finden. Das gilt ebenfalls für das Büro. Kein Winkel bleibt unberührt. Ich bitte Sie, mit äußerster Sorgfalt und Präzision vorzugehen.“

 

Parker wartete im Fahrzeug auf Optons Rückkehr, bei der dieser ihm eine Handfeuerwaffe und eine schusssichere Weste reichte. Opton hatte das kluge Urteilsvermögen bewiesen, die Weste schon im Voraus anzuziehen und sah nun belustigt zu, wie Parker in der beengten Fahrerkabine mit der Weste kämpfte. Unter normalen Umständen würden sie diese Ausrüstung nicht benötigen.

Parker verfolgte die fortschreitende Zeit auf dem Display und runzelte die Stirn.

„Bist du aufgeregt?“, fragte Opton. „Denn ich bin es definitiv.“

Parker gab keine Antwort. Noch fünfzehn Minuten.

Das Mobiltelefon piepte und Parker aktivierte die Freisprecheinrichtung. „Leary, was gibt es Neues?“

„Gerade erhielt ich einen Rückruf des Unternehmens“, erklärte Leary, seine Stimme aufgeregt und fast atemlos.

„Wegen Pollock?“, fragte Opton und wandte sich zu Parker, sah ihn mit großen Augen an.

„Nein, von der Firma, bei der Scott Refords als Techniker arbeitet. Es sind gewisse Unstimmigkeiten aufgetreten“, entgegnete Leary.

„Unstimmigkeiten? Inwiefern?“ fragte Parker, während er und Opton sich einen besorgten Blick zuwarfen.

„Ich hatte doch die Anfrage bezüglich der Arbeitszeiten gestellt“, antwortete Leary.

„Leary, bitte komm zum Punkt“, sagte Parker.

„Der Anruf kam aus der Personalabteilung der Firma, für die Scott Reford arbeitet – der Mann aus Stockport, bei dem ihr im Haus wart und der im Raster war. Sie hatte die Unterlagen noch einmal überprüft.“ Er holte tief Luft. „Sie hat mir eröffnet, dass einige Aufträge fehlerhaft zugeordnet waren. Vertauscht, sogar. Sie konnte sich das nicht erklären und hat alle Einträge noch einmal überprüft und uns eine Korrektur übermittelt. Reford war fünf Tage vor den Entführungen in der Wohngegend der Bennetts im Einsatz. Nicht bei Mrs. Fisher, aber seine Auskunft war falsch.“

„Wurden die Bücher manipuliert?“, fragte Parker.

„Sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Es könnte auch einfach ein Fehler der Vertretung gewesen sein. Die Bücher werden nur einmal im Monat kontrolliert, danach nicht wieder. Würde eine Änderung vorgenommen werden und ein Dienst getauscht, fällt das nicht weiter auf. Sie hat nur wegen ihrer Abwesenheit noch mal einen Blick drauf geworfen.“

„Und jetzt?“ Opton sah Parker an, der seinerseits grüblerisch zum Mobiltelefon blickte. Der Countdown auf seinem Display zeigte noch zehn Minuten, bis die Polizei mit einem großen Aufgebot an Simon Pollocks Haustür klopfen würde.

„Wir haben seine Wohnung durchsucht“, sagte Parker und rieb sich die Stirn. „Wenn er tatsächlich involviert ist, sind die Mädchen jedenfalls nicht dort. Leary, haben wir eine Ahnung, wo er sich zurzeit aufhält?“

„Geben Sie mir einen Moment“, antwortete Leary. „Ich werde sofort bei seinem Arbeitgeber nachfragen, welchen Auftrag er heute ausführen soll.“

„Das genügt nicht“, sagte Parker. „Vergleichen Sie die Daten noch mit unseren Verkehrsüberwachungssystemen. Wenn er in das Visier einer unserer Kameras geraten ist, will ich es wissen. Wenn wir irgendein Signal von ihm empfangen können, will ich es aufgreifen.“

„Warten Sie bitte.“ Learys Stimme klang nun ebenfalls angespannt. „Sein Mobiltelefon versendet ein aktives Signal. Der entsprechende Funkmast versorgt unter anderem einen alten Industriepark.“

„Gibt es dort noch aktive Betriebe oder irgendeine Verbindung zu ihm, beruflich oder privat?“ Parker griff nach seinem eigenen Mobiltelefon und gab die durchgegebene Adresse ein.

„Das Gelände beherbergt eine noch aktive Textilfabrik und verschiedene Produzenten für Bauteile“, sagte Leary mit gedrückter Stimme. „Außerdem gibt es dort leer stehende Hallen … Moment mal, genau drei verlassene Fabrikgebäude befinden sich auf dem Areal.“

„Schreiben Sie mir, welche das sind.“

Parker beendete das Gespräch abrupt, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, und griff nach dem Funkgerät.

„Ich kann sehen, was du vorhast, Cliff“, sagte Opton. „Das wäre ein vollkommener Schuss ins Blaue.“

„Taktikfahrzeug, hier PT19“, funkte Parker. „Wir haben einen zusätzlichen Hinweis erhalten, dem wir nachgehen werden. Führen Sie den Zugriff wie geplant durch. Die Koordination übernimmt Constable Leary in der Zentrale.“

„Verstanden, PT19. Geschätzte Ankunftszeit am Einsatzort: Acht Minuten.“

„Wir fahren zu dem Industriegebiet“, erklärte Parker. „Laut Navi ist das Areal dreizehn Minuten von hier entfernt. Sollen die Kollegen das allein machen. Wenn wir da sind, wurde Pollock bereits verhaftet.“ Er griff erneut zum Funkgerät. „Zentrale, hier PT19. Ich benötige sofort weitere bewaffnete Einsatzkräfte am Industriegebiet“, sagte Parker und gab die Adresse durch.

„Verstanden, PT19. Einsatzkräfte sind alarmiert. ETA 19:30 Uhr.“

„Mehr als eine halbe Stunde“, fluchte Opton leise.

„Kann das nicht schneller gehen?“, fragte Parker.

Der Operator am anderen Ende schnaubte. „Negativ, PT19. Alle verfügbaren Einsatzkräfte sind bereits unterwegs.“

Das Funkgerät klickte.

„Wir werden nicht warten“, stellte Parker fest. Mit zwei schnellen Handgriffen aktivierte er das Blaulicht und die Sirene. Er trat auf das Gaspedal, schaltete die Kupplung und lenkte das Auto mit einer Drehung auf der Kreuzung in die entgegengesetzte Richtung.

 

Alsbald steuerte er den Polizeiwagen durch die trostlose Einöde eines Industriegebiets. Es war Wochenende und das Gelände lag verlassen da, als hätte es die Menschheit aufgegeben. Opton lauschte den Funksprüchen, während sie sich ihrem Ziel näherten. Verstärkung war unterwegs.

Mit Vorsicht lenkte Parker den Wagen etwa hundert Meter vor dem Ziel zur Seite und stellte ihn außerhalb des Sichtfelds der ersten stillgelegten Fabrikhalle ab. Er verharrte einen Moment. Sein Blick richtete sich auf die großen Gebäude und Hallen, die vor ihnen aufragten.

Aus dem Kofferraum holte Opton zwei schwere Stabtaschenlampen und schloss ihn behutsam. Das Industriegelände erstreckte sich weitläufig vor ihnen. Lagerhallen reihten sich aneinander, Relikte einer vergangenen industriellen Ära, die ihren Nutzen zum Teil eingebüßt hatten. Einige Fenster waren zerbrochen, boten einen Einblick in das düstere Innere der großen Kolosse.

Ein Sommergewitter kündigte sich in der Ferne bereits durch sein dumpfes Grollen an. Regenwolken zogen über dem Horizont auf und verdunkelten den Himmel.

Leary hatte aus der Einsatzzentrale die Standorte der beiden verlassenen Fabrikgebäude durchgegeben. Bei dem ersten Gebäude fanden sie keinerlei Hinweise auf Aktivität und die Fenster waren zu hoch, um hineinzuklettern oder hineinzuspähen. Mit vorsichtigen Schritten umrundeten sie das verlassene Gebäude, ihre Augen auf die Umgebung gerichtet, und gingen weiter.

Sie schritten die Reihe der Gebäude ab. Die meisten waren fest verschlossen; ihre schweren alten Beschläge ein Beweis für die Abgeschiedenheit dieses Ortes. Der Boden aus Sand und Kies nahm erste Regentropfen auf. Kleine, dunkle Kreise säumten sich auf ihrem Weg.

Opton hob den Kopf und betrachtete den zunehmend trüber werdenden Himmel. „Der Regen wird uns jede Spur wegspülen“, bemerkte er.

Parker entgegnete nichts, seine Aufmerksamkeit weiterhin vollends auf ihre Umgebung gerichtet. An einem der Tore hielt er inne. Es gab kein Licht, kein Geräusch, das nach draußen drang. Das Gebäude war verlassen. Doch das Schloss war anders. Es war neuer, kleiner  fast so, als ob es erst kürzlich angebracht worden wäre. Die anderen Schlösser zeigten Spuren von Rost und Abnutzung, dieses jedoch nicht. Fahrspuren und Fußabdrücke führten an der Halle vorbei und – was viel interessanter war – durch das verschlossene Tor hindurch, obwohl sie auf Learys Aufzählung als stillgelegt dotiert war.

In weißen Buchstaben prangte ‚Großhalle 6‘ an den alten Mauern. „Charles, frag bitte, wie lange sie noch brauchen. Ich seh mich hier einmal um.“ Charles Opton griff an das Funkgerät an seiner Brust, sprach leise hinein. Mit schnellen Schritten umrundete Parker das Gebäude. Es gab nur den Eingang am Haupttor, keine Hintertür, kein tiefgelegenes Fenster.

„Sie brauchen noch zwanzig Minuten“, sagte Opton, als Parker um die Ecke trat.

„Es gibt keinen anderen Zugang“, berichtete Parker. „Dieser hier ist von außen verschlossen. Das heißt, der Täter oder die Täter können nicht in der Halle sein. Jetzt ist der beste Zeitpunkt, um zu handeln, Charles.“

„Sollten wir nicht auf das Team warten?“, fragte Opton.

„Uns bleibt keine Zeit. Wir sichern das Gebäude – Zugang durch das Haupttor. Ich gebe die genaue Position durch: Großhalle 6“, sprach Parker ins Funkgerät.

Das Tor zur Fabrikhalle war aus solidem Stahl. Parker nahm die schwere Stabtaschenlampe. Mit einem festen Griff hob er sie hoch und schlug mit aller Kraft auf das Schloss. Krachend gab es nach und das Innere der Halle frei. Der laute Knall ließ einige Tauben auffliegen, die in den Himmel stoben.

„Sehr dezent und unauffällig“, grummelte Opton und sah dem Tauben nach.

„Mit einem Bolzenschneider wären wir da jedenfalls nicht durchgekommen“, sagte Parker schulterzuckend.

Parker schüttelte den Kopf. „Du brauchst nicht mitzukommen, wenn du das nicht möchtest.“

„Ich kann dich da ja wohl schlecht allein reingehen lassen.“ Sie lauschten angespannt, doch aus der Halle war nichts zu hören. Mit seiner linken Hand zog Opton das Tor zur Seite auf, während er mit der rechten seine Pistole in den Raum richtete.

Mit bedächtigen Bewegungen schob Parker das Stahltor hinter ihnen zu. Jedes Geräusch, jede Bewegung wurde von der Dunkelheit um sie herum verstärkt. Er war vorsichtig, um kein unnötiges Aufsehen von außen zu erregen. Das Letzte, was sie jetzt brauchten, war noch mehr Aufmerksamkeit nach dem verursachten Krach.

Die Stimmung in der verlassenen Fabrikhalle war erdrückend. Die Luft roch abgestanden, als hätte die Feuchtigkeit schon vor Jahrzehnten von ihr Besitz ergriffen. Staubpartikel trieben im Licht, das durch die schmutzigen Fenster hoch oben an den Wänden hereindrang und sich mit den rotierenden Lichtkegeln ihrer Taschenlampen vermischten.

Parker richtete die Lampe nach unten.

Auf dem Boden zeichneten sich Spuren ab. Fußabdrücke, geformt aus eingetrockneter Erde und Schutt, die von draußen hereingetragen worden waren. Sie waren konsistent in ihrer Form und Größe – das immer gleiche Profil auf einem abgetretenen Pfad.

Neben den Fußspuren zogen sich Schleifspuren entlang wie eine dunkle Linie, die sich neben dem rhythmischen Muster der Schritte erstreckte. Diese verloren sich jedoch nach einiger Zeit. Ohne ein Wort zu wechseln, folgten sie der Richtung, die sie zu einer Stahltreppe führte. Beide richteten ihre Blicke nach oben.

Plötzlich hörten sie ein Knarren aus der Dunkelheit zu ihrer Linken. Das Geräusch durchschnitt die Stille wie ein scharfes Messer. Mit angehaltenem Atem lauschten sie in die Dunkelheit. Etwas knackte.

„Sehen wir uns das eben an“, flüsterte Opton. „Danach rücken wir in den oberen Bereich vor.“

Mit der Waffe im Anschlag bewegten sie sich in Richtung der Ecke der Halle, aus der das Geräusch gekommen war.

Vor ihnen türmten sich alte Holzkisten, übereinandergestapelt wie eine unordentliche Mauer. Weiter hinten, versteckt in der dunkelsten Ecke der Halle, stand ein Fahrzeug unter einer Plane. Mit einem Ruck riss Parker die Abdeckung herunter, aber die Fahrerkabine war leer. Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte ihn und er ließ die Waffe sinken.

Es war der Van, der so oft auf den Überwachungskameras aufgetaucht war. Opton ging um das Fahrzeug herum.

„Die Kennzeichen sind entfernt worden, sowohl vorn als auch hinten“, sagte er.

Der Wind wehte durch die Halle, während das Knacken und Knistern in den Wänden zu hören war. Wahrscheinlich hatte sich nur eine Spannung in den alten Mauern gelöst.

„Jetzt hoch“, antwortete Parker und nickte mit dem Kopf in Richtung des Aufgangs.

Die Treppe endete in einem langen Korridor, der sich bis zum Ende des Gebäudekomplexes erstreckte und in mehrere Räumlichkeiten führte. Alle Türen waren verschlossen.

Parker schlich leisen Schrittes von Tür zu Tür, legte sein Ohr an jede einzelne. Bei der vierten vernahm er ein leises Scharren.

„Hallo, ist da jemand?“, fragte er. Seine innere Anspannung verbarg er. Er klopfte. Keine Reaktion.

Etwas – oder jemand – bewegte sich. „Hallo?“, rief Parker nun. Wieder keine Antwort. „Zurück von der Tür! In Ordnung? Bitte geht von der Tür weg!“ Mit einer rauen Bewegung zog er Opton hinter sich und feuerte auf die Türscharniere. Sie gaben unter dem Aufprall nach und die Tür wurde aus ihren Angeln gehoben. Seine Taschenlampe leuchtete in den Raum hinein, die Waffe immer noch bereit zum Schuss. Der Strahl traf ein kleines Mädchen. Die ältere der Schwestern. Obwohl wach, reagierte sie nicht.

„Wir sind von der Polizei, wir werden dir nichts tun. Das ist Charles und ich bin Clifford. Deine Eltern haben uns geschickt.“

Mia war mit Schmutz bedeckt, die Haare verfilzt, die Fingernägel voller Dreck und Blut. Ihre Kleidung war viel zu dünn für diese Umgebung. Sie fröstelte und wirkte apathisch.

„Kannst du uns sagen, wo Emily ist?“, fragte Parker.

Das Mädchen starrte in die Dunkelheit, reagierte nicht.

„Ruf einen Krankenwagen“, sagte er zu Opton, ohne seinen Blick von dem Mädchen abzuwenden. Parker näherte sich und bemerkte die Schnitte an ihren Armen, die blauen Flecken, die ihren zierlichen Körper bedeckten. „Mia, könntest du bitte für mich einmal in meine Augen sehen?“, wisperte Parker sanft und strich ihr dabei über das blutverkrustete Gesicht.

Das Mädchen blieb stumm, trotz der Ansprache.

Parker hob sie auf seinen Arm, den sie umklammerte. Er erinnerte sich daran, wie seine Tochter als Kind das Gefühl von Halt suchte, indem sie sich an irgendetwas festhielt.

„Wir haben hier keinen Empfang“, sagte Opton und schüttelte den Kopf. Knisterndes Rauschen drang aus dem Funkgerät heraus. „Wir müssen wieder runter.“

Parker bemühte sich, seine Fassung zu bewahren, und lächelte das Mädchen an. „Charles, wir müssen die anderen Räume untersuchen. Nur für den Fall, dass Emily … Vielleicht hat er sie getrennt.“

„Dann bleib du bei ihr. Du kommst sowieso besser mit Kindern zurecht als ich“, antwortete Opton und verschwand auf den Gang.

Parker setzte sich mit dem Mädchen auf den Boden. „Es wird gleich kurz laut sein. Aber hab keine Angst, ich pass auf dich auf.“ Er legte seine Handflächen über die Ohren des Mädchens, während Opton die Türen zu den anderen Räumen gewaltsam und lautstark eintrat.

***

Opton kehrte kopfschüttelnd zu ihnen zurück.

„Wir gehen jetzt zu deinen Eltern. Alles wird gut. Du hast mein Wort“, sagte Parker dem Mädchen. Dann wandte er sich an Opton und flüsterte: „Lass uns Mia erst mal ins Auto bringen, bis der Krankenwagen kommt. Dort ist es wärmer und wir haben Decken. Die Kleine bereitet mir ernsthafte Sorgen. Informiere das Einsatzteam, sobald wir Empfang haben  geh bitte schon mal vor und beeil dich. Ich komme dann gleich mit dem Mädchen nach.“

Opton rannte voran, die stählerne Treppe hinunter und die ausladende Halle hinter sich lassend. Ein letzter Blick zurück offenbarte ihm das Bild von Parker, der das Mädchen die Treppe vorsichtig hinabtrug. Opton hatte beinahe die Eingangstore erreicht, als sich das schwere Tor öffnete und ein grelles Licht den Raum erfüllte. Es wirkte fast blendend im Vergleich zur Dunkelheit, die vorher geherrscht hatte.

Ein Mann trat in die Halle und blickte sich um. Hatte das Einsatzteam es eher geschafft, fragte er sich.

Der Mann sagte nichts, schritt aber auf ihn zu. Opton hielt den Atem an. Sein Blick fixierte sich auf die Gestalt, die immer näherkam. Und dann sah er es: Die Waffe, die auf ihn gerichtet war. Sein Herzschlag beschleunigte sich, als er die drohende Gefahr erkannte. „Polizei! Bleiben Sie stehen!“, schrie Opton durch die Halle.

***

Parker erstarrte. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er begriff, was sich vor seinen Augen abspielte. Sein Blick suchte verzweifelt den von Opton, der seine Waffe gezogen hatte und zielte, doch zögerte.

„Nehmen Sie die Waffe herunter und bleiben Sie stehen!“, schrie Opton, wich einen Schritt zurück.

Der Fremde zielte auf Opton und drückte ab.

Parker reagierte instinktiv; sein Griff um das Kind verstärkte sich. Er rannte die letzten Stufen der Treppe runter und sprang zur Seite, hinter einen Stapel Holzkisten. Der Aufprall auf dem harten Betonboden schmerzte, aber er zwang sich, den Schmerz zu ignorieren. Er setzte das Mädchen ab, dessen Augen vor Schreck weit aufgerissen, aber weiterhin nicht fokussiert waren.

„Alles wird gut“, flüsterte er ihr zu, während er sich gegen die Holzkisten lehnte und zur Ruhe zwang. Er hörte schnelle Schritte, registrierte sie als Optons, der in eine Deckung gehuscht sein musste.

Dreimal zerriss das Krachen von Schüssen die Stille. Dreimal erhellte Mündungsfeuer die Dunkelheit und warf flackernde Schatten auf die verlassenen Maschinen und Lagerkisten.

Die Kugeln schlugen in das morsche Holz hinter Parker ein, der zusammen mit Mia immer noch hinter den Kisten hockte. Der Schütze zielte auf ihn und Mia. Parker hielt die Kleine vor sich im Arm, wandte dem Schützen den Rücken zu, um sie bestmöglich zu schützen. Als der Lärm nachließ, verklangen auch die Schritte des Mannes, der zur Tür hastete. Parker hörte weitere Schüsse – mindestens einer davon stammte aus einer Polizeiwaffe und verriet ihm, dass Opton das Feuer erwidert hatte. Dann erklang ein Schmerzensschrei. Es war Opton. Parker schob Mia zur Seite und sprang aus der Deckung hervor, richtete seine eigene Waffe auf den Flüchtenden und feuerte, ehe er sich wieder in Deckung begab. Die Kugel streifte das Bein des Mannes, aber es reichte nicht, um ihn zu stoppen. Der Schütze verschwand durch das Tor.

Parker griff nach dem Funkgerät an seinem Revers und schrie hinein.

„PT19 hier, Schusswechsel! Wiederhole: Schusswechsel!“ Die Hoffnung, nah genug am Ausgang zu sein, um Funkkontakt herstellen zu können, war der letzte Strohhalm, an den er sich klammerte. Stille antwortete auf seine Rufe.

„Woraus zum Teufel ist dieses Gebäude gemacht?“, keuchte er, während er sich umsah. Die Wände schluckten jedes Signal.

Inzwischen hatte der Regen an Intensität zugenommen und trommelte lautstark auf das Dach der alten Fabrikhalle. Das Geräusch war monoton im Vergleich zu dem Chaos, das sich gerade in der Halle abspielte.

„Charles?“, fragte Parker und hörte ein Ächzen zur Antwort. Schlurfende Schritte ertönten, ehe Opton ins Blickfeld trat. „Was nun, Cliff?“, fragte er mit zischender, wackliger Stimme.

Mit aufgeschürften Händen stemmte Parker sich hoch und blickte zu seinem Kollegen, dessen Gesicht von Schmerz verzerrt war. „Du bist getroffen“, sagte Parker.

„Ich weiß. Es geht schon“, raunte Opton, während er seine Hand auf die blutende Wunde presste. „Ich kann nur nicht mehr die Waffe halten. Tut mir leid.“

Parker wandte seinen Blick auf das Mädchen, das flach atmete und sichtlich unter Schock stand. Sie hatte sich zusammengekauert. Zähneknirschend sah er wieder zu seinem Freund Charles, der beunruhigend viel Blut verlor.

„Wir können ihn nicht verfolgen. Er kann immer noch auf dem Gelände sein und ihr müsst beide rasch ins Krankenhaus“, sagte er. „Mia – du musst durchhalten, ja? Charles hier passt auf dich auf.“

Parker hielt seine Waffe vor sich ausgestreckt, schritt durch das Tor und spähte umher, ob irgendwo der Schütze lauerte, und sprintete zurück zum Streifenwagen. Es blieb keine Zeit, das Gelände zu sichern. Er stieg ein, startete den Motor und gab Gas. Mit hoher Geschwindigkeit fuhr er den Wagen direkt in die Halle. Sobald der Wagen zum Stillstand gekommen war, stieg er mit gezogener Waffe aus und bewegte sich rückwärts zu den beiden zurückgelassenen.

„Ich bringe euch zwei direkt ins Krankenhaus. Das geht schneller. Ich informiere die Zentrale unterwegs“, erklärte er und versuchte das Mädchen anzulächeln, die vielleicht nicht verstand, was er sagte, ein warmes Lächeln jedoch gebrauchen konnte.

Opton saß kreidebleich auf dem Boden.

„Kannst du allein laufen?“, fragte Parker und sah immer wieder durch die Halle.

Opton nickte und zog sich am Rand einer der Kisten hoch. Währenddessen nahm Parker das Mädchen auf den Arm und trug sie zur Rückbank des Wagens, schnallte sie an und legte ihr eine Decke über, die bereits auf dem Rücksitz bereitlag.

Als Opton endlich das Auto erreichte, half Parker ihm hinein. „Wir müssen deine Blutung stoppen.“ Parker löste seinen Gürtel und band ihn fest oberhalb der Schusswunde, bevor er sich selbst ans Steuer setzte und mit Vollgas in den strömenden Regen hinausfuhr.

„Zentrale, hier PT19. Schusswechsel bei uns, Schütze auf der Flucht, Identifikation nicht möglich. Ich fahre direkt zum Krankenhaus, zwei Verletzte“, funkte er. „Jetzt wird alles gut“, murmelte Parker immer wieder vor sich hin, auch um sich selbst zu beruhigen, während Opton immer blasser wurde. Sie hatten das erste Mädchen in Sicherheit gebracht, waren dem Täter auf der Spur und Opton würde seine Verletzung überleben. Vielleicht würde er einige Monate dienstunfähig sein, aber danach hätte er eine aufregende Geschichte zu erzählen, die er den jüngeren Kollegen auftischen konnte, um sie in den ersten Wochen zu beeindrucken. „Es wird alles gut“, flüsterte er vor sich hin.

 

„Wieso machen die denn keinen Platz?“, fluchte Parker und schlug auf das Lenkrad. Wütend schaltete er das Blaulicht aus und wieder an, blinkte mit dem Fernlicht, während die Sirene dröhnte. Einzelne Fahrzeuge machten ihm Platz, andere stellten sich in der Bemühung kreuz und quer, blockierten mehr, als sie halfen. Nur der Scheibenwischer ging auf der höchsten Stufe von Seite zu Seite und leistete einen hilfreichen Beitrag.

„Die Rettungsgasse funktioniert doch nie, wenn man es brauch“, keuchte Opton mit einem gequälten Schmunzeln.

Parker warf einen Blick zu ihm hinüber. Sein Gesicht hatte kaum mehr Farbe. Er hatte Sorge, sein Kreislauf würde nicht mehr lange mitmachen. Seine Atmung war schwer. Auf dem Rücksitz schlummerte das Mädchen. Parker reichte nach hinten auf den Rücksitz und zog die Decke weiter hoch. Die Fahrzeuge vor ihm bewegten sich endlich weiter. Er legte den Gang ein, bereit, ihrem Beispiel zu folgen, bis sie die Mitte einer Kreuzung erreichten. Schrilles Hupen mehrerer Autos erklang.

Ein schwarzer Pick-up raste aus einer Seitenstraße direkt auf sie zu. Der Pick-up, der vor Mrs. Fishers Haus gesichtet wurde. Der Fahrer bremste nicht, beschleunigte noch.

Alles geschah zu schnell, als dass Parker noch eine Chance gehabt hätte, zu reagieren. Es gab nur einen kurzen Moment der Stille, bevor das Unvermeidliche geschah. Parker konnte gerade noch einen Blick auf den Fahrer erhaschen. Es war Reford. Natürlich war es Reford.

Der Innenraum des Wagens explodierte in einer Welle aus Lärm und umherfliegender Teile. Das Metall verbog sich, während der Wagen meterweit über die nasse Asphaltstraße geschleudert wurde. Die Airbags platzten mit einem lauten Knall auf.

Parker wurde gegen die Tür geschleudert, Schmerz fuhr wie ein Blitz durch Schulter und Arm. Sein Kopf prallte gegen die Tür und er verlor das Bewusstsein, während die Glassplitter der Frontscheibe seine Haut durchdrangen.

***

Als Opton die Augen öffnete, verschwamm sein Blick. Nach dem ohrenbetäubenden Lärm und dem grellen Licht schrillte es in seinen Ohren. Er blickte zu seinem Kollegen. Parker hing regungslos in seinem Sitz, das Blut von seinem zerschnittenen Gesicht tropfte auf seine schusssichere Weste. Opton drehte langsam den Kopf, um zur Rückbank zu blicken. Kein Laut drang mehr von dort herüber. Sein Atem stockte, als er sah, was mit dem Mädchen geschehen war.

Ruckartig richtete er seinen Blick wieder nach vorn.

Erst jetzt nahm er die große Metallstrebe wahr, die seinen Körper durchbohrte. Wie konnte er diese nur übersehen haben?

Optons Blut pulsierte in regelmäßigen Schüben aus seinem Körper. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass er eingeklemmt war. Die Erkenntnis, dass er hier sterben und dem Mädchen und seinem Freund binnen kürzester Zeit folgen würde, sickerte langsam durch seine Schockstarre hindurch. Es war alles umsonst gewesen.

 

Verschwommene Lichter zogen an ihm vorbei, begleitet von einem ohrenbetäubenden Lärm, der wie eine Welle über ihn hinwegrollte. Stimmen überschlugen sich. Hastige Schritte hallten durch die Gänge und das Atmen fiel ihm schwer, als ob eine tonnenschwere Last auf seiner Brust lag.

„Systolischer Druck fällt …“ Die Worte drangen nur gedämpft zu ihm durch, als ob sie durch einen dicken Vorhang gesprochen wurden. Mehrere Hände griffen nach ihm, hoben ihn hoch.

Er wollte schreien, aber kein Ton kam über seine Lippen. Alles, was blieb, war das dumpfe Rauschen in seinen Ohren. Das Licht änderte sich, wurde greller, blendender, bis es alles andere auslöschte.