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Juli 1792
Bedächtig blätterte der fettleibige Offizier in den Papieren, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. Hin und wieder warf er einen prüfenden Blick auf die ihm gegenüberstehende junge Frau, der jedes Mal ein Schauer über den Rücken lief, wenn der Beamte seinen dicken Finger in den Mund steckte, um daran zu lecken und anschließend ein Papier umzublättern. Catherine Macpherson wirkte seltsam fehl am Platz in diesem verräucherten kleinen Büro, das einen ebenso verlotterten Eindruck machte wie der Mann, der hier arbeitete. Überall stapelten sich Papiere, auf denen deutlich Fettabdrücke und Eselsecken zu sehen waren, und die Zigarrenstummel, die im ganzen Büro verstreut herumlagen, konnte man schon gar nicht mehr zählen.
Vor diesem Hintergrund bot Catherine in der Tat einen erfreulichen Anblick. Da das Trauerjahr nach dem Tode ihrer Mutter noch nicht ganz vorüber war, trug sie ein dunkelviolettes, fast schwarzes Kleid, das aus festem, derbem Material war, um sie vor dem rauen Wetter auf der Überfahrt von Dover nach Calais zu schützen. Doch statt Catherine elend und blass wirken zu lassen, hob es im Gegenteil den dunkelblauen Ton ihrer Augen hervor und brachte den rotgoldenen Schimmer ihrer Haare noch stärker zur Geltung. Obwohl es windig gewesen war, hatte Catherine kein Tuch umgebunden, sondern die Haare lediglich zu einem einfachen Knoten nach hinten gesteckt, aus dem sich nach und nach immer mehr Strähnen gelöst hatten. Catherines Augen blitzten vor Vergnügen, wenn sie daran dachte, was wohl ihre Mutter gesagt hätte, wenn sie sie so hätte sehen können. Angela Macpherson hatte stets darauf geachtet, dass die Erscheinung ihrer Tochter ohne den geringsten Tadel war. Catherine genoss ihre jetzige Freiheit. Obwohl sie beim Tod ihrer Mutter aufrichtig traurig gewesen war, hatte sie doch das Gefühl, dass jetzt ihr Leben erst richtig begann.
Dennoch dachte sie im Augenblick weniger an das Leben, das vor ihr lag, sondern ärgerte sich vielmehr über die Langsamkeit, mit der ihre Reisepapiere geprüft wurden. Hier in Frankreich schien man es wirklich besonders genau zu nehmen. Seit ihrer Ankunft in Calais waren nun bereits mehr als drei Stunden vergangen, ehe sie endlich an der Reihe gewesen war, überprüft zu werden. Sie seufzte tief auf, als sie schließlich ihre Papiere wieder in der Hand hielt und in der ratternd und holpernd dahinjagenden Kutsche ihre Reise fortsetzen konnte. Doch Calais lag erst wenige Meilen hinter ihr, als sie durch eine kleine Ortschaft kamen, in der erneut ihre Papiere kontrolliert wurden. Noch ein paar Meilen ostwärts und das Ganze wiederholte sich ein weiteres Mal, sodass Catherine gegen Abend, als sie in einer behaglichen Herberge abstieg, nur einen Bruchteil ihrer geplanten Reiseroute bewältigt hatte.
Man hatte sie gewarnt, dass in Frankreich chaotische Zustände herrschten, aber Catherine hatte alle gutgemeinten Ratschläge in den Wind geschlagen und geglaubt, dass es schon nicht so schlimm sein würde. Sie war fest entschlossen, endlich Etienne de Fontenay zu heiraten, nachdem sie nun schon über drei Jahre inoffiziell mit ihm verlobt war. Sie zerbarst fast vor Ungeduld, ihm gegenüberzustehen, denn sie hatte ihn seit mehr als zehn Jahren nicht gesehen. Als Kinder hatten sie einige Male zusammen gespielt, wenn Etienne mit seiner Mutter bei ihnen in England zu Besuch gewesen war. Die Marquise de Fontenay war eine Jugendfreundin von Catherines Mutter. Catherine hatte immer eine Heidenangst vor dieser großen, dominanten Frau gehabt. Den blondgelockten Etienne dagegen, der so schlank und so ruhig und ihr wie ein Engel erschienen war, hatte sie geradezu angehimmelt. Er hatte viel Zeit mit ihr verbracht, obwohl Catherine noch ein Kind von erst neun Jahren gewesen war, während er mit seinen sechzehn Jahren schon fast zu den Erwachsenen gezählt hatte. Er schien Catherines Gesellschaft sogar der seiner Altersgenossen vorzuziehen, wofür Catherine, die von ihren drei älteren Cousins eher wie ein lästiger Plagegeist behandelt wurde, ihm in Gedanken ewige Dankbarkeit schwor. Nichtsdestotrotz hatte sein Heiratsantrag, den er ihr vor drei Jahren per Brief gemacht hatte, sie überrascht, und sie hatte gezögert, ihn anzunehmen. Doch ihre Mutter hatte ihr nur wenig Zeit gelassen, sich zu entscheiden, da sie selbst diese in ihren Augen glänzende Partie für ihre Tochter von Herzen begrüßte. So hatte Catherine sich schließlich überzeugen lassen, dass die Zuneigung, die sie für Etienne empfand, stark genug war, um eine Basis für eine gute Ehe zu bilden. Doch kaum hatte sie zugestimmt, Etiennes Antrag anzunehmen und mit ihrer Mutter nach Paris zu reisen, um sich offiziell mit Etienne zu verloben, war in Frankreich die Revolution ausgebrochen. Schweren Herzens hatten Catherine und ihre Mutter daraufhin die Reise aufgeschoben. Man hatte in England zunächst geglaubt, dass sich der Sturm in Frankreich bald wieder legen würde. Als das nicht geschah, wurden erneut Reisevorbereitungen getroffen. Aber da erreichte sie aus der Normandie die Nachricht, dass Catherines dort lebender Vater bei Bauernaufständen ums Leben gekommen war. Nun wurde es zur Gewissheit, dass die Zustände in Frankreich schlimmer waren, als man zunächst gehofft hatte. Was man aus dem Lande hörte, klang besorgniserregend. Hatten die meisten Engländer anfangs geglaubt, der Sturm der Pariser auf die Bastille sei lediglich ein Ausdruck der Unzufriedenheit einzelner Bürger und somit nichts als ein kurzer Aufstand, so erkannten sie nun, dass das Problem tiefer ging. Dem Sturm auf die Bastille folgte der Aufruhr der Bauern. Wie Catherines Vater erging es vielen Grundherren in dieser Zeit, und die ersten Adligen begannen auszuwandern.
Dennoch hielt Catherine an ihrem Entschluss, sich mit Etienne in Frankreich offiziell zu verloben, fest. Jedoch war in dem Trauerjahr, das dem Tode ihres Vaters folgte, an Verlobung und Heirat nicht zu denken, mochte ihr Angus Macpherson noch so fremd gewesen sein. So wurde der Besuch bei den Fontenays erneut abgesagt. Doch noch während Catherine ungeduldig darauf wartete, dass sich dieses Trauerjahr dem Ende näherte, erkrankte überraschend ihre Mutter und starb, woraufhin Catherine für die nächste Zeit von Angelas Familie aufgenommen wurde. Nun jedoch war auch dieses Trauerjahr fast um. In einem Brief an Catherines Tante, Lady Emily Bainbridge, hatte die Marquise de Fontenay bereits deutlich gemacht, dass es Zeit wurde, die Verlobung endlich offiziell bekannt zu geben. Lady Bainbridge hatte ihre Nichte nur unwillig in ein vom Aufruhr geschütteltes Land ziehen lassen, aber Catherine hatte weder der Besorgnis ihrer Tante noch der ihres Onkels und ihrer Cousins große Bedeutung beigemessen. Da die Heirat nun einmal beschlossene Sache war, hatte Lord Stuart Bainbridge als Familienoberhaupt die Erlaubnis zur Reise schließlich widerwillig erteilt. Und so befand Catherine sich nun in diesem fremden Land und spürte zum ersten Mal einen Hauch des Revolutionsfiebers, das Frankreich gepackt hatte.
Als sie am nächsten Morgen in den Frühstücksraum der Herberge hinunterkam, registrierte sie deutlich die feindseligen Blicke, die sie verfolgten. Man schien hier für Fremde nicht viel übrigzuhaben. Catherine hatte heute ein ausgesprochen einfaches Reisekleid aus dunkelgrauer Wolle gewählt und ihre Haare zu einem festen Knoten hochgesteckt, doch sie merkte bald, dass sie selbst in dieser bescheidenen Aufmachung auffiel wie ein bunter Hund. Während sie ihren Kaffee trank und ein trockenes Stück Brot knabberte, herrschte eisiges Schweigen im Raum, obwohl sich mehrere Leute darin aufhielten. Catherine hätte jetzt gern jemanden gehabt, mit dem sie reden könnte, um diesen düsteren Blicken auszuweichen.
Drei besonders finster dreinschauende Männer, ihrer Kleidung nach zu urteilen Bauern, saßen ihr direkt gegenüber. Scheinbar gleichgültig, um den Raum zu mustern, drehte Catherine den Kopf, und ihr Blick fiel auf einen allein sitzenden, ausgesprochen gutaussehenden jungen Mann, der gerade seine Tasse an die Lippen führte, aber in der Bewegung kurz innehielt, als er ihren Blick bemerkte. Er war wie ein wohlhabender Bürger gekleidet, mit einem schlichten braunen Rock, aus dem weiße Manschetten blitzten, dazu passenden hellbeigen Breeches, die sich um muskulöse, lange Beine spannten, und hohen, blankpolierten Reiterstiefeln. Obwohl er saß, ließ sich doch erkennen, dass er groß und schlank und darüber hinaus mit prächtig anzusehenden breiten Schultern ausgestattet war. Dunkle Haare, die locker zu einem Zopf im Nacken zusammengebunden waren, umrahmten ein markant geschnittenes, schmales Gesicht mit einer geraden Nase, feingeschwungenen Lippen und leuchtend grünen Augen, die Catherine voller Interesse musterten.
Sie bemerkte, dass ihm genauso viele feindliche Blicke zugeworfen wurden wie ihr selbst, aber anders als ihr schien es ihm nicht das Geringste auszumachen. Völlig gleichmütig nahm er sein Frühstück zu sich und lächelte sie an. Das brachte sie etwas aus der Fassung, denn sie war es nicht gewohnt, in der Öffentlichkeit von Fremden angelächelt zu werden. Aber das Lächeln des Mannes, dessen Alter Catherine auf etwa Mitte bis Ende zwanzig schätzte, wirkte nicht beleidigend, und so lächelte sie zaghaft zurück.
Unterdessen kam der Kutscher herein und verkündete, dass die Fahrgäste nach Paris jetzt einsteigen müssten, sodass Catherine sich erhob. Der dunkelhaarige Fremde lächelte ihr noch einmal zu, wobei seine grünen Augen fröhlich aufblitzten, und sie nickte ihm einen Abschiedsgruß zu.
Christopher Deverell sah der jungen Frau bewundernd hinterher, als sie mit leichten, eiligen Schritten die Herberge verließ. Ihr schlichtes Kleid täuschte ihn nicht darüber hinweg, dass sich darunter eine anmutige Figur verbarg, die einen Mann ins Schwärmen geraten lassen konnte. Aber vor allem war er fasziniert von dem verlegenen Lächeln in diesen kornblumenblauen Augen, das sie ihm geschenkt hatte, als er versucht hatte, sie angesichts der feindseligen Stimmung im Raum etwas aufzuheitern.
Er erhob sich und schlenderte zum Wirt hinüber. Während er mit einem Blick aus dem Fenster auf die abfahrende Kutsche seine Rechnung beglich, erkundigte er sich beiläufig: „Sagen Sie, wer war die junge Dame, die allein an dem Tisch da hinten saß?“
Der Wirt blickte grinsend auf. „Sie kommt aus England, Monsieur. Genau wie Monsieur selbst.“
„Ah, das dachte ich mir. Sie hatte so etwas an sich“, lachte Christopher. „Diese Haarfarbe! Und dann diese spezielle Art, den Kopf hochzuhalten.“
„Oui, Monsieur. Sehr britisch. Oder sehr aristokratisch. Die Demoiselle sollte den Kopf lieber etwas gesenkter halten.“ Dann huschte ein Lächeln über das Gesicht des Wirts, während er die Münzen, die er von Christopher erhalten hatte, in ein Ledersäckchen gleiten ließ. „Aber es war eine sehr hübsche Demoiselle.“
„Oh ja, sehr hübsch“, pflichtete Christopher ihm augenzwinkernd bei und schwang sich seinen Reiseumhang über die Schultern.
Der Wirt wurde ernst und senkte die Stimme. „Ist nicht gut, dass sie allein reist, Monsieur. Ist viel zu gefährlich in diesen wirren Zeiten. Ich meine, es gab schon immer viel Gesindel, aber gerade jetzt … Es ist wirklich nicht gut.“
Christopher stimmte nachdenklich zu, dann trat er nach einem kurzen Abschiedsgruß ins Freie hinaus.
Die Sonne schien bereits kräftig von einem strahlend blauen Himmel herab, und es war deutlich wärmer als am Vortag, sodass er beschloss, seinen Umhang doch lieber abzunehmen und in einer seiner Satteltaschen zu verstauen. Gedankenverloren schlenderte er zu den Ställen, sattelte seinen großen, braunen Hengst und führte ihn aus dem Stall.
„Der Wirt hat recht“, raunte er seinem vierbeinigen Gefährten ins Ohr. „Die Lady sollte wirklich nicht allein reisen.“
Ein Lied summend, schwang er sich in den Sattel und machte sich auf den Weg zum Stadttor. Auch er wurde auf seinem Weg unzählige Male von bewaffneten Bürgern angehalten, die seine Papiere zu sehen verlangten, hatte jedoch keine weiteren Schwierigkeiten und durfte seinen Ritt stets schnell fortsetzen.
Er war noch nicht lange unterwegs, da erblickte er bereits die alte Postkutsche vor sich, mit der die junge Engländerin reiste. Er zügelte seinen Hengst ein wenig und überlegte kurz, ob er die Reisekutsche überholen und seinen Weg nach Paris zügig fortsetzen sollte, entschied sich dann aber nach kurzem Zögern, dem Wagen mit einigem Abstand in einem leichten Trab zu folgen. Immerhin war die junge Lady darin eine Landsmännin, ganz zu schweigen davon, dass er sie überaus anziehend fand, und so war es vielleicht nicht gänzlich unangebracht, in ihrer Nähe zu bleiben, falls es irgendwelche Zwischenfälle geben sollte. Sie schienen ja ohnehin das gleiche Ziel zu haben, und auf ein paar Tage mehr oder weniger kam es ihm bei der Dauer seiner Reise nicht an, da er die Zeit wegen der vielen Kontrollen sowieso großzügig kalkuliert hatte.
Als der Tag sich seinem Ende zuneigte und die Postkutsche auf eine kleine Herberge zurollte, seufzte Christopher erleichtert auf, dass dieser Tag ohne Vorkommnisse verlaufen war. Er übergab seinen Hengst einem Stallburschen und ging dann zur Gaststube hinüber, wo sich bei seinem Eintritt bereits die Reisenden der Postkutsche versammelt hatten und jeder einen Teller dampfender Bouillon vor sich stehen hatte. Die junge Engländerin war jedoch nirgendwo zu erblicken. Auf seine enttäuschte Nachfrage hin erfuhr Christopher, dass die englische Demoiselle es vorgezogen habe, auf eine Mahlzeit zu verzichten und sich auf ihr Zimmer zurückzuziehen. Christopher selbst war nach einem langen Tag im Sattel einigermaßen hungrig und ließ sich neben einem alten Franzosen, der kaum noch Zähne hatte, an einem Tisch nieder. Nach der Mahlzeit ließ er sich von der Wirtin sein Zimmer zeigen, das er sich, wie es sich herausstellte, mit dem zahnlosen Franzosen teilen musste. Als dieser schon bald anfing, pfeifend zu schnarchen, war Christopher nahe daran, seinen ritterlichen Entschluss, die einsame Engländerin zu eskortieren, zu bereuen, zumal diese noch nicht einmal etwas von seiner Hilfsbereitschaft ahnte. Doch die Reise nach Paris würde noch einige Tage in Anspruch nehmen. Es sollte wohl mit dem Teufel zugehen, wenn sich in dieser Zeit keine Möglichkeit fand, die Bekanntschaft der jungen Dame zu machen, um herauszufinden, ob hinter ihrem entzückenden Äußeren ein ebenso interessantes Wesen steckte.
Als Catherine am nächsten Vormittag ihre Fahrt in der Postkutsche fortsetzte, grübelte sie noch eine ganze Weile darüber nach, wer wohl der „très charmant Anglais“ sein mochte, der sich, wie die lächelnde Wirtin ihr beim Frühstück mitgeteilt hatte, am Vorabend nach ihr erkundigt hatte. Catherine war verblüfft gewesen, doch hatte sie keine Ahnung, wen die Wirtin meinen könnte, und so gab sie ihre Grübeleien nach einiger Zeit auf, zog ein Gedichtbändchen aus ihrer Rocktasche und begann darin zu lesen, um sich die Zeit zu vertreiben.
Ihre Aufmerksamkeit wurde geweckt, als die Kutsche plötzlich anhielt und der Fahrer mit jemandem draußen erregt diskutierte. Catherine beugte sich leicht aus dem Fenster und erblickte ein umgestürztes Gefährt, vor dem zwei tote Pferde auf dem Boden lagen. Ein Mann mit einer blutigen Platzwunde am Kopf redete, wild gestikulierend, auf ihren Fahrer ein. Catherines Reisegefährten sahen ebenfalls hinaus und ließen sich dann gelangweilt in die Sitze zurücksinken.
Catherine blickte ihre Mitreisenden verwundert an und erkundigte sich in fließendem Französisch: „Verzeihen Sie, bitte, aber wissen Sie, was da draußen los ist?“
„Aber ja. Ein Getreidetransport. Ist mal wieder überfallen worden. Absolut nichts Neues, Mademoiselle“, entgegnete Monsieur Valencroix, ein alter Waffenschmied aus Bordeaux, der unterwegs nach Paris war, um sein neues Patent für die Herstellung von Munition der Armeeführung vorzuführen.
Catherine schaute wie gebannt aus dem Fenster. „Wie schrecklich. Warum werden denn Getreidetransporte überfallen?“
Die anderen Passagiere starrten Catherine an und schüttelten über ihr Unwissen tadelnd die Köpfe. „Ja, Mademoiselle, im ganzen Land herrscht doch Hungersnot. Wussten Sie das denn nicht?“
Monsieur Valencroix, der das Wort führte, blinzelte sie ungläubig an. „Sie sind zwar aus England, Ihrem Akzent nach zu urteilen. Aber hört man denn dort nicht, was hier geschieht?“
„Doch, natürlich“, versicherte Catherine errötend. „Aber ich wusste nicht, wie schlimm alles ist.“
„Nun ja, schlimm. Was heißt schon schlimm? Die Bauern erheben sich, das Volk erhebt sich. Eine ganze Nation erhebt sich. Warum? Es gibt nicht genug zu essen, nichts Anzuziehen, kein Vergnügen. Nur Arbeit und Hunger. Aber Sie werden sehen, es wird besser werden. Unser Volk ist zu Großem fähig. Wir werden einen neuen Staat schaffen, einen besseren Staat. Es dauert seine Zeit, aber der Hunger und das Elend werden abgeschafft werden, genau wie die Aristokratie, glauben Sie mir. Wenn der König glaubt, dass er sein Amt noch lange behalten kann … Er ist dumm, dieser Ludwig XVI. Das ist schlimm. Die Überfälle? Schlimm genug. Aber nicht so schlimm wie die Politik, die der König betreibt.“
Catherine schwieg betreten. Natürlich wusste man in England, dass der König in Frankreich eine schwere Position hatte. Doch bisher hatte man nach wie vor an dem Glauben festgehalten, dass er schon noch Herr der Dinge werden würde. Gewiss müsste er Zugeständnisse machen. Aber sein Amt abschaffen? Dieser Gedanke war für Catherine, für die die Monarchie, und sei sie noch so gefährdet, etwas Selbstverständliches war, völlig neu. Natürlich waren die Zustände in Frankreich nicht mit denen in England zu vergleichen. Aber dennoch, eine Abschaffung der Monarchie? – Nein! Catherine war sicher, dass dieser Gedanke nur in dem Gehirn von Monsieur Valencroix existieren konnte.
Schließlich setzte sich die Kutsche wieder holpernd in Bewegung, und Catherine fiel in einen leichten Schlummer. Aus diesem wurde sie jäh gerissen, als sie plötzlich von ihrem Sitz geschleudert wurde. Ihr Kopf prallte auf etwas Hartes, und dann verschwamm alles um sie herum in einem immer dichter werdenden Nebel, durch den nur noch der schrille Entsetzensschrei einer Mitreisenden drang.
Christopher Deverell war an diesem Morgen ausgesprochen schlechter Stimmung. Das Schnarchen seines Zimmernachbarn hatte ihn fast die ganze Nacht über wach gehalten, und am Morgen war Christopher durch ein lautes Poltern geweckt worden, als der alte Mann seine Stiefel anzog. Missmutig marschierte Christopher nach dem Anziehen und Frischmachen in den Frühstücksraum hinunter, der zu dieser frühen Zeit noch fast leer war, da die meisten Reisenden noch schliefen. Er hatte aber kaum Appetit, und so bezahlte er nach einigen Schlucken Kaffee seine Rechnung und machte sich auf den Weg in den Stall, um sein Pferd aufzuzäumen. Um die Müdigkeit zu vertreiben, die ihm nach der fehlenden Nachtruhe noch in den Knochen steckte, ließ er den gesattelten Hengst erst einmal stehen und machte noch einen kurzen Spaziergang in ein nahe gelegenes Wäldchen, ehe er ungefähr eine Stunde später in den Gastraum zurückkehrte. In der Hoffnung, möglicherweise die junge Engländerin beim Frühstück anzutreffen, sah er sich um. Vielleicht könnte er sich zu ihr setzen und selbst eine Kleinigkeit essen, da er inzwischen nun doch hungrig war, und bei dieser Gelegenheit etwas mehr über die junge Dame herausfinden. Doch zu seinem Verdruss erfuhr er von der Wirtin, dass die Postkutsche nach Paris bereits vor einer Viertelstunde abgefahren war. Der Fahrer hatte seine Fahrgäste zur Eile gedrängt, da es heute eine lange Strecke zu bewältigen galt. Christopher kniff verärgert die Lippen zusammen, verzichtete auf ein Frühstück und brach eilig auf.
Bald holte er die Kutsche ein und folgte ihr wie am Vortag, wobei er jedoch immer mehr am Sinn dieser Verfolgung zweifelte. Weder gestern Abend noch heute Morgen hatte er die Engländerin überhaupt zu Gesicht bekommen. Und ob wirklich eine Gefahr für sie bestand, nur weil sie ohne Begleitung reiste? Vermutlich vertrödelte er nur unnütz seine Zeit! Dann sah er den überfallenen Getreidetransport, und seine Laune verschlechterte sich noch mehr. Die Franzosen waren wirklich zu dumm! Wenn schon Nahrungsmittelknappheit herrschte, warum konnten sie das Getreide dann nicht wenigstens so sicher transportieren, dass es sein Ziel auch erreichte? Stattdessen sahen sie zu, wie ein Transport nach dem anderen überfallen wurde, wobei die Hälfte des Getreides auch noch verlorenging. Glaubte man denn in Frankreich, die Probleme mit Gewalt lösen zu können? Vor allen Dingen, da sich die Gewalt so oft gegen Unschuldige richtete. Bei seinem letzten Aufenthalt in Paris hatte Christopher gesehen, wie Frauen und Kinder aus ihren Wohnungen vertrieben, ihre Männer und Väter gefangengesetzt oder hingerichtet wurden, wie Unschuldige für die Taten derer büßten, die sich längst ins Ausland abgesetzt hatten. Beim Anblick des blutenden Getreidefahrers regte sich in Christopher erneut der Zorn. Wie konnten Menschen nur immer wieder glauben, dass ein Elend durch neues Leid beseitigt werden könnte?
In finstere Gedanken versunken, hatte Christopher seinen Hengst in eine immer langsamere Gangart fallen lassen. Als er nach einer Weile den Kopf hob, war die Straße vor ihm leer und von der Postkutsche nichts mehr zu sehen. Christopher fluchte leise in sich hinein. Der Fahrer musste ein ziemliches Tempo vorlegen, wenn sich der Abstand in relativ kurzer Zeit so vergrößern konnte!
Christopher trieb Ajax zu einem leichten Galopp an. Als er merkte, dass auch das nicht reichte, um die Postkutsche wieder einzuholen, spornte er seinen Hengst zu einer noch schnelleren Gangart an. Endlich erblickte er das Fahrzeug. Die Kutsche jagte nach seinem Empfinden in einem gefährlichen Tempo dahin. Während er nach und nach den Abstand verringerte, kam es ihm immer mehr so vor, als ob das Gefährt merkwürdig schlingerte. Und dann sah er es: Das rechte Hinterrad löste sich langsam von der Achse!
Mit einem unterdrückten Fluch auf den Lippen beugte Christopher sich weit über den Pferdehals und trieb Ajax zu einem stürmischen Galopp an. Sobald er glaubte, dass der Fahrer ihn hören konnte, rief er eine laute Warnung. Doch da passierte es auch schon. Das Gespann aus Pferden und Wagen legte sich in eine Kurve, das Rad fiel von der Achse ab, und nach kurzem Schlingern stürzte die Kutsche auf die Seite. Wie durch ein Wunder schafften es die Pferde, auf den Beinen zu bleiben, bäumten sich im Zaumzeug auf und kamen dann zum Stehen.
Christopher erreichte den umgekippten Wagen mit wenigen weiteren Sätzen seines Pferdes. Während er aus dem Sattel sprang, kam der Fahrer bereits torkelnd auf die Beine, taumelte zu seinen Pferden und streichelte ängstlich die Nüstern der aufgeregten Vierbeiner.
„Mon Dieu! Meine Kutsche! Meine Pferde! Oh, meine Tierchen, euch ist nichts passiert? Oh, mon Dieu, mon Dieu!“
Christopher kletterte geschwind auf den Wagen und riss die Tür auf, die nun in den Himmel zeigte.
„Großer Gott!“, entfuhr es ihm bei einem raschen Blick auf das wüste Durcheinander im Inneren der Kutsche. Die Engländerin und eine etwas ältere Frau lagen zwischen heruntergefallenen kleineren Gepäckstücken in einem Knäuel aus Armen und Beinen auf dem Boden. Ein männlicher Reisender sah arg zerzaust aus, rappelte sich aber bereits auf und wollte aus dem Wagen klettern.
Christopher drängte ihn rigoros zurück. „Ich brauche Ihre Hilfe! Versuchen Sie, mir die Damen nach oben zu reichen!“
„Nun ja, mais oui, ich werd’s versuchen“, murmelte Monsieur Valencroix, der sich widerwillig seiner Pflicht als Ehrenmann entsann.
Die Französin richtete sich indessen bereits mühsam auf und wandte sich mit zittriger Stimme an Christopher: „Mir geht es gut. Könnten Sie mich heraufziehen, bitte?“
Christopher tat, worum sie ihn bat, und ließ sie draußen vorsichtig auf den Boden gleiten.
„Ich bekomme Mademoiselle Macpherson nicht hoch!“, stöhnte unterdessen Monsieur Valencroix. „Ich bin zu alt für solche Dinge!“
Christopher streckte ihm mit finsterer Miene einen Arm entgegen. „Dann kommen Sie raus.“
Monsieur Valencroix kletterte schwer atmend aus der Kutsche. Sobald die Tür frei war, stieg Christopher in das Wageninnere hinab und kniete sich neben die bewusstlose junge Frau. Vorsichtig strich er ihr die Haare aus dem blassen Gesicht. Lieber Himmel, wie jung sie aussah! Und selbst in ihrem desolaten Zustand war sie noch außergewöhnlich attraktiv. An der Schläfe hatte sie einen Bluterguss, aber weitere Verletzungen konnte Christopher auf die Schnelle nicht feststellen. Ängstlich tastete er nach ihrem Puls, der zu seiner Erleichterung kräftig und regelmäßig schlug. Aufatmend lud er sich ihren schlaffen Körper über die Schulter und schwang sich dann trotz seiner Last mühelos aus der Kutsche hinaus.
Grell stach das Tageslicht in ihre Augen, als Catherine sie mit einiger Mühe blinzelnd aufschlug. Verwundert stellte sie fest, dass sie in einem weichen Bett in einem unbekannten Zimmer lag. In ihrem Kopf pochte es unangenehm, ihr war schwindlig, und als sie sich bewegte, verursachte ihr das überall Schmerzen. Mit einem Stöhnen schloss sie die Augen wieder, um sie aber gleich darauf beim Klang einer lachenden Männerstimme weit aufzureißen.
„Wie schön, dass Sie wach sind. Ich schätze, Sie spüren jeden Knochen in Ihrem Körper, nicht wahr?“
Verwundert starrte Catherine in das Gesicht des Mannes, der in einem Sessel neben ihrem Bett saß. Irgendwie kamen ihr die schmalen, wohlgeformten Gesichtszüge bekannt vor. Sie musterte blinzelnd den energischen und dennoch sensiblen Mund, um den es jetzt amüsiert zuckte, die feingeschwungenen, dunklen Augenbrauen und die gerade Nase, während die Erinnerung nur mühsam in ihren pochenden Kopf zurückkehrte. Als aber ihr Blick dem warmen Glanz der leuchtend grünen Augen ihres Gegenübers begegnete, wusste sie plötzlich, wen sie vor sich hatte. Es war der dunkelhaarige Fremde aus der Herberge, der ihr am ersten Morgen in Frankreich aufgefallen war! Munter blitzten seine lebhaften Augen sie an, während er ihr ein Glas Wasser reichte.
„Hier, trinken Sie das, es wird Ihnen guttun.“
Catherine war so verwirrt, dass sie automatisch gehorchte. Sie fühlte sich danach tatsächlich etwas besser und richtete sich leicht auf. „Wer sind Sie? Und was machen Sie neben meinem Bett?“
Der Mann lachte, wobei seine strahlend weißen Zähne aufblitzten, und der Klang seiner tiefen, warmen Stimme war alles andere als unangenehm: „Mein Name ist Christopher Deverell. Ich sitze neben Ihrem Bett, weil Sie krank waren und jemanden brauchten, der sich um sie kümmerte. Und da ich Sie ohnehin schon aus der umgestürzten Postkutsche geholt hatte, konnte ich das ebenso gut wie jemand anders übernehmen.“
Catherine hatte das Gefühl, sie würde bis zu den Fußspitzen erröten. Und da sie sich inzwischen bewusst wurde, dass sie ein Nachthemd statt ihrer Reisekleidung trug, keuchte sie entsetzt: „Sie meinen, Sie haben … Sie haben mich … Haben Sie mich etwa auch ausgezogen?“
Die Augen des Mannes funkelten nur so vor Vergnügen. „So gern ich's auch getan hätte, aber das hat Madame Gabelle nicht zugelassen.“
„Wer ist nun wieder Madame Gabelle?“, fragte Catherine gereizt, da sich die Situation ihrem benebelten Kopf nur langsam begreiflich machen ließ.
„Die Bäuerin dieses Hofes, auf dem wir uns befinden.“ Er warf ihr einen prüfenden Blick zu. „Sagen Sie, erinnern Sie sich eigentlich an das, was geschehen ist? Oder wer Sie sind?“
„Natürlich weiß ich, wer ich bin! Was für eine Frage!“
Ihr Gegenüber lachte leise. „Sie waren nach dem Unfall fast zwei Tage lang bewusstlos, haben vermutlich eine Gehirnerschütterung davongetragen und eine dicke Beule auf der Stirn! Da wäre es nicht ungewöhnlich, wenn Ihnen einige Einzelheiten aus Ihrem Gedächtnis entfallen sein sollten.“
„Ich halte meinen Namen nicht gerade für eine unbedeutende Einzelheit!“, empörte sich Catherine. „Und falls Sie Zweifel haben, dass ich ihn weiß: Mein Name ist Catherine Macpherson! Genügt Ihnen das?“
„Absolut!“, lächelte der Mann, der sich ihr als Christopher Deverell vorgestellt hatte. „Und ich finde es äußerst beruhigend, dass Sie sich so gut an alles erinnern können!“
„Leider nicht alles“, gestand Catherine stirnrunzelnd, während sie insgeheim festzustellen versuchte, ob sie noch alle Gliedmaßen bewegen konnte. „Vielleicht könnten Sie mir ja zum Beispiel erklären, wie ich in dieses Haus gekommen bin?“
Christopher Deverells Mundwinkel zuckten amüsiert. „Das Haus hier liegt nur wenige Meilen von der Stelle entfernt, wo die Kutsche umgestürzt ist. Da Sie bewusstlos und nicht reisefähig waren, brachte ich Sie hierher. Madame Gabelle willigte ein, sich Ihrer anzunehmen. Da sie sich aber auch noch um ihren Hof kümmern muss, bat sie darum, dass jemand blieb, um nach Ihnen zu sehen, wenn sie selbst zu viel zu tun hat. Ich glaube, sie hätte es lieber gesehen, wenn eine Frau Sie umsorgt hätte. Aber ihre Mitreisenden waren nicht sehr erbaut von der Idee, in dieser Einöde hier festzusitzen. Sie haben ihre Reise gestern fortgesetzt, nachdem es gelungen war, die Kutsche wieder aufzurichten und das abgefallene Rad zu montieren.
„Und deshalb sind … sind Sie hiergeblieben? Weil sich sonst niemand um mich gekümmert hätte?“
Er zwinkerte ihr zu. „Ich bin vielleicht nicht die geeignetste Krankenschwester, aber da niemand sonst einspringen wollte, war ich, wie es den Anschein hat, jedenfalls die einzig verfügbare.“
Catherine schluckte und sah ihn mit großen Augen an. „Ach du großer Gott! Es ist mir so peinlich! … Oh, du lieber Himmel!“
„Ich versichere Ihnen, dass es keinen Grund für Sie gibt, sich kompromittiert zu fühlen“, entgegnete er mit einem Lächeln. „Ich habe nur ein wenig hier gesessen und auf Sie aufgepasst. Alles andere hat Madame Gabelle übernommen.“
„Dann … dann bin ich Ihnen wohl zu großem Dank verpflichtet“, stammelte Catherine voller Verlegenheit.
„Aber nicht doch. Sie können mir glauben, dass ich es sehr gern getan habe.“
Catherine starrte auf seine zuckenden Mundwinkel und das Glitzern in seinen Augen und musste unvermittelt lachen. „Oh ja, das glaube ich Ihnen tatsächlich!“
„Es freut mich, dass es Ihnen inzwischen offenbar besser geht“, grinste Deverell. „Wie sieht es aus, meinen Sie, Sie schaffen es, aufzustehen und sich anzukleiden, wenn ich einen Augenblick hinausgehe? Ich meine, ich würde Ihnen ja gern behilflich sein, aber ich fürchte, das würde mir eine Menge Ärger von Madame Gabelle einbringen.“
„Oh ja, und das vollkommen zu Recht!“, schalt Catherine mit einem tadelnden Blick in seine lachenden Augen. Doch dann lachte auch sie. „Ich bin sicher, dass ich es allein schaffe. Meinen Sie, dass wir dann vielleicht von Madame Gabelle etwas zu essen bekommen könnten? Ich habe einen fürchterlichen Hunger.“
„Ein gutes Zeichen!“, lächelte Deverell, während er sich erhob. „Ziehen Sie sich in Ruhe an, ich gehe inzwischen und besorge etwas zu essen.“
Als Catherine eine Stunde später in der geräumigen Bauernküche der Gabelles drei deftige Stücke Zwiebelkuchen und einen großen Becher Milch vertilgt hatte, fühlte sie sich schon bedeutend wohler. Das Pochen in ihrem Kopf und auch das Schwindelgefühl hatten nachgelassen. Nur eine dicke Beule auf der Stirn und einige unangenehme blaue Flecken am Körper zeugten noch von ihrem Unfall. Deverell, der schon früher gegessen hatte und nur an einem Glas Wein nippte, hatte ihr beim Essen grinsend zugesehen und gemeint, es freue ihn, dass sie so einen herzhaften Appetit habe. Catherine hatte nur genickt und sich ganz auf ihre Mahlzeit konzentriert. Als sie sich jetzt den letzten Krümel vom Mund wischte, lächelte sie ihn entschuldigend an und erklärte: „Sie müssen mich für sehr unhöflich halten. Ich habe Sie hier so lange aufgehalten, und dabei haben Sie es vielleicht eilig. Vielleicht möchten Sie, nun da es mir besser geht, gerne aufbrechen. Ich würde es bedauern, aber doch verstehen.“
„Wie lange möchten Sie denn hierbleiben? Und noch viel wichtiger, wie wollen Sie von hier wegkommen, wenn ich Sie allein lasse?“
Catherine blinzelte. „Oh. Ich dachte … die Postkutsche …“
„Die Strecke liegt zwar nur einige Meilen von hier entfernt, aber bis zur nächsten Station, wo die Kutsche hält, wäre es zu Fuß ziemlich weit. Ich könnte Sie hinbringen, sofern es Ihnen nichts ausmacht, zusammen mit mir auf Ajax zu reiten.“
Catherine hätte schwören können, dass es in seinen Augen belustigt funkelte! „Nun ja, ein wenig unkonventionell ist diese Art zu reisen ja schon“, gab sie leicht unsicher zurück. „Und ganz sicher ist es nicht die Art, die eine Lady wählen sollte.“
„Gewiss nicht. Aber die Alternative wäre, dass Sie zu Fuß gehen. Und das dürfte recht unbequem sein.“
„Na wunderbar. Und mein Gepäck trage ich dann vermutlich auf dem Rücken!“
Ihr empörtes Schnauben ließ Christopher kurz grinsen, doch dann wechselte sein Gesichtsausdruck, als er begriff, dass es ihr mit ihrem Protest ernst war. „Es tut mir leid, wenn Ihnen mein Angebot unpassend erscheint. Aber ich sehe im Augenblick leider keine andere Möglichkeit, wie Sie von hier wegkommen könnten. Ich würde den Gabelles ja einen Wagen abkaufen, wenn sie einen hätten, den sie hergeben könnten, was aber nicht der Fall ist. Wenn es Ihnen so widerstrebt, sich zu mir aufs Pferd zu setzen, könnte ich allenfalls versuchen, irgendwo in der Umgebung Pferd und Wagen aufzutreiben. Aber angesichts der angespannten Lage im Land dürfte das vermutlich schwierig werden.“
Verspätet wurde Catherine sich bewusst, wie kindisch und unvernünftig ihre Reaktion auf seinen freundlich gemeinten Vorschlag war. Mit einem entschuldigenden Lächeln blinzelte sie auf in seine Miene, die einen Ausdruck kühler Höflichkeit angenommen hatte. „Oh, Sie müssen mich wirklich für sehr dumm halten! Verzeihen Sie mir. Ich bin Ihnen so dankbar für Ihre Hilfe! Und natürlich werde ich mit Ihnen reiten!“
Das Lächeln, das in seinen Augen aufblitzte, war von geradezu entwaffnender Wärme. „Ich halte Sie keineswegs für dumm. Höchstens für ein bisschen mitgenommen, was ja auch kein Wunder ist. Aber dass Sie einverstanden sind, freut mich. Glauben Sie, dass Sie in zwei, drei Tagen kräftig genug sind, dass wir dann aufbrechen könnten?“
„Oh, es geht mir wirklich schon ganz ausgezeichnet! Ich glaube nicht, dass wir so lange warten müssen. Ich könnte sofort losreiten.“
„Meinen Sie wirklich? Sie waren so lange bewusstlos. Vielleicht wäre es besser, wenn Sie sich erst einmal ein wenig schonen.“
Gerührt von seiner Sorge, versicherte Catherine ihm, dass sie wirklich nur noch ganz wenige Schmerzen hätte und sich durchaus kräftig genug fühle, um weiterzureisen. Allerdings gab es da noch eine Frage, die sie klären musste: „Was ist eigentlich mit meinem Gepäck? Ich habe vorhin nur mein Reticule finden können, in dem Gott sei Dank zumindest meine Papiere und eine Haarbürste waren.“
„Es tut mir leid, ich konnte Ihr Gepäck auf Ajax Rücken nicht transportieren. Ich habe den Kutscher angewiesen, Ihre Taschen bis zur nächsten Poststation mitzunehmen, wo Sie sie wiederbekommen, wenn wir dort eintreffen.“
„Oh, wie umsichtig von Ihnen! Vielen Dank!“
„Nichts zu danken“, lächelte er. „Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich jetzt noch einmal kurz nach meinem Pferd sehen und mit Madame Gabelle wegen unserer geplanten Abreise reden. Dann können wir uns morgen gleich nach dem Frühstück auf den Weg machen.“
„Warum nicht schon heute?“
„Liebes Mädchen, haben Sie mal einen Blick auf die Uhr geworfen? Es ist bereits Abend und wird bald dunkel! Wir würden die nächste Poststation heute nicht mehr erreichen.“
„Ach. Wie schade. Nun, dann lässt sich das wohl nicht ändern.“
In seinen Augen begann es schalkhaft zu funkeln. „Wenn Sie allerdings gern einen Nachtritt unternehmen möchten, mit Mondschein und Romantik, dann stehe ich liebend gern zu Ihrer Verfügung.“
Catherine blinzelte empört, doch dann lachte sie hell auf. „Fragt sich, wie romantisch es noch wäre, wenn die ersten Straßenräuber aufkreuzen! Nein, ich glaube, Sie haben recht. Dann reiten wir lieber morgen los.“
„Wie Sie meinen“, grinste Deverell, und seine grünen Augen blitzen. „Obwohl ich glaube, dass es hier nicht viele Straßenräuber gibt.“
„Mag sein“, lächelte Catherine, während ihr auf verwirrende Weise gerade auffiel, dass ihr Gegenüber wirklich bemerkenswert ausdrucksvolle Augen hatte. „Aber ich glaube, ich verzichte trotzdem lieber auf die Romantik.“
„Zu schade“, murmelte Deverell ernsthaft, doch seine Mundwinkel zuckten.
Als Christopher und Catherine am nächsten Morgen gemeinsam auf Ajax Rücken ihren Weg fortsetzten, versuchte Catherine, mehr über ihren neuen Reisegefährten herauszufinden. Sie saß quer vor ihm auf dem Pferd, er hatte einen Arm um ihre Taille geschlungen, und mit der anderen Hand hielt er die Zügel. Wenn sie den Kopf leicht neigte, konnte Catherine ihm in die Augen sehen, und seine tiefe Stimme war dicht an ihrem Ohr zu hören. Catherine fand, dass er eine sehr klangvolle, angenehme Stimme hatte. Auf ihre Frage hin erklärte er ihr, dass er geschäftlich nach Paris unterwegs sei.
„Um was für Geschäfte handelt es sich denn?“, erkundigte Catherine sich interessiert.
„Um alles Mögliche“, entgegnete er ausweichend. „Mein Schiff transportiert Handelswaren nach England. Leider muss man – “
„Sie haben ein eigenes Schiff?“, staunte Catherine.
„Ja. Es liegt gerade vor Calais.“ Er lächelte. „Aber wie ich eben sagen wollte, man muss leider wegen jeder Kleinigkeit nach Paris reiten, um sich dort die nötigen Genehmigungen zu besorgen.“
„Deshalb sind Sie also nach Paris unterwegs. Und was wollen Sie diesmal nach England bringen?“
„Unter anderem französische Weine. Die sind auch jetzt noch in England sehr begehrt, und die Franzosen können das Geld, das sie dafür erhalten, gut gebrauchen.“
Sie runzelte die Stirn. „Warum reisen Sie nicht direkt in die Anbaugebiete? Wäre das nicht günstiger?“
„Früher ging das, da konnte man noch den Handel direkt mit den Weinbauern führen. Aber inzwischen ist das so gut wie unmöglich. Ohne die Zustimmung der zuständigen Verwaltungsinstanzen in Paris geht leider überhaupt nichts mehr.“
„Aber ist das dann nicht alles sehr umständlich? Lohnt sich da der Handel denn überhaupt noch? Ich meine, könnten Sie nicht mit Ländern Handel treiben, mit denen es einfacher wäre?“
„Vermutlich.“
„Und warum treiben Sie dann ausgerechnet mit Frankreich Handel?“
Er zuckte die Achseln. „Das hat sich eben so ergeben. – Sehen Sie mal da vorne die Herde Wildpferde. Ein herrlicher Anblick, oder?“
Catherine warf einen kurzen Blick in die angegebene Richtung. „Ja, sehr idyllisch. – Mr. Deverell, warum treiben Sie nicht Handel mit den Westindischen Inseln oder den ehemaligen amerikanischen Kolonien? Das soll sich doch jetzt richtig lohnen.“
Er warf ihr einen wenig begeisterten Blick zu. „Schon möglich.“
„Und das reizt Sie nicht? Ich meine, als Schiffseigner müsste Ihnen doch daran liegen, Ihr Schiff möglichst gewinnbringend auf Fahrt zu schicken.“
„Ich bin zufrieden, so wie es ist. Da hinten fliegt ein Falke, haben Sie den gesehen?“
„Ja, sehr eindrucksvoll.“ Sie warf ihm einen schrägen Blick von der Seite zu. „Sagen Sie, Mr. Deverell, wollen Sie vom Thema ablenken?“
Er lachte. „Finden Sie es denn so interessant, über Schiffe und Handelsinteressen zu reden? Ich dachte eher, junge Ladys interessieren sich mehr für die Schönheiten der Natur als für profane Geschäfte.“
„Das stimmt“, lächelte Catherine. „Aber bisher habe ich festgestellt, dass Gentlemen im Allgemeinen sehr gern über ihre Geschäfte reden. Sie überraschen mich also.“
„Tatsächlich?“
„Ja. Aber wenn Sie nicht über Geschäfte reden wollen, können wir auch gerne das Thema wechseln. Erzählen Sie mir, wo Sie herkommen. Wo sind Sie zu Hause?“
Er zwinkerte ihr zu. „Worauf würden Sie tippen?“
„Ich weiß nicht. Auf jeden Fall England. Kent vielleicht?“
„Schon ganz gut getippt, aber falsch. Zu Hause bin ich in Surrey.“
„Surrey! Ich hätte gedacht, dass ein Schiffseigner irgendwo an der Küste lebt!“
Er lachte leise. „Das Landesinnere hat auch einiges zu bieten, finden Sie nicht?“
„Oh ja, ganz gewiss. Aber – “
„Es passt nicht in Ihr Bild von einem Schiffseigner, dass ich dort lebe, ja ich verstehe“, grinste er.
„Nun ja … vielleicht nicht ganz. Wobei Sie ja augenblicklich gar nicht dort zu leben scheinen. Immerhin haben Sie hier in Frankreich Ihr eigenes Pferd. Oder ist Ajax nicht Ihr Pferd?“
„Doch. Gefällt er Ihnen?“
„Ajax? Ein herrliches Pferd! Sie reiten ihn bestimmt sehr gern. Haben Sie ihn aus England mitgebracht?“
„Nein, er stammt hier aus der Gegend.“
„Dann leben Sie also wirklich länger in Frankreich? Was sagt denn Ihre Familie dazu? Ich meine, Sie haben doch sicher Familie in England, oder nicht?“
„Jeder hat irgendwo Familie.“
„Und findet Ihre Familie es gut, dass Sie in Frankreich leben?“
„Kommt darauf an, wen aus meiner Familie Sie fragen würden.“
„Wen könnte ich denn beispielsweise fragen? Bruder, Schwester, Eltern?“, beharrte sie, entnervt von seinen ausweichenden Antworten.
Seine Braue zuckte spöttisch in die Höhe. „Sie sind ja ganz schön hartnäckig! Sagen Sie, befragen Sie eigentlich jeden so eingehend oder nur Männer im heiratsfähigen Alter?“
Catherine schnappte hörbar nach Luft. Hochrot im Gesicht keuchte sie: „Sir, was fällt Ihnen ein! Glauben Sie etwa, ich … ich hätte es auf Sie abgesehen?“
Er lachte laut auf, und seine Augen sprühten vor Heiterkeit. „Nun, wenn ich es nicht glaube, dann muss ich denken, dass Sie sehr neugierig sind. Und sind Sie neugierig?“
„Selbstverständlich nicht, ich … Nun ja, vielleicht ein bisschen. Aber doch nur im allgemein üblichen Rahmen!“ Er lächelte zweifelnd, und so setzte sie hinzu: „Immerhin sind Sie ja Engländer, so wie ich, da ist ein gewisses Interesse doch nur natürlich!“
„Ach so, ich verstehe“, grinste er.
Sie warf ihm einen indignierten Blick zu. „Wenn ich gewusst hätte, wie empfindlich Sie sind, hätte ich Ihnen selbstverständlich keine Fragen gestellt!“
„Ich halte mich im Allgemeinen nicht für sonderlich empfindlich.“
„Wenn Sie sich nicht für empfindlich halten, verstehe ich nicht, warum Sie so ungehalten auf meine Fragen reagieren! Und überhaupt, ich weiß eigentlich gar nicht, was Sie wollen! Schließlich habe ich Sie ja nicht gefragt, ob Sie verheiratet oder verlobt sind oder ob Sie sich eine Ehefrau überhaupt leisten können. Dann könnten Sie sagen, ich hätte es auf Sie abgesehen! Und außerdem“, setzte sie etwas milder gestimmt hinzu, als sie daran dachte, dass er ihr immerhin in einer Notlage beigestanden hatte, „möchte man ja wissen, wem man sein Leben verdankt. Das ist doch nur vernünftig.“
„Ach, darum geht es? Dann bitte ich demütig um Verzeihung, dass ich Sie missverstanden habe“, versetzte er mit zuckenden Mundwinkeln.
Gefesselt von dem amüsierten Glanz in seinen Augen, blieb Catherine eine Antwort schuldig und sah ihn nur stumm und seltsam unsicher an.
Mit einem trägen Lächeln seufzte er schließlich: „Nun ja. Sie sind also aus rein vernunftmäßigen Gründen an mir interessiert und nicht mehr. Wie hartherzig, meinem Selbstbewusstsein einen solchen Schlag zu versetzen! Übrigens sind wir da.“
Er schwang sich aus dem Sattel und half Catherine beim Absteigen, die völlig versunken in den Anblick seiner funkelnden Augen gewesen war und nicht bemerkt hatte, dass Christopher Deverell sein Pferd bereits vor der Poststation gezügelt hatte. Gemessen an der aufrechten Haltung, mit der er neben ihr her ins Innere schritt, schien der Schlag auf sein Selbstbewusstsein nicht allzu kräftig gewesen zu sein, überlegte Catherine. Ihr eigenes hatte da schon mehr gelitten. Wie konnte es nur angehen, dass ein Mann, den sie erst seit einem Tag kannte, sie Dinge sagen ließ, die sie gar nicht sagen wollte? Er hatte ja recht, sie war neugierig! Zwar nicht gerade, weil sie es auf ihn abgesehen hatte, wie er meinte, aber immerhin: Wäre er alt und dick gewesen, dann hätte sie ihm höflich für seine Hilfe gedankt, ohne einen weiteren Gedanken an ihn zu verschwenden. So aber, da er jung und attraktiv war, hatte sie ihm geradezu Löcher in den Bauch gefragt, um mehr über ihn zu erfahren. Was musste er nur von ihr denken!
Es gelang Christopher, zwei Einzelzimmer zu bekommen, auf die sie sich gleich nach dem Essen zurückziehen wollten. Catherines Gepäck war bereits am Vortag angekommen und in einem Verschlag abgestellt worden. Christopher ließ es auf Catherines Zimmer bringen und erklärte ihr auf dem Weg dorthin, dass er am nächsten Morgen gemeinsam mit ihr in der heute angekommenen Postkutsche nach Paris weiterfahren und Ajax hinten anbinden würde.
„Oh, wirklich? Das ist schön!“, strahlte Catherine, mit der Hand an der Klinke. „Aber warum tun Sie das? Haben Sie es nicht eilig?“
„Nicht sonderlich“, erwiderte er augenzwinkernd. „Und selbst wenn ich es hätte … Ich kann ja wohl schlecht eine Landsmännin in Not so einfach ihrem Schicksal überlassen.“
„Oh. Ich bin nicht in Not!“, widersprach Catherine sofort. „Und ich will Sie wirklich nicht aufhalten!“
„So habe ich es nicht gemeint. Ich tue es gern.“
„Wirklich?“
„Ja, wirklich“, lächelte er und verbeugte sich leicht. „Also dann bis morgen früh, Miss Macpherson. Gute Nacht. Und schlafen Sie gut.“
Unvermittelt verlegen, blinzelte Catherine zu ihm hoch. „Sie auch, Mr. Deverell. Gute Nacht.“
Er wandte sich um, um zu seinem eigenen Zimmer weiterzugehen, aber Catherine hielt ihn noch einmal auf. „Und … Mr. Deverell? – Falls ich … falls ich heute zu neugierig gewesen sein sollte … Sie nehmen mir das doch hoffentlich nicht übel?“
Verblüfft blinzelte er, doch dann lachte er plötzlich. „Nein, nicht im Geringsten.“
Catherine lächelte erleichtert. „Gut. Dann sehen wir uns beim Frühstück, ja?“
„Aber sicher.“
„Ich freue mich“, gestand Catherine errötend ein. „Es ist wirklich viel netter, mit Ihnen zu reisen, als ganz allein.“
Er lachte leise, kehrte noch einmal zu ihr zurück und lehnte sich mit einer Schulter entspannt an den Türrahmen. „Gut, dass Sie diesen Punkt erwähnen. Jetzt bin ich nämlich mal an der Reihe, neugierig zu sein: Wie kommt es eigentlich, dass Sie so ganz ohne Begleitung quer durch Frankreich reisen?“
Catherine seufzte. „Ja, ich weiß, es ist nicht gerade üblich. Aber sehen Sie, meine Zofe brach sich auf der Überfahrt von Dover nach Calais den Fuß und musste nach Hause zurückkehren.“
„Nun, eine Zofe ist ja gut und schön. Aber lässt sich eine Lady auf Reisen nicht eigentlich von einem männlichen Verwandten begleiten? Ich meine, zu ihrem Schutz sozusagen?“
Catherine warf ihm einen verlegenen Blick zu. „Ist das eine Frage oder eine Feststellung?“
Seine Augen blitzten vergnügt, und er grinste. „Eine Feststellung.“
Catherine warf ihm einen schrägen Blick unter den Wimpern zu, dann lachte sie. „Nun, Sie haben natürlich vollkommen recht! Aber es hat sich einfach niemand gefunden, der mich begleiten wollte.“
„Dann müssen Sie einen sehr zwingenden Grund haben, trotzdem zu reisen.“
Es widerstrebte ihr, in diesem Augenblick von ihrer Verlobung mit Etienne zu erzählen, und so schüttelte sie lächelnd den Kopf. „Ich glaube, ich sollte jetzt wirklich schlafen gehen, Mr. Deverell. Denn auch wenn der Tag heute überraschend schön war, so war er auch sehr anstrengend, und ich bin wirklich müde.“
„Was nicht verwunderlich ist nach Ihrer Kopfverletzung“, stimmte Deverell sofort zu. „Verzeihen Sie, dass ich vergessen hatte, wie erschöpft Sie sein müssen.“
Angesichts seines reumütigen Lächelns blinzelte Catherine verlegen. „Oh, so schlimm ist es gar nicht. Und ich bin sicher, dass ich nach einer erholsamen Nacht morgen wieder ganz frisch sein werde.“
Er nickte, wobei ein unverkennbar amüsierter Ausdruck über seine Züge huschte. „Es freut mich, dass Sie da so sicher sind. Und was mich betrifft, so verspreche ich, bis zu Ihrer Ankunft in Paris als Begleitung zu Ihrem Schutz zur Verfügung zu stehen. Natürlich nur, sofern Sie nichts dagegen einzuwenden haben.“
„Aber nein, ganz im Gegenteil“, strahlte Catherine. „Ich könnte mir keine angenehmere Begleitung wünschen.“
Seine Augen blitzten auf, ehe er sich mit einem höflichen Handkuss und einer angedeuteten Verbeugung verabschiedete. Catherine blickte ihm kurz hinterher, dann ging sie in ihr Zimmer und schloss mit einem Lächeln auf den Lippen die Tür.
Am nächsten Morgen setzten sie, wie geplant, ihre Reise gemeinsam in der Postkutsche fort. Entgegen Catherines Hoffnung bot sich jedoch während der Fahrt wegen der vielen Mitreisenden kaum eine Gelegenheit, ungestört miteinander zu reden. Außerdem wurde die Fahrt durch häufige Kontrollen von Bürgerwehren und Freiwilligen ständig unterbrochen, sodass sie nur im Schneckentempo vorankamen und anfangs unter den Reisenden eine bedrückte Stimmung herrschte. Dennoch wurde die Fahrt nicht eintönig, und das war, wie Catherine dankbar anerkennen musste, hauptsächlich Christopher Deverell zu verdanken. Seinem Charme gelang nämlich, was angesichts der gereizten Stimmung fast unmöglich erschien: Die Leute in der Kutsche fingen an zu lachen und sich zu unterhalten. Auch Catherine bereitete es großes Vergnügen, Deverells tiefer Stimme zu lauschen, wenn er lustige Klatschgeschichten zum Besten gab, von denen er eine Unmenge zu kennen schien. Wenn sie alleine waren – das heißt, zumindest allein an einem Tisch saßen, denn ganz allein waren sie eigentlich nie -, wurde Deverell ernster und nachdenklicher, und Catherine kam zu dem Schluss, dass er die Rolle des sorglosen Plauderers nur den anderen gegenüber spielte, um sie von den täglichen Sorgen und Nöten abzulenken.
„Sie glauben, dass sich die Zustände in Frankreich verschlimmern, nicht wahr?“, fragte sie ihn am Abend des zweiten Tages, den sie mit der Kutsche gefahren waren.
Er nickte und legte seine Gabel beiseite. Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. „Allerdings. Und darum … Ich meine, es geht mich nichts an, aber … Nun ja, ich denke, Sie sollten lieber nach England zurückkehren.“
„Zurück nach England? Aber das geht nicht!“
Deverell zog fragend eine Augenbraue hoch.
„Nun sehen Sie“, erklärte Catherine hastig, „man erwartet mich in Paris. Man würde sich Sorgen machen. Und ich habe mich so auf diesen Besuch gefreut.“
„Nun ja, gewiss.“ Zum Teufel auch, er kannte dieses Mädchen erst wenige Tage, und schon machte er sich Sorgen um sie. War er denn verrückt geworden, dass er sich in ihr Leben einmischte? – Vermutlich ja, denn irgendetwas in ihm zwang ihn zu der nächsten Bemerkung: „Sie könnten Ihren Gastgebern einen Brief schreiben und erklären, weshalb Sie nicht kommen. Noch ist es bis Calais dichter als bis Paris.“
„Das ist absolut unmöglich!“, rief Catherine aus.
Christophers Blick verfinsterte sich. „Jeder vernünftige Mensch würde verstehen, wenn Sie angesichts der augenblicklichen angespannten politischen Lage Ihren Besuch in Paris verschieben.“
„Ja, bestimmt. Aber ich habe ihn schon so oft verschoben. Und außerdem … Sie reisen doch auch nach Paris.“
„Das ist etwas ganz anderes.“
„Warum? Weil Sie ein Mann sind?“
„Unter anderem. Ja.“
„Und weil Sie geschäftlich unterwegs sind, was natürlich viel wichtiger ist als irgendeine Privatangelegenheit, nicht wahr?“, machte Catherine sich lustig.
„So ein Unsinn!“
„Warum ist es Unsinn? Nur weil Sie glauben, dass Ihre Gründe nach Paris zu reisen wichtiger sind als meine?“
„Das glaube ich ganz entschieden nicht! Besser gesagt, ich kann es kaum beurteilen, da ich überhaupt nicht weiß, warum Sie eigentlich nach Paris wollen. Wenn es allerdings wirklich nur irgendein Besuch bei Freunden oder Verwandten ist, dann – “
„Es ist nicht nur irgendein Besuch!“
Mit einer unguten Vorahnung blickte er sie durchdringend an. „Nun gut, wer erwartet Sie denn in Paris, dass Ihr Besuch dort so umwerfend wichtig und nicht zu verschieben ist?“
Catherine sah den düsteren Ausdruck in seinen Augen und seufzte. Es half nichts, dachte sie, sie musste es ihm sagen. Sie wunderte sich über sich selbst, dass es ihr so schwerfiel. Vermutlich lag es einfach daran, dass Christopher Deverell bei weitem der interessanteste Mann war, der ihr bis dahin begegnet war. Ihre drei Cousins hatten immer wie aufgeblasene kleine Gockel gewirkt. Und die Verehrer, die es gewagt hatten, ihr unter den kritischen Blicken ihrer Mutter und Tante Emilys den Hof zu machen, waren größtenteils entweder in die Kategorie wichtigtuerisch oder verblödet einzuordnen gewesen. Gewiss, ein paar nette Burschen hatte es auch darunter gegeben. Aber ein Mann, so herrlich selbstsicher und weltgewandt wie Mr. Deverell, das war etwas ganz Neues für sie.
Sie nahm eine möglichst würdevolle Haltung an, konnte aber nicht verhindern, dass ihre Stimme leicht zitterte, als sie Deverells Frage beantwortete: „Mein … Verlobter.“
Äußerlich gelassen, lehnte Christopher sich zurück, aber innerlich knirschte er mit den Zähnen. So etwas Ähnliches hatte er ja befürchtet. Er ballte die Hände unter dem Tisch zu Fäusten. „Dann fahren Sie wohl zu Ihrer Hochzeit?“
Catherine zuckte unter seiner unvermittelt kühlen Stimme zusammen. Seine Miene war absolut ausdruckslos, und doch war tief in seinen Augen etwas wie Zorn und Enttäuschung zu erkennen. War es möglich, dass er eifersüchtig war? Sie kannten sich doch kaum, und trotzdem … Die Vorstellung war seltsam erregend. Catherine fühlte ihr Herz heftig pochen. Trügerisches Ding, schimpfte sie innerlich. Du heiratest Etienne, vergiss das nicht!
„Oh nein … das heißt, noch nicht“, stammelte sie. „Wir sind noch nicht offiziell verlobt, wissen Sie. Und außerdem muss ich sowieso erst noch das Ende des Trauerjahres abwarten. Meine Mutter ist letztes Jahr gestorben.“
„Das tut mir leid.“ Aus Christophers Stimme klang echtes Mitgefühl, und der Ausdruck seiner Augen wurde schlagartig weicher.
Catherine lächelte ihn dankbar an. „Sie brauchen keine Angst zu haben, ich weine nicht. Meine Mutter und ich … Na ja, wir haben uns nie so besonders verstanden. Natürlich war ich bei ihrem Tod traurig, aber … Na ja, ich glaube, ich bin darüber hinweg. Und immerhin ist es jetzt ja schon fast zehn Monate her.“
Fast zehn! Dann blieben immerhin noch zwei Monate, ehe sie heiraten konnte. Solange war sie nur verlobt, und das noch nicht einmal richtig. Und verlobt – Christopher musste ein Grinsen unterdrücken – verlobt war schließlich nicht verheiratet! Es sei denn, spottete eine Stimme in ihm, sie liebte ihren Verlobten. So etwas sollte gelegentlich ja vorkommen. Aber er würde es herausfinden!
Er merkte, dass Catherine irgendeine Antwort von ihm erwartete, und langte mit einer Hand über den Tisch zu ihr herüber: „Auch wenn Sie glauben, über den Tod Ihrer Mutter weggekommen zu sein, so ist es doch verständlich, wenn Sie sich deswegen einsam fühlen. Kein Wunder, dass es Ihnen so wichtig ist, zu Ihrem Verlobten zu reisen.“
„Ich fühle mich nicht einsam“, widersprach Catherine sofort und entzog Christopher hastig ihre Hand. „Und ich wäre auch nach Paris gereist, wenn meine Mutter noch lebte. Nur, dass sie dann mitgekommen wäre. So war es eigentlich geplant, ehe sie … ehe sie plötzlich so krank wurde.“
„Woran ist sie gestorben?“
„Eine Lungenentzündung. Sie war schon immer sehr zerbrechlich, wissen Sie. So zart und … unglaublich schön. Aber eben … nie sehr gesund.“
„Dann sind Sie sicher froh, dass Sie selbst von robusterer Natur sind.“
„Oh, danke schön!“, lachte Catherine und erhob sich. „Das hört eine Dame natürlich gern, dass sie robust ist! Ich glaube, ich gehe jetzt schlafen, bevor Ihnen noch mehr solche Nettigkeiten einfallen.“
Mit einem unterdrückten Grinsen schob auch Christopher seinen Stuhl zurück und stand auf. „Normalerweise hat sich noch nie eine Lady beklagt, dass ich linkische Komplimente mache. Und wenn Sie mir nicht gerade eben erst eröffnet hätten, dass Sie so gut wie mit einem anderen Mann verlobt sind, wäre mir auch bestimmt etwas Besseres eingefallen.“
„Wirklich?“, wagte Catherine mit einem Blinzeln zu bezweifeln.
„Sie glauben mir nicht?“, murmelte Christopher und trat dichter an sie heran, sodass sie zu ihm aufsehen musste. „Nehmen wir an, Sie hätten mir nicht gesagt, dass Sie mehr oder weniger verlobt sind … Dann hätte ich Ihnen vielleicht gesagt, dass sich Ihre Schönheit hinter niemandem verstecken muss. Möglicherweise hätte ich Ihnen auch gesagt, dass Sie faszinierend blaue Augen haben, die mich an Kornblumen im Sommer erinnern, und dass Ihre Haare wie honigfarbene Seide um ihr Gesicht fließen. Bestimmt hätte ich auch noch einiges mehr gesagt. Und vielleicht werde ich es irgendwann auch tun, und wenn Sie hundertmal die Verlobte eines anderen Mannes sind!“
Catherine starrte mit angehaltenem Atem in sein schmales Gesicht, ohne den rätselhaften Ausdruck darin deuten zu können. „Mr. Deverell … Ich glaube, ich … Ich glaube, Sie sollten so etwas nicht sagen.“
„Nein, vermutlich nicht“, stimmte er mit einem Zwinkern bereitwillig zu. „Aber ich musste doch den Beweis antreten, dass ich nette Dinge sagen kann. Schließlich kann ich nicht einfach im Raum stehen lassen, dass ich etwas behaupte, das nicht stimmt.“
Catherine starrte blinzelnd auf seine zuckenden Mundwinkel. „Oh, Sie sind unmöglich!“, entfuhr es ihr mit einem Lachen. „Und ich hätte Ihnen diesen Unsinn beinahe auch noch abgenommen!“
Mit einem eigentümlichen Lächeln erwiderte er: „Da kann man mal sehen …“
Der nächste Tag verlief zunächst relativ ereignislos. Als sie am Abend in Beauvais abstiegen, mussten sie erneut ihre Papiere vorzeigen. Es war ihnen mittlerweile so zur Routine geworden, dass sie dem keine große Bedeutung mehr beimaßen. Umso erstaunter war Catherine, als ein schwerbewaffneter Nationalgardist mit roter Mütze ihr nach einem kurzen Blick in ihre Ausweispapiere barsch befahl mitzukommen.
Irritiert zögerte Catherine. „Mitkommen? Warum? Was ist denn los?“
„Die Fragen stellen wir hier!“, grölte der Mann, sodass Catherine zusammenzuckte. „Sie werden zum Büro unseres Ortsfunktionärs gebracht.“
Catherine blickte sich fragend nach Deverell um. „Gehen Sie mit“, riet er. „Ich begleite Sie.“
„Tut mir leid, Bürger. Wir haben nur Befehl, die Bürgerin Macpherson zum Kommandanten zu bringen. Von Ihnen ist nicht die Rede. Sie müssen wieder in die Kutsche steigen.“
Deverell maß den Gardisten mit einem abschätzenden Blick. „Ich muss überhaupt nichts“, versetzte er kühl.
„Geben Sie Ruhe, Bürger! Oder Sie werden sich eine Menge Ärger einhandeln!“
Deverell lachte spöttisch auf. „Wenn sich hier jemand Ärger einhandelt, dann sind Sie es.“ Mit der rechten Hand zog er ein Dokument aus seiner Rocktasche. „Sie werden mich schon mitgehen lassen müssen. Ich habe hier ein Schreiben von höchster Stelle, in dem mir und meinen Begleitern volle Bewegungsfreiheit in ganz Frankreich zugesichert wird.“
Die Augen des Nationalgardisten flogen hastig über die Zeilen. Hin und wieder musterte er Deverell stirnrunzelnd. „Also gut“, kam es schließlich widerwillig über seine Lippen. „Folgen Sie mir.“
Während Catherine und Christopher dem Mann hinterherschritten, warf Catherine einen neugierigen Blick auf ihren Begleiter. Wie kam Christopher Deverell zu einem solchen Schreiben? Er musste in Frankreich über bessere Beziehungen verfügen, als sie bisher geahnt hatte!
Der Stadtkommandant war zunächst ebenso unfreundlich wie sein Untergebener. Doch Deverells Schreiben und Verhalten bewirkten auch bei ihm eine erstaunliche Veränderung. „Verzeihen Sie, Monsieur Deverell“, erklärte er unterwürfig, als er Deverell zu Ende zugehört hatte. „Ich wusste ja nicht, dass Miss Macpherson sich in Ihrer Begleitung befindet. Aufgrund ihrer Papiere hielten wir Miss Macpherson für die Tochter eines flüchtigen französischen Aristokraten. Darum ließ ich sie hierherkommen. Wir dachten, sie sei eine Emigrantin.“
„Emigrantin?“, schnaufte Catherine. „Glauben Sie, ich würde nach Paris fahren, wenn ich emigrieren wollte? Außerdem bin ich das erste Mal in meinem Leben in Frankreich!“
„Ja, verzeihen Sie. Es muss wohl ein Irrtum vorliegen. Wenn Monsieur Deverell sagt, Sie sind Engländerin wie er und gehören zu ihm, dann ist die Sache in Ordnung. Sie können Ihre Reise fortsetzen.“
Völlig verwirrt verließ Catherine das Büro des Stadtkommandanten. „Ich schätze, ohne Sie wäre ich ganz schön in Schwierigkeiten gewesen“, richtete sie das Wort an Deverell. „Ich danke Ihnen, dass Sie mir geholfen haben.“
„Nicht der Rede wert“, lächelte er. Dann sah er sie prüfend an. „Ist Ihr Vater wirklich Franzose?“
„Selbstverständlich nicht. Er war Schotte. Das müsste man doch schon an meinem Namen erkennen können.“
„Da haben Sie recht“, erwiderte er stirnrunzelnd. „Aber es ist dennoch seltsam, dass eine solche Verwechslung vorgekommen ist.“
Catherine zuckte die Achseln. „Vielleicht liegt es daran, dass mein Vater die letzten Jahre in Frankreich gelebt hat. Seit ich ein kleines Kind war, habe ich keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt. Vielleicht hatte er in Frankreich Ländereien oder Titel erworben. Viele Schotten sind 1746 nach dem Jakobitenaufstand nach Frankreich geflohen und dageblieben. Viele von ihnen sind später eingebürgert worden. Vielleicht glaubt der Stadtkommandant, dass mein Vater zu diesen nach Frankreich geflohenen Schotten und dadurch später zum französischen Adel gehörte.“
„Mag schon sein“, stimmte Christopher nachdenklich zu, während er Catherine zur Poststation geleitete. „Auf alle Fälle sollten Sie sich in Zukunft in Acht nehmen. Wenn man Sie hier wirklich für die Tochter eines französischen Aristokraten hält, könnte es gefährlich für Sie werden.“
„Ach was“, lachte Catherine. „Sie sehen doch, das Missverständnis lässt sich ganz leicht aufklären.“
„Hm. Ich weiß nicht. Vielleicht sollten Sie doch besser nach England zurückkehren.“
Missbilligend schüttelte Catherine den Kopf. „Mr. Deverell, das Thema hatten wir doch schon geklärt. Ich fahre nach Paris.“
„Ja, ich weiß schon. Ihr Verlobter. Aber ist er es wirklich wert, dass Sie Ihr Leben für ihn riskieren?“
Catherine lachte hell auf. „Nun übertreiben Sie nicht so maßlos! Davon kann überhaupt nicht die Rede sein. Und außerdem will ich jetzt nicht darüber nachdenken. Ich habe entsetzlichen Hunger.“
Deverells Augen blitzten amüsiert auf. „Ich auch. Aber ich halte es trotzdem für unvernünftig, wenn Sie in Frankreich bleiben. Sie wissen, dass hier im Moment alles im Umsturz ist. Sehen Sie sich doch um: In aller Öffentlichkeit wird hier ein weiterer Aufstand vorbereitet, der mit Sicherheit das Ende der Monarchie bedeuten wird. Selbst wenn Sie darauf vertrauen, dass Sie Engländerin sind, ist das gefährlich. Noch führt Frankreich zwar nur mit dem Kontinent Krieg. Aber ich fürchte, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis auch England hineingezogen wird. Haben Sie noch nicht gehört, dass man in Paris dabei ist, eine immer größer werdende Nationalgarde aufzubauen? Und selbst falls Ihnen auf politischer Ebene keine Gefahr drohen sollte – und ich sage ausdrücklich falls –, dann laufen Sie doch ständig Gefahr, in irgendeinen Aufstand hineinzugeraten.“
„Oh, nun geben Sie doch endlich Ruhe!“, stöhnte Catherine unwillig. „Mein Verlobter und seine Mutter haben in ihrem Brief nichts davon erwähnt, dass mir in ihrem Haus irgendeine Gefahr drohen könnte. Wenn ich erst einmal dort bin, werde ich sicher sein.“
Er zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. „Glauben Sie das wirklich?“
„Natürlich glaube ich das. Meinen Sie, sonst würde ich dorthin reisen?“
„Sagen Sie, Miss Macpherson, wie stehen Sie eigentlich zu Ihrem Verlobten? Wie lange kennen Sie ihn schon?“
Catherine zögerte einen Moment. „Ich kenne ihn von Kindheit an“, entgegnete sie dann, was ja noch nicht einmal eine Lüge war, obwohl sie wusste, dass sie damit dem eigentlichen Sinn der Frage auswich.
Deverell schwieg kurz, ehe er gedehnt erwiderte: „Nun, man sollte meinen, wenn Ihrem Verlobten genug an Ihnen liegt, würde er Sie nicht in dieses chaotische Land kommen lassen.“
„Die Einladung von seiner Mutter bestand schon so lange“, erklärte Catherine gelangweilt. Ihr war eigentlich nicht danach zumute, jetzt über Etienne zu sprechen. „Außerdem, was hätte er denn tun sollen? Wenn er Frankreich verlassen hätte, wäre er als Emigrant angesehen worden. Sein Besitz wäre beschlagnahmt worden, seine Mutter womöglich inhaftiert. Hätten Sie das für besser gehalten?“
„Natürlich nicht. Aber vielleicht hätten Sie ja noch etwas warten können, ehe Sie sich wiedersehen.“
„Aber wir haben schon so lange gewartet.“
„Dann käme es auf ein paar Monate mehr oder weniger erst recht nicht an, oder?“
Catherine zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich nicht. Aber nun bin ich einmal hier, nun werde ich meine Reise auch fortsetzen. Daran können nicht einmal Sie etwas ändern.“
„Nicht einmal ich?“, grinste er, während er sie ins Innere der Poststation führte, wo bereits eine dampfende Schüssel Suppe und ein großer Laib Brot auf sie warteten.
Sie aßen genüsslich und unterhielten sich dabei über die am nächsten Tag zu bewältigende Reiseroute. Jedoch war Catherine nach diesem anstrengenden Reisetag und dem doch nervenzehrenden Zwischenspiel auf der Kommandantur müde und erschöpft, sodass sie sofort nach der Mahlzeit ankündigte, auf ihr Zimmer gehen zu wollen.
Christopher führte sie nach oben und wünschte ihr an der Zimmertür eine gute Nacht, ehe er zu seinem eigenen Zimmer weiterging. Doch als er schließlich irgendwann in seinem Bett lag, starrte er gedankenverloren an die Zimmerdecke und fragte sich, warum es ihm einfach nicht gelingen wollte, die Tatsache zu akzeptieren, dass Catherine Macpherson bald einem anderen Mann gehören würde.
Catherine ihrerseits war so überwältigend müde, dass sie kaum noch die Augen offenhalten konnte. Sie versuchte, an Etienne zu denken, und dass sie ihn nun endlich bald sehen würde. Aber das lachende Gesicht, das sie kurz vor dem Einschlafen vor ihrem inneren Auge sah, gehörte nicht ihrem zukünftigen Verlobten.
Am nächsten Morgen regnete es, und so kamen sie noch langsamer als für gewöhnlich voran. Die Stimmung in der Postkutsche war gedrückt, und selbst Christopher schien heute nicht in der Lage zu sein, die Leute aufzumuntern. Gegen Mittag kamen sie durch eine Ortschaft, sodass sie anhalten und ihre Papiere vorzeigen mussten. Sie wurden gezwungen auszusteigen, und einer nach dem anderen wurde sorgfältig überprüft. Zu ihrem Verdruss wurde ihnen mitgeteilt, dass sie ihre Fahrt erst in einer Stunde würden fortsetzen können, weil ein Mitglied des Jakobinerklubs, zu erkennen an seiner roten Mütze, auf dem Marktplatz gerade eine flammende Rede gegen die Niedertracht des Adels hielt, die vom tosenden Beifall der Umstehenden begleitet wurde. Als guter Bürger verlor der Kutscher keine Zeit, sich den Zuhörern anzuschließen. Die anderen Reisenden folgten seinem Beispiel, nur Christopher und Catherine blieben bei der Kutsche.
„Nieder mit dem Adel!“, „Nieder mit dem König!“, „Schluss mit der Monarchie!“, waren die immer wiederkehrenden Rufe, die zu hören waren. Catherine lief es kalt den Rücken hinunter.
Deverell legte beschützend einen Arm um sie. „Sehen Sie nun, was hier los ist? Wer auch immer glaubt, dass dieses Volk noch zu bändigen ist, der irrt.“
„Glauben Sie denn etwa auch, dass man dem König etwas antun wird?“
„Ehrlich gesagt –“
In diesem Moment brach ein wildes Geschrei von der Menge los, und Deverells Worte gingen darin unter. Als es wieder etwas ruhiger wurde, schlug er vor: „Kommen Sie, Miss Macpherson. Wir sollten uns einmal genauer anhören, was der Bursche da hinten zu sagen hat.“
„Nein“, wehrte Catherine ab. „Gehen Sie nur alleine. Ich werde solange hier warten.“
„Wie Sie wollen. Aber entfernen Sie sich nicht von dem Wagen. Am besten steigen Sie wieder ein.“
Catherine nickte und blickte Deverell hinterher, der sich so zu der Menge stellte, dass er dem Redner zuhören und dabei Catherine im Auge behalten konnte.
Statt einzusteigen, lehnte sie sich müde gegen die Kutsche. Es erschreckte sie, wie wild die Menge aussah. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass diese Leute sonst friedliche Handwerker, Bauern oder Händler sein sollten. Vielleicht hatte Mr. Deverell tatsächlich mit seiner Behauptung recht, dass es in Frankreich gefährlich war? Und dennoch würde sie nicht aufgeben. Ihre Verwandten hatten es ihr nicht ausreden können, nach Paris zu reisen. Warum sollte sie sich da von einem eigentlich wildfremden Mann beeinflussen lassen?
Catherine stand noch nicht lange neben der Kutsche, als wie aus dem Nichts plötzlich vier Männer auf sie zuschlenderten. Es waren finster aussehende Gesellen, von denen einer einen Knüppel in der Hand hielt und die anderen Weinflaschen. Ganz offensichtlich waren sie bereits angetrunken und auf Streit aus. Catherine hatte sie zunächst nicht bemerkt, da sie in ihre Gedanken versunken gewesen war. Als ihr die Männer nun auffielen, waren sie schon so nahe herangekommen, dass sie von ihnen umringt war. Sie blieben direkt neben ihr stehen und musterten sie mit frechen Blicken.
Catherine versuchte, an ihnen vorbei nach Christopher Deverell Ausschau zu halten, als einer von ihnen höhnte:
„Ei, du hast aber ein feines Kleidchen an. Bist wohl 'ne Hochwohlgeborene, wie?“
Mit seiner schmierigen Hand langte er nach Catherines Rock, sodass sie mit einem erschrockenen Aufschrei einen Schritt zurückwich. Ängstlich versuchte sie, Christopher Deverell in der Menge auf dem Platz zu entdecken, doch zu ihrem Entsetzen war er nicht mehr dort, wo er vorher gestanden hatte, und der Widerling kam ihr schon wieder näher! Sie keuchte entsetzt, als er nach ihrem Arm langte, doch da plötzlich war Deverell neben ihr und schob sie energisch hinter seinen Rücken.
„Steigen Sie in die Kutsche!“, raunte er ihr tonlos zu, ohne die Männer aus den Augen zu lassen, und Catherine beeilte sich mit zitternden Knien zu gehorchen. Von innen spähte sie vorsichtig aus dem Fenster.
„Willst du uns das Spiel verderben?“, knurrte einer der Männer zornig und zerschmetterte seine Weinflasche auf dem Boden.
„Warum hört ihr nicht zu, Bürger?“, fragte ein anderer, großer, bärtiger Mann, der als einziger einen Knüppel in der Hand hielt. „Warum steht ihr nicht bei unseren Genossen?“
„Wir können auch hier gut hören“, gab Christopher, trotz seiner Anspannung, äußerlich ruhig zurück.
Der Hagere von den dreien runzelte die Stirn. „Wer seid ihr? Ihr stammt nicht aus dem Volk.“
Verdammt, dachte Christopher unbehaglich, das sah überhaupt nicht gut aus, wie die vier hier mit ihm umsprangen! Doch wenn er nicht die Aufmerksamkeit der aufgewiegelten Menge auf sich ziehen und es dann vielleicht mit noch mehr Gegnern zu tun haben wollte, galt es jetzt Ruhe zu bewahren!
So kühl und gelassen wie möglich ging er daher auf die Fragen der Burschen ein: „Die Dame und ich sind Engländer. Wir wollen mit der Postkutsche nach – “
„Engländer, ja?“, höhnte der Bärtige dazwischen. „Oder vielleicht stinkende Aristokraten?“
Bevor Christopher zu einer Antwort ansetzen konnte, schwang der Mann schon seinen Knüppel. Catherine schrie in Panik auf, als er erschreckend dicht an Christophers Kopf vorbeisauste. Doch schon war Christophers Faust vorgeschnellt, und der Bärtige ging mit einem verblüfften Stöhnen in die Knie. Christopher wirbelte herum, als der Hagere auf ihn losging, und versetzte ihm einen so kräftigen Tritt, dass dieser sich krümmte. Der dritte Mann versuchte, auf Christophers Rücken zu springen, doch Christopher wich in Sekundenbruchteilen aus, sodass der Angreifer bäuchlings auf dem Boden landete. Doch nun hatte sich der Bärtige wieder auf die Füße gerappelt und griff gemeinsam mit dem Hageren an. Und auch die anderen kamen wieder auf die Beine. Christopher war zwar wendiger und fintenreicher und lieferte den angetrunkenen Gestalten einen wilden Kampf. Doch die Angreifer, von denen noch dazu einer einen Knüppel schwang, waren in der Überzahl, und so war er ihnen auf Dauer nicht gewachsen. Er wehrte sich verbissen, musste aber immer mehr Schläge einstecken, die ihn schmerzvoll nach Luft schnappen ließen.
Catherine beobachte aus der Kutsche heraus voller Entsetzen, wie Deverell zu schwanken anfing und nach einem besonders schmerzvollen Tritt in die Rippen keuchend in die Knie ging. Sie wimmerte hilflos, als er ein weiteres Mal dem schweren Knüppel nur um Haaresbreite ausweichen konnte. Panisch sah sie sich nach irgendetwas um, das sie als Waffe benutzen könnte, um ihm zu helfen, aber nichts von dem, was in der Kutsche herumlag, war auch nur im Entferntesten geeignet. Da kam ihr plötzlich der rettende Einfall. Sie riss den Verschlag der Kutsche zur anderen Seite hin auf und stürmte zu Deverells Pferd, das hinten angebunden war. Hektisch durchwühlte sie seine Satteltaschen und fand darin, zu ihrer unsäglichen Erleichterung, tatsächlich eine große Pistole. Sie hatte nur eine vage Ahnung, wie man mit einem solchen Ding umging, aber das war im Moment völlig egal, solange diese widerlichen Kreaturen sich nur irgendwie bedroht fühlten und von ihrem Opfer abließen!
„Schluss jetzt!“, schrie sie, mit der Pistole in der Hand. „Sofort aufhören oder ich schieße!“
Die keuchenden Männer starrten sie verdattert an, ließen aber widerstrebend von Deverell ab, der inzwischen am Boden lag. Verunsichert sahen die Männer sich an und versuchten offenbar abzuschätzen, wie groß die Bedrohung durch eine Pistole in der Hand einer verängstigten Frau war.
Christopher rappelte sich schwer atmend auf die Füße. Durch einen verschwommenen Nebel vor den Augen sah er, wie die Pistole in Catherines Hand zitterte, taumelte zu ihr hinüber und nahm ihr die Waffe hastig ab. Obwohl er sich kaum auf den Beinen halten konnte, lag die Pistole in seiner Hand ruhig und zielte bedrohlich auf die vier Burschen, die nun deutlich eingeschüchterter wirkten.
Unterdessen kehrten der Kutscher und die anderen Fahrgäste zurück und starrten fassungslos auf die Szene, die sich ihren Augen bot. „Was ist hier los?“, brüllte der Kutscher, ein vierschrötiger Mann.
„Eine kleine … Auseinandersetzung“, krächzte Christopher, während er darum kämpfte, auf den Beinen zu bleiben. „Die Herren Bürger waren … mit unserer Nationalität … nicht einverstanden.“
Der Kutscher warf einen grimmigen Blick auf die vier Gesellen, die, missmutig und ebenso zerschunden wie ihr Opfer, bereits den Rückzug antraten. Kopfschüttelnd schaute er ihnen hinterher. „Sacré bleu! Muss ich denn jetzt auch noch selbst auf meine Fahrgäste aufpassen? Einsteigen, es geht weiter!“
Catherine legte einen Arm um Christophers Taille und half ihm vorsichtig in die Kutsche. Obwohl er mitgenommen wirkte, zwinkerte er ihr aufmunternd zu, woraufhin sie ein zittriges Lächeln zustande brachte. Er ließ sich auf den Sitz fallen und schloss kurz schmerzvoll die Augen, riss sich aber sofort wieder zusammen und bemühte sich um ein Lächeln. Sie setzte sich dicht neben ihn, wühlte ein Taschentuch heraus und betupfte damit vorsichtig seine aufgesprungene Lippe.
„Tut es sehr weh?“, fragte sie besorgt.
„Überhaupt nicht“, log er, lehnte aber erschöpft den Kopf an die Rückwand.
„Mon Dieu, wie Sie aussehen!“, entfuhr es Madame Léfèbre, einer älteren Mitreisenden. „Was haben diese Rohlinge nur mit Ihnen gemacht! Sehen Sie sich nur Ihre Kleider an, völlig schmutzig und zerfetzt! Und Ihre Lippe schwillt schon an.“
„Das ist wirklich nicht der Rede wert“, wiegelte Christopher mit einem müden Grinsen ab.
„Oh, ich hatte solche Angst um Sie!“, gestand Catherine. „Ich dachte, diese brutalen Kerle würden Sie töten!“
„Was sie sicher auch getan hätten, wenn Sie nicht so beherzt eingegriffen hätten, Madam. Ich danke Ihnen, dass Sie mein Leben gerettet haben!“
Catherine errötete unter der herzlichen Anerkennung, die aus seinen Augen leuchtete. „Ich bin unendlich froh, wenn ich Ihnen ein wenig helfen konnte. Aber eigentlich habe ich ja gar nicht viel gemacht.“
„Oh doch, Sie haben“, beharrte Christopher mit glitzernden Augen, ergriff ihre Hand und führte sie sanft an seine Lippen. Catherine lief unter seinem Blick und der Berührung seiner Lippen ein Prickeln über den Rücken. Sekundenlang hielt sie den Atem an und blinzelte in seine grünen Augen, in denen sich unverhohlene Bewunderung spiegelte, während um seine aufgerissenen Lippen ein zärtliches Lächeln spielte.
„Ah“, kicherte Madame Léfèbre entzückt, „und ich habe euch Engländer immer für phlegmatisch gehalten!“
Hastig entzog Catherine Christopher ihre Hand. Er lachte leise, zuckte aber schmerzvoll zusammen, als in diesem Moment die Kutsche holpernd über einen Stein fuhr und er, während er durchgeschüttelt wurde, unangenehm daran erinnert wurde, dass er ein paar heftige Schläge in die Rippen hatte einstecken müssen.
Catherine biss sich voller Mitleid auf die Lippe. „Oh, es tut mir so leid, was diese Kreaturen Ihnen angetan haben! Und Madame Léfèbre hat recht, Sie sehen wirklich schrecklich aus! Und Sie sind fürchterlich blass!“
„Besten Dank!“, gab er mit einem unerschütterlichen Zwinkern zurück. „So viel zum Thema Nettigkeiten und Komplimente! Sie hätten jetzt eigentlich sagen müssen, wie tapfer und mutig ich war! Und stattdessen bekomme ich zu hören, ich würde schrecklich aussehen!“
Catherine blinzelte in seine lachenden Augen. Mit einem seltsamen Flattern im Bauch brachte sie ein unsicheres Lächeln zustande und gestand: „Ich hatte schreckliche Angst, als diese Männer auf mich zukamen. Und es war wirklich unglaublich tapfer und mutig, wie Sie mir zu Hilfe gekommen sind!“
„Das klingt doch viel besser“, grinste er und setzte dann etwas sachlicher hinzu: „Sagen Sie, woher haben Sie eigentlich gewusst, dass ich eine Pistole in der Satteltasche hatte?“
„Ich hatte sie am ersten Tag gesehen, als Sie etwas daraus hervorholten. Warum tragen Sie sie nicht bei sich? Wäre das nicht sicherer?“
„Bestimmt. Aber ich wollte mich nicht auffällig machen, indem ich in der Postkutsche eine Waffe trage. Doch der Vorfall heute war mir eine Lehre. Das war das erste und das letzte Mal, dass ich so unvorsichtig war.“
Catherine seufzte leise. „Es war alles meine Schuld. Ich hätte in die Kutsche steigen sollen, wie Sie gesagt haben, aber ich habe die Männer nicht rechtzeitig gesehen, und – “
„Es war nicht Ihre Schuld“, widersprach Christopher sofort. „Ich hätte Sie nicht allein lassen dürfen.“
„Woher hätten Sie denn wissen sollen, dass so etwas passiert!“
„Weil so etwas hier im Land augenblicklich ständig passiert“, versetzte er, nunmehr sehr ernsthaft. „Sie haben offenbar keine Ahnung, wie oft der Mob in den letzten Monaten und Wochen schon unschuldige Menschen zu Tode gehetzt, gefoltert oder missbraucht hat. Und sich einzubilden, dass wir sicher wären, nur weil wir Engländer sind … eine schöne, aber gefährliche Illusion!“
Catherine sah ihn betroffen an. „Natürlich weiß ich, dass in Frankreich zurzeit schlimme Dinge geschehen, Mr. Deverell. Mein eigener Vater ist bei Bauernunruhen in der Normandie ums Leben gekommen. Aber dennoch – “
„Ist er das?“, entfuhr es Christopher. „Und das hat Sie nicht davon abgehalten, hierherzukommen?“
Sie biss sich nervös auf die Lippen. „Nein. Irgendwie habe ich geglaubt, alles wäre trotzdem … irgendwie nicht so schlimm.“
„Und jetzt? Was glauben Sie jetzt?“
„Ich weiß nicht … Vielleicht war das ja ein Zufall heute. Es muss doch nichts heißen, oder? Ich meine … auch in England gibt es solche Leute wie die Männer vorhin.“
„Ja, die gibt es“, stimmte Christopher stirnrunzelnd zu. „Aber in England herrschen noch Recht und Gesetz. Hier dagegen lösen sich gerade sämtliche Strukturen auf.“
„Wenn Sie das alles so pessimistisch sehen … Wieso sind Sie dann noch in Frankreich, Mr. Deverell?“
Er wandte den Kopf ab und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. „Gute Frage“, versetzte er schließlich verdrossen. „Manchmal stelle ich sie mir auch.“
Am Abend stiegen sie in einer kleinen Ortschaft in einem Gasthof mit dem Namen La Voile ab. Das äußerlich unscheinbare Gasthaus machte im Inneren einen gepflegten Eindruck und war gut besucht. Catherine konnte sehen, dass die rechts von der Eingangstür liegende Gaststube fast voll besetzt war.
Der Wirt, der beim Koffertragen selbst mit anpackte, war sehr zuvorkommend. Er führte Catherine und Madame Léfèbre, welche die einzigen weiblichen Fahrgäste waren, auf ihre Zimmer im ersten Stock. Im zweiten Stock lagen die Zimmer der männlichen Reisenden.
„Sehen wir uns beim Essen?“, fragte Catherine, als Deverell an ihr vorbei die Treppe hinaufschreiten wollte. „Oder möchten Sie sich nach dem Vorfall heute Mittag lieber hinlegen?“
„Nein, mir geht es gut“, beteuerte er lächelnd. „Ich werde mir doch wegen ein paar blauen Flecken keine Mahlzeit in Ihrer Gesellschaft entgehen lassen.“
Catherine blinzelte errötend. „Dann treffen wir uns in der Gaststube?“
„Gewiss. Sagen wir in einer dreiviertel Stunde? Dann haben Sie Zeit genug, sich frisch zu machen, und ich kann mir auch ein paar andere Sachen anziehen.“
„Ja, gern. Hoffentlich bekommen wir noch einen Tisch.“
Ihr entging nicht, dass Deverell leicht humpelte und sich am Geländer festhielt, als er seinen Weg nach oben fortsetzte, sodass sie ihm besorgt hinterherrief: „Mr. Deverell? Ist wirklich alles in Ordnung? Oder brauchen Sie Hilfe?“
Über die Schulter entgegnete er fröhlich, nichtsdestotrotz ein wenig atemlos: „Alles bestens. Also, bis nachher.“
Eine dreiviertel Stunde später war Catherine frisch gewaschen und hatte das verstaubte Reisekleid gegen ein leichteres Musselinkleid eingetauscht. Sie hatte ihre Haare so lange gebürstet, bis sie rotgolden schimmerten. Dann hatte sie noch ein wenig Puder und einen Hauch Parfum aufgelegt. Gutgelaunt wollte sie gerade zum Abendessen hinuntergehen, als es an ihrer Zimmertür klopfte und der Wirt erschien.
„Verzeihen Sie die Störung, Mademoiselle. Monsieur Deverell lässt Ihnen ausrichten, dass er nicht zum Abendessen herunterkommen wird. Er fühlt sich nicht ganz wohl und möchte lieber auf seinem Zimmer speisen.“
„Ach du großer Gott!“, stöhnte Catherine. „Dann ist er also doch ernster verletzt, als er zugegeben hat! Hat er große Schmerzen?“
„Ich weiß es nicht, Mademoiselle. Aber nach dem, was mir der Kutscher erzählt hat, nehme ich es wohl an. Eine Schande.“
„Ja. Ich werde sofort zu Mr. Deverell gehen. Könnten Sie mir vielleicht mein Essen in sein Zimmer bringen lassen?“
Der Wirt lächelte breit. „Aber gewiss, Mademoiselle. Sofort.“
Mit besorgter Miene eilte Catherine die Treppe hinauf, die zum zweiten Stock führte, wo die Zimmer der männlichen Reisenden lagen. Am Ende des langen Ganges befand sich Deverells Zimmer. Sie klopfte kurz und sein „Herein“ erklang.
Kaum hatte sie die Schwelle überschritten, blieb sie verblüfft stehen. Sie hatte erwartet, Deverell im Bett liegend vorzufinden. Stattdessen stand er mitten im Zimmer vor einem kleinen Tisch, auf dem eine Flasche Wein und das Abendessen für zwei gedeckt waren.
Ziemlich verblüfft entfuhr es ihr: „Lieber Himmel, Sie liegen ja gar nicht im Bett!“
Um seine Mundwinkel zuckte es. „Nein. Es isst sich so schlecht im Bett, finden Sie nicht auch?“
„Ja, aber … Sie haben für zwei decken lassen! Woher … woher wussten Sie, dass ich auch hier essen würde?“
„Ich wusste es nicht. Ich hoffte es nur.“ Er lächelte sie auf eine sehr entwaffnende Art an. „Sehen Sie, ich wollte ursprünglich wirklich runterkommen, aber … nun ja, irgendwie ist es hier oben doch viel angenehmer. Also habe ich den Wirt gebeten, das Abendessen für uns beide hier zu servieren.“
„Ja, aber … er sagte doch, es ginge Ihnen nicht gut. Ich dachte …“
Er zog ihr einen Stuhl zurecht, und automatisch setzte sie sich. „Ich fürchtete, dass Sie nicht kommen würden, wenn ich Sie einfach so auf mein Zimmer einladen würde.“
„Da haben Sie allerdings recht!“, entgegnete Catherine empört und erhob sich sofort wieder. „Was haben Sie sich nur dabei gedacht? Ich werde auf der Stelle wieder gehen.“
„Seien Sie nicht albern!“ Er trat auf sie zu und ergriff sie an beiden Armen. „Sie werden doch einsehen, dass es sich hier oben viel gemütlicher essen lässt. Weder ist es hier so verqualmt noch so laut wie unten. Hier können wir uns wenigstens in Ruhe unterhalten.“
„Was glauben Sie wohl, was die Leute sagen, wenn ich hier mit Ihnen allein in Ihrem Zimmer bleibe! Ist Ihnen nicht klar, dass ich für alle Zeiten ruiniert bin, wenn … wenn das herauskommt?“
Mit einem unterdrückten Grinsen entgegnete er: „Was Ihren guten Ruf betrifft, so sind Sie ja nur als barmherzige Krankenschwester hier drin. Außerdem weiß es sowieso nur der Wirt. Und, falls es Sie beruhigt, ich bin wirklich indisponiert.“ Er zwinkerte ihr zu. „Zumindest ein kleines bisschen.“
Sie öffnete den Mund, um ihn voller Strenge zu tadeln. Doch in seinem Blick lag eine solch entwaffnende Wärme, dass sie plötzlich nicht anders konnte, als mit einem Lachen den Kopf zu schütteln. „Also gut, meinetwegen. Aber nur, wenn Sie endlich meine Arme loslassen. Sie zerquetschen sie ja beinahe!“
Er lockerte seinen Griff, ohne sie jedoch loszulassen, und sah mit einem eigentümlichen Lächeln auf sie herab. Ihr Herzschlag beschleunigte sich wie rasend, während sie zu Deverell aufsah, der ihr beängstigend nahe stand. Wie dunkel das Grün seiner Augen über ihrem Gesicht glitzerte! Ob er wohl die Absicht hatte, sie zu küssen? Eigentlich fand sie diese Vorstellung gar nicht so unangenehm. Aber als verlobtes Mädchen konnte sie doch unmöglich einen anderen Mann ermutigen, sich Freiheiten herauszunehmen! Mit einem Seufzer befreite sie sich aus seinem Griff und wandte sich von ihm ab. Hinter ihr erklang sein leises Lachen, während sie zögernd zum Tisch ging und auf einem der zwei Stühle Platz nahm.
„Noch einmal dürfen Sie mir einen solch üblen Streich aber nicht spielen, Mr. Deverell“, mahnte Catherine, als er sich ihr gegenübersetzte.
Er hob fragend eine Braue. „Meinen Sie, dass ich Ihre Arme zerquetsche oder dass ich Sie unter einem Vorwand in mein Zimmer kommen ließ?“
„Sie wissen genau, was ich meine. Außerdem haben Sie mich nicht kommen lassen. Der Wirt sagte nur, ich müsste allein speisen, weil Sie sich nicht wohlfühlten.“
„Richtig. Und dabei vertraute ich auf Ihr mitleidiges Herz, das Sie sofort zu mir bringen würde.“
„Eben. Ein ganz schändlicher Vertrauensbruch. Den ich mir in Zukunft verbitte.“
„Keine Angst, ich werde artig sein“, versetzte er scheinbar demütig. Doch in seinen Augen tanzten übermütige Funken.
Mit einem Schmunzeln schüttelte Catherine ihren erhobenen Zeigefinger. „Ich warne Sie, ich meine es ernst.“ Dann atmete sie tief durch, langte nach Messer und Gabel und freute sich auf den köstlichen Gemüseeintopf, der auf ihrem Teller dampfte. „Aber Sie haben recht. Es ist hier oben gemütlicher.“
Deverell grinste, aber statt nach seinem Besteck zu langen, lehnte er sich entspannt auf seinem Stuhl zurück und ließ seinen Blick in aller Ruhe über sie gleiten.
Verwundert sah sie ihn an. „Sollten wir nicht lieber essen, solange der Eintopf noch heiß ist?“
Statt ihre Frage zu beantworten, lächelte er und murmelte leise. „Wissen Sie eigentlich, dass Ihr Haar im Kerzenschein fast noch schöner ist als bei Tageslicht? Und da fand ich es schon schön.“
Verwirrt ließ Catherine ihre Gabel sinken. „Sie … sollten so etwas nicht sagen.“
„Soll ich lieber sagen, dass Sie ein ganz zauberhaftes Kleid anhaben und heute Abend entzückend aussehen?“
„Mr. … Deverell!“
Er lachte, wobei er sie bewundernd betrachtete. „Wirklich, es ist wahr! Das dunkle Kleid lässt den Rotton Ihrer Haare hervorragend zur Geltung kommen. Haben Sie diese Haarfarbe von Ihren schottischen Vorfahren? Oder sind Sie gar selbst Schottin?“
„Ich bin Engländerin!“, entgegnete Catherine so kurz angebunden, dass Deverell überrascht blinzelte und sein Lächeln erstarb. Sofort blickte sie ihn entschuldigend an. „Oh, verzeihen Sie! Ich wollte Sie nicht so anfahren! Es ist nur, weil … Nun ja, Sie wissen ja, mein Vater war Schotte.“
„Ja, das sagten Sie. Aber ich verstehe trotzdem nicht – “
„Nein, wie sollten Sie auch“, unterbrach Catherine. „Aber sehen Sie, ich sagte Ihnen ja schon, dass ich, seit ich ein kleines Kind war, keinen Kontakt mehr zu meinem Vater hatte. Er hat meine Mutter und mich allein gelassen, als ich drei Jahre alt war. Damals ist er einfach fortgegangen, nach Frankreich. Nicht einmal finanziell war für uns gesorgt, obwohl es ihm gut ging. Er hat sich meiner Mutter gegenüber so … so schäbig verhalten, verstehen Sie! Er muss ein ganz gemeiner Mensch gewesen sein! Darum … ich meine, ich habe nichts gegen Schotten im Allgemeinen, aber … nun, gegen meinen Vater habe ich etwas.“
„Und deshalb möchten Sie lieber als Engländerin und nicht als Schottin betrachtet werden?“, warf Deverell mit hochgezogener Braue ein.
„Ich bin Engländerin!“, beharrte Catherine. „Meine Mutter war Engländerin, und bei ihr und ihrer Familie habe ich mein ganzes Leben verbracht!“
Er runzelte nachdenklich die Stirn. „Haben Sie jemals Ihren Vater nach den Gründen für sein Fortgehen befragt?“
„Nein, wie denn! Er lebte doch in Frankreich.“
„Sie hätten ihm schreiben können. Vielleicht – “
„Das hätte auch nichts geändert. Er wollte doch gar nichts von mir wissen, hat mir fast nie geschrieben oder sich nach mir erkundigt! Sehen Sie, ein einziges Mal habe ich einen Brief von ihm erhalten. Das war, nachdem Etienne mir seinen Antrag gemacht hatte. Irgendwie musste mein Vater davon erfahren haben und schrieb mir einen Brief. Er schrieb sehr lieb und sehr freundlich, und ich glaubte schon, er würde jetzt doch noch Vatergefühle entwickeln. Doch der ganze Brief diente nur dazu, dass er mir am Ende davon abriet, Etienne zu heiraten. Seine ganzen lieben Worte waren nur eine Täuschung, weil er nicht wollte, dass ich Etiennes Frau werde.“
„Und warum wollte er es nicht?“
Catherine zuckte die Achseln. „Mutter sagte, er hätte Etienne und seine Mutter gekannt, und sie hätten sich nicht verstanden. Sie meinte, dass das der Grund wäre, dass Vater diese Heirat nicht wollte. Aber sehen Sie, es war so enttäuschend! Ein einziger Brief, und den hatte er nur wegen seiner Feindschaft mit der Marquise de Fontenay geschrieben!“
Christopher, der gerade an seinem Wein nippte, verschluckte sich und hustete heftig. „Seine Feindschaft mit wem, sagten Sie?“
„Der Marquise de Fontenay. Etiennes Mutter. Warum?“
Er starrte sie geradezu entgeistert an, und seine Stimme klang heiser: „Wollen Sie damit etwa sagen, dass der Marquis de Fontenay Ihr Verlobter ist?“
Catherine hörte verwundert auf zu essen. „Aber ja. Kennen Sie ihn etwa?“
„Ja. Gütiger Himmel, Catherine – das kann nicht Ihr Ernst sein! Sie können diesen Mann nicht heiraten wollen!“
„Ich weiß nicht, was Sie meinen, Mr. Deverell“, gab Catherine gezwungen und mit einem dumpfen Gefühl in der Magengegend zurück. „Warum sollte ich ihn nicht heiraten wollen?“
Er strich sich mit beiden Händen durch die Haare und schüttelte wie benommen den Kopf. „Ich kann es Ihnen nicht sagen, Catherine. Aber glauben Sie mir, de Fontenay ist kein Mann für Sie!“
Mit aufblitzenden Augen schleuderte Catherine ihre Serviette auf den Tisch und fuhr Christopher an: „So, ist er das nicht! Wie wollen Sie das denn beurteilen können? Meinen Sie vielleicht, Sie kennen mich so genau?“
„Nein, wahrscheinlich nicht, aber – “
„Dann haben Sie auch kein Recht auf ein Urteil!“
Er starrte sie fassungslos an, stand ruckartig auf und begann, trotz seines schmerzenden Beines, im Zimmer unruhig auf und ab zu marschieren. Heftig schlug er mit einer Hand in die andere. Etienne de Fontenay – ausgerechnet!
„Lieben Sie ihn?“, fragte er zornig.
„Das geht Sie nicht das Geringste an!“, fauchte Catherine und sprang von ihrem Sitz hoch.
„Und ob mich das etwas angeht!“, gab er ebenso gereizt zurück. „Schließlich habe ich versprochen, mich um Sie zu kümmern.“
„Ja, aber nur bis wir in Paris sind! Ihre klugen Ratschläge können Sie sich sparen!“
Er starrte sie aus zusammengekniffenen Augen finster an und atmete ein paarmal tief durch. „Nun gut. Sie müssen wissen, was Sie tun. Aber wenn ich Sie wäre, würde ich Etienne de Fontenay nicht heiraten.“
„Ach. Sie meinen wohl, Sie wären eine bessere Partie?“
„In einer Hinsicht gewiss! Aber habe ich Ihnen etwa einen Antrag gemacht?“
„Nein. Aber man könnte meinen, Sie hätten es vor, so wie Sie über meinen Verlobten herziehen!“
„Seien Sie nicht albern! Das Letzte, was ich mir wünsche, ist, mich an ein törichtes Frauenzimmer zu binden!“
„Töricht! Oh!“ Der beißende Sarkasmus, der in Deverells Stimme mitschwang, war verletzender als seine Wortwahl. Catherine wirbelte herum und wandte ihm den Rücken zu. „Ich glaube, Mr. Deverell, es ist besser, wenn wir unsere Reise in Zukunft getrennt fortsetzen! Sie haben ja Ihr Pferd und können reiten!“
„Das kommt überhaupt nicht in Frage! Bei dem Talent, das Sie haben, von einer Schwierigkeit in die nächste zu stolpern!“
Wütend drehte sie sich wieder zu ihm um und funkelte ihn an. „Ohne Sie würde ich weitaus besser zurechtkommen!“
„Ach, tatsächlich?“
Catherine verspürte das dringende Bedürfnis, ihm auf seine ironisch verzogenen Mundwinkel zu schlagen. „Lassen Sie mich endlich in Ruhe!“, knirschte sie.
Ein hartes Funkeln trat in seine Augen. Nicht die geringste Wärme war jetzt mehr darin. „Aber gewiss. Sobald wir Paris erreicht haben.“
Sie setzte zu einem wütenden Protest an, doch Deverell schnitt ihr mit einer energischen Geste das Wort ab. „Sparen Sie sich Ihren Widerspruch. Sobald ich Sie sicher bei den Fontenays abgegeben habe, sind Sie mich los. Bis dahin stehen Sie wohl oder übel unter meinem Schutz, egal ob es Ihnen oder mir gefällt.“
Er humpelte zur Zimmertür und öffnete sie. „Betrachten Sie diesen Punkt also als erledigt, Madam!“ Mit einem Krachen flog die Tür hinter ihm ins Schloss.
Ungläubig starrte Catherine auf die Tür. Wie konnte dieses empörende Individuum es wagen, so mit ihr zu reden! Und mit welch anmaßender Arroganz er einfach über sie verfügte! Mit welchem Recht bildete er sich ein, dass sie seine Begleitung künftig einfach so hinnehmen würde? Sie bedachte ihn mit allen Schimpfworten, die ihr einfielen, und ließ sich danach matt und atemlos auf ihren Stuhl fallen.
Missmutig starrte sie minutenlang auf die noch halbvolle Flasche Wein auf dem Tisch und das kaum angerührte Essen auf Christopher Deverells Teller. Mit dem Anflug eines schlechten Gewissens dachte sie darüber nach, dass dies ja eigentlich sein Zimmer war, aus dem sie ihn vertrieben hatte. Und das, obwohl er Schmerzen hatte und sicherlich erschöpft war, nachdem er sich wenige Stunden zuvor erst ihretwegen geschlagen hatte! Ihr schlechtes Gewissen verstärkte sich, und sie fragte sich, während sich ihr Atem allmählich beruhigte, wie es möglich war, dass sie so aus der Fassung geraten war. Natürlich hatte Mr. Deverell auch bei nüchterner Überlegung kein Recht, sich einzumischen! Und schon gar nicht stand es ihm zu, auf diese empörende Art mit ihr zu reden! Aber sie hatte ihn natürlich auch gereizt. Er hatte ihr aus allen möglichen Situationen herausgeholfen, und statt ihm dankbar zu sein, hatte sie ihm in ihrer Wut zu verstehen gegeben, seine Gegenwart sei ihr unangenehm. Kein Wunder, dass er da zornig geworden war. Wenn man dann noch bedachte, dass es ihm eigentlich nicht gutging … Und wenn sie ehrlich war, wollte sie im Grunde genommen sehr gern weiter mit ihm zusammen reisen. Auch wenn er sich unmöglich benommen hatte, so tat es ihr doch leid, was sie gesagt hatte. Ohne Zweifel hatten sie sich beide falsch und hitzköpfig verhalten, und sie konnte nur hoffen, dass er genauso zur Einsicht kommen würde wie sie.
Sie seufzte, erhob sich und schritt langsam zur Tür, um aus Deverells Zimmer zu verschwinden, ehe er zurückkäme. Sie hatte keine Ahnung, wie schnell er seinen Zorn überwinden würde, aber gemessen an der Heftigkeit seiner Reaktion war es vermutlich besser, ihm an diesem Abend erst einmal aus dem Weg zu gehen. Sie öffnete die Tür und spähte vorsichtig um die Ecke. Auf dem Gang war alles ruhig, und sie schlüpfte hinaus.
Ohne jemandem zu begegnen, gelangte sie die Treppe hinunter in den ersten Stock und in ihr eigenes Zimmer, wo sie sich kurze Zeit später müde und erschöpft auf ihr Bett fallen ließ. Sie schloss die Augen, um zu schlafen, doch ein gewisses Unbehagen, wenn sie an Christopher Deverells Worte zurückdachte, hielt sie noch wach. Seltsam, dass erst ihr Vater und jetzt Deverell, so verschieden sie sicherlich waren, sie beide vor Etienne warnten. Doch die Meinung ihres Vaters zählte nichts, und Mr. Deverell – nun, über seine Gründe zu spekulieren, hatte wahrscheinlich wenig Sinn. Sie verscheuchte daher alle beunruhigenden Gedanken, sagte sich, dass morgen sicherlich alles wieder ins Lot kommen würde, und schlief ein.
Christopher hingegen fand noch lange nicht seine Ruhe. Nachdem er sein Zimmer verlassen hatte, war er hinunter in die Gaststube gehumpelt und hatte sich eine Flasche Wein bestellt. Der Wirt hatte ihn verwundert angesehen, aber den verlangten Rotwein gebracht. Mechanisch trank Christopher ein Glas nach dem anderen, obwohl ihm der Wein eigentlich nicht sonderlich schmeckte. Aber auch das half ihm nicht, auf andere Gedanken zu kommen. Mit zusammengekniffenen Augen und gerunzelter Stirn brütete er unablässig darüber nach, dass Catherine Etienne de Fontenay heiraten wollte. Jeden anderen Verlobten hätte er akzeptiert, wenn sie ihn wirklich liebte. Aber ausgerechnet de Fontenay!
Christopher schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein und leerte es in einem langen Zug. Wütend stellte er das Glas wieder auf dem Tisch ab und lehnte den schmerzenden Kopf gegen die Wand hinter seinem Stuhl. Verdammt, jeder Knochen tat ihm weh, sein Schädel pochte unbarmherzig, und sein Magen war hohl, da er kaum etwas gegessen hatte. Er hätte es sich jetzt oben in seinem Zimmer bequem machen können, wenn er nicht so dumm gewesen wäre, in einem Wutanfall davonzurennen und Catherine dort zurückzulassen! Zum Teufel auch, er hatte sich benommen wie ein eifersüchtiger Trottel! Und natürlich hatte sie recht, wenn sie sagte, dass ihn ihre Verlobung eigentlich nichts anging, selbst wenn er noch so vernarrt in sie war! Er hatte fast von Anfang an gewusst, dass sie einen anderen Mann heiraten würde, und auch wenn es ihm schwergefallen war, das zu akzeptieren, so wusste er doch, dass ihm Ehre und Anstand keine andere Wahl gelassen hätten, als die Finger von ihr zu lassen. Aber de Fontenay! Es war nicht zu fassen!
Er presste die Lippen zusammen und verschränkte die Arme hinter dem Nacken, während der Wein allmählich seine Wirkung tat und sein Kopf zunehmend schwerer wurde. Seltsamerweise fühlte er sich durch den Alkoholnebel in seinem Gehirn in keiner Weise betäubt, auch wenn er sich das gewünscht hätte, und konnte immer noch klar denken.
Wenn es sich bloß um eine persönliche Feindschaft zwischen ihm und dem Marquis gehandelt hätte, überlegte er kopfschüttelnd, wäre er wahrscheinlich verstimmt, aber nicht so entsetzlich schockiert gewesen, als Catherine ihm den Namen nannte. Doch es war ja viel schlimmer! Und dennoch konnte er Catherine nicht so ohne Weiteres erklären, was mit ihrem Verlobten los war! Sie würde es sicher falsch verstehen oder ihn womöglich gar für einen eifersüchtigen Rufmörder halten. Also würde sie es allein herausfinden müssen. Aber wenn sie es nun zu spät erfuhr? Oder wusste sie es vielleicht sogar schon? Aber warum in drei Teufels Namen war sie dann bereit, de Fontenay zu heiraten?
Gewiss, es hatte immer Frauen gegeben, die es auf einen Titel und Vermögen abgesehen hatten, und die meisten hielten das noch nicht einmal für verwerflich. Viele meinten sogar, Geld und eine gesellschaftliche Stellung seien die beste Basis für eine gute Ehe. Gefühle spielten dabei häufig nur eine Nebenrolle. Aber war es wirklich möglich, dass Catherine Macpherson aus diesen berechnenden Gründen eine Ehe eingehen wollte? Bisher jedenfalls hatte er eher den Eindruck gehabt, dass sie sehr gefühlsbetont und warmherzig war. Sollte er sich wirklich so getäuscht haben? Sollte er auf ein hübsches Gesicht hereingefallen sein, so wie sein Vater damals kurz vor seinem Tod auf Helen Farrogate hereingefallen war?
Voller Zorn und Verbitterung trank er einen weiteren Schluck. Helen Farrogate! Diese infame kleine Intrigantin! Beinahe wäre sie seine Stiefmutter geworden, wenn es nach seinem Vater gegangen wäre! Die Hochzeit war sogar schon geplant gewesen, als dieses junge Mädchen aus guter Familie, in das sein Vater sich wie ein blinder Narr verguckt hatte, sich plötzlich einem Jüngeren zuwandte und die Verlobung platzen ließ. Gott, wenn er nur daran zurückdachte, wie er hilflos den Schmerz seines Vaters hatte ansehen müssen, ohne etwas dagegen tun zu können! Damals hatte er sich geschworen, nur eine Frau zu heiraten, die ihm ihre Liebe hundertprozentig bewiesen hätte.
Natürlich hatte er in den Jahren nach dem Tod seines Vaters manche nette Liebelei genossen. Aber er hatte niemals ernstlich sein Herz verloren. Und nun war er dabei, es aufs Spiel zu setzen für eine mehr oder weniger verlobte Frau! Er musste wirklich völlig den Verstand verloren haben!
Er stützte den Kopf auf die Hände und starrte trübsinnig in sein Weinglas. Wahrscheinlich war es sogar falsch gewesen, überhaupt anzudeuten, dass Etienne de Fontenay nicht der Richtige für sie war. Vielleicht würde sie jetzt erst recht zu Etienne halten, aus reinem Trotz heraus, selbst wenn sie herausfand, dass er –
„Verzeihen Sie, Monsieur“, unterbrach der Wirt seine Gedankengänge. „Wir müssen die Gaststube jetzt schließen. Es ist schon spät. Vielleicht wünschen Monsieur, dass ich ihm noch eine Flasche Wein aufs Zimmer stelle?“
„Nein. Danke, aber … ich glaube, ich habe genug getrunken.“
„War Mademoiselle Macpherson böse, weil Sie nicht wirklich krank sind, Monsieur?“
„Wie? … Äh, ja. Ihr gefiel mein … Verhalten nicht.“
„Machen Sie sich nichts draus, Monsieur. Ich glaube, dass Mademoiselle Macpherson Sie mag. Sie war ganz aufgelöst, als ich sagte, Sie fühlten sich nicht.“
„Wirklich? Sie scheinen Ihre Gäste ja aufmerksam zu beobachten“, brummte Christopher widerwillig.
Der Wirt grinste breit. „Als Gastwirt lernt man die Menschen kennen, Monsieur. Und vielen löst der Wein die Zunge. Man erfährt viel über die Probleme der Leute. Na ja, da fängt man dann eben an, auch auf diejenigen zu achten, die nicht von allein losreden.“
Mit hochgezogener Braue meinte Christopher: „Ist das so?“
„Nehmen Sie's mir nicht übel, Monsieur“, lachte der Wirt. „Aber es ist einfach zu offensichtlich! Denn, sehen Sie, als Sie hier ankamen, da haben Sie viel gelacht und waren freundlich. Und jetzt sitzen Sie hier ganz allein und schweigen trübsinnig vor sich hin. Da konnte ja nur die Dame dahinterstecken!“
Mit einem unterdrückten Lachen erhob Christopher sich. „Na gut, ich gebe es zu. Ich wusste nicht, dass ich so leicht zu durchschauen bin.“
„Machen Sie sich nichts draus. Ich konnte bisher noch jeden durchschauen. Und daher kann ich Ihnen auch versichern, dass Ihr Kummer unbegründet ist. Mademoiselle Macpherson mag Sie, da bin ich ganz sicher!“
Christopher zuckte die Achseln. „Ja, daran habe ich eigentlich nicht einmal einen Zweifel. Aber … Nun, was soll's. Ich glaube, ich sollte allmählich mal auf mein Zimmer gehen und schlafen.“
„Tun Sie das, Monsieur. Und Sie werden sehen, morgen ist Mademoiselle Macpherson bestimmt wieder ganz freundlich.“
Als Catherine am nächsten Morgen zum Frühstück herunterkam, saß Christopher Deverell bereits an einem Tisch, auf dem zwei Tassen Kaffee standen. Er erhob sich kurz bei ihrem Eintritt und zog ihr mit eisiger Höflichkeit den Stuhl zurecht, woraufhin sie mit einem unsicheren „Guten Morgen“ Platz nahm.
Schweigend saßen sie sich daraufhin gegenüber. Catherine faltete die Hände auf dem Schoß und musterte angelegentlich die karierte Tischdecke, während Deverell mit ausdrucksloser Miene durch sie hindurchzusehen schien.
Nach einigen Sekunden voller Anspannung richtete er dann doch das Wort an sie, mit kühler, unbeteiligter Stimme: „Es gibt kein Brot heute. Der Wirt sagt, die Getreidelieferung sei ausgeblieben, sodass nicht gebacken werden konnte.“
„Ach. Wie schade.“ Catherine trank einen Schluck aus ihrer Tasse. „Dafür schmeckt der Kaffee ganz vorzüglich.“
„Ja. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen?“
„Ja, danke. Und Sie?“
„Ausgezeichnet, danke.“
Sein Tonfall hätte nicht frostiger sein können, überlegte Catherine entmutigt und schwieg. Während sie darüber rätselte, wie sie mit diesem distanzierten Fremden umgehen sollte, der kaum noch eine Ähnlichkeit hatte mit dem humorvollen, warmherzigen Mann, den sie kannte, nippte sie lustlos an ihrem Kaffee.
Auch Deverell langte irgendwann nach seiner Tasse, trank kurz und stellte sie mit einem gelangweilten Blick auf die am Nebentisch sitzenden Gäste wieder ab.
Catherine biss sich auf die Lippen, nahm allen Mut zusammen und wagte einen neuen Anlauf: „Was macht Ihr Bein? Mir fiel gestern auf, dass Sie leicht humpelten.“
„Nichts von Bedeutung, danke der Nachfrage.“
„Und Sie fühlen sich gut? Ich meine … Sie sehen so blass aus.“
„Zuviel Wein auf nüchternen Magen. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.“
„Oh. Nun … dann ist das ja immerhin beruhigend.“
„Ja. Und ich bin froh festzustellen, dass Sie sich ebenfalls von der gestrigen Aufregung erholt zu haben scheinen.“
„Sie meinen …“
„Die vier finsteren Gesellen, die uns angegriffen haben.“
„Ach so. Ja, natürlich. Ich dachte, Sie meinen …“
„Ich meine was?“
Sie antwortete nicht, sondern senkte die Wimpern. Christopher betrachtete sie verwundert, nippte an seinem Kaffee, und über den Rand der Tasse hinweg trafen sich seine und Catherines Blicke, als sie wieder aufsah. Verblüfft entdeckte er in Catherines Miene ein belustigtes Zwinkern und zog fragend eine Augenbraue hoch.
„Oh, Christopher“, prustete Catherine lachend heraus. „Äh … ich meine natürlich Mr. Deverell! Das ist doch einfach entsetzlich. Diese höflichen Banalitäten! Können wir nicht bitte wieder normal miteinander reden und unseren Streit vergessen?“
Er blinzelte überrascht, doch dann blitzte ein erleichtertes Grinsen in seiner eben noch eisigen Miene auf. „Nichts lieber als das! Ich glaube, es ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht so schwergefallen, höfliche Konversation zu betreiben!“
„Mir auch nicht“, gestand Catherine mit einem befreiten Lächeln. „Und Christo… Mr. Deverell, es tut mir so schrecklich leid, was ich gestern zu Ihnen gesagt habe! Ich reise nämlich sehr gerne mit Ihnen, das müssen Sie mir glauben.“
Er zwinkerte ihr zu. „Bleiben Sie ruhig bei Christopher, das gefällt mir sehr gut. Sie sind mir also nicht mehr böse?“
Catherine schüttelte den Kopf. „Nein. Und Sie?“
Er lächelte träge. „Ich auch nicht.“
„Da bin ich aber froh. Ich hatte schon Angst, Sie wollten nichts mehr mit mir zu tun haben.“
„Hätte es Ihnen denn etwas ausgemacht?“
„Aber gewiss! Was denken Sie denn?“ Empört blinzelte sie ihn an.
Helle Lichter tanzten in seinen Augen, als er über den Tisch langte und ihre Hand ergriff. „Ich denke, dass Sie eine sehr impulsive und hitzköpfige Lady sind. Und darüber hinaus überaus anziehend und liebenswert. Ihr … Verlobter ist wirklich zu beneiden.“
Sich der Wärme seiner Hand nur zu bewusst, und das durchaus nicht unangenehm, errötete Catherine bis zu den Haarwurzeln. Dennoch schlug sie einen strengen Ton an: „Christopher, ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass –“
„Ich weiß“, fiel er ihr lachend ins Wort. „Aber da wir heute schätzungsweise Paris erreichen, werden Sie mir meinen kleinen Ausrutscher verzeihen. Schließlich muss ich Sie dann Ihrem Verlobten übergeben und sehe Sie vielleicht nie wieder.“
„Heute schon?“, staunte sie. „Das ist wunderbar!“
„Catherine“, stöhnte Christopher und zog seine Hand zurück, „Sie haben es, glaube ich, wirklich auf mein Selbstbewusstsein abgesehen. Finden Sie es denn kein bisschen schade, dass sich unsere Wege dort trennen?“
„Doch, natürlich. Aber wir können uns doch auch in Paris sehen.“
„Und was sagt der ehrenwerte Marquis de Fontenay dazu?“
„Er wird es sicher verstehen.“
Christopher verzog spöttisch den Mund. „Sie scheinen ihn doch nicht so gut zu kennen, wie Sie vorgegeben haben.“
Catherine zuckte die Achseln und blieb eine Antwort schuldig. Wenn sie eines vermeiden wollte, dann war das, sich mit Christopher auf eine erneute Diskussion über Etienne einzulassen.
Christopher erhob sich seufzend. „Nun gut, dann also auf nach Paris. Sie können es ja offenbar kaum abwarten, zu Ihrem Verlobten zu kommen.“
„Ganz recht!“, nickte Catherine energisch, nicht bereit, Christopher darüber aufzuklären, dass er sich irrte. Denn wenn sie ehrlich war, hatte sie es eigentlich überhaupt nicht mehr eilig.