Leseprobe Der Skandal um die geheime Braut

PROLOG

Ein erstes Treffen

„… diese fatale Verbindung stand unter einem schlechten Stern, sicherlich ein Unglück für beide Beteiligten.“

Charles Langdale, Memoiren von Mrs Fitzherbert

London

Juni 1820

„Mr Poole?“ Josiah Poole drehte sich um und sah sich einem großen, blassen Mann in einem schwarzen Mantel gegenüber.

„Kennen wir uns, Sir?“, erkundigte sich Poole.

Der Mann war tadellos gekleidet, mit einem hohen Kastorhut und einer feinen Hose. Poole hielt den Herren in seinem schwarzen Mantel und dem Halstuch für einen Büroarbeiter. Dazu passten auch der krumme Rücken und die Tintenflecke. Dazu besaß er die kalten, wissenden Augen eines Mannes, der sein Leben damit verbrachte, Bücher zu durchforsten und nach den kleinsten Fehlern zu suchen.

Es war Anfang Juni, aber die sommerliche Wärme hatte die kühle Luft in diesem Stadtviertel noch nicht durchdrungen. Das, so sagte sich Poole, war der Grund, warum er fröstelte.

Bis jetzt hatte Poole einen schönen Morgen genossen. Er hatte gerade erfreulicherweise einen neuen Klienten gewonnen – einen jungen Mann aus einer hochrangigen Familie. Der pralle Geldbeutel erfüllte Poole mit einer Zufriedenheit, die selbst die Schatten Londons nicht zu trüben vermochten.

„Wir sind uns noch nicht vorgestellt worden“, sagte der Büroarbeiter zu Poole. „Ich habe jedoch viel Gutes über Ihren Ruf als Geschäftsmann gehört.“

„Tatsächlich?“ Bei diesem Kompliment schwoll Pooles Brust an.

Poole war Anwalt. Er spezialisierte sich darauf, die Angelegenheiten von Herren zu lösen, die sich in einer ungünstigen finanziellen Lage befanden, insbesondere wenn diese im Schuldarrest landeten.

Das öffentliche Recht in England wies zahlreiche Besonderheiten auf. Eine davon war die Existenz zahlreicher Unternehmer, die sich dem Eintreiben von Schulden und der Bestrafung von Schuldnern widmeten. Ihre Schuldnerhäuser waren ein Teil dieses riesigen Mechanismus. Als eine Art Kreuzung zwischen einem Wirtshaus und einem Privatgefängnis waren dort Schuldner vorübergehend interniert. Die Idee dahinter war, ihnen eine letzte Chance zu geben, um ihren Verpflichtungen nachzukommen, bevor sie in ein weniger komfortables Gefängnis überstellt wurden, wie zum Beispiel Newgate oder Marshalsea.

Dass die von den Schuldnerhäusern erhobenen Gebühren dazu führten, dass die Schulden der Gefangenen noch weiter stiegen, war einer der kleinen Widersprüche des englischen Rechts, über die sich Poole keinerlei Gedanken machte. Sein Geschäft bestand darin, seine Klienten aus dieser Maschinerie herauszuholen und dann sein eigenes Honorar einzutreiben.

Sein neuester Klient war beispielsweise in dem von Henry Ross geführten Haus untergebracht worden. Der junge Mann hatte eine beträchtliche Summe an Poole gezahlt, in der Annahme, dass Poole ihm bei der schnellen Lösung seiner verschiedenen Probleme helfen würde – am besten, bevor sein adliger Vater von seinem derzeitigen Aufenthaltsort erfuhr. Poole würde diesem unglückseligen Herren helfen, Geld zu beschaffen, um seine Schulden zu begleichen oder zumindest einen Freund zu finden, der seine Kaution stellte. Poole war bei seinen Bemühungen stets gewissenhaft und ließ keinen Weg unversucht, wie zwielichtig und düster dieser auch sein mochte.

Poole musterte den Büroarbeiter vor sich. Dieser Mann war definitiv keiner der Gefangenen von Ross. Dagegen sprach die Qualität des schwarzen Mantels des Mannes. Poole bemerkte außerdem, dass die Finger des anderen zwar mit Tinte befleckt waren, sein Hemd jedoch makellos weiß war. Sein Kragen blieb trotz der feuchten Morgenluft tadellos steif.

„Es tut mir leid“, sagte Poole. „Was sagten Sie noch gleich, wer Sie sind?“

„Ein Mann, der einen Vorschlag für Sie hat“, antwortete der andere ruhig. „Wenn Sie mir folgen würden? Wir können etwas trinken und die Angelegenheit dabei besprechen.“

„Ich bin nicht geneigt, einem Mann zu folgen, der mir seinen Namen nicht nennt.“ Sein Geschäft zog von Natur aus eine ganze Reihe Taugenichtse und einige wirklich gefährliche Männer an.

„Eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme.“ Das Lächeln des Mannes war schmal. „Mein Name ist Carmichael.“

Sie lügen, dachte Poole sofort. „Haben Sie eine Visitenkarte?“

Anstatt ein Kartenetui zu zücken, zog Mr Carmichael – oder wie auch immer er wirklich heißen mochte – sein Taschenbuch aus dem Mantel und holte daraus ein gefaltetes Stück Papier hervor. Poole glättete es. Mit seinem geübten Auge stellte Poole schnell fest, dass es sich um einen Wechsel handelte, der auf die Privatbank von Ames & King ausgestellt war. Über fünfundzwanzig Pfund.

„Wie wäre es nun mit einem Drink, Mr Poole?“, hakte Carmichael nach.

Poole faltete den Wechsel wieder und steckte ihn in die eigene Tasche.

Mr Carmichael hatte nichts dagegen einzuwenden.

„Sehr gut. Wenn Sie uns den Weg weisen würden, Mr Carmichael?“

Kurz darauf saß Poole in der besten Taverne, die das Viertel zu bieten hatte – was zugegebenermaßen nicht viel zu sagen hatte – und wurde mit einer Flasche des besten Rotweins verwöhnt, den der Wirt in seinem Keller finden konnte. Auch das sagte nicht besonders viel, aber es zeigte, dass Mr Carmichael mehr Geld in der Tasche hatte als nur den einen Bankscheck.

„Auf Ihre Gesundheit, Sir.“ Poole hob sein Glas und trank. „Darf ich annehmen, dass Sie – oder einer Ihrer Klienten – einen Anwalt benötigen?“

Carmichael antwortete mit seinem eisigen Lächeln. „Tatsächlich vertrete ich eine andere Partei und diese benötigt jemanden mit Ihren besonderen Fähigkeiten. Man ist bereit, Sie großzügig für Ihre Zeit zu bezahlen. Und für Ihre Diskretion.“

„Diskretion ist für einen Mann in meinem Geschäft alles“, sagte Poole. „Was benötigt Ihr Klient?“

„Mein Klient hat ein gewisses Interesse an einer bestimmten Angelegenheit, die vor Gericht verhandelt wird, Mr Poole. Eine schwierige und öffentliche Angelegenheit. Eine Scheidung, um genau zu sein.“

„Nicht mein übliches Fachgebiet, Mr Carmichael.“

„Das ist mir bewusst“, erwiderte Carmichael. „Sie bevorzugen es, sich an Schuldnern zu bereichern. Aber in diesem Fall gibt es eine Heiratsurkunde, die auf eine frühere Verbindung mit einer noch lebenden Person hinweist.“

„Ah.“ Poole setzte eine mitfühlende Miene auf. Er hatte darin reichlich Übung.

Es stimmte zwar, dass Poole sich normalerweise nicht mit Ehesachen befasste, aber es stimmte auch, dass diese Art von Auftrag recht lukrativ sein konnte. Vor allem, wenn die betroffene Partei dringend Ergebnisse sehen wollte.

Wie viele andere Aspekte des englischen Rechts waren auch Scheidungen verworrene und widersprüchliche Angelegenheiten. In den meisten Fällen war es für den Mann jedoch recht einfach, Klage gegen seine Frau einzureichen, wenn diese die Grenzen des häuslichen Glücks übertrat. Die Kirche, das Gesetz und die Gesellschaft im Allgemeinen missbilligten weibliche Unmoral aufs Schärfste.

Aber für einen Mann, der eine unbefriedigende Ehe beenden wollte, gab es einige Hindernisse. Da war zum Beispiel die Angelegenheit der Gegenklage. Wenn die Beklagte (also die Ehefrau) einen eindeutigen Beweis dafür vorbringen konnte, dass der Kläger (also der Ehemann) sich mindestens genauso schändlich verhalten hatte wie sie, wurde die Scheidung abgelehnt.

Der Nachweis einer zweiten Ehe würde diesen Zweck hervorragend erfüllen.

Poole nahm noch einen Schluck Wein und dachte nach. Die Aufdeckung von Bigamie bedeutete, dass die zweite Ehe für ungültig erklärt wurde. Es würde jedoch auch bedeuten, dass der zweiten Ehefrau oder zumindest ihren männlichen Verwandten Schadenersatz und Unterhalt gezahlt werden müssten. Außerdem würde Bigamie, sofern sie nachgewiesen werden konnte, mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Gefängnisstrafe führen, ganz zu schweigen von der gesellschaftlichen Schande, die mit einer solchen Enthüllung einherginge.

Ein Mann wäre sicher bereit, außergewöhnliche Anstrengungen zu unternehmen, um all dies zu verhindern.

Poole sah Carmichael erneut an. Er musterte seinen feinen Mantel und sein makelloses Halstuch. Poole hielt sich über öffentliche Angelegenheiten auf dem Laufenden. Er las regelmäßig die Zeitungen, denn man wusste nie, was man in den Ausschreibungen oder den Todesanzeigen fand. Über Scheidungsfälle, die es bis ins Parlament schafften, wurde ausführlich berichtet.

Es wurde derzeit tatsächlich viel über eine bevorstehende Scheidung gesprochen. Eine äußerst öffentliche und prominente Scheidung, die bereits ziemlich hässlich geworden war. Diese Scheidung hatte Gerüchte über eine frühere Ehe mit sich gebracht. Gerüchte, die schon seit Jahren kursierten. Flugblätter waren veröffentlicht worden. Anschuldigungen wurden ausgetauscht.

Nein. Poole griff nach der Flasche und füllte sein eigenes Glas nach. Das kann nicht sein.

Aber … dieser Mantel war wirklich von hervorragender Qualität. Der Mann, der ihn trug, war hart, verschlossen und clever und hatte kein Problem damit, fünfundzwanzig Pfund zu überreichen, nur um sich Pooles Aufmerksamkeit zu sichern.

Poole nahm einen weiteren Schluck Wein. Er bemerkte, dass Carmichael seinen nicht angerührt hatte. „Darf ich Sie etwas fragen, Mr Carmichael?“

Carmichael zögerte einen Moment, bevor er nickte. Sein Gesicht blieb verschlossen. Poole war beeindruckt. Er hatte viele Jahre lang sowohl mit Karten als auch mit dem Gesetz gespielt. Ein wirklich undurchschaubarer Mann war eine Seltenheit.

„Dieser Klient von Ihnen“, begann Poole. Carmichael öffnete den Mund, aber Poole fiel ihm ins Wort. „Sagen wir lieber, diese Person, für die Ihr Klient sich interessiert. Ein Mann des öffentlichen Lebens? Sehr hochgestellt?“

Carmichael rührte sich nicht, was bereits Antwort genug war. Poole spürte, wie sein Herz – normalerweise ein schwer zu beeindruckendes Organ – heftig pochte.

Es ist möglich. Was sagt man dazu? Es ist wirklich eine Möglichkeit.

„Lebt seine Frau möglicherweise im Ausland?“, fuhr Poole fort. „Steht er im Verdacht, sich mit Ausländern und wer weiß wem noch einzulassen?“

Das schien Mr Carmichael endgültig zu genügen. „Mr Poole, möchten Sie diesen Auftrag nun übernehmen? Ich kann Ihnen eine Zahlung von zweihundert Pfund bei Ablieferung des Dokuments und der Bestätigung, dass es sich um die echte und originale Urkunde handelt, versprechen. Allerdings …“ Carmichael beugte sich ein wenig vor. Poole roch Pfefferminz und abgestandenen Kaffee in seinem Atem. „Ganz gleich, ob Sie mein Angebot annehmen oder nicht, wenn ich herausfinde, dass Sie auch nur ein Wort mehr gesagt haben, als für dieses Geschäft unbedingt notwendig ist, verspreche ich Ihnen, dass Sie so vollständig von der Erdoberfläche verschwinden werden, als wären Sie nie geboren worden.“

KAPITEL EINS

Eine unerwartete Einladung

„Diese Abendessen sind besonders gefällig – es gibt nichts, was den Fluss der Seele behindert, welch Festmahl der Vernunft es auch geben mag.“

Charlotte Bury, Das Tagebuch einer Hofdame

London

August 1820

„Sie sind da!“ Alice Littlefield nahm dem überraschten Diener das braune Papierpaket ab und hielt es über ihren Kopf. Alle Freunde und Familienmitglieder, die sich im vorderen Salon in der Orchard Street Nummer 9 versammelt hatten, jubelten und hoben ihre Punschbecher.

Rosalind Thorne lächelte Alice nachsichtig zu und hob ihren Becher und die anderen Gäste taten es ihr gleich. Alices Bruder George war hier, zusammen mit seiner Frau Hannah. Sanderson Faulks saß neben Honoria Aimesworth und Mr Clements.

Und natürlich stand Adam Harkness an Rosalinds Seite und trug sein ruhiges, umwerfendes Lächeln.

„Ich kann es nicht glauben!“, rief Alice und stürmte durch die kleine Versammlung zum Teetisch. „Sie sind wirklich hier!“

Sie ließ das Paket einfach auf den Tisch fallen und ließ sich auf dem nächsten Sessel nieder. Amelia McGowan – eine rundliche, rothaarige junge Frau – eilte zu Alice. Die beiden hielten sich an den Händen und lachten vor wortloser Aufregung.

Bis vor ein paar Monaten hatte Amelia als Dienstmädchen für Rosalind und Alice gearbeitet. Jetzt arbeitete sie daran, eine wohltätig arbeitende Schule für junge Frauen aufzubauen, die in Londons Haushalten angestellt waren und ihre Situation verbessern wollten. Dass sie gleichzeitig Alices Geliebte war, war ein Umstand, die ihre Freunde für sich behielten.

Adam nahm die Schere, die Rosalind für genau diesen Moment auf den Kaminsims bereitgelegt hatte. Er reichte sie Rosalind, die sie wiederum Amelia übergab, die sie schließlich an Alice aushändigte. Alice schnitt die Schnur des Pakets durch. Das Papier wurde zurückgeschlagen und gab die Sicht auf drei Quarto-Bücher frei, die in rotes Leder gebunden und mit goldener Schrift versehen waren:

EVERSWARD

EIN ROMAN

VON

A.E. LITTLEFIELD

Die versammelten Gäste spendeten erneut lautstark Beifall, mit Ausnahme des Dandys Sanderson Faulks, der sich auf dezenten Applaus beschränkte. Alice stand auf und nickte würdevoll wie eine Opernsängerin, die den Jubel des Publikums entgegennahm, und reichte dann die Bücher herum, damit sie von allen bewundert werden konnten.

„Herzlichen Glückwunsch, liebste Schwester.“ George gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Obwohl du immer dagegen warst, dass ich Romanautorin werde?“, fragte Alice neckisch. „Und du sicher warst, dass ich alle Hoffnung auf einen Lebensunterhalt aufgeben sollte?“

„Ärgere ihn nicht, Alice“, ermahnte sie Hannah, Georges kräftige, schwarzhaarige Frau fröhlich. „Er ist schrecklich stolz auf dich. Ich kann ihn kaum dazu bringen, über etwas anderes zu reden.“

„Das stimmt nicht“, sagte George entrüstet. „Ich kann sehr wohl über unser brillantes Kind und den Wahnsinn im Parlament sprechen.“

„Oh Gott, das lassen wir schön bleiben!“, stöhnte Honoria Aimesworth. Die blasse Frau mit einer Anmut, die sie sich über Jahre hinweg während strenger Benimmstunden angeeignet hatte, hatte ihr Leben nach einem Skandal und einer Tragödie neu gestaltet. Jetzt sorgte sie als Frau mit eigenem Vermögen und eigenem Willen für Aufsehen im haut Ton.

Rosalind hatte nicht erwartet, dass Honoria noch in der Stadt wäre, um an der Feier teilzunehmen. Es war August, und normalerweise hätte jeder, der es sich leisten konnte, die Hitze und den Gestank Londons gegen das Land oder den Kontinent eingetauscht.

In diesem Sommer war das Parlament jedoch zu einer Sondersitzung einberufen worden, um King Georges Antrag auf Scheidung von Queen Caroline zu prüfen, und die feine Gesellschaft war entschlossen, sich dieses Spektakel nicht entgehen zu lassen.

George Littlefield seufzte. „Ich glaube nicht, dass wir etwas dagegen tun können, Honoria. Ich habe gehört, dass die Scheidung des Königs sogar für Streitigkeiten unter den Schirmherrinnen von Almack’s gesorgt hat.“

Die versammelten Gäste wandten sich geschlossen Rosalind zu. Adam zog die Augenbrauen hoch und nahm eine höflich fragende Haltung ein.

„Mir ist sonst nichts weiter zu Ohren gekommen“, antwortete Rosalind kühl. Adams Augenbrauen wanderten noch höher. Tatsache war, dass Rosalind durchaus etwas zu Ohren gekommen war, aber jetzt war nicht die Zeit, hier etwas davon zu wiederzugeben.

„Nun, ich wäre nicht überrascht, wenn die Schirmherrinnen sich uneinig sind“, fuhr George fort. „Alle anderen sind es auch. Mit den endlosen Untersuchungen des Königs und der Rückkehr der Königin nach England in einem königlichen Umzug werden wir wahrscheinlich bald einen Papiermangel durch all die Sonderausgaben erleiden.“ George schrieb für den London Chronicle, eine dreimal pro Woche erscheinende Zeitung, die sich für ihren Verkauf stark auf Politik und Klatsch verließ.

„Es ist unmöglich, da noch hinterherzukommen“, stimmte Mr Clements zu. Ernest Clements leitete Rosalinds Lieblingsbibliothek. Er hatte bei den Bemühungen geholfen, Alices Buch voranzubringen, indem er sie einigen der prominentesten Besitzer von Buchhandlungen für Damen vorgestellt hatte. Daher hatte Rosalind es nur für richtig gehalten, ihn zur Feier einzuladen. „Ich musste zwei junge Männer einstellen, um Gäste hinauszuwerfen, die sich zu lautstark über die Nachrichten aufregen. Diesen Montag kam es im Lesesaal sogar zu einer Schlägerei.“

„War der Sieger für den König oder die Königin?“, fragte Alice.

„Oh, die Königin natürlich“, antwortete Mr Clements. „Fast alle sind für die Königin. Ihr Name ist es, den man auf der Straße ruft.“

„Das mag für die Lesesäle und die Straße stimmen“, schaltete sich Mr Faulks ein. „In den Clubs sind alle für den König.“

„Nun, König mag er sein“, sagte Amelia mit einem abfälligen Schnauben. „Aber er ist trotzdem ein Schuft. Der Mann zwang die Königin, eine seiner Mätressen als ihre Zofe zu behalten, und stellte dem Steuerzahler ihre Diamanten in Rechnung!“

„Meine Brüder würden jeden Mann verprügeln, der mich mit so wenig Respekt behandelt“, stimmte Hannah Littlefield ihr zu.

„Eine Warnung an dich, George“, sagte Honoria. „Ich persönlich hoffe, dass die Anwälte der Königin ihn mit der Aufdeckung seiner heimlichen Ehe mit einer Katholikin in große Bedrängnis bringen werden.“

Mr Clements, George und Hannah tauschten unsichere Blicke aus. Mr Clements war als Ernesto Javier Garcia Mendoza y Clemente geboren. Er hatte seinen Namen geändert, um der englischen Mode zu entsprechen, nicht aber seiner Religion abgeschworen, obwohl der öffentliche Vollzug der Messe weiterhin verboten war und Katholiken von einer Reihe von Berufen ausgeschlossen waren, darunter die Mehrheit der öffentlichen Ämter. Hannah war ihrerseits in eine große italienische Familie hineingeboren worden. Sie und George hatten in einer protestantischen Zeremonie geheiratet, aber sie hielt stillschweigend am Glauben ihrer Vorfahren fest. Seit seiner Heirat hatte George mehrere anonyme Flugblätter verfasst, die die Emanzipation der Katholiken behandelten.

Mr Clements ergriff als Erster das Wort. „Miss Aimesworth, Sie lassen die Tatsache, dass sie Katholikin ist, wie ein größeres Vergehen klingen als die heimliche Eheschließung.“

„Ich bitte um Verzeihung, Mr Clements“, sagte Hannah. „Ich hätte bei der Wortwahl vorsichtiger sein sollen. Ich wollte das Brechen des Erbfolgegesetzes und das Verschweigen seiner Ehe anprangern. Nicht die Religion der Dame.“ Mr Clements neigte, der Antwort gewogen, den Kopf.

„Ich werde Seine Majestät nicht verteidigen“, sagte George. „Aber er hat einige Gründe, sich über die Königin zu beschweren. Es gibt wirklich keine Entschuldigung dafür, dass sie mit einer solchen Meute durch Kontinentaleuropa zieht …“

Das war zu viel für Alice. „Rosalind, du musst verbieten, dass noch mehr über die Scheidung des Königs gesprochen wird. Ich will das auf meiner Feier nicht hören!“

„Ich stimme dir zu, Alice“, sagte Rosalind. „Dies ist eine Feier, und wir sollten uns nicht über kontroverse Themen streiten. Mr Faulks, Sie haben vorhin angedeutet, dass Sie interessante Neuigkeiten von Ihrem Freund beim Edinburgh Review haben. Was können Sie uns erzählen?“

Sanderson, der es nie versäumte, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, straffte die Schultern. „Wie es der Zufall will, habe ich erfahren, dass in der nächsten Ausgabe möglicherweise ein bestimmter neuer Roman erwähnt wird.“

„Oh!“ Alice schlug sich beide Hände vor den Mund. Amelia drückte ihre Schulter. „Sie haben nicht … Er hat doch nicht gesagt …“

„Natürlich konnte ich nicht direkt fragen, ob eine solche Erwähnung positiv ausfallen wird.“ Sanderson sprach bedauernd in seinen Punschbecher hinein. „Aber es ist möglich, dass ich später ein oder zwei Worte dazu aufgeschnappt habe, als wir einen Drink zu uns nahmen. Ich glaube, dass alle Littlefields mit den Ergebnissen sehr zufrieden sein werden.“

„Oh!“, rief Alice erneut aus. Sie lief auf Amelia, George und Hannah zu, umarmte sie und drehte sich dann zu Sanderson um – plötzlich voll Anstand und höflichem Auftreten – und machte einen Knicks. Sanderson legte eine Hand auf seine Brust, achtete darauf, die Falten seines kunstvollen Halstuchknotens nicht durcheinanderzubringen, und deutete mit dem Kopf eine Verbeugung an.

Die Anwesenden lachten über diese Zurschaustellung und das Gespräch drehte sich schnell um Kleinigkeiten, einfachen Klatsch und Geschichten über Familie und Freunde.

Für Rosalind war es fast zu viel, um es zu verarbeiten.

Bis vor kurzem hatte sie auf Messers Schneide gelebt. Sie hatte die Möglichkeit, sich in ihrer derzeitigen Situation wiederzufinden – als Inhaberin eines komfortablen und unabhängigen Geschäfts, das ein nützliches und erfülltes Leben ermöglichte –, schon so gut wie aufgegeben.

Jetzt, da sie von so vielen Freunden umgeben war, spürte Rosalind, wie ihr Herz vor Stolz und Dankbarkeit anschwoll, was sie sich nur selten erlaubte.

Adam bemerkte dies natürlich und rückte noch ein Stück näher an sie heran.

„Du strahlst wie ein Diamant“, murmelte er.

„Und du bist ein Schmeichler“, erwiderte sie leise.

Er zog eine Augenbraue hoch. Sie hob ihr Kinn. Er setzte sein typisches schiefes Grinsen auf, das seine blauen Augen erhellte und sie an die Augenblicke erinnerte, in denen niemand außer ihnen beiden in diesem Zimmer war. Rosalind spürte, wie sich ihre Wangen zu erwärmen begannen.

„Hab Gnade mit mir“, hauchte sie.

„Wenn es das ist, was du wünschst“, antwortete er.

„Fürs Erste.“

Diese skandalöse Äußerung wurde mit Adams plötzlichem Erröten belohnt. Rosalind versuchte, ihr Grinsen hinter ihrem Punschbecher zu verbergen, aber sie lief Gefahr, in einen Anfall unwürdigen Kicherns auszubrechen.

Glücklicherweise wurde sie davor bewahrt, als ihr neu eingestellter Bediensteter, Mortimer, die breiten Türen zum Speisesaal öffnete und verkündete: „Das Essen ist angerichtet.“

Rosalinds größter Trumpf, wenn es um die Bewirtung von Gästen ging, war ihre Köchin, Mrs Singh. Als sie noch mit ihrer Familie in Indien gelebt hatte, war Mrs Singh in den Küchen englischer Haushalte aufgewachsen. Dort hatte sie die Techniken der französischen und englischen Küche kennengelernt sowie die englische Sprache gemeistert. Mrs Singh lebte nun schon seit einigen Jahren in London und war froh, die harte Arbeit in einem großen Anwesen gegen Rosalinds kleineres Zuhause eingetauscht zu haben. Der Vorteil für sie waren geregeltere Arbeitszeiten und die Möglichkeit, abends nach Hause zu ihrer Schwester und deren Kindern zu fahren.

Als Mrs Singh herausfand, dass Rosalind pikante Aromen schätzte, begann sie, Gerichte aus ihrer Heimat Punjab in ihre Menüs aufzunehmen. Ihre Samosas, Tikkas und scharfen Gemüseragouts brachten willkommene Abwechslung in das sonst so starre englische Abendessen.

An diesem Abend hatte Mrs Singh sich selbst übertroffen. Sie mochte Aliceund hatte all ihre beachtlichen Talente für die frisch gebackene Autorin aufgefahren. Es gab eine Fischsuppe, gefolgt von einer Lammkeule, begleitet von einem Gemüse-Biryani und einer Reihe von Beilagen aus jungem Gemüse, kleinen Kartoffeln und Frischkäsecreme. Gekrönt wurde das Ganze von einem Dessert aus zuckergussüberzogenem Kuchen und süßen Knödeln.

Vom Kuchen waren inzwischen nur noch Krümel übrig und Rosalind wollte gerade vorschlagen, dass die Gesellschaft zum Tee in den Salon zurückkehren sollte, als aus den Tiefen des Hauses ein lautes Klopfen ertönte.

„Was um alles in der Welt?“, rief Alice aus.

Jemand, erkannte Rosalind, hämmerte gegen die Küchentür. Für einen Moment verstummten alle Gespräche, während Mortimer geschwind hinauseilte, um nachzusehen, was los war.

„Hast du wieder Ärger, Rosalind?“, fragte Honoria.

„Nicht, dass ich wüsste“, antwortete Rosalind. Aber sie begann trotzdem, im Kopf die Liste ihrer aktuellen Verpflichtungen durchzugehen.

Das Haus war klein genug und nicht so massiv gebaut, dass manchmal Stimmen aus dem Keller auch oben zu hören waren. Was gerade jetzt sämtliche Gäste bezeugen konnten. Die Worte waren undeutlich, aber der Tonfall klang laut und eindringlich.

Adam wischte sich die Hände an seiner Serviette ab. „Soll ich …?“, setzte er an. Bevor er aufstehen konnte, war Mortimer bereits mit einem gefalteten Zettel in der Hand zurückgekehrt.

„Entschuldigen Sie, Miss Thorne“, sagte Mortimer. „Aber der Mann sagt, es sei äußerst dringlich, und er besteht darauf, sofort eine Antwort zu erhalten.“

Rosalind runzelte die Stirn, stand auf und nahm ihm den Zettel ab. „Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment“, sagte sie zu ihren Gästen.

Rosalind zog sich in den hinteren Salon zurück, den sie als Schreibzimmer nutzte. Sie wollte die Tür schließen, reagierte aber nicht schnell genug. Sowohl Adam als auch Alice waren bereits eingetreten.

Adam schloss die Tür. Alice eilte zu Rosalind.

„Was ist los?“

Rosalind begutachtete das gefaltete Papier von allen Seiten. Es war schwer und die Tinte ziemlich dunkel, was darauf hindeutete, dass dieses Schreiben von einer wohlhabenden Person stammte. Das Siegelwachs war scharlachrot und mit einem geschwungenen F bedruckt. „Ich erkenne weder die Handschrift noch das Siegel.“

Rosalind brach das Siegel und entfaltete das Schreiben. Wie üblich las sie zuerst die Unterschrift. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck.

„Rosalind? Was ist los?“, wollte Adam wissen.

„Es ist eine … Bitte um einen Besuch.“ Die Überraschung hatte ihr die Kehle ausgetrocknet. Sie schluckte und versuchte es erneut. „Sofort.“

„Um diese Uhrzeit? Das wirkt ein wenig voreilig“, sagte Alice. „Von wem ist es?“

Rosalind musste erneut schlucken. „Mrs Maria Fitzherbert.“

Die Mrs Fitzherbert …?“, setzte Adam an.

„Du meinst doch nicht …“, sagte Alice zeitgleich.

„Doch“, sagte Rosalind. „Die meine ich. Das ist von der Mrs Fitzherbert.“ Sie begegnete ihren erschrockenen Blicken. „Der Frau des Königs.“

KAPITEL ZWEI

Die skandalträchtigste Frau in London

„Über sie wird ausschließlich gesagt, ihr Charakter sei tadellos und ihre Manieren höchst gefällig.“

Charles Langdale, Memoiren von Mrs Fitzherbert

Es gab nur sehr wenige gesicherte Fakten über Maria Fitzherbert und den Mann, der nun König George IV. war.

Als Prince of Wales und Junggeselle hatte sich George Augustus Frederick of Hanover mit Maria Fitzherbert, einer zweimal verwitweten katholischen Frau, eingelassen. Sie war mehrere Jahre lang die Frau an seiner Seite gewesen und war täglich mit ihm in der Öffentlichkeit gesehen worden. Er trug ihr Antlitz auf einer Gemme um den Hals. Mrs Fitzherbert wurde in den besten Häusern empfangen. Tatsächlich galt es für jede Gastgeberin als großer Erfolg, wenn sie an einer Veranstaltung teilnahm, denn wo Mrs Fitzherbert hinging, folgte ihr der damalige Prinz.

Nach und nach verschlechterte sich jedoch die Beziehung, und der Prinz wurde immer häufiger mit Frances Villiers gesehen, die damals Lady Jersey hieß. Mrs Fitzherberts Name blieb ein Schlagwort für die berüchtigte Verschwendungssucht des Prinzen, aber sie selbst verschwand aus der Öffentlichkeit.

Alles andere waren Gerüchte. Diese Gerüchte hielten sich jedoch allgegenwärtig und bemerkenswert hartnäckig. Das hartnäckigste darunter besagte, dass Mrs Fitzherbert und der Prinz von Wales irgendwann heimlich geheiratet hätten.

Eine solche Ehe wäre, falls sie geschlossen worden wäre, illegal gewesen. Der Royal Marriages Act schränkte die Umstände, unter denen die Prinzen und Prinzessinnen heiraten konnten, streng ein. Das Gesetz verbot dem Thronfolger, ohne die Zustimmung des Monarchen und des Parlaments eine englische Staatsbürgerin zu heiraten. Sollte der Thronfolger versuchen, eine Katholikin zu heiraten, gäbe er damit außerdem seinen Platz in der Thronfolge auf. Er verlöre auch alle seine Titel und Privilegien, einschließlich seines (beträchtlichen) Einkommens aus der Staatskasse.

Für einen Mann wie den Prince Regent, der Hunderttausende Pfund Schulden hatte, hätte Letzteres die größte Abschreckungswirkung haben müssen.

Trotzdem hielten sich die Gerüchte. Sie hielten sich sogar noch, nachdem Prince George Caroline von Braunschweig geheiratet und mit ihr ein Kind gezeugt hatte. Selbst nachdem er erst Mrs Fitzherbert, dann Lady Jersey und schließlich Lady Hertford öffentlich verstoßen hatte.

Sie kamen mit voller Wucht zurück, nachdem Georg III. gestorben war und der Prince Regent selbst den Thron bestieg.

Rosalind hatte zwar all die üblichen Gerüchte zu diesem Thema gehört, aber nie viel darüber nachgedacht, ob diese heimliche Verbindung tatsächlich stattgefunden hatte. Spekulationen über das Privatleben der königlichen Familie waren ein beliebter Zeitvertreib für die Presse und die Menschen aus allen Ständen der Gesellschaft, und wenn es nur wenige Fakten gab, füllte die Fantasie üblicherweise die Lücken. Es kam sogar einmal das Gerücht auf, dass der bodenständige, traditionelle König George III. heimlich eine Quäkerin namens Hannah Lightfoot geheiratet habe.

Aber niemand hatte diese Hannah Lightfoot jemals zu Gesicht bekommen.

Maria Fitzherbert jedoch hatte jeder gesehen.

Und nun, so schien es, würde Rosalind ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen.

***

Alice erklärte sich bereit, die Pflichten der Gastgeberin zu übernehmen, damit ihre Feier fortgesetzt werden konnte. Sanderson meldete sich freiwillig, um Rosalind seine Kutsche samt Kutscher zu leihen, sodass die Beschaffung eines Transportmittels sofort geregelt war.

„Im Gegenzug erwarte ich eine vollständige Beschreibung der Dame und ihres Verhaltens“, sagte Sanderson zu Rosalind. „Nach der Rückkehr der Königin ist die Welt gespannt, was Mrs Fitz vorhat.“ Sanderson war ein sehr gefragter Gast bei Abendessen, auch weil die Gastgeberinnen in London wussten, dass er eine Quelle amüsanten Tratsches war.

„Darf ich mitkommen?“, fragte Amelia. „Sie werden jemanden brauchen, der sich mit dem Personal unterhalten kann.“

„Werden wir das?“ Rosalind zog die Augenbrauen hoch.

„Nun, irgendetwas ist schiefgelaufen, sonst würde sie Sie nicht rufen, oder?“, erklärte Amelia sich. „Sie müssen also wissen, was man unten im Haus so erzählt.“

„Du würdest mich für die Chance, ein paar Klatschgeschichten zu hören, allein zurücklassen?“, rief Alice empört.

„Niemals!“ Amelia schlang ihren Arm um Alices Taille und drückte sie liebevoll. „Ich lasse dich für königliche Klatschgeschichten allein zurück.“

Rosalind gelang es kaum, ernst zu bleiben. „Amelia, bitte bleiben Sie hier und helfen Sie Alice, sich um unsere Gäste zu kümmern. Wenn sich herausstellt, dass ich Ihre Hilfe brauche, verspreche ich, dass ich nicht zögern werde, Sie darum zu bitten.“

Die ganze Zeit über stand Adam mit hinter dem Rücken verschränkten Händen da, als würde er darauf warten, dass er an die Reihe kam. Als Rosalind ihn schließlich ansah, lächelte sie entschuldigend.

„Würdest du mich begleiten?“, fragte sie. „Wenn die Situation so ernst ist, dass sofortiges Einschreiten erforderlich ist, könnten wir deine Hilfe gebrauchen.“

„Wenn du nicht gefragt hättest, wäre ich dir einfach so gefolgt.“

Daran hatte Rosalind keinen Zweifel. Sie war sich sicher, sich selbst schützen zu können, und Adam respektierte ihr Urteilsvermögen und ihre Fähigkeiten. Aber sie war nicht dumm. Eine Frau, die nach Einbruch der Dunkelheit allein unterwegs war, konnte selbst in normalen Zeiten – und diese waren es definitiv nicht – zur Zielscheibe von Unruhestiftern werden. Londons Straßen waren unruhig. Es wurde allgemein angenommen, dass Königin Caroline vom König grausames Unrecht angetan worden war. Londoner aller Klassen und Schichten gingen in ihrem Namen auf die Straße. Es kam nicht nur zu Kämpfen in ansonsten ruhigen Einrichtungen wie der Bibliothek von Mr Clements, sondern auch zu Hauseinbrüchen, Kutschen wurden angehalten und die Kutscher heruntergezogen, wenn sie sich weigerten, ihre Hüte abzunehmen und „Gott schütze die Königin“ zu rufen. Adams Anwesenheit könnte zumindest einige Sorten von Ärger verhindern, bevor sie überhaupt entstehen konnten.

Aber nicht nur die öffentlichen Unruhen ließen Rosalind zögern. Ihre Arbeit für die Damen des Ton hatte mehr als einmal den Umgang mit den Folgen von Erpressung, Diebstahl und sogar Mord beinhaltet. Sie war sich völlig bewusst, dass häusliche Probleme sehr bitter verlaufen und die Beteiligten zur Verzweiflung bringen konnten. Mrs Fitzherbert stand im Mittelpunkt der Scheidungsklage, die der König gegen die Königin anstrengte. Oder wenn sie es noch nicht tat, so würde das bald der Fall sein.

Zu welchen Verzweiflungstaten könnte das die Beteiligten bringen?

Letztendlich erreichten Rosalind und Adam ihr Ziel ohne Zwischenfälle. Die Tilney Street lag in einem ruhigen, wohlhabenden Viertel. Mrs Fitzherberts Haus, Nummer sechs, war ein großes Anwesen. Die ansonsten schlichte Fassade stach aufgrund der vielen anmutigen Fenster hervor, insbesondere in Form des geschwungenen Wintergartens in der ersten Etage, der den weitläufigen ummauerten Garten an der Seite des Hauses überblickte.

Wenn der Mob heute Abend unterwegs war, so war die Wahl auf andere Orte gefallen. Dennoch sah sich Adam einen langen Moment lang auf der sich verdunkelnden Straße um, bevor er Rosalind aus der Kutsche half. Als sie gemeinsam zur Tür gingen, spürte sie eine deutliche Anspannung, die von ihm ausging.

„Was ist los?“, murmelte Rosalind.

„Wir werden beobachtet“, antwortete er ebenso leise. „Oder das Haus wird beobachtet.“

Rosalind unterdrückte ein Zittern. Es fiel ihr schwer, den Impuls, sich umzublicken, zu unterdrücken. Adam jedoch hielt seinen Blick starr nach vorne gerichtet und sie folgte seinem Beispiel, ohne weitere Fragen zu stellen.

Sie erreichten die Tür. Sowohl die Laterne als auch der Türklopfer waren an ihrem vorgesehenen Platz, was darauf schließen ließ, dass der Inhaber derzeit anwesend war. Adam klopfte an und die Tür wurde sofort von einem jungen Diener in auffälliger scharlachroter Uniform geöffnet.

Das war eine Überraschung. Es galt als unausgesprochene Regel, dass nur die Dienerschaft des Königshauses Scharlachrot trug. Rosalind verspürte den Drang, die Augenbrauen hochzuziehen.

„Miss Thorne und Mr Harkness für Mrs Fitzherbert“, sagte Adam zu dem Diener.

„Guten Abend, Miss Thorne. Mr Harkness.“ Der Mann verbeugte sich. „Meine Herrin erwartet Sie und hat mich angewiesen, Sie sofort einzulassen. Hier entlang bitte.“

Als sie dem Diener die breite Treppe hinauf und den mit Teppich ausgelegten Flur entlang folgten, spürte Rosalind einen unentschuldbaren Anflug von Kribbeln im Bauch. Sie hatte Frauen auf vielen Sprossen der sich wandelnden und unsicheren Leiter der Gesellschaft getroffen und ihnen geholfen. Mrs Fitzherbert gehörte jedoch einer völlig anderen Klasse an. Ihr Name war ein Schlagwort in der Gesellschaft. Früher war er täglich in den Zeitungen zu lesen gewesen. Er war auf Einladungskarten abgedruckt, die unter den höchsten Mitgliedern des Ton zirkulierten. Er war in erschütternden – und fast verleumderischen – Pamphleten erschienen. Er wurde im Parlament in hitzigen Debatten geschrien.

Jeder wusste, wer sie war, und doch konnte man sich auch nach all dieser Zeit nicht darauf einigen, was genau sie war. Einige meinten, sie sei eine tugendhafte Frau, die sich geweigert habe, sich einem Mann außerhalb der Ehe hinzugeben – selbst wenn dieser Mann der Thronfolger war. Für andere war sie die schlimmste Sorte von Opportunistin, die ihre weiblichen Reize einsetzte, um sich zu bereichern, ihre Position zu stärken und vielleicht sogar die Krone zu beanspruchen. So war es eine Überraschung für Rosalind, als sie in den Salon geführt wurden, und ihr als Erstes das Wort mütterlich in den Sinn kam.

Maria Fitzherbert war klein und rundlich. Ihr dunkles Haar war von silbernen Strähnen durchzogen und größtenteils von einer bescheidenen Spitzenkappe bedeckt. Ihr Kleid war aus schwarzer Seide von bester Qualität gefertigt und verbarg nicht den Umstand, dass ihr Busen und ihre Hüften umfangreicher waren, als derzeit als modisch galt. Ihr Gesicht war von Lachen und Sorgen gezeichnet und ihre großen dunklen Augen schauten ebenso intelligent wie besorgt.

Um den Hals trug sie eine bemalte Gemme an einem blauen Samtband. Rosalind versuchte zu ignorieren, dass sie das Antlitz des früheren Prince of Wales zeigte.

Mrs Fitzherbert trat vor, um Rosalinds Hand zu ergreifen. „Danke, dass Sie so schnell gekommen sind, Miss Thorne. Ich entschuldige mich für die späte und übereilte Einladung.“

„Mrs Fitzherbert, ich freue mich, Sie kennenzulernen“, erwiderte Rosalind. „Darf ich Ihnen Mr Adam Harkness vorstellen?“

„Mrs Fitzherbert.“ Adam verbeugte sich.

„Mr Harkness?“, wiederholte Mrs Fitzherbert. „Mir ist, als hätte ich Ihren Namen schon einmal gehört. Sind Sie von der Bow Street?“ Die Sorgenfalten auf der Stirn der Dame vertieften sich.

„Ich bin in rein privater Funktion hier“, antwortete Adam. „Angesichts der Dringlichkeit Ihrer Nachricht wollte Miss Thorne nicht, dass es zu Verzögerungen kommt, sofern zusätzliche Hilfe benötigt wird.“

„Ja, ja. Sehr richtig, da bin ich mir sicher. Vielen Dank für Ihr Mitdenken.“ Mrs Fitzherberts Stimme klang atemlos und unsicher. Es war offensichtlich, dass sie recht aufgebracht war. Aber das Haus wirkte ansonsten still. Der gemütlich eingerichtete Raum war ruhig und gut gepflegt, mit hell erleuchteten Lampen und einem lodernden Feuer im Kamin.

„Möchten Sie sich nicht setzen?“ Mrs Fitzherbert deutete auf zwei Brokatsessel und nahm selbst auf einem gestreiften Sofa Platz. Wie Mrs Fitzherberts Kleidung waren auch alle ihre Möbelstücke von bester Qualität und durch und durch modisch.

„Ich … ich weiß kaum, wo ich anfangen soll.“ Mrs Fitzherbert faltete die Hände. „Ich dachte, wir trinken etwas Tee, aber“ – Sie deutete hilflos auf den leeren Tisch – „das hier ist wohl kaum ein gewöhnlicher Anstandsbesuch, nicht wahr?“

„Das ist es nicht“, stimmte Rosalind zu. „Und es tut mir leid, dass überhaupt die Notwendigkeit dafür besteht. Aber wir sollten die Angelegenheit vielleicht ganz direkt ansprechen? Es ist offensichtlich, dass etwas Beunruhigendes vorgefallen ist.“

„Ja, so ist es.“ Mrs Fitzherbert holte tief Luft. „Aber die Situation ist äußerst heikel und ich muss Sie um absolute Diskretion in dieser Angelegenheit bitten.“ Ihr Blick huschte zu Adam.

„Alles, was Sie Mr Harkness oder mir sagen, wird streng vertraulich behandelt“, versicherte Rosalind ihr.

Ein Schatten von Verärgerung huschte über Mrs Fitzherberts Miene. Rosalind fragte sich, wie oft ihr Gegenüber dieses Versprechen schon gehört hatte, nur um dann enttäuscht zu werden. Mrs Fitzherbert knetete ihre fülligen Hände, während ihr Blick von Rosalind zu Adam und dann zu einem gemalten Porträt über dem Kamin wanderte. Das Porträt zeigte zwei dunkelhaarige Mädchen – eines noch ein Kind, das andere in der Pubertät. Beide trugen weiße Rüschenkleider und hielten weiße Rosen in den Händen. Der Anblick der gemalten Gesichter schien etwas in Mrs Fitzherbert zu verhärten.

„Ich bin bestohlen worden“, sagte sie. „Es ist heute passiert, während ich außer Haus war.“

„Was wurde entwendet?“, fragte Adam.

Mrs Fitzherbert zögerte. Sie knetete wieder ihre Hände. Als sie sprach, klang ihre Stimme leise und heiser. „Meine Heiratsurkunde.“

Rosalind blinzelte. „Ihre …“

„Meine Heiratsurkunde“, wiederholte Mrs Fitzherbert. „Unterzeichnet und bezeugt. Über meine Ehe mit George Augustus Frederick of Hanover, damals noch Prince of Wales.“