Leseprobe Der perfekte Verlobte

1. Kapitel

Sie ertappte die beiden morgens um 6:52 Uhr im Bett liegend, als wären sie ein frischvermähltes Paar. Sein Arm lag um ihre Schulter, sein Gesicht war in einem Wust aus dunklen Haaren vergraben.

Colton, sagte sie, sprach es aber nur in Gedanken aus. Ihre geschürzten Lippen bebten. Sie zitterte am ganzen Leib, als würde sie unter Strom stehen. Kampf oder Flucht? Ihr Körper konnte sich einfach nicht entscheiden.

Colton rührte sich. Vielleicht hatte er gehört, wie sie hereingekommen war. Vielleicht war er auch auf ihr angestrengtes Atmen aufmerksam geworden, da sie sich davon abzuhalten versuchte, ihn anzuschreien. Vielleicht hatte sich ja auch sein Gewissen geregt. Sofern er so was hatte.

Er drehte sich von der Frau weg, starrte die Decke an, rieb sich übers Gesicht und gähnte. Ihm schien aufzufallen, dass seine Bettgefährtin auf seinem rechten Arm lag. Vorsichtig befreite er seinen Arm, wobei er darauf achtete, dass er sie nicht aufweckte. Was für ein netter Kerl.

Julie spürte, dass sie sich übergeben musste. Die Galle kam ihr hoch, und sie machte einen Schritt nach hinten, zurück in Richtung Tür.

Mein Bett. Mein Haus. Für einen Augenblick glaubte sie, das alles nur zu träumen.

Dann aber setzte er sich auf, da er vermutlich das Knarren der Dielen gehört hatte. Schließlich sah er sie. Später würde sie über diesen Moment sagen, dass sein Blick blankes Entsetzen vermittelt hatte. So als hätte Colton eine Weile ernsthaft geglaubt, absolut unbesiegbar zu sein, nur um dann dem Tod ins Auge zu sehen.

„Shit“, sagte er.

Ja, Shit. Er besitzt nicht mal den Anstand, irgendetwas Originelles von sich zu geben. Als Nächstes kommen gleich die Ausreden.

Stattdessen jedoch drehte sich Colton zur Seite und hob die Beine aus dem Bett. Er trug schwarze Retropants. Wie sie sehen konnte, waren es die mit dem Aufdruck Eyushijah auf dem Gummizug. Die hatte sie für ihn im Internet gekauft. Sie ließen die Wölbung seines Penis groß erscheinen. Nicht, dass er so was gebraucht hätte. Es war bequeme Unterwäsche, und deshalb hatte sie sie auch gekauft. O Gott, sie musste sich bestimmt gleich übergeben …

„Steh nicht auf.“ Ihre Stimme klang gefasster als erwartet. Ein wenig Stolz schwang darin mit, aber viel war es nicht.

Er blieb sitzen, während sich die Frau neben ihm rührte und ein leises Stöhnen über ihre Lippen kam. So als wäre sie nach einer Nacht voll wildem Sex noch völlig ausgepowert und als würde sie erwarten, dass sie sich gleich nach dem Aufwachen an den Mann an ihrer Seite schmiegen konnte. Was hatten die beiden geplant? Eine Tasse Kaffee? Frühstück im Bett? Noch eine schweißtreibende Runde, diesmal mit morgendlichem Mundgeruch?

Ihr Mageninhalt kam ihr abermals hoch.

„Was hast du hier zu suchen?“, fragte Colton. Er musste ein paar Mal schlucken, so als würde ihm das Ganze zu schaffen machen.

„Wer ist sie?“

Er antwortete nicht, sondern hielt weiter ihrem Blick stand. In diesem Moment fand sie, dass er einfach dämlich aussah. Es war nie ihre Art gewesen, einen Menschen nach dessen persönlichem Stil zu beurteilen, und trotzdem kam ihr sein angesagter Schnauzbart mit einem Mal albern vor. Und die Art, wie sich seine dunklen Haare um die Ohren gelegt hatten, verlieh ihm etwas Kindliches, Unreifes, aber es war nicht sexy und süß. Er war ein Jüngling. Vielleicht sogar nur ein Junge.

Julie war vor Traurigkeit wie benommen, und sein Treuebruch bereitete ihr Übelkeit. Dennoch entging ihr nicht, dass ihr Verlobter die Frau neben sich im Bett so ungläubig ansah, als könnte er nicht fassen, dass sie dort lag. Wusste er überhaupt, wie sie hieß?

„Sie … ähm …“, stotterte er. „Ihr Name ist Monique.“

Dann war es zu spät. Julie hatte vergebens versucht, sich dem Würgereiz zu widersetzen. Monique. Um Gottes willen! Monique. Der Name klang erfunden. Julie lief zum Abfalleimer und begann zu würgen. Viel hatte sie nicht im Magen, nur einen Kaffee und einen Donut, den sie vor drei Stunden unterwegs gegessen hatte. Schließlich war sie davon ausgegangen, zeitig zu Hause zu sein, um mit ihrem Verlobten gemeinsam zu frühstücken.

Er kam jetzt auf sie zu.

„Bleib mir vom Leib!“ Sie wischte sich das Kinn ab und stand wieder auf. Colton erstarrte mitten in der Bewegung und schien schockiert zu sein. Hatte er sie noch nie zuvor so brüllen gehört? Womöglich nicht. Und womöglich kannten sie sich auch gar nicht richtig. Vielleicht waren sie einfach noch nicht ernsthaft auf die Probe gestellt worden.

Das hier ist KEINE Probe …

Das ist das Aus.

Sie verließ das Zimmer nicht, sondern stand da und wartete, während er sich bedächtig wieder aufs Bett setzte. Während sich Julie übergeben hatte, hatte sich die Frau aufgesetzt und sah die Wand an, als würde sie sich schämen oder als wollte sie eine Konfrontation vermeiden.

„Colton“, sagte die Frau mit leiser Stimme. „Was ist hier los? Was macht diese Frau hier?“

„Keine Ahnung. Sie war auf einmal einfach da.“

„Ich bin seine Verlobte“, antwortete Julie, die immer noch den Geschmack von Erbrochenem im Mund hatte.

„Na, toll“, erwiderte Monique sarkastisch. Nach der Art zu urteilen, wie sie sich weggedreht hatte und wie sie die Schultern hochzog, konnte es gut sein, dass sie auf ihrem Smartphone tippte. Bestellte sie einen Uber-Fahrer? Oder wollte sie doch nur das Gesicht vor ihr verbergen?

Lieber Gott, kannten sie sich etwa? Waren sie sich schon mal begegnet?

Julie brachte es kaum fertig, die Frau anzusehen. Sie zu fragen, wäre schlicht unmöglich gewesen.

Wo hast du ihn kennengelernt? Wie lange schläfst du schon mit ihm?

Nicht, dass sie dieser Monique die Schuld hätte geben wollen. Die hatte keine Ahnung, wer Julie war. Vielmehr war ihr soeben bewusst geworden, dass sie eine Beziehung zerstört hatte.

Julie und Colton wohnten erst seit einem Monat in diesem Haus. Noch hing an keiner Wand eines der Fotos, auf denen sie gemeinsam zu sehen waren. Auf der Kommode hätte eigentlich ein Bilderrahmen mit einem Foto stehen müssen, das sie beide letztes Jahr beim Bergsteigen zeigte, doch da war kein Bilderrahmen.

Er hatte ihn versteckt.

Sie konnte ihm ansehen, wie er angestrengt überlegte und nach einem Weg suchte, um sich aus dieser Affäre ziehen zu können. „Ich habe keine Ahnung, wer sie ist“, sagte er zu Monique.

Julies Herz sank in finstere Tiefen hinab. Augenblick mal – was? Das war seine Strategie? Er legte noch eins auf seinen Betrug drauf? Er wollte so tun, als würde er sie gar nicht kennen?

„Ich habe diese Frau in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen“, beharrte Colton und wich Julies stechendem Blick aus.

Nun überschlugen sich ihre Gedanken, doch die besten Reaktionen auf seine Worte wollten ihr einfach nicht in den Sinn kommen. Später würde sie diese ganze Szene Revue passieren lassen und überlegen, was sie hätte anders machen können, was sie hätte sagen und welche Fragen sie hätte stellen können. Doch in diesem Moment war es einfach so, wie es war. „Warum sagst du so was? Du … Schwein.“

Das war es. Lass der Wut freien Lauf. Als Therapeutin wusste sie, dass Wut nur eine weitere fehlgeleitete Gefühlsregung war. Wut diente als Beschützer, als Schutzschild. Sie war untröstlich, ihr Herz war gebrochen und sie fühlte sich so traurig wie schon seit Jahren nicht mehr. Sie fühlte sich zutiefst verletzt. Doch es war die Wut, die auf einmal das Sagen hatte.

Sie warf Colton einen finsteren Blick zu, wandte sich dann aber schließlich doch an die Frau, die in ihrem Bett lag. Bedächtig und mitfühlend erklärte sie: „Mein Name ist Julie Spreniker. Colton und ich sind seit vier Monaten verlobt. Unsere Hochzeit ist für den Sommer geplant, für den 10. Juni. Vor fünf Wochen haben wir gemeinsam dieses Haus gekauft und sind nur drei Tage später hier eingezogen.“ Wenn ihre Blicke hätten töten können, dann hätte sie ihnen jetzt bei Colton freien Lauf gelassen. „Der Kaufvertrag läuft auf meinen Namen, weil Colton kein Kredit gewährt wird. Du kannst dir den Kaufvertrag ansehen und es nachprüfen.“

„Aber was machst du hier?“, wollte Monique wissen. Sie hatte den Kopf herumgedreht, um Julie anzusehen. Zwischen den dichten Strähnen ihres zerzausten Haars war nur ein Auge zu erkennen, das glasig dreinschaute.

„Ich wollte ihn überraschen. Da dieses Unwetter aufzieht, wurde meine Konferenz einen Tag früher beendet. Ich habe ihm nichts davon gesagt, sondern habe mich um drei Uhr heute Morgen in den Wagen gesetzt und mich auf den Weg von Buffalo hierher gemacht.“

Es hatte etwas Beruhigendes, über so alltägliche, vertraute Dinge zu reden. Sie hatte das Gefühl, die Situation wieder besser unter Kontrolle zu haben, auch wenn es immer noch ein heftiger Schlag ins Gesicht war, dass Colton eine solche Lüge erzählte. Als würde er glauben, auf diese Weise ungeschoren davonzukommen.

Es sei denn, er versuchte, Monique gegenüber sein Gesicht zu wahren. Diese Behauptung, sie gar nicht zu kennen, deutete darauf hin, dass es für die beiden mehr als nur ein One-Night-Stand war. Er hatte vielmehr ein richtiges Verhältnis mit dieser Frau.

„Wie lange schläfst du schon mit ihm?“, fragte Julie und musste dabei fast schon wieder würgen.

„Oh Gott“, sagte Monique, als würde sie mit sich selbst reden. „So ein Shit. Das ist doch alles völlig verrückt.“

„O ja, es ist völlig verrückt“, stimmte Julie ihr zu. Monique hatte das Bettlaken hochgezogen, um ihre Blöße zu bedecken, aber an der linken Seite war es ein Stück weit runtergerutscht, sodass etwas von ihrer Brust zu sehen war. Julie konnte den Blick einfach nicht von dem dunklen Halbkreis ihres Nippels abwenden, so sehr sie es auch wollte. Doch durch ihre Arbeit mit Menschen, die großen und kleinen Traumata ausgesetzt gewesen waren, wusste sie, dass der Verstand unter extremen Bedingungen manche Dinge ausblendete und sich stattdessen auf winzige Details konzentrierte.

Schließlich richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Colton. „Es ist so völlig verrückt, weil ich seine Ehefrau sein werde. Jedenfalls war das mal so geplant.“

Zeit zu gehen, forderte eine innere Stimme sie auf. Hier kannst du nichts mehr bewirken.

Das konnte sie tatsächlich nicht. Es war nicht länger wichtig, Colton zugeben zu lassen, dass er sehr wohl wusste, wer sie war. Ihr Leben hatte auf eine unumkehrbare Weise eine andere Richtung eingeschlagen. Es würde eine Weile dauern, ehe sie das akzeptieren konnte. Aber es war schlicht unmöglich, auch nur noch einen Moment länger hierzubleiben.

Mit zittrigen Knien ging sie zur Tür, die immer noch offenstand, doch dann blieb sie stehen. Als sie den Flur und die Treppe ins Erdgeschoss betrachtete, wurde ihr plötzlich etwas bewusst: Das hier war ihr Haus? Warum also sollte sie gehen?

„Geht“, sagte sie und drehte sich zum Bett um. „Geht bitte. Alle beide.“

Keiner von ihnen rührte sich. Colton schaute wie unter Schock stehend drein, als könnte er nicht fassen, dass sie seinen Bluff durchschaut hatte. Die harte Tour war nie ihr Ding gewesen, aber Fakt war nun mal, dass dies hier ihr Haus war. Und dass Colton ein verlogenes Arschloch war.

„Vielleicht sollten wir einfach gehen“, sagte Colton zu Monique.

Wie jämmerlich.

„Was?“, gab die zurück. „Was redest du denn da? Wohin sollen wir gehen?“

Je länger Julie die Frau reden hörte, desto mehr glaubte sie, sie von irgendwoher zu kennen. Fast so, als hätte sie sie schon mal in einem Film oder im Fernsehen gesehen. Aber welchen Sinn ergab das? Schlief Colton mit einer berühmten Schauspielerin?

„Ich meine ja nur“, sagte Colton in einem Flüsterton, in dem die Aufforderung Sei vernünftig mitschwang. „Könnte doch sein, dass sie … du weißt schon … gefährlich ist.“

„Ich gehe nirgendwohin“, entgegnete Monique. „Und du auch nicht. Hörst du?“

Wie interessant. Die Frau wollte wohl ihr Revier verteidigen. Offenbar hatte sie Colton abgekauft, dass er nicht wusste, wer Julie war.

„Ihr könnt euch erst noch anziehen, und dann geht ihr“, beharrte Julie.

Endlich sah Colton Julie wieder an. Der beschämte Ausdruck in seinen Augen hätte für sie eine Genugtuung sein sollen, doch das war nicht der Fall.

„Mach schon“, sagte sie zu Monique. Ihre Beine fühlten sich jetzt nicht mehr wacklig an. „Zieh deine Sachen an, ich werde auch nicht hinsehen.“

Monique wartete darauf, dass Colton irgendetwas unternahm. Als das nicht geschah, warf sie das Bettlaken zur Seite und begann ihre Kleidung vom Fußboden aufzulesen.

Julie brach ihr Versprechen und sah hin – und musste feststellen, dass Monique einen nahezu perfekten Körper hatte. Glatte, gebräunte Haut, lange Beine, so schlank, dass die Rippen ein wenig zu sehen waren, dazu einen zarten Hintern wie eine junge Stute. Colton bewegte sich etwas gemächlicher. Sein Körper sah auch gut aus. Dreimal die Woche ging er ins Fitnesscenter, er hatte harte Bauchmuskeln, breite Schultern und einen flachen Bauch. Seine „Hühnerbeine“ waren ihm ein wenig peinlich, was vermutlich der Grund für seine diversen Tattoos war, unter anderem das einer Schlange, die sich um seinen rechten Oberschenkel wand. Er schob die Zehen in die Hosenbeine und zog die Jeans hoch, ließ aber den Gürtel offen. Während er sein schwarzes T-Shirt überstreifte, stieg Monique in ihr schwarzes Cocktailkleid, zog es hoch und schob die Träger über die Schultern.

Sieht aus, als hätten sie einen schönen Abend verbracht, dachte Julie kläglich. Sie dagegen trug eine Jogginghose und dazu ein Kapuzenshirt mit dem Aufdruck Herkimer Brewing. Die Art von Kleidung, in der man nach Hause fuhr. In der man in sein gewohntes Leben zurückkehrte. In der man seinen Mann im Bett überraschte und das Frühstück zubereitete.

„Wir gehen einfach raus und überlegen dann, was wir tun“, redete Colton auf Monique ein. Er setzte sich wieder aufs Bett und zog seine bunten Socken an. Julie sah, dass einer seiner dunkelbraunen Doc Martens in der Nähe des Bettes lag, der andere weit weg in der Zimmerecke. Sie hatten sich die Kleidung vom Leib gerissen und waren dann mit einem Satz im Bett gelandet.

„Du bist ein Idiot“, sagte Monique zu ihm.

Er sah zu Boden, während er seine Schuhe anzog. Julie fand, dass er völlig durcheinander war und keine Ahnung hatte, was er als Nächstes tun sollte.

Sie sollte das nicht kümmern. Monique ging von einem Wust aus Haaren umgeben bereits zur Tür. Julie machte einen Schritt zur Seite, um sie vorbeizulassen. Den Rücken Julie zugewandt schob sie sich an ihr vorbei und roch nach Schlaf, Shampoo und dem Wein vom Abend zuvor.

„Monique!“, rief Colton, aber sie ging bereits die Treppe runter.

Julie stellte sich auf den Treppenabsatz, von dem aus sie den Eingangsbereich überblicken konnte, der sich über das Erdgeschoss und den ersten Stock erstreckte. Die Treppe befand sich gleich neben der Haustür. Sie sah, wie Monique über den Orientteppich ging und nach dem Türknauf fasste, um die Tür zu öffnen und nach draußen zu gehen. Doch dann hielt sie plötzlich inne. Julie ging ein paar Schritte weiter, um einen besseren Blickwinkel zu haben.

Eine Gestalt warf einen Schatten auf die Haustür, jemand stand da draußen.

Wer zum Teufel wollte denn morgens um kurz nach sieben etwas von ihr?

Julie holte Luft, um „Ich komme sofort!“ zu rufen, doch in dem Moment flog die Tür auf. Ein Mann kam herein, dessen Gesicht durch eine Baseballkappe halb verdeckt war.

Die Worte blieben Julie im Hals stecken. Monique wollte weglaufen, doch der Mann bekam sie zu fassen und legte seine Hand auf ihren Mund.

2. Kapitel

Monique setzte sich gegen den Mann zur Wehr und trat wild um sich, während er sie weiter ins Reihenhaus trug und unterhalb des Balkons aus Julies Blickfeld geriet. Julie stand starr vor Schock da und sah mit an, wie ein zweiter Mann zur Tür hereinkam, der ebenfalls eine Baseballkappe trug.

Er sah nach oben in den ersten Stock, seine Augen erfassten sie sofort.

O Gott, o Gott, o Gott, o Gott …

Er kam die Treppe hoch, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm.

Julie löste sich aus ihrer Starre, zog sich hastig ins Schlafzimmer zurück und verriegelte die Tür hinter sich. „Ruf die Polizei an“, sagte sie zu Colton. „Du sollst die Polizei anrufen!“

Sie griff in ihre Hosentasche, um ihr eigenes Handy herauszuholen. Schritte näherten sich rasch im Flur, und sie suchte nach etwas, womit sie die Tür verbarrikadieren konnte. Die Kommode?

Sie lief zur anderen Seite und stemmte sich mit der Schulter dagegen, sodass sie sie ein paar Zentimeter von der Stelle bewegen konnte. Aber die Zeit reichte nicht. Die Tür erzitterte, als sich der Mann dagegen warf.

„Mach auf! Ich weiß, dass du da drin bist!“

Sie zog wieder an ihrem Handy, aber die verdammte Schutzhülle sorgte immer dafür, dass es in der Hosentasche hängen blieb. „Ruf die Polizei an“, forderte sie Colton abermals auf, der sein Telefon in der Hand hielt. Er machte einen sprachlosen, verwirrten Eindruck, begann dann aber die Nummer einzutippen.

Der Mann im Flur warf sich erneut gegen die Tür. Sie war aus Massivholz, keine von diesen Plastiktüren, die innen hohl waren, wie es sie im Baumarkt Lowe’s zu kaufen gab. Doch das Holz rund um das Schloss fing bereits an zu splittern. „Ich komme rein, ob dir das nun gefällt oder nicht. Du kannst aber auch freiwillig rauskommen. Ich werde dir nichts tun, wir müssen nur mit dir reden.“

Ja, klar.

Julie eilte zum Fenster, dessen beide Schiebeelemente geschlossen und verriegelt waren. Das Sturmfenster war geschlossen. Ihre Hände zitterten, als sie das Schloss über dem ersten Fensterrahmen drehte, die Oberkante fasste und das Fenster nach oben schob. Beim Sturmfenster ging das nicht so leicht, denn sie zitterte so heftig, dass sie ihre Finger nicht in die kleinen Aussparungen schieben konnte, um die Riegel zu lösen.

„Hallo?“, sagte Colton außer Atem. „Hier ist 1143 Waverly Place, Herkimer … hier sind … ähm … mehrere Eindringlinge in meinem Haus. Schicken Sie bitte sofort jemanden her.“

Der Mann im Flur warf sich ein drittes Mal gegen die Tür, das damit verbundene Bersten klang diesmal lauter. Julie wagte einen Blick über die Schulter und sah, dass rund um die Türzarge die weiße Farbe abgeplatzt und darunter braunes Holz zum Vorschein gekommen war. Noch einen weiteren Anlauf, dann würde der Mann im Schlafzimmer stehen.

Ihre Finger rutschten erneut ab, doch dann fanden sie an den Riegeln Halt. Sie drückte sie zur Seite und schob gleichzeitig das Sturmfenster nach oben. Gleich darauf verloren ihre Finger wieder ihren Halt, und die Scheibe rastete in der nächsten Stufe ein. Dadurch entstand ein so schmaler Spalt, dass sie sich nicht hindurchzwängen konnte. Erneut versuchte sie die Riegel zu fassen zu bekommen.

„Vor meinem Schlafzimmer steht ein Mann, der versucht, die Tür aufzubrechen, und d…“, sagte Colton noch, gerade als die Tür förmlich aufflog. Julie musste einfach hinsehen: Der Mann stand jetzt im Schlafzimmer. Auf seiner Baseballkappe stand O’Neill. Er wollte Colton zu fassen bekommen, doch der ließ sein Smartphone fallen, stürmte auf den Eindringling los und rammte ihn so, wie es jeder Linebacker gemacht hätte. Es gelang ihm, den Fremden ein Stück weit aus dem Zimmer zu drängen, doch der bekam noch eben den Türrahmen zu fassen und stoppte so Coltons Vorwärtsbewegung. In diesem Moment gelang es Julie, die Riegel wieder zur Seite zu drücken und das Fenster nach oben zu schieben. Diesmal gelang es ihr, den Druck beizubehalten, bis sie das Fenster ganz geöffnet hatte. „Hilfe!“, schrie sie aus Leibeskräften.

Vor ihrer Abreise hatte es ein wenig geschneit, aber das war drei Tage her, und inzwischen war dank warmer Märzluft der meiste Schnee weggetaut. Was noch übrig war, würde einen Sprung aus dem ersten Stock nicht abfedern. Es würde eine schmerzhafte Flucht werden.

Colton versuchte weiter, „O’Neill“ aus dem Zimmer zu drängen, doch der Mann schlug ihm mit beiden Fäusten auf den Rücken und schickte ihn so zu Boden. O’Neill drehte sich zu Julie um, ihre Blicke trafen sich. Der Mann trug eine Jogginghose und einen Hoodie mit Reißverschluss. Genau die Art von bequemer Kleidung, um sich auf dem Sofa zu entspannen, mit dem Hund rauszugehen oder bei anderen Leuten einzubrechen und sie anzugreifen.

Er machte einen Schritt über Colton hinweg und kam auf sie zu, doch in dem Moment schlang Colton die Arme um sein Bein.

Von unten ertönte eine Stimme, die kaum zu verstehen war. „Was ist da oben los?“

„Alles okay“, brüllte O’Neill. „Die flippen beide ein bisschen aus, aber ich hab alles im Griff.“

Wer waren diese Leute? Was wollten sie hier? Vielleicht hatten sie ja das falsche Haus erwischt. Was hatte der erste Mann mit Monique angestellt? Und was stellte er jetzt gerade da unten mit ihr an?

„Bitte“, sagte Julie. „Wir besitzen nichts Wertvolles.“

Doch O’Neill bekam davon nichts mit, da er versuchte, sich aus Coltons Griff um sein Bein zu befreien. Er schlug Colton gegen den Kopf, dann versuchte er nach ihm zu treten. Da Colton aber sein anderes Bein umklammert hielt, verlor er das Gleichgewicht und schlug hart auf dem Boden auf.

Colton stand hastig auf und machte einen Satz auf Julie zu, die am Fenster stand.

„Raus“, sagte er und griff nach ihr. „Los!“ Sein Gesicht war vor Anstrengung rot angelaufen. In seinen Augen war wieder jener Ausdruck von Panik zu sehen, den sie bei ihm beobachtet hatte, als sie das Schlafzimmer betreten hatte.

Er hatte um sie beide Angst und wollte nur noch von hier verschwinden.

O’Neill holte eine Pistole hervor. „Okay“, sagte er und zielte auf sie. „Jetzt hab ich’s wirklich satt.“

Als Julie die Waffe sah, wusste sie, was sie tun würde. Sie hob das eine Bein über das Fenstersims, dann folgte das andere Bein. O’Neill war im Begriff aufzustehen, dabei schob er den Schlitten seiner Pistole nach hinten.

„Sie verschwinden durch das hintere Fenster!“, brüllte er.

Ihre Knie schrammten über die Außenwand des Hauses, während sie weiter nach draußen kletterte, bis sie sich nur noch mit den Fingerspitzen festhielt. Dann ließ sie los.

Der Sturz in die Tiefe dauerte länger als erwartet. Die Landung fühlte sich an, als würde jemand ihre Wirbelsäule zusammenstauchen, während Ober- und Unterkiefer brutal aufeinanderschlugen. Schmerzen jagten durch beide Beine, und irgendetwas an ihrem rechten Knie schien förmlich herauszuspringen. Sie rollte über den Schnee, bis sie auf Händen und Knien gelandet war und nach oben sehen konnte. In diesem Moment kletterte Colton nach draußen.

Ihm erging es nicht ganz so gut, da er seitlich aus dem Fenster fiel. Eigentlich wollte sie auf ihn warten, aber der Mann im Zimmer da oben hatte eine Pistole. Also rannte sie los. Da sie davon ausgehen musste, dass es zu unsicher war, sich nach vorn zu begeben – vielleicht hielten sich weitere Männer dort auf, vielleicht kam auch nur der eine nach draußen, um nach ihr zu suchen –, öffnete sie das hintere Gartentor, durch das man auf eine schmale Straße gelangte. Erst als sich zwischen ihr und dem Haus der über zwei Meter hohe Holzzaun befand, wagte sie es, sich nach Colton umzusehen.

Er war verletzt, sein Gesicht war schmerzverzerrt, und er hielt sich die linke Schulter. Oben am Fenster tauchte der Mann auf und zielte auf Colton, nahm dann aber die Waffe weg. Vielleicht fürchtete er, jemand könnte ihn beobachten. Oder vielleicht war ihm klargeworden, dass irgendjemand einen Fehler gemacht hatte und sie bei den falschen Leuten ins Haus eingedrungen waren.

Aber Monique! Sie war noch immer im Haus.

Colton taumelte auf sie zu. An einer Gesichtshälfte klebte Schnee, der sich allmählich mit Blut vollsog. Seine Miene war noch immer verbissen, während er mit der rechten Hand den linken Arm gegen seine Brust drückte.

„Geh schon!“, forderte er sie wieder auf. „Geh, geh …“

Aber wohin? Ihr Wagen stand vor, nicht hinter dem Haus. Aber vielleicht war das auch egal. Wichtig war, von hier wegzukommen. Die Gasse verlief zwischen zwei Reihen Stadthäusern, hohe Zäune verhinderten den Blick auf die Grundstücke, abgeschlossene Tore machten ein Betreten unmöglich.

Colton kam durch das Tor, sie ließ es hinter ihnen zufallen. Seite an Seite humpelten sie durch die Gasse und versuchten es am nächsten Haus, aber das Tor war verriegelt. Also mussten sie weitergehen. Colton atmete angestrengt und ächzte vor Schmerzen.

Jedes der Tore war abgeschlossen.

Vor ihnen lag Waverly, die Straße, in der sie wohnten und die sich durch die Nachbarschaft schlängelte. Diese Straße mussten sie erreichen und dann weiterlaufen, damit sie um Hilfe rufen konnten.

In der Ferne war eine Sirene zu hören. Gott sei Dank! In ein paar Minuten würde die Polizei hier eintreffen. Allein der Klang der Sirene würde O’Neill langsamer werden lassen, da er wusste, dass er Gefahr lief, in Kürze gefasst zu werden.

Hinter ihnen war ein Geräusch zu hören. Es war ihr Gartentor, das wutentbrannt aufgerissen wurde. Dann stand O’Neill in der Gasse, in einer Hand seine Pistole, und starrte sie an. Sie bezweifelte, dass er ebenfalls aus dem Fenster gesprungen war. Wahrscheinlich war er die Treppe runtergeeilt und ums Haus gerannt.

Er setzte sich in Bewegung, erst gemächlich, dann schneller. Und er richtete die Waffe auf sie.

O Gott, warum konnten sie sie nicht einfach in Ruhe lassen? Es war alles so rasend schnell gegangen, und da die Baseballkappen die Gesichter der beiden verdeckten, konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie auch nur einen der Männer bei einer Gegenüberstellung wiedererkennen würde.

Julie lief weiter und zog Colton hinter sich her. Bis zur Straße waren es nur noch zwanzig Meter. Zehn. Fünf. Sie hörte einen Motor: Ein Auto musste sich ihnen nähern.

„Hey!“, rief sie voller Erwartung. „Hey! Hey, Hilfe!“

Der Wagen fuhr an der Einmündung der Gasse vorbei. Julie sah einen typischen Lieferwagen vorbeihuschen, einer von der Art, mit dem Pakete transportiert wurden und mit dem Fernsehtechniker unterwegs waren, um Reparaturen auszuführen.

„Warten Sie!“, schrie sie.

Quietschende Reifen waren zu hören. Der Van hatte angehalten! Der Fahrer musste sie aus dem Augenwinkel gesehen und vielleicht sogar ihre Rufe gehört haben.

„Nein“, sagte Colton.

Dieses eine Wort setzte ihren Überlegungen ein jähes Ende. Als der Van weit genug zurückgesetzt hatte, damit sie den Fahrer sehen konnte, der sie anschaute, wurde ihr alles klar.

Sie saßen in der Falle. Der Mann mit der Pistole war hinter ihnen, der Van versperrte ihnen den Weg.

Julie stand wie erstarrt da, so wie ein Reh, das vom Lichtkegel eines Scheinwerfers erfasst worden war. Ihr Blick war auf den Van gerichtet, dessen Seitentür von innen geöffnet wurde. Hinter ihnen war zu hören, wie sich der andere Mann näherte, da der Stoff seiner Hosenbeine laut aneinanderrieb. Colton sagte etwas, aber das erfasste sie im ersten Moment gar nicht.

Erst als der Mann sie packte und sie zwang, in den Wagen einzusteigen, wurde ihr bewusst, was Colton gesagt hatte.

„Tut mir leid.“

3. Kapitel

Sie hatten sich über das Internet kennengelernt, genauer gesagt über ihre Facebook-Accounts, die sie eigentlich kaum mal benutzten. Irgendwie waren sie irgendwann Facebook-Freunde geworden. Es war ein typischer Fall von Kleine-Welt-Phänomen gewesen: Julie war in Saranac Lake aufgewachsen, Colton hatte im nahe gelegenen Paul Smith’s das College besucht, auf das zu der Zeit auch Julies Freund aus Highschool-Tagen ging. Zehn Jahre später waren sie über die sozialen Medien alle miteinander verbunden.

Colton beharrte darauf, dass Julie ihm eine Freundschaftsanfrage geschickt hatte, doch in ihrer Erinnerung war es genau umgekehrt abgelaufen. Nachdem sie über Wochen hinweg gegenseitig die geposteten Fotos kommentiert hatte – er begeisterte sich fürs Bergsteigen, sie ging gern auf Reisen –, waren sie dazu übergegangen, sich private Nachrichten zu schicken.

Colton: Hey, stimmt es, dass du Mason Ridgell kennst?

Julie: Stimmt. Wieso?

Colton: Er hat von dir gesprochen. Er sagt, dass du seine erste Freundin warst.

Julie: Wir waren noch ziemlich jung. Neunte Klasse. Im Sommer darauf hat er mit mir Schluss gemacht.

Colton: Ja, er ist ein Arsch.

Darüber hatte sie lachen müssen.

Ein paar Wochen und viele Nachrichten später hatte er sie gefragt, ob sie mit ihm ausgehen würde.

Jetzt saß er neben ihr, das Gesicht schmerzverzerrt, während der Schnee auf seiner Wange zu tauen begann, über die nun leuchtend rotes Blut lief. Von seinem Kampf mit dem Kerl im Schlafzimmer hatte er eine aufgeplatzte Lippe davongetragen. Seine Wange war angeschwollen. Um das Auge herum hatte sich alles dunkel verfärbt. Und danach zu urteilen, wie er seinen Arm an sich drückte, musste der in einer schlechten Verfassung sein. Womöglich eine ausgekugelte Schulter oder ein glatter Bruch.

Jedes Mal, wenn der Van abbog oder abbremste oder beschleunigte, zuckte Colton zusammen und presste die Lippen aufeinander. Dass sie sich hier nirgends festhalten konnten, machte es nur noch schlimmer. Die Ladefläche des Vans war komplett leer: keine Sitze, keine Griffe, nach denen sie hätten fassen können. Stattdessen war alles mit transparentem Kunststoff verkleidet. Julie konnte ein Hin- und Herrutschen nur verhindern, indem sie breitbeinig dasaß und die Hände gespreizt auf den Boden drückte.

Der Fahrerbereich war mit einer Sperrholzplatte vom Rest abgeteilt. In die Platte hat man ziemlich grobschlächtig ein großes Rechteck geschnitten und mit Scharnieren versehen, damit es als Tür diente. In die Tür wiederum hatte man ein kleines Fenster geschnitten und mit Maschendraht versehen. Das Ganze sah nach Heimarbeit aus – ein selbst gebasteltes Todesmobil.

Colton hatte nichts mehr gesagt, seit sie gezwungen worden waren, in den Van einzusteigen. Der andere Mann – dessen Kappe ohne Beschriftung war – hatte sie gepackt und in den Wagen gezerrt. Sie hatte geschrien und sich gewehrt, aber er war ihr hoffnungslos überlegen gewesen. Er hatte sie auf den Boden gedrückt und ihre Taschen durchsucht, dann hatte er ihr das Handy abgenommen. O’Neill hatte Colton mit vorgehaltener Waffe zum Einsteigen gezwungen. Dann war der Namenlose durch die Tür entschwunden, hatte sie hinter sich zugezogen und verriegelt. Ein dumpfes Türenschlagen ließ sie vermuten, dass O’Neill eingestiegen war und auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte.

Mit Gewissheit konnte sie aber nichts davon sagen, denn es konnte sich immer noch jemand in ihrem Haus aufhalten. Es konnten sogar mehrere Leute sein, womöglich ganze Teams. Sie hatte keine Ahnung, was aus Monique geworden war, und sie wusste auch nicht, ob die Nachbarn etwas von dem Geschehen mitbekommen hatten.

Wie lange saßen sie jetzt schon in diesem Van? Zwei Minuten? Fünf? Einmal hatte sie geglaubt, immer noch Sirenen zu hören, doch das Geräusch war schnell verstummt. War die Polizei überhaupt mit Sirene unterwegs, wenn ein Einbruch gemeldet wurde? Oder gab es irgendein Protokoll, das eine lautlose Anfahrt vorschrieb? Ihre Kontakte mit der Polizei beschränkten sich darauf, sich von zwei Beamten begleiten zu lassen, wenn sie bei auffälligen Personen Überprüfungen durchführen oder Einweisungen veranlassen musste, weil es um Menschen mit psychischen Gesundheitsstörungen ging, die für sich selbst oder andere eine Gefahr darstellten.

Oh, Mom, dachte sie. Die selige Arlene Spreniker war ihr in der letzten Zeit nicht mehr so oft in den Sinn gekommen, aber jetzt wandte sich Julie an sie, damit sie ihr Trost und weise Ratschläge spendete.

Der Van fuhr unverdrossen weiter. Julie überlegte, ob der Fahrer vielleicht ungewollt Aufmerksamkeit auf sich lenkte, indem er zu schnell fuhr oder durch seltsames Verhalten auffiel. Doch dann wurde ihr bewusst, dass es die völlige Leere war, die sie jedes Schlagloch und jeden Kanaldeckel spüren ließ, über den der Van fuhr. Der Kunststoff knarrte, wenn sie mal in die eine, mal in die andere Richtung rutschten. Es fühlte sich an, als wären sie auf eine Kirmesattraktion geraten, deren Zweck es war, sie zu foltern.

„Warum hast du gesagt, dass es dir leidtut?“

Ihre Worte und vor allem der Klang ihrer Stimme erstaunten sie. Sie sollte schreien, sie sollte sich vor Panik zusammenrollen. Aber etwas hatte die Kontrolle übernommen, das sie auf eine sehr grundlegende Weise an den Tod ihrer Mutter erinnerte. Dieser Moment, wenn sie die Treppe raufgegangen war zum Schlafzimmer ihrer Mutter, als deren Ende bereits nah gewesen war. In diesen Augenblicken war sie ein ganz anderer Mensch gewesen.

Auf eine seltsame Weise hatte es etwas Befreiendes, einer anderen Macht ausgeliefert zu sein.

Colton hielt seinen Arm fest und biss die Zähne zusammen, aber er antwortete nicht. Wie er mit ausgestreckten Beinen dasaß, erinnerte er an einen Jungen, der vom Fahrrad gefallen war und sich den Arm gebrochen hatte und der jetzt darauf wartete, dass ein Erwachsener zu ihm kam und ihm half.

„Was glaubst du, wohin sie uns bringen?“, wollte Julie wissen.

Er starrte nur die Holzwand an, und Julie machte das Gleiche. Sie betrachtete das kleine Fenster, das vielleicht zehn mal zehn Zentimeter groß und mit diesem engen Maschendraht versehen war, den man benutzte, um Tiere einzusperren. Von der anderen Seite der Holzwand hatte sie bislang noch kein Geräusch gehört, nicht mal ein Radio.

„Warum redest du nicht mit mir?“, fragte sie Colton.

Der Van fuhr in eine scharfe Kurve, und Colton kippte gegen sie. Mit einer Hand stützte sie ihn, damit er aufrecht sitzenblieb.

„Oh Gott“, keuchte er und kniff die Augen zu. „Das tut weh.“

„Lass mich mal sehen.“

„Ich weiß schon, was los ist. Ich habe mir den Arm ausgekugelt. Als ich auf dem Boden gelandet bin, da … da hab ich’s spüren können.“

„Vielleicht können wir die Schulter wieder einrenken.“

„Ich kann den Arm ja nicht mal heben.“

„Lass mich dir helfen.“

„Nicht, solange hier alles in Bewegung ist.“

Wieder verstrich eine Minute in Stille. Ein Schock verhinderte klares Denken, doch ein Gedanke konnte sich durchsetzen. Colton hatte den Notruf gewählt, und die Polizei würde auf den Van aufmerksam werden. Und nicht nur das …

Sein Telefon! Es fühlte sich an, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. Ihr hatte man das Handy abgenommen, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, dass man seine Taschen ebenfalls durchsucht hatte.

„Wo ist dein Handy, Colton? Colton, hast du das Handy noch dabei?“

Sein Gesichtsausdruck machte all ihre Hoffnungen gleich wieder zunichte. „Das liegt noch im Schlafzimmer.“

„Oh …“

„Es ist mir aus der Hand gefallen, als er reinkam. Ich habe nur …“

Sie schüttelte den Kopf und sagte sich, dass alles okay war. Was Colton getan hatte, das zeugte von Mut. Ehrlich gesagt hatte sie nicht gewusst, dass so etwas in ihm steckte. Natürlich brauchte sie keinen Mann, der ein Kämpfer war. Auf Gewalt in ihrem Leben konnte sie gut verzichten. Aber Colton hatte sie verteidigt. Jedenfalls hatte er sich selbst verteidigt. Und er hatte dabei ganz gute Arbeit geleistet. Der Kerl war ihnen zwar trotzdem gefolgt, doch durch sein Einschreiten hatten sie genug Zeit gewonnen, um aus dem Haus zu entkommen.

Vielleicht war es ihm ja auch so ergangen, dass ein anderer Teil von ihm die Kontrolle übernommen hatte. Eine höhere Macht, die die Fäden in der Hand hielt.

Die Fahrt wurde inzwischen von einem gleichbleibenden Geräusch begleitet, und sie waren auf einer geraden Strecke ohne Ecken und Kurven unterwegs.

Der Highway, dachte sie. Die Interstate.

Plötzlich fiel ihr auf, dass Colton weinte. Sie spürte, wie sie innerlich auf Distanz zu ihm ging und wie die Wut wieder erwachte. Wie unglaublich egoistisch war dieser Kerl eigentlich?

„Was ist los mit dir?“, fuhr sie ihn aufgebracht an und konnte endlich die Frage stellen, zu der sie bis dahin nicht fähig gewesen war. „Warum warst du mit ihr zusammen?“

„Das ist eine lange Geschichte“, entgegnete er im Flüsterton.

Dennoch dachte sie weiter über alles nach, was geschehen war. Die Männer hatten zu keiner Zeit gezögert. Der Namenlose war ins Haus gekommen und hatte sofort Monique überwältigt. O’Neill war zielstrebig in den ersten Stock gegangen. Die beiden waren davon ausgegangen, im Haus auf Personen zu treffen. Auf jeden Fall auf Colton. Vielleicht auch auf Monique.

„Weißt du, wer diese Leute sind?“

Wieder gab Colton keine Antwort.

„Colton, wer sind diese Leute? Warum hast du gesagt, dass es dir leidtut?“

„Weil es mir leidtut“, antwortete er. „Mir tut das alles leid: dass du hier bist und dass dir das widerfährt.“

„Wie meinst du das? Was soll mir widerfahren?“

Er sah wieder die Holzwand an, als würde er über die Männer auf der anderen Seite nachdenken. Sie beobachtete, wie sein Adamsapfel einen Satz machte, als er schlucken musste. „Du scheinst ganz nett zu sein“, sagte er.

Ganz nett?

„Aber du hast offenbar ein paar … na, du weißt schon.“ Er deutete auf seinen Kopf, als er wollte „ein paar Probleme“ nicht aussprechen.

„Was redest du da?“

Schließlich drehte er den Kopf zu ihr um. Zum ersten Mal, seit man sie in diesen Van geschafft hatte, kam von ihm eine klare, deutliche Antwort.

„Hör zu, ich habe absolut keine Ahnung, wer du bist.“