Kapitel 1, Anfang September 1878, Gut Hohenlinden bei Adorf im Vogtland
Helene
Helene bebte. Es verlangte sie nach einem Schrei, doch sie atmete nur ein paarmal tief ein und aus. Die würzige Morgenluft flutete ihre Lungen und bescherte ihr eine Gänsehaut. Aus den Augenwinkeln sah sie den Dunst, der den Nüstern ihres Pferdes entwich.
Ich kann dieses Gefühl nicht mehr ertragen. Es muss einen Ausweg für mich geben. Ich will endlich wieder frei sein … Doch selbst der härteste Galopp und die wohltuende Wärme ihres Pferdes erlösten ihr steifgefrorenes Inneres nicht. Es schien unmöglich, der Wahrheit, die ihr aus jeder Pore troff, zu entkommen.
Der leichte Stoff ihres sommerlichen Reitkleides hatte sich vor ihr aufgebauscht, als sich Helene vor Minuten energisch in den Sattel geschwungen und ihrem braunen Hengst etwas ins Ohr geflüstert hatte. Sie wusste, das Rascheln des Stoffes würde Golden anstacheln, und ja, das elegante Tier hatte seine Hufe hart ins nebelfeuchte Gras gesetzt. Nun verfielen sie in einen steten Galopp. Sie konzentrierte sich auf die Spannung in ihren Muskeln, spürte hoffend in sich hinein. Bald schon fühlte sie jede Faser ihres Körpers, pochend vernahm sie ihr Herz in den Schläfen. Längst hatte sich die kühle Morgenluft den Weg durch den Stoff ihrer Jacke gesucht und die Härchen auf ihren Armen aufgerichtet. Ihr braunes Haar war zerzaust, doch sie hielt nicht an. Verbissen versuchte sie, dem nagenden Gefühl davon zu galoppieren, das sich tief in ihre Eingeweide gebohrt hatte.
Helene liebte diese Zeit am Tag, wenn er jung an Stunden, seine Schönheit nur für sie allein zu entfalten schien. Die Sonne stand noch niedrig und einzig die Burschen und Mägde gingen in den Stallungen von Gut Hohenlinden in der Nähe des vogtländischen Adorf, bereits ihrem Tagwerk nach.
Und so war sie erpicht darauf gewesen, diesen herrlichen Spätsommermorgen ohne beobachtet und gemaßregelt zu werden, auf dem Rücken ihres Lieblingspferdes zu begrüßen. Sie hatte sich nach dieser einsamen Stunde gesehnt, denn es war Zeit für eine Entscheidung. Im Einklang mit der Natur glaubte sie, endlich einen Ausweg zu finden.
Vor nicht einmal fünfzehn Minuten hatte sie den Innenhof des Gutes schnellen Schrittes auf Zehenspitzen durchquert, um ungehört zu den Stallungen zu gelangen. Fast schon schien ihr Ziel erreicht, als sie ihren Hut vermisste. Zögernd hatte sie sich nach der Kellertreppe umgesehen, von der sie gekommen war.
Bei dem Gedanken jedoch, zurückgehen zu müssen, um Mutters Ansprüchen zu genügen, stöhnte sie unmerklich auf. In den Wirtschaftsräumen des Gutshauses wäre ihr der Majordomus Hans Hofstetter begegnet, denn dieser hatte die Angewohnheit, immer da lautlos aufzutauchen, wo man ihn nicht vermutete. Überall schien der Mittfünfziger präsent zu sein und über alles, was auf dem Gut geschah, zu wachen. Er hätte dafür Sorge getragen, dass einer der Stallburschen sie begleitete. Dann wäre es vorbei gewesen mit ihrer Freiheit und der Möglichkeit, endlich ein Stündchen für sich zu sein. Und so hatte sie nach ihrem Bernstein gegriffen, den sie seit einigen Wochen an einer Kette um den Hals trug, ihn vorsichtig unter dem Kragen ins Kleid geschoben und entschieden, ohne den unbequemen Hut auszureiten. Hastig war sie durch eine schmale Seitentür in den Stall gehuscht.
Ihr letzter Ausritt war eine Weile her. Nach einem beherzten Sprung über einen Weidezaun hatte dieser leider mit einer unsanften Landung geendet. Das Bild ihrer echauffierten Mutter, die entgeistert über ihr derangiertes Aussehen, sofort ein Reitverbot ausgesprochen hatte, stand ihr noch immer vor Augen. Kurz zögerte Helene, doch sie vermisste die Pferde, ihren Geruch, das berauschende Gefühl beim Reiten. Mutters Verbot hallte nur noch schwach in ihr wider und das Verlangen nach einem ungestümen Ritt bekam an diesem Morgen die Oberhand.
Sie musste auch an ihre Schwester denken, die sie an jenem Frühsommertag in ihrem Zimmer aufgesucht und liebevoll mit einer Portion Linseneintopf versorgt hatte. Anders als sie selbst war Johanna eine hochgewachsene, schlanke junge Frau und einzig ihre muskulösen Hände zeugten von der körperlichen Arbeit, die sie auf dem Gut verrichtete. Ihr ebenmäßiges Gesicht mit den zu eng stehenden Augen, ganz wie die ihrer Mutter, war umrahmt von einem dicken Kranz blonder geflochtener Haare.
»Seit Tagen schon bist du so eigenartig, Schwesterlein. Ständig steckst du die Nase in dein Tagebuch, scheinst völlig abwesend zu sein. Was ist los mit dir?« Johanna hatte sie auffordernd angesehen, doch Helene war ihr ausgewichen.
»Nun sag schon, was muss man anstellen, damit Mutter einen nicht sehen will? Komm, rede mit mir.« Noch heute fühlte sie sich schlecht, wenn sie daran dachte, dass sie ihrer Schwester ihre innersten Sorgen verheimlichte. Einzig die Geschichte von ihrem dummen Missgeschick mit dem Weidezaun, dem zerschlissenen Hut, der Strafpredigt und dem Verbot allein auszureiten, hatte sie ihr preisgegeben. Blumig hatte sie jedes Detail ausgeschmückt und dabei in Windeseile den köstlichen Eintopf mit Speck verschlungen. Darauf hoffend, sie könnten miteinander wie immer die Zeit vergessen, während sie schnatternd die Köpfe zusammengesteckt hatten. Und es war ihr gelungen.
Kurz sah sie zurück zum Gut. Noch immer kein Anzeichen, dass irgendjemand aus der Familie schon wach war. Keines der Schlafzimmerfenster schien geöffnet. Und so trieb sie Golden weiter hinaus auf die Felder.
Wie habe ich das vermisst, dachte sie. Im Stall könnte ich stundenlang stehen, riechen, fühlen und den Gäulen zusehen. Die wohlige Wärme, der mir so vertraute Geruch nach Stroh, Holz und den Ausdünstungen der Tiere hat mich eingehüllt wie eine mollige Decke. Pure Freude stieg in ihr auf.
Mit den Tieren verband Helene etwas Profundes, Reines. Es ließ sich nicht mit ihren Beziehungen zu Menschen vergleichen, die immer irgendeine Gegenleistung von ihr erwarteten. Die einzigen Personen, bei denen sie so nicht fühlte, waren Johanna und ihre Großmama. Karoline zu Hohenlinden führte das Gut im Andenken an ihren verstorbenen Mann und Sohn mit liebevoller Strenge und genauso ging sie auch mit ihr um. Am liebsten wäre ich selbst ein Fohlen in den Stallungen auf diesem Gut, wünschte sich Helene. Eingehüllt in herzliche lebenslange Fürsorge, ließe sich alles ertragen.
War sie den Pferden nahe, so machte sich in ihr eine wohltuende Anspannung breit und nur das flatternde Gefühl von Aufgeregtheit, dass sie früher flutete, wenn sie an Curt dachte, kam diesem gleich.
Curt, schon wieder Curt … Mit aller Gewalt stahlen sich seine geheimnisvoll blickenden Augen in ihren Kopf. Seine für einen Mann ungewöhnlich langen Wimpern kamen ihr in den Sinn und ein prickelndes Gefühl übermannte Helene. So, als ob sie keinerlei Macht über ihren Körper hätte, raste ihr Pulsschlag. Fast unbewusst erhöhte sie das Tempo, in dem Golden und sie dahinflogen.
Unkontrolliert wanderten dabei ihre Gedanken zu den Stunden, die sie allein mit Curt Blasewitz verbracht hatte. Er, der Stargeiger der Bäderkapelle Bad Elster, war in ihre kleine, wohlbehütete Welt hereingebrochen wie ein Sommergewitter. Mit seiner unverwechselbaren Nonchalance und wohldosierten Schmeicheleien hatte er sie umgarnt, ihr zum ersten Mal im Leben das Gefühl gegeben, sie sei etwas Besonderes. Sie, die kleine, etwas pummelige Helene, mit dem Allerweltsgesicht. In seiner Gegenwart vergaß sie ihr, für ihren Geschmack, durchschnittliches Aussehen, hatte seine Komplimente dankend angenommen und aufgehört, sich ständig mit ihrer bezaubernden, älteren Schwester zu vergleichen.
»Aber hör doch auf«, hatte Blasewitz lachend gesagt und sie sanft auf den einzigen Stuhl gedrückt, der in seinem Pensionszimmer stand. »Johanna hat nicht dein Format. Sie ist fad und langweilig, ohne jede Ambition. Ständig plappert sie nach, was ihr Aufschneider von einem Ehemann von sich gibt, oder jagt den Komplimenten eurer Mutter hinterher. Sie ist so unscheinbar, wie du nie sein könntest.«
Diese Komplimente waren es gewesen, die sie unvorsichtig gemacht hatten. Berechnend hatte sie Gründe erfunden, allein mit ihrer Zofe nach Bad Elster zu reisen. Hier mal ein Besuch bei der Schneiderin, da mal ein Ausflug zu einem Stickkränzchen in der Stadt der Heilquellen, dann mal ein schmerzender Zahn, der nur beim Bäderarzt behandelt werden konnte. Sie hatte nicht im Geringsten gezaudert. Wäre Dorothea ihr auf die Schliche gekommen, hätte Helene ein Leben im Kloster bevorgestanden, da war sie sich sicher. Aber ihre Mutter hatte keinen Verdacht geschöpft und schien froh, dass sich die Tochter die Zeit zu vertreiben wusste. Sie hatte keine Fragen zu ihren Unternehmungen gestellt und wie durch ein Wunder hatte Helene nie eine der Freundinnen der Mutter getroffen, denen sie sich hätte erklären müssen.
Peu à peu hatte sie jegliche Vorsicht abgestreift. Sie war elektrisiert vom Timbre seiner Stimme, seinen eleganten Bewegungen, dem gefühlvollen Spiel auf der Geige und es war ihr unmöglich erschienen, seinem Drängen nicht nachzugeben. War sie um ihn gewesen, schien er seine Aufmerksamkeit einzig ihr zu widmen. Er hörte ihr zu, ihr der 17-Jährigen, die nichts als Flausen im Kopf habe, wie ihre Mutter immerfort betonte. Ja, die Mutter: ewige Nörglerin, stete Unterstützerin ihrer aparten und vor allem verheirateten Schwester. Seit Johanna und August ein Paar waren, schien sich keiner im Haus mehr um Helenes Anliegen zu kümmern. Selbst Papa verbrachte die meiste Zeit mit den beiden im Kontor, in Besprechungen, die die Firma betrafen oder auf Bällen und Ausflügen, für die sie zu jung an Jahren sei. Wären da nicht Omama, ihr Pferd und Emma ihre Zofe, sie würde sich wie ein Waisenkind fühlen.
Curt Blasewitz gegenüber wollte sie weder zu jung noch zu schüchtern erscheinen, und so hatte sie nach ein paar Wochen heimlichen Umwerbens den Treffen mit ihm zugestimmt. Curt hatte sie beschworen, ihre Gefühle niemandem zu offenbaren. Der Ehrenkodex für sein Engagement in der Bäderkapelle schließe amouröse Abenteuer während der Saison aus, erst danach könnten sie mit ihrer Verbindung an die Öffentlichkeit gehen. Sie dummes Ding, hatte ihm vertraut. Zwar nagte schon damals ein kleiner, sie ständig begleitender Zweifel an ihr, dennoch hatte sie es verstanden, diesen zu verdrängen und sein Hofieren zu genießen. Sie war sich sicher gewesen: So sprach und handelte nur ein liebender Mann.
Bei all diesen Erinnerungen biss sich Helene verzagt auf die Unterlippe, tastete wieder nach dem Bernstein und versuchte, sich von der Panik loszumachen, die in ihr aufstieg. Doch die Frage, ob Blasewitz ihren Brief jemals bekommen hatte, ließ sich nicht vertreiben.
War er in der Pension in Bad Elster angekommen? Warum höre ich nichts von ihm? Weshalb antwortet er mir nicht? Ständig schwirrten ihr mögliche Szenarien durch den Kopf, die ihn davon abgehalten hatten, sich bei ihr zu melden. Was, wenn ihm etwas zugestoßen war? Niemand würde sie in Kenntnis setzen. Dringender als noch vor Tagen, suchte sie Antworten zu finden.
Mit einem mulmigen Gefühl war sie im Sommer an die Ostsee abgereist, ohne von ihm gehört zu haben. Seither fraß die Sehnsucht nach seinen Komplimenten ein riesiges Loch in ihre verwundete Seele. Seine weltgewandte, manchmal etwas schnoddrige Art fehlte ihr zudem. Sie hatte sich eingeredet, im Hotel im Ostseebad würde sie Post mit einem glühenden Bekenntnis seiner Liebe und Verbundenheit erwarten. Aufbrausend wie er war und überschäumend in seinen Gefühlen, hätte ihm ein solcher Auftritt entsprochen.
Doch da war keine einzige Zeile gewesen, kein Brief, keine noch so kleine Nachricht. Sie hatte weitere Depeschen geschickt, befürchtet, er wäre schon in Leipzig, bevor sie zurückkäme. Über die Wochen beschlich sie langsam eine lähmende Hilflosigkeit.
Nun war die Sommerfrische vorüber, Helene und Johanna zurück im Vogtland und Curt Blasewitz hatte weder auf ihre liebevollen Worte noch auf ihr eindringliches Flehen geantwortet. Sie war enttäuscht und ratlos, schien an manchen Tagen keinen konkreten Gedanken fassen zu können. Denn es war traurige Gewissheit. Er war fort, sein Engagement in den Kaiserbädern für dieses Jahr beendet. Curt war ohne ein Wort abgereist und hatte auf ihre Briefe, ihr Flehen nicht reagiert. Selbst ihr Zustand hatte keinen Sinneswandel bei ihm herbeigeführt. Seine Nonchalance hatte sich nicht, wie erwartet, in Pflichtbewusstsein gewandelt. Er hatte sie einfach vergessen. Sie und ihre gemeinsame Zeit aus seinem Leben gestrichen.
Ich habe mich ihm hingegeben, meine Unschuld dargeboten und er hat sich bedient. Das klingt schrecklich abgeklärt, urteilte Helene nun und doch: Ich habe mich zu ihm gelegt, schamlos dargeboten. Oh, wie hasse ich ihn. An seinen Lippen habe ich geklebt, wie eine dieser jungen Frauen, die ihm nachjagten und um seine Gunst warben. Diese Erkenntnis lähmte Helene seither.
Das, was sie mit ihm hätte besprechen wollen, nein müssen, erlaubte keinen weiteren Aufschub. Doch wie sollte sie vorgehen? Mal um Mal wanden sich ihre Gedanken um eine neue Möglichkeit. Ersann sie dies, dann das, verwarf es wieder, um nur eines zu erkennen: Sie war dieser Aufgabe nicht gewachsen und sie ignorierte das Offensichtliche. Ihr Mieder spannte.
Gleichzeitig spürte sie einen Ring, der sich immer fester um ihr Herz zog. Eines Tages würde er ihr die Luft nehmen und dann wäre der Schmerz vorbei. Sie würde loslassen und sich nicht weiter sorgen. Bis dahin blieb ihr nichts anderes übrig, als sich abzulenken.
Angestrengt stemmte sich Helene in die Steigbügel. Sie presste ihre Beine enger an den Körper des Pferdes, lies die Zügel etwas lockerer, krümmte ihre Schultern und merkte, wie viel Kraft sie brauchte, um sich in der schnellen Bewegung sicher zu fühlen. Golden schien darauf gewartet zu haben, mit ihr zu reiten. Er preschte davon. Schon nach wenigen Augenblicken fanden sie mühelos einen Rhythmus, der für Reiterin und Pferd angenehm war. Ihre anfängliche Angespanntheit verschwand und beim Anblick des Nebels, der sich vor ihr als lang gezogener Schleier in der Talsenke auftat, versanken sogar die trüben Gedanken an Curt.
Wie fein gewebte Spitze sieht das aus, sinnierte sie und es erinnerte sie an den Vater, der sich mit der Herstellung dieser filigranen Schmuckstücke in Plauen einen Namen gemacht hatte. Leichte Nebelschwaden waberten über dem gemächlich dahinplätschernden Fluss und würden sich erst durch die Kraft der späten Vormittagssonne auflösen. Bis dahin aber schien dieses Naturschauspiel nur für Helene geschaffen worden zu sein und es hatte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
Sie zog die Zügel näher zu sich heran, bedeutete dem Pferd damit, in eine langsamere Gangart zu wechseln, und nahm keuchend wahr, wie sie sich selbst nach dem harten Ritt beruhigte. Es dauerte nur einige Momente und die lähmende Melancholie, die sie seit Wochen beherrschte, überkam sie sogar hier an ihrem Lieblingsort. All das, was ihr sonst so vertraut war, und Freude bereitete, verschluckte der Morgennebel.
Vom Pferderücken aus beobachtete sie die Vögel am Wasser, sah, wie die Sumpfdotterblume in einer zweiten verhaltenen Blüte, große Kissen gebildet hatte und hell durch die Gräser blitzte. Die Äste der Weiden legten sich in sattem Grün über den Uferrand und boten unter ihren ausladenden Ruten Schutz für kleines Getier. Der Fluss war an dieser Stelle überaus lebendig, er rauschte und toste an den felsartigen Steinmassiven vorbei und nahm stetig an Fahrt auf. Glänzend brach sich das Licht im Wasser. Weiter vorn, so wusste sie, floss ein Nebenarm in den Weiher, der zum Gut ihrer Familie gehörte. Der wurde selbst an heißen Sommertagen nur mäßig warm, weil immer wieder frisches Wasser zufloss.
Die Natur bot alles auf, was sie früher in ekstatische Freude versetzt hätte. Heute kam all das nicht bei ihr an. Die Melodie der Wasserschnellen verhallte vor dem Zugang zu ihrem Herzen. Die Hoffnung, dass hier würde ihren Kummer vertreiben, starb schneller, als sie dagegen anblinzeln konnte.
Die Kühle des Morgens kroch ihr weiter unters Kleid, während sie aufmerksam am Ufer entlang ritt. Sie hörte eine Amselfamilie, die aufgeregt zwitscherte, sah Fische aus dem glitzernden Nass springen und selbst der Reiher an der gegenüberliegenden Uferseite blieb ihr nicht verborgen. Früher hätte sie ihren Skizzenblock dabeigehabt und die Motive mit gekonnten Bleistiftstrichen eingefangen. Heute verschwendete sie keinen einzigen Gedanken daran.
Nach einiger Zeit spannte sich vor ihr eine kleine Brücke über das Wasser. Kurz stutzte sie, entschied sich jedoch, heute nicht hinüber zum Nachbargut zu reiten, sondern den Weg hinauf zur Kapelle nehmen. Bewusst oder unbewusst vermied sie damit den Sprung über den Weidezaun, der ihr vor Wochen zum Verhängnis geworden war.
Der Ritt den Hügel hinauf war anstrengend, zumal der grobe Schotter auf dem Pfad unter den Hufen ihres Pferdes wegsprang und dem Tier nur ungenügend Halt bot. Doch sie war geübt im Umgang mit Golden und sie schaffte es am Rand des kleinen Tales anzukommen, ohne ihm Blessuren zugefügt zu haben. Ihr selbst hatte der Ritt feine Schweißperlen auf Stirn und Rücken getrieben. Nun verfielen sie in einen mäßigen Trab, bei dem sie ihre Handschuhe auszog. Dann beugte sie sich vor und tätschelte liebevoll den Hals ihres treuen Begleiters.
»Braver Junge. Das hast du gut gemacht. Jetzt reiten wir langsam hinüber zur Kapelle und rasten. Die Wiese dort wird dir gefallen«, flüsterte sie ihm ins Ohr und bewegte sich wie eins mit dem Tier, in einem steten Auf und Ab, geübt im Sattel.
Schon sah sie das weiße Gebäude, das ihr Großvater vor vielen Jahren errichtet hatte. Auf der Rückseite von den Bäumen des Waldes geschützt, erstreckte sich auf der Vorderseite der Kapelle ein weiter Blick auf die Wiesen und Äcker, die zum Gutshof ihrer Familie in Freiberg gehörten. Neben den drei Stufen, die hinauf zur Eingangstüre führten, hatte ihr Vater vor ein paar Jahren eine Bank errichten und eine Linde pflanzen lassen.
Helene sah die betagte Frau mit dem schmucklosen Kleid schon von Weitem. Sie hielt die Augen geschlossen, ihre Füße steckten in derben Schuhen und man hätte sie für eine Bäuerin halten können, die Rast machte und ein wenig verschnaufte. Ihre Großmutter väterlicherseits, die auf dem Hof lebte, seit sie als junges Mädchen Erwin zu Hohenlinden, den Zweitgeborenen des imposanten Gutes auf einem Sommerfest in Bad Elster kennengelernt hatte, kam jeden Tag hier herauf. Nichts hielt Omama Karoline davon ab. Weder Schnee noch Hitze oder Regen hatten sie jemals abgeschreckt. Ihr Lieblingsplatz, an dem sie sich ihrem verschiedenen Mann am nächsten fühlte, war genau dort bei der Kapelle.
Wieder einmal wurde ihr bewusst, wie ähnlich sie ihrer Omama ist. Anders als ihre Schwester war Helene klein, etwas untersetzt und dunkelhaarig. Ihr schweres Haar und das runde Gesicht, dem der Großmutter gleich. Sie war ein Ebenbild von Omama Karoline, der Mutter ihres Vaters. Bei dem Gedanken lächelte sie.
***
Näherkommend überlegte Helene kurz, umzudrehen und die Großmutter nicht zu stören. Sie beobachtete, wie sich der Brustkorb der alten Dame gleichmäßig hob und senkte und wollte ihr Pferd schon behutsam in die andere Richtung lenken, als ihre Omama unvermittelt die Augen aufschlug und ihr bedeutete näher zu kommen. Die Chance wegzureiten, hatte sie vertan. Sie straffte ihren Rücken, setzte sich vollends aufrecht in den Sattel, sich sehr wohl bewusst, dass sie womöglich mit einer Standpauke rechnen musste.
»Guten Morgen, mein Kind. Ist das nicht ein famoser Tag? Ich liebe diese Jahreszeit. Alles ist noch grün, an den Apfelbäumen dort drüben biegen sich die Äste unter der Last der Früchte. Und das Kartoffelkraut auf dem Acker dahinter könnte nicht besser stehen. Komm herüber und setz dich zu mir. Mach mir das Vergnügen.«
Helene, freudig überrascht, war sie doch zumindest auf eine Ermahnung bezüglich ihres Reitstils gefasst gewesen, lenkte den Hengst zur Linde, sprang herunter und schlang die Zügel lose um den Baumstamm. Mit wenigen Schritten war sie bei der Großmutter, umarmte sie flüchtig und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Ihr leichter, immer gleicher Geruch nach Kölnisch Wasser, stieg ihr kitzelnd in die Nase.
»Lass dich anschauen, Helenchen. Du scheinst erholt nach dem Aufenthalt an der See, hast endlich etwas zugenommen. Wie steht es um dein Asthma?« Helene hörte echtes Interesse in den Fragen der Großmutter und war froh, dass sie den leidlichen Reitunfall nicht erwähnte. Auch, dass sie den Damensattel mied, störte Omama nicht und das freute sie. Dass sie ihr jedoch fülliger erschien, quittierte Helene mit einem innerlichen Aufstöhnen.
»Ich fühle mich gut, Omama und mein Asthma ist auch besser. Wie immer, nach dem Aufenthalt an der See. Außerdem lasse ich mich nicht unterkriegen, wie du weißt.« Sie lächelte etwas verlegen und schloss ihre Augen, als sie ihr Gesicht der stärker werdenden Sonne zuwandte.
»Dann will ich dir das mal glauben, mein Lenchen. Deine Mutter scheint dennoch besorgt zu sein und wiegelt im Haus jeden auf, ein Auge auf dich zu haben! Was hat es damit auf sich? Hast du etwas ausgefressen?«, fragte Karoline zu Hohenlinden und musterte ihre Enkelin aufmerksam.
Sie blickte in die wachen Augen eines jungen Mädchens an der Schwelle zum Frau-Sein und ahnte, dass es für Helene in den kommenden Jahren nicht leicht würde. Etikette, Anstand, der Norm entsprechen, das war gar nicht nach dem Geschmack dieses Kindes. Der lockere Umgang hier draußen auf dem Gutshof gefiel ihr besser als das Leben in der Stadt. Karoline verstand den kleinen Wildfang, erkannte sich manchmal selbst in ihr.
Helene saß kleinlaut neben ihr, unsicher darüber, was sie erwidern sollte. Nur zögernd kam eine ausweichende Antwort:
»Wie du siehst, bin ich ausgeritten, ohne, dass Mutter, oder sonst eine Seele davon weiß und …« Jetzt sah sie ihre Großmutter unvermittelt fest an, bevor sie fortfuhr:
»Ich habe nicht vor, es ihr zu sagen oder gar damit aufzuhören. Hier draußen auf dem Rücken von Golden fühle ich mich frei. Das Reiten tut mir gut, auch wenn man mich wegen des Asthmas am liebsten in Watte packen würde.« Helene sah, dass ihr Karoline wohlwollend zuhörte. Ihr Gesichtsausdruck war offen und zugewandt, er hatte nichts von der Verbissenheit, die Großmutters Mund manchmal umspielte, wenn es etwas zu besprechen gab, das ihr missfiel.
»Sprich, Lenchen, nur zu. Ich kann dich sehr gut verstehen. Auch mir gefällt das Leben hier auf dem Landgut am besten. In Plauen fühle ich mich eingesperrt. Die Stadt wächst und wächst, doppelt so viele Leute wohnen da, seit du geboren wurdest. Die Straßen sind voller Menschen und Droschken, man muss aufpassen, nicht überfahren zu werden. Es gibt gar eine Eisenbahn und unsere geliebten Gardinen und Spitzen werden von Maschinen hergestellt. Überall rattert und rauscht es, die Schlote der Appreturanstalten ragen in den Himmel und die Häuser werden immer größer und prachtvoller.« Versonnen lauschte Karoline ihren eigenen Worten nach und sah in das erstaunte Antlitz ihrer jüngsten Enkelin. Zärtlich strich sie ihr eine braune Locke aus dem Gesicht und nahm ihre Hand in die ihre. Sie sprach leise, aber eindringlich auf sie ein.
»Wir sind nie wirklich frei, Lenchen, nirgends. Auch auf dem Rücken des Pferdes bist du es nicht. Denn du hast deinen eleganten Golden nur, weil mein Sohn mit der Spitzenfabrik genug Geld erwirtschaftet, dass wir den Gutshof hier draußen noch unterhalten können. In früheren Generationen waren wir Landwirte, bewirtschafteten Ländereien und Wälder, betrieben Viehzucht. Aber dein Großvater, mein geliebter Erwin, träumte von mehr. Er ersehnte für uns ein Leben in der Stadt und so versuchte er sich als Verleger. Seine Zusammenarbeit mit den vielen eigenständigen Familienbetrieben, die als Lohnsticker ein Auskommen gefunden hatten, war äußerst gewinnbringend und schnell entschied er damals, auch als Fabrikant in der Weißwarenproduktion sein Glück zu versuchen.
Er arbeitete hart, um sich das Wissen anzueignen, dass er brauchte. Aber es hat sich gelohnt. Er errichtete die Manufaktur in der Stadt und bald war er Verleger und Fabrikant in einem. Er war eben ein Ökonom und ein Tüftler, kein Landwirt.
Aber glaube mir, mein Lenchen, er war nicht frei, sorgte sich stetig um das Auskommen der Familie. Er sah unsere Zukunft nicht mehr nur auf dem Lande, hat seinen Geschäftssinn genutzt und Neues geschaffen. Doch auch er war nicht frei. Selbst als Mann nicht«, eilte sie sich, hinterherzuschicken.
»Aber er wollte genau das. Ich meine, er hätte Landwirt bleiben können, Großmutter.« Helene war auf das vorderste Brett der Bank gerutscht und sah die alte Dame mit den winzigen Falten im rundlichen Gesicht von der Seite an.
»Er folgte seiner Leidenschaft, probierte sich aus, man ließ ihn und er hatte Erfolg. Ich bin ein Mädchen und was ich auch anfange, immer hält man mich zurück. Mutter findet ständig einen Grund, warum sich dies oder das nicht ziemt. Das Einzige, das zählt, ist, einen Ehemann zu finden. Was ich möchte, interessiert nicht.«
»Lenchen, mein liebes Kind, ach, wie sage ich das nur? Es wird immer Konventionen geben. Dinge, die wir nicht mögen und Verpflichtungen, denen du nachkommen musst. So ist das Leben. Und besonders für uns Frauen ist es manchmal schwer. Einen Weg zu finden, deine Kreativität auszuleben, kann herausfordernd sein. Aber sieh, deine Schwester hat es auch geschafft.« Ihre Großmutter verstummte kurz, offensichtlich, um die richtigen Worte zu wählen.
»Natürlich, sie darf mit ins Kontor, weil sie außerordentlich gut mit Zahlen umgeht und der Vater sie braucht. Aber meine Zeichnungen interessieren keinen Menschen, da engagiert man doch lieber hoch bezahlte Musterzeichner, die die Schablonen für seine feinen Spitzen anfertigen. So, als ob nur Männer die Technik verstünden, die es braucht, um auf den unterschiedlichsten Grundstoffen zu arbeiten. Glaubt ihr wirklich, dass sie den Geschmack der Damen von Welt einfangen? Und natürlich sind auch die Sticker an den Maschinen, die die Entwürfe umsetzen, Männer.
Ach, Omama. So gerne würde ich die neue Fachzeichenschule besuchen und das Musterzeichnen von der Pike auf lernen. Es wäre ein Katzensprung von daheim. Gerade mal hinüber zur Inneren Neundorfer Straße müsste ich laufen. Wenn unser neues Haus erst fertig ist, sieht man die Schule fast. Ich möchte alles über die innovativen Maschinen und die Stoffe lernen und das technische Zeichnen nicht nur in Büchern studieren. Endlich ließe sich erklären, warum die Schablonen so oder so gestaltet werden müssen. Die Lehrer haben so viel Erfahrung. Das können Papas Musterzeichner leider nicht leisten. Er bedient sich noch immer aushäusiger Ateliers, um die wirklich hochwertigen Muster zu bekommen.
Aber ich muss für meinen Lebensunterhalt nicht arbeiten, brauche keinen Beruf und außerdem werden Mädchen nicht angenommen. In England gibt es eine solche Schule seit 30 Jahren, sicher auch für Frauen.« Den Schluss schob sie fast trotzig hinterher.
Helene hatte sich in Rage geredet, holte tief Luft und fuhr sich mit der Hand abwesend über ihre Stirn, die sich trotz ihrer Jugend in klitzekleine Fältchen legte. Karoline zu Hohenlinden verzog nachdenklich ihre Brauen, war ihr doch nicht klargewesen, wie ernsthaft ihr kleines Lenchen an diese Arbeit dachte. Schon hörte sie die Enkelin sagen:
»Und das ist nicht alles Omama …« Beifall heischend sah sie die Großmutter an und fuhr fort: »Weil ich ein Mädchen bin, darf ich kein Laufrad benutzen? Schaukele in diesem vorsintflutlichen Damensattel mehr schlecht als recht auf dem Hengst durch die Gegend und soll um Himmelswillen nicht ins Schwitzen kommen? Das ist nicht damenhaft? Ich hasse diese verlogene Etikette, Großmutter. Schon als kleines Mädchen zog es mich eher in den Stall als in Mutters Salon. Habe ich die Wahl, so gehe ich mit den Gänsen auf die Wiese, liege im Gras und schaue in den Himmel. Und weißt du, was mir neben dem Zeichnen am liebsten ist?«
Jetzt hatte Helene etwas Herausforderndes im Blick, als sie ihre Großmutter wieder unverwandt ansah. Sie war aufgesprungen und stand vor der alten Dame, die sich in Erwartung einer Enthüllung die Hand auf ihren großen Busen gelegt hatte und sich kaum regte.
»Jetzt bin ich aber gespannt und fast ein wenig ängstlich, mein Kind!«, sagte sie und lächelte ihre Enkeltochter aufmunternd an. Sie war auf alles gefasst und hoffte doch inständig, dass es sich um eine harmlose Enthüllung handelte.
»Ich schwimme in hellen Nächten im Sommer drüben im Weiher.« Helene lächelte verschmitzt, hockte sich vor die Großmutter hin, umfasste ihre Knie und fügte keck hinzu: »Mich hat noch nie einer erwischt.«
Karoline entfuhr ein amüsiertes Glucksen. Sie streckte ihre Arme nach der Enkelin aus, zog sie zu sich auf die Bank und sie prusteten gemeinsam los. Es war ein befreiendes Gefühl für Helene, die kurz daran dachte, diesen vertrauten Moment für eine andere Beichte zu nutzen. Die Beiden hielten sich die Seiten, bis Karoline ernst wurde und fragte: »Wo hast du das gelernt und was, wenn du dich verausgabst, einen Asthmaanfall hast und nicht aus dem Wasser kommst? Hast du daran gedacht?«
Helene nickte und erzählte ihr von den Sommertagen mit den Kindern aus dem Dorf. Sie sprach von Emma, dem Zimmermädchen, das schwamm wie ein Fisch und ihrem größeren Bruder Jacob, der als Perlmutter sein Geld an der Weißen Elster verdiente und quasi von Berufs wegen schwimmen gelernt hatte. Er hatte es seiner Schwester und später auch Helene beigebracht.
»Im seichten Flussbett, unten in der Senke an der Brücke, da passiert nichts. Wir waren immer vorsichtig. Weißt du, wie herrlich sich das kühle Nass an einem Sommertag anfühlt? Wie es auf der Haut prickelt, wenn man schwerelos an der Wasseroberfläche dahingleitet? Das ist wundervoll Omama. So fühlt sich Freiheit an.« Es schien, als könne sie ihre Großmutter beruhigen, dennoch meinte diese mit Nachdruck:
»Weiß deine Mutter davon? Eine Dame wie sie, hat nie schwimmen gelernt, nehme ich mal an.«
»Ja, sie weiß Bescheid. Es zu verheimlichen, war fast unmöglich, denn auf unseren Reisen an die Ostsee buchten Bekannte immer wieder einen Badekarren und luden uns ein.« Zu ihrer Überraschung wurde sie von Karoline unterbrochen.
»Was in Gottes Namen ist ein Badekarren, mein Kind?«
Sie hatte vergessen, dass sich ihre Omama nie weiter als bis nach Leipzig von ihrer vogtländischen Heimat entfernt hatte und erklärte: »Du musst dir das vorstellen, wie den Wagen unseres Schäfers. Du weißt schon, wo er im Sommer drin schläft. Diese Badekarren sitzen auf vier hohen Rädern und ungefähr vier Damen haben darin Platz. Man klettert am Strand in normaler Kleidung hinein und zieht sich darin die wadenlangen Hosen und die baumwollenen Überkleider an. Meines hat einen Marinekragen in blau-weiß«, erklärte sie mit ernstem Blick und fuhr fort: »Mama zog es vor, die bodenlangen Kleider zu tragen, die aussehen wie Schlafgewänder. Sie war nicht zu überzeugen, sich etwas leichter zu kleiden und ließ sich von Frau Leonhard gar Gewichte in den Rocksaum nähen. Damit der Rock im Wasser nicht hochtreibt.«
Karoline nickte verstehend und bedeutete ihr weiterzusprechen.
»Den Wagen zieht ein Reiter mit Pferd ins Wasser. Manchmal standen fünf oder sechs Wägen hintereinander, dann öffnet eine Badewärterin an der Seeseite eine Tür oder zieht einen Vorhang weg und mit Hilfe einer Leiter kann man ungesehen ins Wasser steigen. Diese Wägen stehen meist an einem entlegenen Strandabschnitt. Sich in einem Badekleid zu zeigen oder sich im beengten Wagen umzuziehen, war Mama immer furchtbar unangenehm. Doch Johanna und ich lechzten nach einer Abkühlung und so blieb ihr nichts anderes übrig, als mitzukommen. Weißt du, wie komisch es ist, an einer Leine zu baden? Ich täuschte Mutter einen Sommer lang vor, die richtigen Bewegungen zu üben und habe ihr dann meine Schwimmkünste präsentiert. Seither verbietet sie mir zwar noch immer, allein zum Weiher zu gehen, aber sie hat wenigstens aufgehört, mich ständig zu ermahnen.«
Karoline zu Hohenlinden hatte aufmerksam gelauscht und beobachtete ihre Enkeltochter dabei genau. Selbst bei dieser unterhaltsamen Erzählung wirkte Helene angespannt. Die Augen des Mädchens lächelten nicht mit, während sie sprudelnd sprach. Sie erschien ihr seltsam bedrückt, um nicht zu sagen verzagt. Sie entschied, die Gelegenheit und Ruhe an diesem einzigartigen Ort zu nutzen, um es aus ihr herauszukitzeln. Sie ahnte, waren sie erst einmal zurück auf dem Gutshof und die ganze Familie um sie herum, käme kein solch intimer Moment mehr zustande. Dafür waren sie alle zu impulsiv und in ein anstrengendes Tagwerk eingebunden.
»Was soll ich sagen, Lenchen? Du bist alt genug, um vorsichtig zu sein. Ich verstehe dich einerseits, andererseits: Für mich hat es solche Fluchten nie gegeben. Allein der Gedanke an einen Beruf verbat sich in meiner Jugend. Und die Traute hätte mir auch gefehlt. Erst seit dem Tod deines Großvaters stehle ich mich ohne Erklärungen davon und genieße diesen herrlichen Platz hier. Ich komme gerne her. Mein Blick schweift dann über die Felder, ich bestaune die Wiesen und Äcker. Und schau doch, dort, der Wald, dunkel und geheimnisvoll führt er ins Tetterweinbachtal. Dein Großvater Erwin jagte an der Anhöhe da drüben. Viele Samstagmorgen verbrachte er mit der Jagd und dann kam er mit einem Hasen heim oder hatte ein Wildschwein im Schlepptau. Ich bin glücklich hier in unserer kleinen Welt, am liebsten würde ich immer auf dem Gut bleiben.«
Ihre Ausführung war abgeschweift, wie so oft in letzter Zeit, doch Helene störte das nicht. Sie hörte der Großmutter gerne zu, wenn sie von ihrem Leben mit dem Großvater erzählte. Mit einer ausladenden Bewegung deutete ihre Omama in Richtung des Gutes. Am Vierseitenhof standen die Fenster offen, der Tag hatte auch für die restliche Familie begonnen.
»Schau, die Gänse werden auf die Wiese getrieben und oben in deinem Zimmer schüttelt Emma das Duvet aus. Spätestens jetzt vermisst man uns. Wir haben die Zeit vergessen, meine Liebe. Ich schlage vor, du sagst mir, was du auf dem Herzen hast Lenchen, und dann sollten wir so schnell wie möglich zurück.«
Helene, erstaunt über die Wendung des Gesprächs, war überrascht vom fragenden Ausdruck im Gesicht der Großmutter. Was wusste sie? Doch sie war nicht bereit. Der Hinweis auf das erwachte Leben auf dem Gutshof und die Vorstellung, dass ihre Mutter sie schon suchte, beunruhigten Helene. Sie hatte nicht die Ruhe, die sie gebraucht hätte, um mit Omama über Curt zu sprechen.
Aufmunternd legte diese ihre Hand auf den Oberschenkel ihrer Enkelin und klopfte ungeduldig mit den Fingerspitzen auf den Stoff des Reitkleides. Doch Helene reagierte nicht. Und so erhob sich Karoline schwerfällig und trat vor sie hin:
»Na dann, vielleicht ein anderes Mal? Vergiss nicht, mein Lenchen: Du bist eine kluge junge Frau und wirst es schon schaffen, deinen Verpflichtungen nachzukommen, ohne dich selbst zu verleugnen. Du musst es nur wollen. Komm jetzt, lass uns gehen.« Sie steuerte auf das Pferd zu, hielt Helene das lose Halfter hin und bot ihr an, sie zu Fuß zu begleiten.
»Ich könnte deiner Mutter sagen, du wärst mit mir hier heraufgekommen, weil ich dich darum gebeten habe. Mir ist in letzter Zeit oft ein wenig blümerant, das weiß sie. Lass uns gemeinsam die Wiese hinunterlaufen, dann wird sie diese kleine Notlüge glauben.«
Johanna
Johanna reckte und streckte sich. Schemenhaft nur, nahm sie ihre Umgebung wahr. Noch hing sie fest in ihrer Traumwelt und genoss das langsame Hinübergleiten in den Tag. Als die Bilder der Nacht verschwunden waren, wusste sie für den Bruchteil einer Sekunde nicht genau, wo sie war. Erwachte sie in ihrem eleganten Schlafzimmer in der Plauener Wohnung, in der gemütlichen Schlafkammer auf dem Gut ihrer Familie oder in dem Hotel in Heiligendamm, das Helene und sie im Sommer bewohnt hatten? Sie öffnete ihre graublauen Augen, die unter langen Wimpern lagen, nur einen Schlitz weit, blinzelte und schnell kam die Orientierung zurück.
Die Geräusche des Gutshofes, die an ihr Ohr drangen, tröpfelten die Erinnerung in ihr Bewusstsein. Helene und sie waren gestern in den späten Abendstunden hier angekommen. Die Reise vom Seebad war lang und anstrengend gewesen, aber heute würde sie mit der ganzen Familie ihren 24. Geburtstag feiern.
Helene, schoss es ihr durch den Kopf und wie schon seit Wochen beschlich sie auch heute ein ungutes Gefühl.
Mit dem ersten Tag ihrer Existenz himmelte die kleine Schwester sie an. Seit die Jüngere laufen konnte, verfolgte sie sie auf Schritt und Tritt, verehrte sie, die Ältere und Johanna fand das süß. Sie liebte ihr sieben Jahre jüngeres Schwesterlein auf eine unschuldige und fast mütterliche Art. Sie hatte ihr alles beigebracht, was sie wusste, und merkte früh, dass auch Helene ihr etwas geben konnte: Das Gefühl, gebraucht zu werden. Da war jemand, der auf sie baute, ihr vertraute und sie in ihrer kindlich unbedarften Art mitriss.
Die Welt der jüngeren, begabten Schwester war so viel kreativer; Helene war so viel mutiger als sie selbst. Pferde konnten ihr nicht groß genug sein, der Hofhund, zottig und rüpelhaft, schreckte sie auch mit gefletschten Zähnen nicht im Mindesten ab. Nur gegenüber den Eltern benahm sie sich eigenartig zurückhaltend. Die Ermahnungen ihrer Mutter schüchterten sie ein und schienen den Funken aus ihren Augen zu vertreiben. Scheu und unsicher wurde sie dann.
Dieser Gedanke traf Johanna unvermittelt. Das war es: Scheu und ohne ihren sonstigen Esprit war Helene auch an der Ostsee gewesen. In sich gekehrt und immer mit diesem melancholischen Blick. Obwohl sie einiges unternommen hatten, war die ganze Zeit eine gewisse Leere und Resignation von der Schwester ausgegangen. Sie kam einfach nicht dahinter, was mit ihr los war.
Heute jedoch wollte sie ihren Geburtstag genießen. Ausdrücklich hatte sich Johanna ein schlichtes Fest im Obstgarten gewünscht. Schon lange träumte sie von einer bunt gedeckten Tafel unter den Apfelbäumen. Sah sich mit fröhlichen, leger gekleideten Gästen, die sich entspannt unterhielten, tanzten, oder einen Spaziergang unternahmen. Ihre Mutter Dorothea hatte davon nichts hören wollen. Zu gern lud Mama in ihren Plauener Salon ein, plante schon die musikalische Untermalung der Feier und schwärmte von Wilhelmine von Hillern, die sie einladen wolle. Die Schriftstellerin weile in den vogtländischen Bädern zur Kur und würde sicher einer Lesung aus einem ihrer bekannten Werke zustimmen. Die Mutter verehrte die Dame, war vernarrt in die Geier-Wally-Erzählung, doch Johanna hatte keine Lust auf einen weiteren Nachmittag im stickigen Salon gehabt. Zwar liebte auch sie extravagante Festlichkeiten, große Roben und ausgefallene Speisen, doch nicht in diesem Jahr. Sie wollte ein Fest auf dem Gutshof. Mithilfe ihres Vaters hatte sie es durchgesetzt. Schon vor ihrer Abreise nach Heiligendamm hatte sie ihn in einem persönlichen Gespräch von ihrer Idee überzeugt.
»Johanna«, hatte er mit seiner sonoren Stimme gesagt und sie tadelnd angesehen. »Deine Mutter kümmert sich um die Ausrichtung unserer Festlichkeiten, bitte verschone mich damit.« Doch sie hatte seinen Einwurf ignoriert, die schwere Tür zu seinem Arbeitszimmer behutsam hinter sich geschlossen und sich auf den Holzstuhl gesetzt, der vor seinem imposanten Schreibtisch stand. Offen und freundlich hatte sie den Vater angeschaut, der nicht umhinkonnte, zu schmunzeln und sich ihr gegenüber mit einem lauten Seufzer in seinen weichen Ledersessel fallen ließ.
»Wie schaffst du es nur, mein Kind? Keiner vor dir hat diesen knarzenden Stuhl je mit solcher Grazie und ohne jegliche Furcht erobert. Du indessen, hast schon als kleines Mädchen darauf gethront, und jeden glauben gemacht, es handelt sich um das bequemste Möbelstück im Raum. Dieser harte Stuhl stammt noch von meinem Vater, der ihn als Aufforderung verstand, sich kurzzufassen und sich nie zu sicher zu wähnen. Aber du hast dich davon nicht beeindrucken lassen. Was gibt es?« Abweisend hatte er demonstrativ die Hände über seinem mittlerweile stattlichen Bauch gefaltet und sich im Stuhl zurückgelehnt. Sein Schmunzeln hatte es Johanna leicht gemacht, gleich auf den Punkt zu kommen.
Kurz und knapp hatte sie ihm ihre Pläne für das kleine Gartenfest erklärt und auch die Bitte nicht vergessen, ihre Freunde aus Kindertagen einladen zu dürfen. Zu lange, um genau zu sein, seit ihrer Hochzeit mit August, hatte sie diese aus den Augen verloren. Ihr Vater antwortete nicht und so musste Johanna auftrumpfen und ihn an etwas erinnern.
»Du verstehst, welch großen Gefallen ich euch tue, diesen Sommer allein mit Helene an die See zu fahren? Mutter litt im vergangenen Jahr sehr unter den fast tropischen Temperaturen und du weißt, wie sehr sie die Badekarren verabscheut. Zu allem Überfluss …« Und hier war ihre Stimme tragisch und verschwörerisch geworden. »… zu allem Überfluss weigert sich Mutter, das einzige Zimmer zu buchen, das im Hotel noch verfügbar wäre. Die übliche Suite mit Blick auf die Promenade und den Strand hat irgendein Großindustrieller aus Berlin gebucht. Für den ganzen Sommer! Stell dir das vor. Mama wollte auf keinen Fall in dem kleinen Zimmer unterm Dach hausen, wie sie sich auszudrücken pflegt.« Johanna hatte sich theatralisch im Stuhl zurückgelehnt, einen Handrücken an die Stirn gelegt und leicht geseufzt.
Diese Geste, der Ausdruck und durchaus höhnische Ton, den sie gewählt hatte, brachte ihren Vater innerlich zum Lachen. Das wusste Johanna. Ihr Vater machte keinen Hehl daraus, dass seine Frau manchmal kapriziös sein konnte. Anders als Helene und Johanna stellte sie Ansprüche, die seiner Meinung nach übertrieben waren.
Johanna sah ihrem Vater an, dass er abschweifte, irgendetwas ging in ihm vor.
»Vater, bist du noch bei mir?«
Wilhelm zu Hohenlinden erklärte seiner Tochter in kurzen einprägsamen Worten, wie fröhlich ihre Mutter früher gewesen war und dass er sich fragte, wann sich das geändert hatte. Doch er erwartete keine Antwort von ihr.
»Ich werde Helene zu ihrer Kur begleiten. Sie könnte zwar mit dem Dienstmädchen reisen, doch Mama traut Emma und Helene nicht über den Weg. Und ehrlich gesagt, stimme ich ihr zu. Dafür sind sich die beiden zu nah. Die Seeluft aber ist heilend für ihr Asthma und auch Doktor Merk riet wieder zu dieser Reise.«
»Hast Du denn so gar keine Freude daran, mein liebes Kind? Ich verstehe, es ist anstrengend, aber ich glaubte, euer Zwischenstopp in Berlin hätte dir gefallen?«, hatte Wilhelm eine Frage in den Raum gestellt, die ihm schon die ganze Zeit im Kopf herumgeschwirrt war.
»Doch, doch natürlich, ich genieße die Reise, Vater. So kräftezehrend, wie Mama immer tut, ist es nicht. Ich habe ein Buch dabei und vor allem die Bahnstrecken finde ich durchaus abwechslungsreich. Man sieht viel von der Landschaft und lernt außerdem faszinierende Menschen kennen. Eine Vielzahl von ihnen ist weit gereist und hat Famoses zu erzählen. In Heiligendamm oder Bad Doberan ist der Tagesablauf angenehm gleichförmig. Meist bestimmt das Wetter unsere Aktivitäten. Im Großen und Ganzen geht es etwas lockerer und weniger förmlich als hier zu. Selbstverständlich beteiligen wir uns an den gesellschaftlichen Höhepunkten wie kleinen Picknicks und Soiréen … Der Punkt ist aber ein anderer, Papa.«
Ihr Vater hatte aufgemerkt. Das schmale Gesicht Johannas war hart geworden und sie beugte sich zu ihm vor, bevor sie leiser weitersprach. »August hatte geplant, diesen Sommer mit mir allein an die See zu fahren, aber das fällt nun aus und glaube mir, er ist nicht amüsiert darüber.« Verlegen hatte sie über ihr lindgrünes Kostüm gestrichen, richtete das Ausgehhütchen. Die feinen Spitzenapplikationen am Hut waren kunstvoll hergestellt und sie wusste, dass es ihren Vater rührte, Arbeiten aus seiner Manufaktur, an der Kleidung seiner Töchter zu entdecken.
Vor dem, was sie dem Vater damals hatte sagen wollen, hatte ihr gegraut, doch sie überwand sich. »August hofft noch immer auf ein Kind, wie du weißt. Er insistiert, dass uns die Zeit allein, also ohne die Familie, als Paar dabei helfen würde.« Sie hatte verlegen geschluckt, bevor sie fortfuhr. »Aber Papa, ich glaube nicht daran. Seit vier Jahren wünschen wir uns ein Baby und mittlerweile fühlt es sich an wie ein Wettstreit, den August um jeden Preis gewinnen möchte. Und ich bin die Dame, die auf dem Schachbrett hin- und hergeschoben wird. Monatlich wird mein Wert neu bemessen und mittlerweile bin ich seine schlechteste Mitspielerin. Du musst nicht abwehren, Papa. Ich spüre genau, wie abschätzig er mich manchmal ansieht. Mich bald in guter Hoffnung zu wissen, ist für ihn zur Obsession geworden.«
Wilhelm zu Hohenlinden war ob der Wendung, die dieses leichte Gespräch über eine sommerliche Festivität genommen hatte, erschrocken gewesen. »Liebste Johanna, meinst du nicht, du solltest diese Themen mit deiner Mutter besprechen? Ich weiß nicht, wie ich dir dabei helfen könnte«, hatte er verlegen gesagt, an seiner Weste gezupft und demonstrativ seine Taschenuhr hervorgeholt.
»Aber das ist es ja, Vater. Mutter ist der Ansicht, ich strenge mich nicht genug an. Sie meinte, ich müsse mehr daran glauben. Sie kann es nicht lassen, eindringlich nach dem Intimsten aus unserem Schlafzimmer zu fragen. Sie lässt mir ungefragt Nachtwäsche nähen, mit handgearbeiteter Spitze an Stellen, die ich dir nicht einmal beschreiben mag.«
»Johanna, das geht jetzt zu weit.« Mit diesen Worten hatte sich ihr Vater erhoben und war um den Tisch herum auf sie zugetreten. Seine Hände hatten die ihren gefasst, während er sie vom Stuhl hochzog. Sie war fast so groß wie er, nur wenige Zentimeter überragte er seine Erstgeborene, die ein Ebenbild ihrer Mutter war.
Als sie zu ihrem Verdruss die Tränen nicht zurückhalten konnte, die glasklar und in großen Tropfen aus ihren Augen quollen, hatte sich Johanna an seine Brust geschmiegt. Minutenlang hatten sie so dagestanden und sie erinnerte sich an die ungelenken Berührungen, mit denen er ihr den Rücken streichelte. Sie roch noch immer den süßlichen Tabakduft, der von ihm ausgegangen war. Damals war einzig das Rascheln ihres Rockes zu vernehmen, der sich mit jedem weiteren Schluchzer leicht bewegt hatte.
Schniefend hatte sie gesagt: »Würden wir allein an die See fahren, fände August doch nur wieder ein Casino und andere Herren in seinem Alter, mit denen er spielen und trinken kann. Und ich sitze in einem Hotelzimmer und er kommt nur zu mir, um gemeinsam publikumswirksam zu dinieren, und um …«
Ihr Vater hatte beschwichtigend einen Finger auf ihren Mund gelegt und sie näher an sich herangezogen. Dann erinnert sie sich an die Kissen, die er ihr in der Sesselgruppe im rückwärtigen Teil seines Büros in den Rücken geschoben hatte und sagte: »Es scheint mir, hier ist der bessere Platz für ein solches Gespräch.«
***
Sie hatte von dem Altersunterschied zwischen August und ihr gesprochen, der dem Vater unerheblich erschien. Erwähnte die Leidenschaft ihres Ehemannes fürs Glücksspiel und hatte in den Gesichtszügen ihres Vaters, den wachsenden Unmut gesehen.
»August ist aufbrausend, das ist auch mir nicht entgangen«, hörte sie ihn murmeln.
»Aufbrausend? Er ist unbeherrscht und das Leben in der Familienvilla gefällt ihm nicht mehr.«
»Er fühlt sich eingeengt? Das mag sein Johanna, es ist nun mal mein Haus. Aber sobald ein Kind da ist, wird sich alles einrenken. Dann hat er seinen Stammhalter und wird die Annehmlichkeiten eines großen Hauses und der Bediensteten sicher wieder mehr zu schätzen wissen.«
Es war Johanna schwergefallen, unbeschwert darauf zu antworten, doch sie hatte bemerkt, dass sich ihr Vater insgeheim Vorwürfe machte. Anfangs hatte sie geweint, mit jedem Satz jedoch klarer und verständlicher gesprochen. Sie versicherte ihrem Vater, dass sie ihren Mann liebte, es aber nicht immer leicht mit ihm wäre. Und das lag auch an der finanziellen Abhängigkeit vom Familienunternehmen. August stand nicht auf eigenen Beinen. Ihr beider Auskommen hing direkt von der Firma und Wilhelms Entschlüssen ab.
Die Manufaktur hatte sich in den vergangenen zehn Jahren als schwer lenkbares Schiff gebärdet. Ihr Vater traf so einige Male wirtschaftliche Entscheidungen, die August nicht nachzuvollziehen vermochte, diese aber in Ermangelung eigener Vorschläge seinerseits, mitgetragen hatte.
»Augusts Handlungsspielraum zu erweitern, ist derzeit undenkbar, Johanna. Die Weichen für die Manufaktur stelle ich lieber selbst. Dass dies eure Ehe belastet, habe ich nicht bedacht.«
Das junge Paar lebt in der Wohnung der zu Hohenlindens in Plauen. Die obere Etage im weitläufigen Gebäude der Spitzenmanufaktur wurde ausschließlich von der Familie genutzt und Johanna nebst August bewohnten ein elegantes Zimmer, in das sie sich, wann immer sie wünschten, zurückzogen. Genau wie alle anderen weiblichen Familienmitglieder verbrachte Johanna jeden Sommer auf dem Landgut nahe Freiberg bei Adorf. Auch Wilhelm entfloh der Schwüle und Enge der Stadt und genoss die Weitläufigkeit ihres Anwesens vor den Toren von Adorf. Nach dem tragischen Tod von Vater und Bruder vor fünf Jahren leitete er neben der Spitzenmanufaktur nun auch die Geschicke des Gehöftes. Sein Schwiegersohn August hingegen war lieber in der Stadt.
»Das Leben auf dem Land bezeichnete er schon nach dem ersten Sommer als zu provinziell und abgeschieden. Er fand schnell Ausreden, um uns nicht zu begleiten. Erinnerst du dich, wie er verkündet hat, er würde täglich in der Manufaktur gebraucht und könne deshalb nur aller zwei oder drei Wochen die Reise nach Adorf auf sich nehmen? Obwohl die Fahrt mit den Königlich Sächsischen Staatseisenbahnen mittlerweile durchaus angenehm ist, sogar schneller und bequemer als mit der Droschke. Schon bald erschien er nicht mehr an jedem Wochenende auf Gut Hohenlinden.«
Johanna hatte merklich die Luft eingesogen und ihren Rücken gestreckt, bevor sie weitersprach.
»Anfangs habe ich auf ihn eingeredet. Er gab nach und fand sich an den Freitagen auf dem Gutshof ein. Doch die Tage mit ihm waren anstrengend, seine Nörgeleien für alle befremdlich und es dauerte nur einen kurzen Sommer, bis ich mir eingestand, dass ich die Zeit ohne ihn mehr genieße. Ständig hätte ich mich sonst um sein Benehmen der Familie und den Angestellten gegenüber, gesorgt. Ich musste jeden meiner Schritte erklären, traute mich kaum, Freunde aus Kindertagen zu treffen, da sie ihm nicht standesgemäß erschienen.«
»Mir schien euer gemeinsames Leben in der Stadt immer erfüllt. August wirkte ausgelassen und zuvorkommend auf mich. Ich mutmaßte, du hättest Gefallen an den regelmäßigen Einladungen von Bekannten und Geschäftspartnern gefunden. Ihr wart auf allen angesagten Konzerten und Bällen gern gesehen, oder täusche ich mich?«
»Nein, Papa, du irrst dich nicht. Ich trug die schönsten Roben, immer die neueste Frisur und mein Gatte war … ist, sollte ich wohl sagen, überall gut gelitten. Nur auf dem Gut kann er nichts mit sich anfangen. Irgendwann habe ich verstanden, dass er nicht einmal mir zuliebe versuchte, dem Landleben etwas abzugewinnen.« Sie hatte sich im Sessel zurückgelehnt und starrte an die Wand hinter ihrem Vater. Für eine gefühlte Ewigkeit schien sie an den nächsten Sätzen zu formulieren.
»Er tut sich nicht nur mit den Abläufen auf dem Gutshof schwer, sondern auch mit den eingefahrenen Gefügen in der Manufaktur. Er hadert mit seiner Abhängigkeit von dir«, fügte sie leise hinzu. »Das Haus, das Gut, das Manufakturgebäude: All das gehört dir. Nichts davon meinem Ehemann. Er erhält zwar ein durchaus fürstliches Gehalt von dir, aber ich glaube, er fühlt sich dennoch wie ein Bittsteller. Zu all dem, drängt er mich immer und immer wieder, endlich mit dir über meinen Erbteil zu sprechen.«
Sie hatte es ausgesprochen. Auch wenn Johanna nur wegen des Geburtstages zu ihm gekommen war, würde sich die Gelegenheit für ein solch intimes Gespräch wohl nicht so schnell wieder ergeben. Der Vater hatte ihr, seiner Ältesten, aufmerksam zugehört und sie war zufrieden, mit nichts hinter dem Berg gehalten zu haben. Sie hatte sich ihm so nahe gefühlt, wie selten zuvor.
»Ich verstehe das Dilemma deines Gatten. Er ist ambitioniert, strebt nach Anerkennung und fast ehrt ihn sein Ehrgeiz. Doch ich versichere dir, Johanna, es braucht noch etwas Zeit, bis aus ihm ein umsichtiger Geschäftsmann wird, dem ich voll und ganz vertrauen kann. Bis dahin bedarf es meinerseits noch so mancher Hilfestellung und Korrektur.«
Johanna wusste um das Potenzial, dass ihr Vater in dem jungen Mann gesehen hatte, als sie einander vorgestellt worden waren. Und dennoch ahnte sie, ihr Vater würde stets ein wachsames Auge auf ihn haben. Da war etwas in der Aura ihres Mannes, dass nun stärker als früher hervortrat und sie sich nicht zu erklären vermochte. Eine unsichtbare Hülle umgab ihn und verhinderte den Blick auf die wahre Identität von August Bader. Die Distanz, die sich schon kurz nach ihrer Hochzeit zwischen den beiden Männern aufgebaut hatte, riefen die Instinkte ihres Vaters auf den Plan. Doch sie hatten nie darüber gesprochen, das war nicht Vaters Art.
August Bader stammte aus bescheidenen, aber doch untadeligen Verhältnissen. Er hatte seine außergewöhnlichen Fähigkeiten schon in jungen Jahren genutzt, um dem eigenen Familienunternehmen auf die Füße zu helfen. Sein Vater, ehemaliger Handweber, war in der Blütezeit der Lohnstickerei als Heimindustrieller zu einem kleinen Vermögen gekommen, das er in mehrere Stickmaschinen der Voigt‘schen Maschinenfabrik investierte. Einige wurden gekauft, andere schaffte er auf Raten an. Die meisten vermietete er gewinnbringend, an zwei weiteren arbeiteten sein ältester Sohn und er selbst.
»Ich kenne die Geschichte Papa. Augusts Vater war zwar Kleinunternehmer, jedoch immer von den Aufträgen größerer Verleger abhängig. Oder er würde seine Waren direkt verkaufen müssen. Doch er hatte weder das Talent noch den Weitblick. Von guten Verbindungen ganz zu schweigen. Die Aufgaben wuchsen ihm über den Kopf. Es wurde ihm unmöglich, zu sticken, neue Order an Land zu ziehen und gleichzeitig die Arbeit der Lohnsticker zu überwachen und auszuliefern.«
»Das hast du gut zusammengefasst. Der alte Bader befand sich in einem mächtigen Dilemma, denn keine dieser Aufgaben konnte er richtig erfüllen. Er hatte sich verzettelt. Und hier kam August ins Spiel. Er war jung und wusste genau, was er nicht wollte. Er erkannte in dem Durcheinander schnell die Möglichkeit, aus der heimischen Enge auszubrechen, dem elterlichen Unternehmen wenigstens räumlich den Rücken zuzukehren. Zwar verstand er das Handwerk, hatte aber weder Freude daran, noch mochte er sich vorstellen, tagtäglich die eintönige und körperlich fordernde Arbeit als Sticker auszuführen. In unzureichend beleuchteten Räumen bewegten Vater und Bruder die schweren Schlitten der Stickmaschinen unaufhörlich nach der Vorgabe für die filigranen Muster. Er selbst hatte als Kind jahrelang jeden Morgen vor der Schule die Garne eingefädelt, bis er zu groß war, um sich unter dem Schlitten behände zu bewegen.«
Johanna hatte wissend genickt und erklärt, dass es für ihren Mann einen bereits vor seiner Geburt festgelegten Weg gegeben habe. Er war dazu bestimmt gewesen, als Sticker sein Brot zu verdienen.
»Das Geburtsrecht des Älteren verhinderte zudem, dass er etwas erben würde. Für seine eigenen Kinder dürstete ihm aber nach mehr. Und so nutzte er jede Gelegenheit zum Lernen. Ob in der Dorfschule oder der Kirche, überall saugte er Wissen auf. Sogar die weiterführende Schule setzte er bei seinem Vater durch und überzeugte seine Familie schlussendlich, dass seine Talente nicht in der Produktion der feinen Weiß- oder Stickereiwaren an sich lagen.«
»Genau, dein Mann hatte damals schon ein Händchen für Zahlen. Und er konnte mühelos mit Menschen umgehen, las immer und überall, wo er eine Zeitung erhaschte den Wirtschaftsteil und unterbreitete seinem Vater Vorschläge, wie man den Betrieb effektiver betreiben könne. Anstatt wie bisher pro Stich bezahlt zu werden und darauf angewiesen zu sein, die Arbeiten anzunehmen, die Verleger aus Plauen ihnen übrig ließen, hatte August die Idee, eigene Muster für Krägen, Hauben, Tischdecken und Manschetten zu entwerfen. Diese wurden gestickt, und direkt an die Konfektionsbetriebe vertrieben.«
Dies war eine neue und auch riskante Vorgehensweise für einen kleinen, unbedeutenden Handweber, erklärte Wilhelm seiner Tochter.
Ausschweifend erzählte er von Augusts ersten bescheidenen Erfolgen und wie er begann, mit dessen Familie Geschäfte zu machen.
»Die Krönung der Beziehung aber war die Einladung zu einer Soiree deiner Mutter«, sagte Wilhelm. »Sechs Jahre ist das her, stell dir vor, Vater. Ich erinnere mich genau, wie weltgewandt ich ihn fand. Schon zwei Jahre großjährig, unabhängig und so geschäftstüchtig.« Johanna lächelte versonnen. Doch schnell hatte sich auch Resignation in ihre Züge geschlichen.
»Ja, das war er, mein liebes Kind. Er gefiel uns gut, auch wenn er manchmal übertrieben freundlich daherkam, freuten wir uns doch, dass du Gefallen an dem jungen Mann aus dem Erzgebirge zu haben schienst.«
Rückblickend betrachtet, hatte ihr ihr Vater gestanden, gewann er ihrer beider Verbindung von Anfang an etwas Gutes ab. Er war für seine Älteste nicht auf einen Mann aus den tonangebenden Familien der Stadt erpicht.
»Ich habe ja selbst einen Sohn, der unsere Geschäfte einmal übernehmen soll. Ein vermögender Schwiegersohn mit eigenen Ambitionen hätte auch Konkurrenz für uns bedeuten können, liebe Johanna.«
Denn als Gutsbesitzer war Wilhelm in der Stadt nicht darauf bedacht, die Latifundien zusammen zu legen. Zumal ein Schwiegersohn, der vielleicht betuchter wäre als er selbst, ihm ganz andere Probleme hätte bescheren können.
»Das klingt berechnend«, hatte Johanna ausgerufen und sie erinnerte sich genau, wie befremdlich ihr des Vaters Ausführungen vorgekommen waren. Sie hatte August einfach nur gemocht, seine Schmeicheleien und die Selbstverständlichkeit, wie er sich in ihrer Gegenwart bewegte, genossen. An das Geschäft hatte sie keinerlei Gedanken verschwendet.
»Ein junger Mann wie August, mit Ambitionen, aber aus schlichten Verhältnissen, mit einem Abschluss der Höheren Handelsschule in der Webergasse, der Familie gegenüber demütig und dankbar, das war in unserem Interesse, Johanna. Und deshalb stimmte ich der Verbindung mit August Bader zu, als er zwei Jahre später um deine Hand anhielt.«
Eine undefinierbare Beklemmung hatte sich ihrer bemannt und sie musste den oberen Knopf ihres Jäckchens öffnen. Diese Verbindung, wie Vater es genannt hatte, klang ein wenig wie ein Geschäft. Für eine Sekunde war ihr damals deutlich, dass sie der Einsatz gewesen war, der für einen Höchstpreis versteigert wurde. Doch der Vater hatte diesen Gedanken unterbrochen und die trüben Gedanken zu verscheuchen gesucht.
»Das klingt jetzt sehr geschäftsmäßig, Johanna. Das war es aber nicht. Ich konnte euch zwei lange Jahre beobachten. Sah, wie er um dich warb, wie wohl du dich in seiner Gegenwart fühltest. Wie sehr seine Vorstellungen von einem gemeinsamen Leben mit den deinen übereinstimmten.« Wilhelm hatte seine Tochter fragend, aber auch prüfend angesehen, bevor er fortfuhr.
»Wenn ich ehrlich bin, meine liebe Johanna, dann barg eure Verbindung für mich einen großen, sehr egoistischen Vorteil.«
Fast hatte er geflüstert, als er ihr zuraunte: »Welcher Vater würde sein Kind nicht immer bei sich behalten wollen? Die Vorstellung, dich zu verlieren, die du mir so ähnlich bist, war mir ein Graus. Wir haben die gleichen Interessen und Ansichten, du bist mir unentbehrlich. Hier im Geschäft und besonders zu Hause. Ich kann mir ein Leben ohne dich in meinem Haushalt nur schwerlich ausmalen.«
»Ein Schwiegersohn, der bei dir einzog, da er sich ein eigenes Heim für die junge Familie nicht leisten konnte, kam dir da nur zu Pass.« Johanna war ernüchtert und man sah ihr an, dass sie angestrengt nachdachte. Aber sie liebte ihren Vater. Mehr als die Mutter. War sie ehrlich zu sich selbst, hatte sie seine Beweggründe gut nachvollziehen können.
»Verzeih meine Eigensucht, Johanna.«
Hätte ich damals anders reagieren sollen? Johanna rekelte sich, hielt aber noch immer ihre Augen geschlossen. Dem Vater seine Eigensucht einfach so nachzusehen, war ihr damals nicht schwergefallen, denn sie wusste um die Spannungen zwischen den beiden wichtigsten Männern in ihrem Leben und wollte diese nicht noch verstärken.
Bereits kurz nach der Heirat und mit Augusts Eintritt in die Leitung der Spitzenmanufaktur hatten die ersten Auseinandersetzungen zwischen den beiden Männern begonnen. Meist geht es um Augusts Unpünktlichkeit, oder sein harsches Benehmen, mit dem er das Personal in Haushalt und Kontor herum scheuchte.
Ihr Ehemann zeigte deutlich, dass er seine neue Stellung nicht mit einem täglichen Diener in Richtung Wilhelm beginnen würde. Anfangs gestand dieser ihm einen gewissen Freiraum zu, um seinen Platz im Gefüge des Kontors zu finden, denn seine Arbeit selbst verrichtete er zu aller Zufriedenheit.
Johanna wusste, dies war ein Fehler gewesen, doch zu Beginn ihrer Ehe hatte sie alles getan, um ihren Mann zu unterstützen, hatte über so manche Attitüde hinweggesehen. Genau wie ihr Vater.
Von Anfang an hättest du einschreiten müssen, Vater, dachte Johanna, erstaunt über die Klarheit ihrer Gedanken und die Kälte, die sie dabei durchströmte. Konnte dieser leise Zweifel gar Abscheu sein? Erschrocken setzte sie sich auf und zog die Decke bis an die Schulter. Klar erinnerte sie sich an das Ende ihres damaligen Gespräches.
»Mit diesen Spielchen muss jetzt endlich Schluss sein, Vater. Wir alle leiden darunter. Ich decke seine Lügen, du wirfst den Mantel des Schweigens darüber und für Mutter existiert sowieso nichts, was sie nicht sehen oder hören möchte. Die Einzige, die manchmal Tacheles redet, ist Großmama. Aber wie soll ich …«
Wilhelm zu Hohenlinden hatte seine Tochter erstaunt angesehen und die Brauen gehoben. Nach einer Weile erst hörte sie ihn fast enthusiastisch einen Vorschlag machen.
»Ich denke, mein liebes Kind, du hast dir einen Geburtstag ganz nach deinen Wünschen verdient. Deine Mitarbeit in der Firma und auf dem Gut ist wertvoll für unsere gesamte Familie und dass du dich so liebevoll um Helene kümmerst, werde ich Mutter gegenüber ebenfalls nicht unerwähnt lassen. Das alles tust du, ohne zu klagen, obwohl du gerade so hart für euer persönliches Glück kämpfst. Ich werde mit Dorothea sprechen. Wir veranstalten dein Fest auf dem Gut, und um sie ein wenig zu besänftigen, lade ich ihre Freundin Hannelore aus Oelsnitz ein. Die beiden haben sich seit deren erneuter Heirat nicht gesehen. Wie du weißt, liebt sie den Hof und sie wird meiner Einladung mit Freuden Folge leisten. Das wird deine Mutter ablenken.«
»Danke Vater, ich bin erleichtert. Du ahnst gar nicht, wie sehr ich mich freue.« Lächelnd hatte sie ihn liebevoll angesehen. Sie hob an, um das Gespräch zurück auf August zu lenken, als er ihr mit einer großen Geste das Wort abschnitt. Seine Hände waren synchron nach oben geflogen und es hatte ausgesehen, als ergebe er sich.
»Jetzt ist genug geredet, mein Kind. Ich habe verstanden: Wir müssen einige Dinge besprechen, aber vorher brauche ich etwas Zeit zum Nachdenken.«
Sie erinnert sich, wie erschöpft er ausgesehen hatte, als er sich schwerfällig aus seinem Ledersessel erhob. Stämmiger als noch vor wenigen Wochen, kam er ihr nun weniger agil und lebhaft vor. Sein Teint schien fahl und der sonst fast jungenhafte Charme, der ihn ausmachte, war weit weg gewesen. Unter seinem korrekt sitzenden Maßanzug verbarg er geschickt sein Alter, doch auf einmal erkannte sie mit Wehmut, dass die Zeit und die Bürde der Aufgaben ihren Vater nicht verschont hatten.
Die seltsame Trägheit, die ihn damals übermannt hatte, bemerkte sie seitdem öfter an ihrem Vater. Es war, als ob die Erkenntnisse aus dem Gespräch auf ihm lasteten und ihn die Verantwortung niederdrückte. Nach allem, was sie gehört hatte, wusste sie nicht, ob der Vater ihrem Mann wirklich vertraute. Hatte er Bedenken, August würde ihr Erbe nicht richtig verwalten? War es das, was den Vater umtrieb? »Früher hat er all das leichter geschultert«, murmelte sie.
Noch immer halbsitzend, halb liegend vor sich hindösend, dachte sie an den nachdenklichen Blick, den ihr der Vater zugeworfen hatte. Der Inhalt ihres Gespräches verscheuchte ihren leicht schläfrigen Zustand vollends. Sie erkannte, dass sie die vergangenen Wochen an der Ostsee zwar genossen hatte, ihr Problem jedoch, hatte sich durch die schiere Entfernung nicht in Luft aufgelöst. Sie musste herausfinden, wie es um ihre Ehe stand. Und was mit Helene los war.
Just in jenem Moment betrat Emma mit einem zaghaften Klopfen Johannas Zimmer. Sie wartete keine Antwort ab, grüßte freundlich und zog die Baumwollvorhänge mit einem Saum aus feinen Lochstickereien auf. Dann öffnete sie die doppelflügeligen Fenster und sogleich hörte man das aufgeregte Schnattern der Gänseschar. Klare Landluft flutete den Raum und Johanna entschied, ihren Problemen genau heute auf den Grund zu gehen. Wann, wenn nicht jetzt?
»Guten Morgen Emma, auch schon auf den Beinen?« Ihr Kommentar war überflüssig, aber ein scherzhaftes Ritual zwischen den beiden Frauen. Und das junge Mädchen vor ihr, die mit ihrer geblümten Schürze einige Wassertropfen vom Frisiertisch wischte, bemerkte sogleich: »Ja, gnädiges Fräulein, wach und eifrig zur Stelle.« Die beiden jungen Frauen kannten sich seit Kindertagen, prusteten kurz und schon war Emma aus der Stube gehastet, um weiter ihren Aufgaben nachzugehen.
Trotz der langen Reise, die hinter ihr lag, war Johanna erfrischt und voller Vorfreude auf ihre Familie und den morgigen Tag. Mit einem kraftvollen Schwung schob sie das Federbett beiseite und sprang aus dem Bett. Auf dem kleinen Waschtisch dampfte Wasser in einer Porzellanschüssel und sie streifte, ohne sich zu scheuen, ihr weißes Nachthemd über den Kopf und wusch sich, obwohl das Fenster sperrangelweit offenstand. Sie wusste, es konnte keiner in ihr Zimmer sehen und sie genoss den leichten Schauer, der ihr die feuchten Oberarme hinablief. Sie trocknete sich mit einem groben Leintuch ab, versuchte ihr langes blondes Haar hochzubinden und suchte sich Leibchen und Höschen aus der Kiefernholzkommode neben dem Waschtisch.
Die Wäsche roch nach Wind und Wiese, schien erst vor kurzem draußen gehangen zu haben. Die Hausdame hatte an alles gedacht, freute sie sich und zog ein schlichtes Kleid mit Pulsnitzer Blaudruck und Spitzenkragen vom Haken im Schrank. Schnell in die Schuhe schlüpfen, dachte sie. Und dann freue ich mich auf ein warmes Stück Hefezopf.
Als Johanna sich umdrehte, um ihr Schultertuch vom Bettgestell zu klauben, erfasste ihr Blick zwei Personen am Rand der Wiesen. Die Jüngere führte ein Pferd am Halfter. Überrascht realisierte sie, dass dort ihre Schwester Helene mit dem Hengst Golden und ihre Großmutter Karoline einträchtig nebeneinander herliefen. Die betagte Dame stützte sich schwerfällig auf ihren Gehstock und hatte Mühe mit dem jungen Mädchen Schritt zu halten.
Was hat Helene so früh aus dem Bett getrieben, fragte sie sich kopfschüttelnd und trat näher an das offene Fenster heran. Winkend machte sie auf sich aufmerksam. Die beiden Frauen aber waren in ihr Gespräch vertieft und bemerkten Johanna nicht.
Es würde noch ein wenig Zeit brauchen, bis Großmutter und Schwester zurück wären und sich fürs Frühstück umgezogen hätten, und so beschloss sie, im Souterrain Ausschau nach ihrem Gepäck zu halten. Der Kutscher, der sie am gestrigen Abend von der Bahnstation abgeholt hatte, brachte ihre Koffer meist in den Putzraum hinunter. Von dort würde eine fleißige Seele die schmutzigen Kleider in die Waschküche und alle anderen Sachen in ihr Zimmer bringen. Doch Johanna suchte etwas ganz Bestimmtes und sie wollte nicht darauf warten, bis man es ihr brachte.
Der schmale Flur im Untergeschoss des Herrenhauses war spärlich beleuchtet, durch die hofseitig angebrachten Fenster drang nur wenig Licht. Sie musste aufpassen, wohin sie trat, stapelten sich heute im Flur doch Pakete und Flaschen, Klapptische und sogar ein Notenständer.
Wozu wird der wohl gebraucht, dachte sie, als plötzlich Hans Hofstetter, der Hausdiener, vor ihr auftauchte. Er hatte einen untadeligen Ruf, war im Alter ihres Vaters und seit Johanna denken konnte, in den Diensten ihrer Familie. Im weitesten Sinne fungiert er als Kammerdiener für Papa und steht sonst dem gesamten Personal vor. Er kümmerte sich um Vaters Garderobe, bügelte seine Zeitung, servierte zu Tisch und koordinierte alle Termine innerhalb der Familie. Selbst Minerva Leonhard, die Haushälterin, hatte vor ihm Respekt.
Im Halbdunkel des Souterrains stach seine hakenförmig gebogene Nase mehr als sonst hervor und fast erschrak sich Johanna etwas. Es wollte ihr so gar nicht einfallen, woher er so schnell gekommen war. Aber egal. Schon drang seine unaufgeregte, manchmal näselnde Stimme an ihr Ohr.
»Kann ich Ihnen etwas bringen lassen, Madame? Ich hörte, sie hatten eine anstrengende Reise, möchten Sie auf ihrem Zimmer frühstücken?«
»O nein, Herr Hofstetter, ich freue mich auf die Familie. Aber verzeihen Sie, ich suche meine Reisetasche aus besticktem Gobelin. Die mit der Messingschließe, die ich gestern Abend aus Plauen mitbrachte. Hat die schon jemand ausgepackt?« Ihr Blick huschte in Richtung der Putzstube, in der sie ihr Gepäck vermutete und dann zurück zu Hofstetter. Der schien zu wissen, wovon sie sprach, und bat sie kurz zu warten.
Als er sich der Stube näherte, öffnete sich die Tür von innen nur einen winzigen Spalt und man hörte ein glucksendes Lachen, dass Johanna sofort Emma zuordnen konnte.
Da ist noch eine andere bekannte Stimme, dachte sie. Kehlig und tief. In dem Moment war Hans Hofstetter schon an der Tür angekommen, griff den Knauf und schob das Türblatt vollständig auf.
Mit Erstaunen fing er den Mann auf, der rechts innen im Türrahmen gelehnt hatte, und stellte ihn auf die Füße. Als er sah, wen er vor sich hatte, machte er einen beflissenen Diener und schaute etwas fragend zu Johanna. Sie war so überrascht und gleichzeitig erfreut, dass sie August nicht widersprach, als dieser sie wagemutig in der Taille faste und einmal im Kreis herumwirbelte. Dann schob er sie unter einem Redeschwall sofort in Richtung der Treppe zum Obergeschoß, ehe sie nur ein Wort sagen konnte.
»Wie adrett du aussiehst, meine Süße. So frisch und ausgeruht. Die Seeluft hat dir gutgetan.« Unablässig sprudelte es aus ihrem Mann heraus, er machte ihr weitere Komplimente, fragte, wie sie geschlafen habe, und erklärte etwas umständlich sein frühes Erscheinen auf dem Gut.
»Ich wollte dich überraschen. Gestern hielt mich ein wichtiger Termin von dir fern, aber heute bin ich zeitig aufgebrochen, um den ganzen Tag gemeinsam nur mit dir zu verbringen.« Johanna war noch immer verblüfft, ihn so frohgemut und agil zu sehen. Sie waren sechs Wochen getrennt gewesen und hatten, abgesehen von zwei Briefen, nichts voneinander gehört. In seinen Nachrichten an sie hatte er sich auf seine geschäftlichen Termine beschränkt und ihr nur wenig Anderes mitgeteilt. Ihn jetzt so ausgelassen zu sehen, obwohl sie auf dem Landgut waren, wo er sich sonst so wenig wie möglich aufhalten mochte, erfüllte sie mit tiefer Liebe und Dankbarkeit.
»Wie aufmerksam, dass du heute schon gekommen bist. Ich habe dir so viel zu erzählen und bin begierig auf alles, was in Plauen in meiner Abwesenheit passiert ist. Wo du deine Abende verbracht hast, welchen neuen Klatsch und Tratsch es gibt.« Johanna stand nahe vor ihm, roch sein Eau de Cologne und legte eine Hand leicht auf seinen Brustkorb, als sie zu ihm aufsah. Er hob zu ihrer Verwunderung sanft ihr Kinn und sah sie zärtlich an.
»Ich werde doch den Geburtstag meiner Angetrauten nicht verpassen. Selbstverständlich bin ich das ganze Wochenende hier und werde nicht von deiner Seite weichen. Lass uns frühstücken, ich habe einen Bärenhunger«, hauchte er ihr dann ins Ohr und streifte verwegen mit seinen Lippen ihr Ohrläppchen. Ein leichter Schauder ermächtigte sich ihres Körpers, es kribbelte im Magen und sie nahm seine Hand fest in die ihre, als sie neben ihm in den Salon trat.
Ihre Eltern und Gustav, ihr jüngerer Bruder, saßen schon um den ovalen Tisch und sie sah erstaunte Blicke ob ihrer eigenen Ausgelassenheit. Jetzt fiel ihr wieder ein, was sie ins Souterrain geführt hatte. Aber es war zu spät, sie würde das kleine Geschenk für Papa nach dem Frühstück holen. Der Gedanke an das ausgelassene Lachen aus der Putzstube flammte auf, doch schon war sie bei ihrer Mutter und umarmte sie. Der Vater bekam einen Kuss auf die Wange und ihren Bruder boxte sie ausgelassen auf den Oberarm, wie es zwischen ihnen seit Kindertagen üblich war.
»Bitte hört doch mit diesem Unsinn auf. Dafür seid ihr mittlerweile beide zu alt. Du bist eine verheiratete Frau. Ich verstehe nicht, warum du deinen Bruder nicht normal begrüßen kannst.« Dorotheas Einwand verhallte, ohne dass sich einer der Anwesenden die Mühe gemacht hätte, darauf einzugehen. Nur Wilhelm vermittelte wie immer.
»Dorothea, reg dich nicht auf. Das bringt nichts und das weißt du«, wandte er sich ermahnend an seine Frau.
»Setzt euch schon, oder möchtet ihr im Stehen frühstücken? Ich bin so froh, dass ihr da seid. Es ist herrlich, endlich wieder einmal alle gemeinsam am Tisch zu haben. Ich habe gehört, eure Reise war erfreulich?«
»Ja, Mama. Keine Zwischenfälle, wir sind unversehrt und für den kommenden Sommer habe ich für dich die Suite mit Blick auf das Meer gebucht. Dort wäre für Helene und dich genügend Platz. Denn mein Mann möchte mich im nächsten Jahr ganz für sich allein. Oder, mein Lieber? Das hast du dir doch so gewünscht.« Sie sprach etwas leiser und wandte sich gefühlvoll in seine Richtung.
»Was hattest du eigentlich im Keller zu suchen, August?« Sie flocht die Frage beiläufig in ihr dahinplätscherndes Gespräch und sah ihn neugierig an, während sie sich genüsslich einen Kanten Hefezopf in den Mund schob. Er war zu groß, um als schicklich zu gelten. Die Ermahnung folgte auf dem Fuß.
»Muss das sein, so viel Butter? Also wirklich, deine Kleider werden bald nicht mehr passen«, hörte sie seitens ihres Mannes und fast blieb ihr ob der Ungehörigkeit der Mund offenstehen. Aber bevor sie etwas erwidern konnte, schob er nach:
»Ich verstehe ja, Josefas Hefezopf hast du monatelang vermisst, da kann man schon mal schwach werden, dennoch …« Säuselnd, so als sei alles in bester Ordnung, fuhr er fort:
»Liebes, sei nicht so vorwitzig. Morgen ist dein Geburtstag und es läge im Bereich des Möglichen, dass ich eine kleine Überraschung für dich organisiert habe? Und deshalb im Keller war?«
Seine Stimmung wechselte innerhalb weniger Augenblicke so drastisch von vorwurfsvoll zu schmeichelnd, dass Johanna nicht einordnen konnte, was das zu bedeuten hatte. Sie war brüskiert, verwirrt, ob seiner offen vorgetragenen Arroganz und doch wollte sie an die Überraschung glauben, die er ihr in Aussicht stellte. Bevor sie die Gelegenheit erhielt, ihm etwas zu erwidern, wandte August sich von ihr ab und sah über den Tisch.
»Wie habt ihr geruht? Hoffentlich besser als ich. In Plauen gab es ein fürchterliches Gewitter. Ich musste durchs ganze Haus laufen und schauen, ob alle Fenster geschlossen sind.« August stoppte seine Erklärungen und sah in den Gesichtern eine gewisse Verständnislosigkeit. »Wilhelm, das Hauspersonal in Plauen muss anders organisiert werden. Gestern Nacht war ich der Einzige in Haus und Kontor. Keiner konnte helfen, die Läden zu prüfen, als das Gewitter einsetzte. Glücklicherweise ist nichts passiert, doch wenn ihr alle hier auf dem Gut seid, ist die Arbeit für eine Person allein nicht zu schaffen. Bedenke, es geht nicht nur um unsere Privaträume, sondern ebenfalls um Kontor und Manufaktur. Hofstetter sollte das besser planen.«
Es sieht ihm so gar nicht ähnlich, sich um dergestalt Dinge zu kümmern, dachte Johanna verwundert und hatte das Gefühl, dass irgendetwas an der Geschichte nicht stimmte. Es passte nicht zu August, sich bei einem Gewitter aus dem Bett zu bewegen und zu prüfen, ob alle Fenster geschlossen wären. Auch seine wage Erklärung bezüglich der Geburtstagsüberraschung erschien ihr nun fadenscheinig. Doch sie fand, es war weder Zeit noch Ort, um den Dingen auf den Grund zu gehen.
Sie wollte sich und den anderen nicht die Freude an diesem Wochenende vergällen. Endlich waren sie alle beieinander, sogar Freunde aus Kindertagen würden sie besuchen und im Garten gab es einiges für das Fest vorzubereiten. Es kribbelte ihr in den Fingern, höchstselbst die Gräser und Blumen für den Tischschmuck zusammenzustellen.
Johanna war in ihren Gedanken versunken, als die Tür aufging, und Helene und Karoline erschienen. Ihre Großmutter hatte sich, wie es deren Schwiegertochter wünschte, umgezogen und betrat in einem einfachen, aber adretten Kattunkleid den Raum. Der helle Rock war über und über mit Röschen bestickt, die voluminösen Ärmel aus gestärktem Baumwollmusselin und ein geübtes Auge erkannte leicht, dass es kein Kleid der diesjährigen Saison war. Sicher hing es schon seit einigen Jahren in Karolines Kleiderschrank.
»Du hast das alte Ding ja immer noch, Mama!«, hörte man Dorothea seufzend sagen. Sie schickte einen missbilligenden Blick in Richtung Schwiegermutter, schwieg dann aber.
Karoline erwiderte nichts, ließ sich durch ihre Schwiegertochter nicht beirren. Sie begrüßte sie mit einem freundlichen Nicken und hauchte ihrem Sohn einen Kuss auf die Wange. Dann strich sie Johanna zärtlich über die Schulter und nickte August und Gustav zu. Der Platz an der Stirnseite der Tafel war für sie vorbereitet und sie quittierte das Extrakissen auf dem niedrigen Stuhl mit einem Lächeln. Wie von Geisterhand gerufen öffnete sich schon die Tür und Hans Hofstetter trat ein. Er verbeugte sich in Großmutters Richtung und erkundigte sich nach ihren Wünschen.
»Ich bleibe bei Kaffee, egal was euer Doktor sagt. Durch meine Adern fließt seit jeher das braune Elixier, dieser Leib wird durch Butter und Hefestückchen zusammengehalten und die alten Knochen brauchen ab und an die Stärkung in Schmalz gebackener Köstlichkeiten. Mit Sicherheit werde ich nicht aufhören, Kaffee zu trinken. Genau so wenig wie ich mir am Nachmittag ein Likörchen versage. Hat jemand Fragen bezüglich meines Wohlbefindens?« Mit einem dumpfen Knall stieß Karoline ihren Stock auf den Parkettboden und trommelte mit ihren knochigen Fingern auf dem blütenweißen Tischtuch. Fast lauernd und mit hochgezogenen Brauen blickte sie in die Runde.
»O nein, Mama. Du darfst so viel Kaffee trinken, wie du magst, meinet halben auch schon Likör am Mittag. Tue, was du für richtig hältst. Du bist alt genug«, sagte ihr Sohn, lächelte sie an und bestrich sein Brot mit etwas Butter. Danach griff er nach einer kleinen Kristallschale, die mit köstlich aussehendem Himbeergelee gefüllt war. Dabei streifte sein Blick den seiner Ehefrau Dorothea. Er ahnte, wie es in ihr an einer Ermahnung brodelte, doch sie hielt sich zurück.
»Können wir über meinen Geburtstag sprechen?«, unterbrach Johanna die seltsame Stimmung und griff nach der Hand ihres Ehemannes. Dorothea hob den Kopf, legte ihn leicht schräg und meinte: »Was gibt es da zu besprechen, meine Liebe? Du wolltest es simpel, du bekommst es simpel. Weniger Arbeit für mich.« Ihre Mutter sprach abgehackt und spitz, griff nach einem Brötchen und zupfte versonnen kleine Stückchen ab, die sie sich betont langsam nacheinander in den Mund schob.
»Aber, Dorothea. Was ist denn in dich gefahren? Das Mädchen möchte nach langer Reise eine Feier mit ihren liebsten Menschen und keine große Gala. Das kannst du ihr nicht wirklich immer noch übelnehmen?« Karolines Worte kamen gemurmelt über ihre Lippen, während sie mit Genuss an einem Wurstbrot kaute.
In Dorotheas Blick aber lag Geringschätzung, als sie zu ihrer Schwiegermutter hinübersah und betont pointiert erwiderte:
»Ich nehme keineswegs irgendetwas übel, verehrte Schwiegermama. Die Organisation dieses Festes liegt in den erfahrenen Händen unserer lieben Frau Leonhard und ich bin mir sicher, alles wird wunderschön.« Sie lächelte gekünstelt und sah nacheinander ihre erstaunte Tochter und Karoline an.
»Gut, dann ist alles geklärt. Solltest du noch Wünsche haben, sprich sie mit der Hausdame ab, Johanna. Kommst du heute mit auf die Weiden? Ich verschaffe mir einen Überblick. Ich war drei Wochen unterwegs und in meiner Abwesenheit ist einiges liegengeblieben. Ein Blick in die Bücher könnte auch nicht schaden.« Wilhelm war sich sicher, seine Älteste würde, ohne zu zögern, zustimmen und er sah, wie sie erfreut aufblickte. Doch da bemerkte er den eindeutigen Händedruck ihres Mannes.
Wie immer war Johanna hin- und hergerissen. Was war wichtiger? Ihre Liebe zum Gut und den Aufgaben, die sie erledigen könnte, oder ihre Ehe? August forderte unmissverständlich ihre Aufmerksamkeit und sie verstand, wo heute ihre Prioritäten lagen. Sie schlug die Augenlider nieder, bevor sie sich nach einer gefühlten Ewigkeit dazu entschied, ihrem Mann zu folgen, der im Begriff stand, den Tisch zu verlassen. Er übernahm die Antwort für sie.
»Wir wünschen euch einen angenehmen Vormittag, liebe Familie. Johanna und ich haben uns viel zu erzählen«, sagte August, wischte sich mit der weißen Serviette den Mund, warf sie achtlos auf den Tisch und reichte ihr die Hand. Unvermittelt zog er ihren Stuhl nach hinten und ihr blieb nichts anderes übrig, als sich ebenso zu erheben. Sie lächelte verstohlen und sah alle Anwesenden freundlich an, bevor sie scheinbar leichthin erwiderte: »Wir sehen uns heute Mittag. Vater, die Bücher müssen warten. Ich werde mich in der kommenden Woche darum kümmern.« Sie drehte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, um und folgte ihrem Mann in den Hausflur.
»Das wäre ja noch schöner, wenn dein Vater dich sogar heute mit Beschlag belegen würde. Immerhin haben wir uns sechs Wochen nicht gesehen. Ich würde gerne etwas Zeit mit meiner Frau allein verbringen«, presste August hervor und erwartete unmissverständlich ihre Zustimmung. Das erkannte sie an seiner Stimmlage und Körperhaltung.
»Natürlich, mein Lieber«, war alles, was sie kleinlaut herausbrachte, bevor er weiter auf sie einredete: »Deine Briefe und die wenigen Postkarten zeugten nicht davon, dass du mich vermisst hast.« August ergriff grob ihr Handgelenk und zog sie blitzschnell an sich heran. Die andere Hand umschloss völlig unerwartet ihren Nacken und er begann, sie auf ihren entblößten Hals zu küssen, während er sie heftig atmend an die Wand zurückdrängte. Er presste sich an sie und verschloss ihren Mund mit fordernden Lippen. Johanna war überwältigt, wusste sich kaum zu wehren, doch irgendwie genoss sie die leidenschaftliche Umarmung sogar ein wenig. Dennoch konnte sie nicht umhin, sich zu wundern, wie anders sich August heute um sie bemühte. Sonst war er zurückhaltend, geradezu scheu, wenn es um Zärtlichkeiten ging. Nie küsste er sie in der Öffentlichkeit.
Sein hochroter Kopf ist fast schon grotesk, dachte sie und gewahrte Augusts Hände, wie sie an ihrem Körper hinauf und hinab wanderten. Deutlich spürte sie durch den Stoff ihres leichten Kleides seine Männlichkeit und was sie empfand, erschrak sie. Sie wand sich mit einem Ruck von ihm weg, strich sich den Rock glatt und sah ihn entgeistert an.
»Was ist nur in dich gefahren, August? Hier, im Flur, vor den Angestellten? Wie kannst du nur …« Sie wusste nicht, was sie sonst hätte sagen sollen. Er sah sie mit glasigen Augen abschätzend an, als er seine Lippen zu einem schmalen Strich verzog. Hämisch drangen seine Worte an ihr Ohr. »Ach, die gnädige Frau ziert sich? Ich meinte, jetzt, da du dich wochenlang nach mir verzehren musstest und wo es hier auf dem Land doch alles rauer und wilder zugeht, würdest du mir eine neue Seite an dir zeigen. Endlich etwas mehr Leidenschaft für uns aufbringen.«
Johanna war geschockt, sie schluckte und sah sich verstohlen im Hausflur um. Es war nichts zu hören und niemand zu sehen, der diese vertrackte Situation hätte auflösen können. August schien außer sich zu sein.
»Hast du gar keine Sehnsucht nach deinem Mann? Vielleicht weil du deine Leidenschaft jeden Sommer an der Ostsee mit irgendwelchen Möchtegern Literaten oder wohlhabenden Geschäftsmännern aus Berlin auslebst? Was habt ihr beide so getrieben, das Schwesterlein und du? Wen habt ihr getroffen? Habt ihr interessante Bekanntschaften gemacht?«
August sah sie fordernd an. Seine zugewandte, gar liebevolle Art, die er seit dem Morgen als sie ihn im Keller, bei was auch immer ertappt hatte, an den Tag gelegt hatte, war wie weggeblasen. Sie stand ihm mit leicht geöffnetem Mund gegenüber und spürte nichts, absolut nichts. Es wollte ihr nicht einfallen, was sie getan hatte, um ihn dermaßen zu verärgern. Im Zimmer hinter ihr war ihre Familie, bei der sie sich geborgen fühlte. Vor ihr stand der Mann, mit dem sie verheiratet war und der eine völlig neue Seite an sich offenbarte.
War er eifersüchtig? Hatte er getrunken? So früh am Morgen? Sie gestand sich ein, dass sie tausendmal lieber zurück in das Speisezimmer gelaufen wäre, als die nächsten Stunden allein mit ihm zu sein.
***
Hinter der Tür saß Helene, aufgeschreckt durch die letzten Worte ihrer Schwester. Sie schien zwar in ihr Frühstück vertieft, war in Gedanken jedoch bei Johanna. Der aufgesetzt freundliche Ton in ihrer sonst so weichen Stimme verhieß nichts Gutes. Sprach sie dermaßen übertrieben und kühl, dann hatte die Contenance bei ihrer Schwester die Oberhand gewonnen und die geliebte Hanna verbog sich wieder einmal, um Konventionen zu befolgen. Sie würde ihr Bauchgefühl beiseiteschieben und mitnichten auf ihr Herz hören. Das wusste Helene.
In den vergangenen sechs Wochen war sie Johanna noch nähergekommen. Die beiden Schwestern hatten so manchen Abend auf dem kleinen Balkon am Hotel an der Strandpromenade verbracht und miteinander geplaudert. Es war um ihre Kindheit auf dem Gut gegangen, um Schwärmereien in Johannas Jugend, aber sie hatten auch politische Ereignisse nicht ausgelassen, aufregende Erfindungen und Entwicklungen in Plauen kommentiert. Helene genoss es, mit einer Erwachsenen Dinge fernab der Farbe ihrer Röcke, dem Putz auf ihrem Hut oder dem nächsten gesellschaftlichen Ereignis zu besprechen. Solche Themen langweilten sie zu Tode. Johanna behandelte sie schon immer ebenbürtig, ließ sie den Altersunterschied nicht merken.
An den lauen Sommerabenden hatten die Schwestern auch über ihre Ehe gesprochen.
»Zu gern würde ich mehr Zeit im Kontor verbringen. Die Arbeit mit dem Vater gefällt mir, geht mir leicht von der Hand. Immerhin habe ich eine solide Schulbildung genossen und bin talentiert im Umgang mit Zahlen. Ich spiele da nicht nur ein bisschen Büro … und es füllt mich wirklich aus«, hatte Johanna ihr erklärt.
Doch für eine Frau aus gutem Hause, noch dazu verheiratet, war es nicht standesgemäß, einer Beschäftigung nachzugehen. Sie hatte sich der gängigen Vorstellung folgend mit Kindererziehung, der Führung des Haushaltes oder dem Organisieren von Wohltätigkeitsveranstaltungen zu begnügen. Johanna hatte an all diesen Dingen zwar auch Freude, aber eben nicht ausschließlich.
»Lieber würde ich regelmäßig mit dem Vater im Kontor arbeiten. Auch jedes Mal, wenn er mich bittet, mit ihm gemeinsam die Bücher des Gutes zu prüfen, freue ich mich«, hatte sich Johanna ihr offenbart. Keinem aus der Familie war entgangen, dass sie diejenige war, die ihren Mann und Vater ständig zu deren Arbeit befragte. Ihre Mutter schüttelte bei diesen Gelegenheiten bei Tisch nur genervt den Kopf. Ginge es nach ihr, würde sie liebend gerne den ganzen Tag mit den Töchtern verbringen, doch Johanna hatte freimütig zugegeben:
»Hätte ich das Sagen, so würde ich jeden Tag im Kontor arbeiten, anstatt mit Mutter tagein tagaus die gleichen langweiligen Gespräche und Teestunden zu absolvieren. Wie aufregend ist da doch das Leben der Männer!« Johannas Wangen hatten geglüht, als sie Helene von den exotischen Zielen in der ganzen Welt vorschwärmte, an die die Spitzen aus der Manufaktur verschickt wurden, und wie man ihre Englisch- und Französischkenntnisse schätzte, um Geschäftsbriefe aufzusetzen. Sie hatte den Glanz in den Augen der Schwester bei deren für sie monotonen Vorträgen zu Gewinn-und-Verlust-Rechnungen gesehen, fasziniert zugehört, wenn diese den Zusammenhang zwischen Einkaufspreisen der Rohwaren und Angebotsgestaltung für Krägen und Stickereiwaren erläuterte. Obwohl sie nur wenig davon verstand, hatte sie ihre Leidenschaft für die Arbeit gespürt. Genau das wollte sie auch.
***
August sah Johanna nicht gern im Kontor. Zwar würde er dem Ansinnen des Schwiegervaters nie offiziell widersprechen, doch hinter verschlossenen Türen machte er seiner Frau Vorwürfe. Helene fand es grausam, dass er Johannas Engagement im Kontor für die ausbleibende Schwangerschaft verantwortlich machte. Unweiblich lasse die Arbeit sie wirken, hatte er wohl immer wieder behauptet und Helene konnte sich seinen geringschätzigen Blick dabei vorstellen.
Und so fand sie den Entschluss ihrer Schwester, die Sommer auf dem Landgut zu verbringen, nachvollziehbar. Zwar entging ihr die Arbeit im Kontor, doch auf dem Gut war sie nicht weniger aktiv. August verbrachte die Woche in Plauen, und Johanna war am Tetterweinbachtal die offizielle Vertretung des Vaters. Die schmutzigen Hände, die sie dabei bekam, waren außerhalb des unmittelbaren Zugriffes ihres Ehemannes.
Johanna besprach sich mit dem Verwalter, überwachte die Feldarbeit, die Organisation von Küche und Hofgarten. Ihre geheime Passion war die wilde Gänseschar und der Garten mit seinen üppigen Phloxstauden. Die schnatternden Vögel hatten einen Narren an ihr gefressen und einige von ihnen folgten ihr nicht nur am Morgen hinaus auf die Wiese, sondern watschelten den ganzen Tag hinter ihr her.
Helene wurde immer mit einbezogen, man überließ ihr die körperlich anstrengenderen Arbeiten, die sie ihrerseits mit Freuden übernahm. Sie half im Stall, wachte schon mal bei einer trächtigen Stute oder ging bei der Geburt der Ziegen zur Hand. Bei der Apfelernte war Helene als erste oben auf der Leiter, bis der Verwalter sie mit strengem Blick und einer gewaschenen Maßregelung herunterholte.
Die Ältere kümmerte sich außerdem wöchentlich mit der Hausdame um die Auszahlung der Gehälter und prüfte die Listen für den Einkauf von Saatgut. Diese Aufgaben füllten sie aus, es bereitete ihr Freude, eine wirkliche Bestimmung zu haben.
Natürlich wusste Johanna, dass sich einiges ändern würde, sollte sie jemals Mutter werden. Auch darüber hatten die beiden Schwestern gesprochen und Helene beneidete Johanna keineswegs um den Druck, der auf ihr lastete.
»Was, wenn ich niemals schwanger werde? Mir Kinder versagt bleiben?«, hatte sie mehrmals gefragt und es schien sich eine unsichtbare Last auf sie zu senken, sobald sie dies Schreckensszenario erwähnte. Dann wurde sie schwermütig und in sich gekehrt. Fast wähnte Helene, die Schwester laufe einem Klischee hinterher. Gab sie nur dem Verlangen ihres Ehemannes nach oder wollte sie selbst eine große Kinderschar haben? Unschlüssig zwar, glaubte Helene dennoch, Johanna brauche ein kleines Wesen, dem sie all die Liebe geben konnte, die sie in sich hatte. August war nicht der Mensch, dem sie all das geben konnte.
Welch bittere Erkenntnis, dachte Helene und schwor sich, diesen Gedanken nie mit ihrer Schwester zu teilen.
Helene wurde durch einen Ausruf ihrer Mutter aufgeschreckt. Die krittelte gerade etwas am alten Hofstetter herum und Helene wusste, dass sie auch an ihr etwas finden würde, was sie bemängeln konnte. Dorothea zu Hohenlinden verharrte im angestammten Frauenbild des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Für sie waren Ehe, Mutterschaft, Contenance und die Führung eines behaglichen Heimes, der wahre Lebensinhalt für eine Frau. Ihre Erziehung hatte auf nichts anderes abgezielt und durch ihre Heirat besaß sie die nötigen Geldmittel, sich ein sorgenfreies Leben in der gehobenen Gesellschaft leisten zu können. Das erhoffte sie sich natürlich auch für ihre Töchter.
Zweimal im Jahr staffierte sich Dorothea neu aus, lies Kleider und Hüte nach angesagten Vorlagen aus Paris und London nähen. Sie traf sich mit den Damen der feinen Plauener Hautevolee, organisierte Abendessen, Nähkränzchen und neuerdings Buchbesprechungen. Sie war mit ihrem Leben zufrieden und hatte keinerlei Ambitionen, sich in das Geschäft ihres Mannes einzumischen. Warum sich ihre Töchter manchmal so aufmüpfig gaben, sich mit den Angestellten gemein machten oder Johanna ihrem August nicht genügend gehorchte, war ihr unverständlich. Auch hielt sie mit diesen Ansichten nie hinter dem Berg.
Helene mutmaßte, dass die Mutter einfach nicht anders konnte. Sie sorgte sich um ihr aller Wohl, wie sie immer wieder betonte. Und wenn sie Wohl sagte, meinte sie in allererster Linie die Zukunft Helenes an der Seite eines gesellschaftlich respektablen Ehemannes. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit schwärmte sie ihr vom Leben als verheiratete Frau und Mutter vor. Besonders wenn Helene wieder einmal aus den für sie angedachten Verpflichtungen auszubrechen drohte, wurden die Ermahnungen strenger, die Beschränkungen, die man ihrem täglichen Leben auferlegte, härter.
Bei diesen Gedanken kroch augenblicklich Unmut in Helene hoch. Wie ein Raubtier stürzte sich das Wissen um das Unausweichliche auf sie. Ist es Panik oder Schwermut, vielleicht beides?, dachte sie verzweifelt und suchte das Karussell in ihrem Kopf zu stoppen. Nur leise drangen mahnende Worte in ihr Bewusstsein.
»Magst du dem armen Hofstetter noch lange im Wege rumstehen, mein Kind?« Ihre Mutter schüttelte missbilligend den Kopf, wies das Mädchen an, die Flügeltüren weit zu öffnen, und gab Anweisungen für den Mittagstisch. Helene hatte einige Mühe, die trüben Gedanken abzuschütteln, durch die sie die allgemeine Aufbruchstimmung nicht bemerkt hatte.
Vor den Türen des Speisezimmers erstreckte sich die mit Theumaer Platten belegte Terrasse. Über eine kleine Freitreppe gelangte man hinab in den Garten. Die Wiese davor schien frisch gemäht, morgen würde man dort Sitzgruppen aufstellen und den Aperitif reichen, hörte sie ihre Mutter sagen. Rechts davon schloss sich der Apfelhain an und unter den Ästen der mit Früchten beladenen Bäume wurden lange Tische aufgestellt. Sie erkannte einen Stallburschen von heute Morgen wieder, der just in diesem Moment zu ihr heraufschaute. Er war neu auf dem Gut, sie hatte ihn noch nie gesehen und fragte sich, aus welcher Familie im Umkreis er wohl stammte. Nun sah sie ihn seine Kappe lüpfen und er deutete eine kleine Verbeugung in Richtung ihrer Mutter an, die unbemerkt neben sie getreten war.
»Was ist jetzt, Helene? Du träumst schon wieder.«
»Ich komme nachher zu dir, Mama. Dann berichte ich ausführlich von unserer Reise nach Heiligendamm. In Ordnung?« Dorothea sah sie forschend an und sagte nur: »Gerne mein Kind, ich bin im kleinen Salon.« Helene war froh, etwas für sich sein zu können, obwohl sie nicht recht wusste, wie sie dem Gedankenkarussell entkommen sollte.
***
Zwei Stunden später schlüpfte Johanna geräuschlos unter dem Duvet hervor, verließ ihr Bett und tapste hinüber zum Mansardenfenster. Wie immer quietschte das Scharnier, als sie es öffnete. Ihr Blick blieb an der Streuobstwiese hängen, auf der sie morgen ihren Geburtstag feiern würde. Die lautlose Geschäftigkeit ließ sich auch aus der Ferne spüren und als sie ein Fuhrwerk die Chaussee heraufkommen sah, wäre sie am liebsten hinuntergelaufen und hätte sich selbst darum gekümmert. Aber ein Blick auf ihren fest schlafenden Ehemann reichte, um diesem Impuls nicht nachzugeben.
Ich muss mich etwas herrichten, entschied sie bei dem Anblick, der sich ihr in dem kleinen Spiegel über der Waschschüssel bot.
Wer ist diese Frau da, dachte sie verwundert. Wie kam es, dass sich Johanna Charlotte Bader am helllichten Tag mit ihrem Mann im Bett herumwälzte? Nie hatte sie so über das, was sich in ihrem Schlafzimmer abspielte, nachgedacht. Nie solche Worte verwandt.
Ihren Körper im Spiegel betrachtend, verharrte sie für einen Augenblick länger als sonst. Was sie sah, gefiel ihr. Wohlgewachsen und mit kleinen Rundungen an den richtigen Stellen. Betörend aber, wie August ihr heute Morgen immer wieder ins Ohr geflüstert hatte, fand sie sich nicht.
Nach ihrer brüsken Abweisung vor dem Speisezimmer hatte er sie, ohne zu sprechen, aus dem halbdunklen Flur, die Treppe hinauf in die Mansarde gezogen. Da es neben dem Bett in ihrem ehemaligen Jungmädchenzimmer nur einen einzigen Stuhl gab, war sie unschlüssig auf der Bettkante zum Sitzen gekommen. August hatte sie auf ungewohnt lüsterne Art angesehen. In jenem Moment war ihr bewusst gewesen, dass sie ihn nie so gesehen hatte, sogar die Bedeutung des Wortes erschloss sich ihr just zum ersten Mal.
Verlegen stand sie nun vor dem Spiegel. Ihre Blöße zu bedecken, schien die einzige Möglichkeit, sich etwas wohler zu fühlen. In Unterhose und ein sauberes Leibchen gewandet griff sie zögernd nach dem Kleid von heute Morgen.
Womit soll ich der Mutter meine Abwesenheit erklären? Bin ich ihr eine Erklärung schuldig? Mit schnellen, kantigen Bewegungen kämmte sie ihr Haar und mit jedem Bürstenstrich verscheuchte sie die Gedanken an Dorothea.
Nun regte sich August hinter ihr. Sein zerzauster Schopf tauchte aus den Kissen, er schlug die Decke zurück und schwang sich aus dem knarzenden Bettgestell. Mit einem Satz war er bei ihr und umfasste sie ein weiteres Mal von hinten. Unvermittelt spannte sie ihre Muskeln zur Gegenwehr, aber er wiegte sie nur sanft und küsste sie auf den Nacken.
»Na, meine Liebe, magst du zurück ins Bett kommen? Ich hätte Lust. Jetzt gleich oder nach dem Mittagessen? Ich kann gar nicht genug von dir bekommen. Ich wollte Richard nicht glauben, dass es Ehefrauen gibt, die so etwas tun.« In diesem Moment trafen sich ihrer beider Blicke im Spiegel und sie sah, dass August augenblicklich bereute, was er gesagt hatte. Er lächelte verlegen und küsste erneut ihren Hals.
Johanna aber stockte der Atem. Auf einmal konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Ihr Hirn schien wie abgeschaltet. Ruckartig befreite sie sich aus seiner Umklammerung. Sie drehte sich um, starrte ihn für den Bruchteil einer Sekunde wütend an und holte mit der rechten Hand zu einem Schlag aus. Im Flug fing August ihren Arm ab und verhinderte die Ohrfeige, die sie ihm verpassen wollte. Er war wenig amüsiert, verdrehte ihren Arm schmerzhaft und presste sie aufs Bett gegenüber.
»Lass mich sofort los August. Ich vergesse, was du gesagt hast, aber lass mich los. Du tust mir weh.« Ihr flehender Blick und die Bestimmtheit, mit der sie diese wenigen Sätze ausspie, verfehlten ihre Wirkung nicht. Er trat vom Bett zurück, verdeckte seine Blöße und stammelte: »Entschuldige Johanna, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Aber du musst zugeben, man schlägt seinen Ehemann nicht.« Sie sah ihm offen ins Gesicht, nachdem sie sich auf dem Bettrand vollends aufgerichtet hatte, und schien äußerlich gefasst, auf eine weitere Erklärung zu warten.
In ihr aber tobte es. Sie fragte sich, wer das Monster ist, das dort nackt vor ihr stand. Sie überlegte, wer dieser Richard sei und warum ihr Mann ihren Beischlaf offensichtlich mit einem Bekannten besprach.
August griff nach seiner Hose und schlüpfte hinein, sein muskulärer Brustkorb hob und senkte sich schnell und verlegen suchte er sein Hemd.
Verwirrt zupfte sie selbst an ihrem Leibchen, schnürte ihr Kleid an der Brust und bekam keinen Satz heraus. Das erste Mal in ihrer Ehe hatte Johanna heute unfreiwillig bei August gelegen, gestand sie sich ein. Für ihn war ihre wochenlange Abwesenheit Grund genug gewesen, sie ungestüm unter die Decke zu ziehen. Sie selbst hatte keine überbordenden Gefühle gehabt, auch nach sechs Wochen nicht. Habe ich ihn wirklich so wenig vermisst, dachte sie erschrocken und versuchte in sich hineinzuhören.
Zu Beginn ihrer Ehe war sie überrascht gewesen, dass die ehelichen Pflichten weitaus weniger anstrengend für sie waren, als es ihr Mutter oder auch Freundinnen prophezeit hatten. Im Gegenteil. Manchmal fand sie es aufregend, vor allem, wenn sich eine gewisse Befriedigung einstellte. Aber dann ging August dazu über, ihren Zyklus zu überwachen, irgendwer musste ihm erklärt haben, dass es Tage gab, an denen sie empfänglicher als an anderen war. Sie selbst hatte diese Erkenntnis erstaunt. Seither war er dazu übergegangen, nur noch in sie zu dringen, wenn es wahrscheinlich wäre, endlich den herbeigesehnten Nachwuchs zu empfangen. Er tat es meist wortlos, mechanisch und es war für keinen von ihnen beiden wahre Lust im Spiel. Doch sie sprachen nie darüber.
Heute Morgen war August zärtlich gewesen, fast so wie am Anfang ihrer Ehe. Er hatte ihr Liebkosungen auf die Haut gehaucht, sie lange schmachtend, aber auch lauernd angesehen. Fast hatte sie geglaubt, er hatte schon so früh am Tag getrunken. In der Hoffnung, dass er sich wie üblich, danach müde abwenden und schlafen würde, hatte sie sich ihm schnell hingegeben.
Doch heute war alles anders gewesen. Er hatte sie um unaussprechliche Dinge gebeten und noch immer konnte sie nicht glauben, dass sie es war, die seinem Drängen nachgegeben hatte. Es würde ihr gefallen, hatte er beteuert. Dabei hatte er auf ihre Brüste gestarrt und begonnen, sie sanft zu kneten. Es war ihm nicht um ihrer beider Vereinigung gegangen, sondern allein um seine eigene Lust. Darüber war sich Johanna nun im Klaren. Sie traf eine Entscheidung.
»Du solltest dich in deinem Zimmer waschen und umziehen, August. Wir werden sicher bald zum Mittagessen gerufen. Und es wäre hilfreich, wenn du eine passende Erklärung parat hättest, wo wir in den vergangenen zwei Stunden waren.« Sie klang abgeklärt und beherrscht, obwohl in ihr noch immer Scham und Entsetzen wüteten.
Sie konnte nicht glauben, dass sie seinem Drängen nachgegeben hatte und nach dem, was er gesagt hatte, fühlte sich Johanna benutzt, schmutzig und wertlos.
Als er wortlos die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte, übermannte sie eine bleierne Müdigkeit. Die ihr anerzogene Grazie und Intelligenz ließ sie normalerweise schnell einen Ausweg aus unliebsamen Situationen finden, doch dieser intime Verrat demütigte sie bis ins Mark.
Was hatte er sich nur dabei gedacht? Sie zu behandeln wie … ja, wie?
Schlagartig wurde ihr klar, dass sie schon seit circa einem Jahr an seiner Integrität zweifelte. Misstrauisch seinen Erklärungen lauschte, wenn er wieder einmal spät von einer Kaffeehausrunde heimkam oder wie heute Morgen, vertraut mit Emma tuschelte. Sie fühlte sich verloren. Nur zögernd steckte sie mechanisch ihr Haar auf und schlüpfte in die Schuhe, die sie achtlos abgestreift hatte. Im Spiegel erhaschte sie den Anblick einer jungen Frau, dem sie flink davonlief.
Dorothea
Dorothea rieb sich die Augen. Zwar war das Licht im kleinen Salon an diesem Septembervormittag hell und völlig ausreichend für ihre Stickarbeiten, dennoch verschwamm das filigrane Muster ab und an und sie legte ihren Zeitvertreib missmutig in ihren Schoß. Ungern gab sie es zu, doch sie langweilte sich. Die Aufgaben in Küche, Keller und Stall waren ordentlich verteilt, jeder ihrer Angestellten wusste, was er zu tun hatte und ihr Zutun beschränkte sich auf wenige, unnötige Änderungen und Vorschläge bezüglich der Mahlzeiten.
Auf dem Landsitz der Familie ihres Mannes war noch immer die Schwiegermutter die geheime Matriarchin und obwohl diese keine weitreichenden Entscheidungen mehr traf, richtete man doch viele Alltäglichkeiten nach ihr aus. Dorothea hatte sich damit abgefunden. Denn schlussendlich war es ihr Mann, dem Gut und Manufaktur unterstanden.
Dorothea stöhnte auf. Beim Gedanken an die vielfältigen Ämter ihres Mannes, schüttelte sie den Kopf. Schon vor dem tragischen Unfalltod von Wilhelms Vater und dessen Bruder war ihr Gatte mit der Spitzenmanufaktur in Plauen völlig ausgelastet gewesen. Aber nun oblag ihm auch noch die Lenkung dieses Gutes. Die Geschicke beider Unternehmungen lagen ihm nicht nur am Herzen, ihr Gedeih war essenziell für ihren Lebensstandard, ihr Ansehen in der Stadt und das Erbe für ihre drei Kinder. Es war eine Bürde, die ihren Tribut forderte, fand Dorothea, die Wilhelm durch die bodentiefen Fenster dabei beobachtete, wie er sich auf der Terrasse schwerfällig in einen Korbstuhl fallen ließ.
Er war in den letzten zwölf Monaten gealtert. Natürlich erklärte er sich ihr gegenüber nicht, doch sie bemerkte die kleinen Anzeichen, die ersten aufkeimenden Zipperlein, die ihn plagten. Wenn er jedoch in der Weitläufigkeit des Gutes unterwegs war, auf die Jagd ging oder endlose Spaziergänge über die Felder unternahm, fühlte er sich besser. Die unsichtbare Last, die sich in der Stadt auf seine Schultern legte, schien gelüftet. Hier draußen hielt er den Kopf stolz und seine Schritte wurden kraftvoller.
Er würde das Landgut niemals aufgeben. Egal, was sie sich insgeheim wünschte. Wilhelm war hier aufgewachsen, seine geliebte Mutter hing am Vermächtnis ihres verstorbenen Mannes. Mehr, als der Familie guttut, dachte Dorothea verbittert.
Was gäbe sie für mehr Zeit für ihr kultiviertes Leben in der Stadt, die immer größer und bedeutsamer wurde. Hier draußen auf diesem Gutshof, weit weg von jeglicher Zivilisation, sah man einmal von den Kaiserbädern ab, wusste Dorothea nichts mit sich anzufangen. Sie hielt sich gerne in ihrem stilvollen Salon auf, den sie in frühen Ehejahren nach ihrem Geschmack hatte einrichten dürfen, aber all das Gewese um die Natur, die Tiere, Blumen und Blüten, dass auch ihre beiden Töchter stets machten, ging ihr maßlos auf die Nerven.
Oft musste sie hier an ihre verstorbene Mutter denken, die sich ihr Leben lang über den Landadel echauffiert hatte. Landpomeranzen und schmutziges Pack, Bauern und einfältige Landmänner hatte sie die Menschen genannt, die mit ihrer Hände Arbeit für ihren Lebensunterhalt sorgten.
Jeder in ihrem nahen Umfeld wusste, was dahintersteckte. Dorotheas Vater hatte sich übervorteilen lassen, das Landgut seiner Eltern im Suff verspielt. Die Geringschätzung ihrer Mutter galt eigentlich dem Ehemann, nur so deutlich konnte sie es nicht sagen. Als Dorothea Wilhelm kennenlernte, zögerte sie für einen Moment, denn die abschätzigen Tiraden der Mutter, gerecht oder nicht, waberten damals in ihrem Kopf. Und das taten sie noch immer, von Zeit zu Zeit.
Dennoch war sie nun schon fünfundzwanzig Jahre mit Wilhelm zu Hohenlinden verheiratet. Dem Landleben konnte sie noch immer nichts abgewinnen. Seit ihr Schwiegervater und Schwager jenen fürchterlichen Unfall hatten, verbrachten sie noch mehr Zeit auf diesem vermaledeiten Landgut.
Zu ihrer einzigen Freude zählt die Nähe zum Kaiserbad Bad Elster, wo sich wenigstens im Sommer eloquente Zerstreuung finden ließ. Mittlerweile verzeichnete das Örtchen doppelt so viele Kurgäste pro Jahr wie es Einwohner zählte. Und so wurde das kulturelle Angebot während der Sommermonate von Jahr zu Jahr opulenter und versöhnte sie mit ihrer Abwesenheit von Plauen. Selbst viele ihrer gut betuchten Freundinnen verbrachten mittlerweile ganze Wochen in der Sommerfrische hier. Gemeinsam mit ihnen besuchte sie Konzerte, flanierte durch die dortigen Gärten und nahm schlückchenweise das heilende Wasser zu sich. Dabei hielt sie sich an die Empfehlung des von ihr verehrten Goethe und missachtete ihren Hausarzt, der ihr von zu viel von dem sauren Wasser abriet. Im Schatten des schmucken Albert Bades verweilten sie auf Parkbänken und machten es sich zum Vergnügen, die Garderobe der vorbeiflanierenden Herrschaften zu kommentieren. Selbst Wilhelm begleitete sie ohne zu murren auf Konzerte der Leipziger Philharmonie, die regelmäßig hier auftraten.
Zugegebenermaßen war kulturell in den Sommermonaten im Königlich Sächsischen Staatsbad mehr geboten als in der stickigen Stadt. Und so hatte sie sich mit dem Gedanken angefreundet, die Mitte des Jahres fast ausschließlich auf dem Landgut der Familie zu verbringen.
Ihren Töchtern gefiel es hier sowieso. Im Grunde ihres Herzens sind die beiden kleine Landpomeranzen, dachte Dorothea resigniert und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Es war ihr zu warm im Zimmer, sie würde sich doch nach draußen auf die Terrasse setzen. Vielleicht wehte schon ein kleines Spätsommerlüftchen. Behutsam legte sie ihre Stickerei beiseite, trat durch die Flügeltür und erschrak. Wassertropfen liefen ihr von hinten ins Kleid und sie drehte sich suchend um. Über ihr, am Balkon ihres Schlafzimmers, wurden die Blumenkästen gegossen. Sie tat einen schnellen Schritt und rief aufgeregt: »Wo hast du deine Augen? Und warum steht kein Sonnenschirm auf der Terrasse, soll sich mein Mann die Nase verbrennen?«
Augenblicklich stoppte der kleine Wasserstrahl von oben und langsam schob sich ein blonder Schopf über die Balkonbrüstung.
»Sie wünschen doch draußen zu sitzen, Frau zu Hohenlinden? Ich kümmere mich sofort um den Sonnenschirm. Nur eine Sekunde.« Minerva Leonhard, die rührige Hausdame, die nichts so schnell aus der Fassung brachte, schloss beflissentlich die Fenster im Obergeschoss und schon hörte man ihre Schritte auf der ausgetretenen Holztreppe. Ihre Stimme bellte Anweisungen ans Personal durch den Hausflur.
»Alle sind draußen auf der Wiese mit den Vorbereitungen für morgen beschäftigt«, murmelte sie erklärend, als sie abgehetzt auf der Terrasse erschien und mit einer blütenweißen Tischdecke auf dem Arm auf Dorothea zutrat. Sich der Anwesenheit ihres Gatten bewusst, gab diese sich übertrieben jovial, als sie säuselnd bemerkte: »Hetzen Sie sich doch nicht so, liebe Frau Leonhard, ich kann warten.« Ihr Gesichtsausdruck sagte etwas anderes und das wusste auch Minerva. Sie ließ Wilhelm den Vortritt, der sich erhoben hatte, um mit dem Schirm behilflich zu sein. »Ich lasse sofort Kissen bringen und ein wenig Gebäck. Möchten Sie so lange hier Platz nehmen?« Dienstbeflissen schob sie Dorothea den Stuhl unter den aufgespannten Sonnenschirm und wedelte imaginäre Staubflöckchen vom Sitz.
»Danke, Frau Leonhard, sehr aufmerksam von Ihnen. Wir haben jetzt alles, was wir brauchen. Sie haben Wichtigeres zu tun. Meine Gattin und ich können uns selbst helfen.« Wilhelm war betont freundlich zur Haushälterin, die ihnen eine unverzichtbare Stütze im Haushalt war. Sowohl auf dem Landgut als auch in der Stadtvilla, hatte sie neben Hans Hofstetter, dem Butler, das Zepter fest in der Hand und war Dorotheas verlängerter Arm, ja manchmal zu seinem Leidwesen, sogar ihre Verbündete. Wilhelm schätzte die hagere Frau trotzdem.
»Ich müsste nachher mit Ihnen sprechen, gnädige Frau. Am besten unter vier Augen.«
Dorothea horchte auf. Die Hausdame nahm normalerweise nicht für sich in Anspruch, der Dame des Hauses vorzuschreiben, wo und wann man sich besprach, und so ahnte sie, die Angelegenheit war von einer bestimmten Brisanz. Sie nickte verstehend.
»Mama? Du, hier draußen? Die Sonne wird deinen Porzellanteint ruinieren«, hörte sie nach nur wenigen Momenten der Ruhe ihre älteste Tochter sagen. Als sie aufblickte, sah sie in Johannas rosiges Gesicht. Wo hat sie nur in den letzten zwei Stunden gesteckt, dachte sie, als sie einen Leichterhand hingehauchten Kuss auf der Wange verspürte. Welch eine Zuneigung. Das bin ich von Johanna gar nicht gewohnt. Sonst ist sie den ganzen Tag auf dem Gut beschäftigt und lässt sich höchstens zu den Mahlzeiten sehen, wunderte sie sich. Nun gesellte sich auch August zu ihnen. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und der Anblick der jungen Leute erinnerte sie an die ersten Jahre nach ihrer eigenen Hochzeit.
Wilhelm und sie, frisch verheiratet und ungestüm, waren weitaus aufmerksamer miteinander umgegangen als heute. Bis für Nachwuchs gesorgt war, Dorothea ihre Pflicht für erfüllt gehalten hatte, bemühte sie sich redlich um eine Nähe, die sie später nicht mehr aufkommen ließ. Nun, da sie ihre Schuldigkeit getan hatte, gab sie sich ihrem Mann nur noch an, wie sie sagte, hohen Feiertagen hin. Bei dem Gedanken an seine mittlerweile ungelenken und fantasielosen Liebkosungen schüttelte es sie unmerklich und sie musste sich zwingen, nicht an die Blicke zu denken, die sie manchmal bei ihrem Mann wahrnahm, wenn er einem der jungen Dinger auf dem Hof nachsah.
Sie schielte zu ihm hinüber. Er war in seine Zeitung vertieft, schien die jungen Leute nicht wahrzunehmen.
»Hast du das schon gelesen, Dorothea? Auf der Themse ist ein Ausflugsdampfer gesunken. Über 600 Passagiere mussten ihr Leben lassen und sind ertrunken. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie das war, als so viele Menschen dicht an dicht, einfach in den Fluten versanken.« Er sah von der Zeitung auf und blickte in entsetzte Gesichter.
»Wie furchtbar. Ich wäre auch untergegangen, mein Lieber. Niemals setze ich einen Fuß auf ein solch großes Schiff. Und warum mussten die armen Seelen ihre Leben lassen? Vergnügungssüchtig sind die Menschen und schätzen Gefahren falsch ein. Nicht wahr, meine Liebe?« Dorothea legte ihre Hand auf die ihrer Tochter und erhaschte einen entgeisterten Blick.
»Vergnügungssüchtig? Aber Mama!« Kopfschüttelnd entzog sich Johanna der Berührung und knibbelte fahrig am Weidengeflecht der ausladenden Stühle. Sie wusste auf einmal nicht, was sie hier tat.
»Schon gut, mein Kind. Hast du eure Wäsche bei Frau Leonhard abgegeben? Sicher habt ihr kein einziges sauberes Stück mit zurückgebracht, oder?« Dorothea wusste, wann sie das Thema wechseln musste.
»Keine Sorge, Mama. Bis morgen gibt es je ein frisch gewaschenes Kleid für Helene und mich, das nicht schon fast aus den Nähten platzt.«
Erst jetzt sah Dorothea erstaunt, dass ihre Tochter in einem alten und recht knapp sitzenden Rock auf der Terrasse des Herrenhauses stand. So etwas trug sie sonst nur, wenn sie auf dem Gut arbeitete, den Angestellten zur Hand ging oder im Begriff war auszureiten. Warum nur richtete sich das Mädchen nicht etwas hübscher her?
»Heute will ich mal nicht so sein, es ist dein erster Tag zu Hause.« Sie tätschelte wieder Johannas Hand und lächelte sie an, bevor sie dann doch eine Ermahnung loswurde. Flüsternd redete sie auf ihre Älteste ein. »Mein liebes Kind, deine Aufmachung ist nicht vorteilhaft. Dein Ehemann hat dich monatelang entbehrt und was du ihm präsentierst, ist ein verwaschenes Kleid, dem bald die Schnürung platzt und das aus der …« An dieser Stelle musste sie kurz überlegen, bevor sie fortfuhr. »… aus der vorvorletzten Saison stammen muss und weder farblich noch im Stil zu dir passt. Wenn du so weitermachst, werdet ihr nie Kinder haben, denn was du deinem Mann hier präsentierst, ist nicht …«
Wieder schien sie nach dem richtigen Wort zu suchen. Sie schluckte bedächtig und musterte ihre älteste Tochter. Bevor sie zu einem weiteren rhetorischen Schlag ausholen konnte, befreite sich Johanna vom Klammergriff ihrer Mutter, trat von ihr weg und auf ihren Mann zu. Sie legte ihre rechte Hand betont zärtlich auf Augusts Brust und säuselte: »Lass uns noch zum Teich laufen und schwimmen, mein Lieber.« Dann drehte sie sich fast unmerklich zu ihrer Mutter um und schickte hinterher: »Ich glaube, wir brauchen vor dem Mittagessen eine Abkühlung, es ist so stickig heute und ich kann noch immer deine Küsse auf meiner Haut spüren.«
Unverwandt sah sie geradewegs in Dorotheas Augen, der ob der Obszönität der Mund offenstand. Empört und hochrot anlaufend wand diese den Kopf ab und gab vor, nichts gehört zu haben.
August zog die Brauen hoch. Zu gerne hätte er gewusst, was sich seine sonst so beherrschte Johanna dabei dachte, aber er hatte eine Ahnung und war erleichtert. Die Verstimmung von vorhin schien vorüber. Wie ein Schoßhündchen lief er hinter ihr die Freitreppe hinunter und hatte Mühe, mit ihr Schrittzuhalten. Dass die Versöhnung, von der er sogleich träumte, in weite Ferne rückte, als sie außerhalb der Sichtweite der Schwiegereltern waren, enttäuschte ihn.
»Geh du ruhig schwimmen, August. Ich gehe in den Gemüsegarten, dort muss ich nicht damit rechnen, dass mir jemand Vorschriften macht oder mich benutzt wie eine …« Sie wandte sich abrupt ab und wartete nicht auf seine Antwort.
Die offensichtliche Aufmüpfigkeit ihrer Tochter gefiel Dorothea gar nicht und selbst Wilhelm schüttelte genervt den Kopf.
»Ich gehe nach dem Kalb sehen, Doro. Bitte wartet mit dem Essen auf mich«, murmelte er.
Er ist mir wahrlich keine Stütze. Bald ist Zeit für das Mittagessen und er läuft in den Stall, dachte sie verärgert.
»Dürfte ich sie jetzt eine Minute stören, gnädige Frau?« Minerva Leonhard war unvermittelt hinter Dorothea aufgetaucht. Sie erschrak.
»Ja, bitte. Was gibt es denn?« Sie sah hoch und ein Sonnenstrahl blendete sie, für einen Moment vermochte sie nichts zu sehen. »Nehmen Sie schon Platz, Frau Leonhard. Was duldet keinen Aufschub?«
Beflissen setzte sich die Hausdame gegenüber in einen bequemen Korbsessel und rückte diesen nah an Dorothea heran. Dann lehnte sie sich vor und begann mit leiser Stimme auf sie einzureden.
Wilhelm
Welch erhabenes Gefühl, dachte Wilhelm, als er das Kälbchen endlich erblickte. Landwirt zu sein, erfüllte ihn auf eine Weise, die er kaum zu beschreiben vermochte. Es war Dankbarkeit, die ihn durchflutete, als er das Kalb mit Stroh abrieb, das klamme, warme Fell unter seinen Händen spürte und dabei sehr zufrieden mit seinem Tag war. Dieses Tier ist gesund, groß und auffällig gefleckt. Das wird eine prima Zucht, dachte er und lehnte sich erschöpft an den Pflock neben der Box, in der Kuh und Kalb die nächsten Tage verbringen würden.
»Immer wieder ein Wunder, wie sie das so fast allein schaffen, oder?«, Conrad Leitner hatte mit ihm die letzte Stunde verbracht und streute nun frisches Stroh in den Verschlag. Wilhelm besah sich den Mann genauer. Er war noch nicht lange bei ihnen angestellt, hatte sich laut Verwalter aber schnell eingefügt und verstand nicht nur etwas von der Viehwirtschaft, sondern hatte geschickte Hände für Reparaturen aller Art und eine scharfe Kombinationsgabe.
»Ja, es ist ein Wunder«, murmelte er und dachte an die umfangreichen Fähigkeiten, die sich dieser Bursche in so jungen Jahren angeeignet hatte, als sie schweigend hinüber zur Pumpe schritten. Wilhelm bewegte mühelos den Schwengel und die Männer erfrischten sich.
»Geh jetzt in die Küche und iss, das hast du dir redlich verdient und heute am späten Nachmittag will ich dich in meinem Büro sehen. Fünf Uhr.« Er sah sich nicht nach dem jungen Mann um, der erstaunt an der Pumpe verharrt war.
»Um Fünf muss ich melken, aber danach kann ich kommen.« Wilhelm lächelte ob der unbekümmerten Geradlinigkeit dieses Mannes und nickte zustimmend.
***
Als er zehn Minuten später gekämmt und in angemessener Kleidung im Salon erschien, stand Dorothea mit vor dem Leib verschränkten Armen in der offenen Terrassentür. Sie bewegte sich kaum. Ihr Blick war starr auf die Obstplantage gerichtet. Wilhelm überlegte kurz zu ihr hinüberzugehen, entschied sich dann aber dafür, sich mit der Zeitung in seinen Ohrensessel zurückzuziehen. Als er hinter Dorothea mit dem Zeitungspapier raschelte, drehte sich diese brüsk um.
»Keine Begrüßung, mein Lieber?«
»Aber Dorothea, wir haben uns heute mehrmals gesehen. Ich war der Meinung, du bist in Gedanken. Was gibt es? Unsere Hausdame hat mir mitteilen lassen, dass du mich sprechen möchtest. Meinst du, dass jetzt der richtige Zeitpunkt dafür ist? Wo hoffentlich alle gleich zum Essen erscheinen werden?«
»Ich weiß nicht, ob es passt. Doch für dieses Gespräch, mein Lieber, wird es den richtigen Moment nicht geben. Wir müssen über Helene reden.«
»Über Lenchen? Sie ist keine vierundzwanzig Stunden zurück. Sie kann unmöglich schon etwas angestellt haben.« Wilhelm lächelte und wandte sich seinem Zeitungsartikel zu.
Doch Dorothea gab nicht nach. »Da kennst du deine Tochter schlecht. Das, was ich dir mitzuteilen habe, duldet keinen Aufschub.«
In diesem Moment öffnete sich die Tür und August trat ein. Er deutete eine leichte Verbeugung in Richtung seiner Schwiegermutter an und begab sich an die Konsole, um einen Aperitif einzuschenken.
»Möchte sonst noch wer?«, erkundigte er sich gelöst, drehte sich um, und bemerkte Dorotheas angespanntes Gesicht. Er hatte auf einmal das unbestimmte Gefühl, in ein wichtiges Gespräch hinein geplatzt zu sein, überlegte kurz, entschied aber, es zu ignorieren.
»Dorothea? Einen Likör? Schwiegervater? Du hattest einen anstrengenden Morgen, habe ich gehört und gleichzeitig einen erfolgreichen. Das junge Kalb soll prächtig sein. Was hättest du gern?«
Wilhelm winkte entnervt ab. Die Gespräche mit seiner Frau über Helene waren unerquicklich. Immer und immer wieder sprach Dorothea davon, wie wild und ungestüm das Mädchen sei, wie schwer es würde, einen passenden Heiratskandidaten für sie zu finden und wie wenig das Kind auf Ermahnungen hören würde. Er hatte gehofft, dass die Zeit, die Mutter und Tochter getrennt voneinander verbracht hatten, dazu beitragen würde, diese Spannungen zu lockern. Dorothea würde nicht nachgeben. Er hatte genug davon und entschied, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
»Wir sprechen nach dem Essen in meinem Büro.« An seinen Schwiegersohn gewandt erwiderte er: »Ich nehme ein großes Glas von dem Roten. Dorothea, lass bitte auftragen, ich habe heute noch viel vor. Sei so lieb und läute.«
***
Während des leichten Mittagsmahles besprach die Familie den morgigen Tag. Der Nachmittag würde im Zeichen von Unterhaltung durch ein kleines Streichorchester stehen, die Mädchen hatten Bocciakugeln von der Ostsee mitgebracht und freuten sich schon darauf, dass Spiel mit ihren Freunden auszuprobieren. Für den Tanzabend, den sich Johanna gewünscht hatte, wurde im Garten eigens ein kleines Podest aus Holz gezimmert. Man hörte das Hämmern bis in den Salon hinein.
»Denkst du, die Kapelle spielt auch etwas Flottes, Mama? So wie an den Nachmittagen im Ostseebad? Erinnerst du dich?« Johanna wandte sich aufgeregt an ihre Mutter, die während der Mahlzeit kleinlaut und in sich gekehrt am Tisch gesessen hatte. Aber Dorothea reagierte nicht, sie schob ein Kartöffelchen auf ihre Gabel und führte diese in Zeitlupe zum Mund. Als sie aufsah und in das fragende Gesicht ihrer Tochter blickte, wurde Wilhelm schlagartig klar, dass sie völlig abwesend wirkte. Um von ihr abzulenken, sagte er: »Was tanzt man denn heute Wildes, mein Kind?« Doch Dorothea lenkte ein und antwortete leise: »Du hast ganz recht, ein paar Stücke von Johann Strauss von Suppe oder Dvorak werden uns auch gut unterhalten.«
Johanna wunderte sich über die Mutter, denn bei der Erwähnung des Streichorchesters sah sie entgeistert, wie Dorotheas Gabel noch immer auf halben Weg zum Mund, in deren Hand verharrte.
Was ist denn nur los hier, dachte sie und schüttelte den Kopf über die eigenartige Stimmung am Tisch.
***
Als Wilhelm später im Büro mit seiner Frau sprach, war ihm bewusst, dass man ihre aufgeregten Stimmen draußen hören musste. Besonders seine Gattin war außer sich, erschien ihm seltsam fahrig.
Wilhelm selbst glaubte, sich verhört zu haben. Die Worte waberten um ihn herum, hüllten ihn in eine lautlose Schwerelosigkeit. Dann wieder sah er sich vor einem Abgrund stehend. Er musste sich an seinen Schreibtisch lehnen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und rieb sich entgeistert die Stirn. Sekunden fühlten sich an wie eine kleine Ewigkeit und sein Ausbruch kam so unkontrolliert wie polternd und erschrak Dorothea, die ihn so noch nie erlebt hatte. Er war außer sich und ließ sie wissen, was er gedachte zu tun. Und er duldete keine Widerworte.
»Morgen Abend nach dem Fest wirst du mit Helene sprechen, ihr arrangiert eine schnelle Hochzeit und dann wird das Kind zu ihrem Ehemann ziehen. So wie es sich gehört. Ich hoffe, es ist noch nicht so spät, als dass man …«
***
Johanna lehnte derweil im Flur an der kühlen Wand neben der Bürotür und versuchte, so flach wie möglich zu atmen. Sie hatte Mühe, ein Stöhnen zu unterdrücken, als mit Schwung die Haustüre aufflog. Die Hunde ihres Vaters liefen stürmisch vor August in die Diele und der Luftzug schlug die Kellertür zu.
Aufgeschreckt durch das dumpfe Geräusch, stürmte nun Wilhelm ins Vestibül und stand dem erstaunten August gegenüber. Johanna bückte sich und zupfte an den Staubrüschen ihres bodenlangen Kleides, so als ob sich dort etwas verfangen hätte. Zum Glück wuselten ihr die beiden Rüden um den Rock und es sah so aus, als ob sie gemeinsam mit August eben erst hereingekommen wäre.
»Ich war gerade auf dem Weg zu Frau Leonhard, besprechen was noch zu tun ist, Papa, und dann bringe ich Emma ein altes Kleid von mir, für morgen. Du weißt schon.«
Für Wilhelm hörte sich seine Tochter seltsam nervös an und auch ihr Mann zog bei der Salve an nicht geforderten Erklärungen kurz die Stirn kraus. Dann aber nickte er, denn er erkannte, dass Johanna auf seine Unterstützung hoffte. August missbilligt die Nähe zwischen seiner Frau und den Angestellten und so hoffte sie augenscheinlich auf ihn.
»Dann wirst du Emmas und Jacobs Familie besuchen, nicht wahr?« Bei diesem Einwurf schoss seiner Tochter die Röte ins Gesicht.
Wilhelm wusste um die Probleme, die sich aus dem freundschaftlichen Verhältnis mit den Kindern aus dem Dorf und heutigen Angestellten ergaben. Seinem Schwiegersohn war dies schon immer ein Dorn im Auge.
»Das ist doch nett von dir, mein Kind«, hörte er seine Gattin säuseln, die neben ihm in den Türrahmen getreten war.
»Ja, man soll geben, wenn man es kann, und Emma hat sich ein kleines Geschenk verdient. Hilfreich, wie sie für euch beiden an der Ostsee war«, stimmte Wilhelm seiner Frau unumwunden zu. Dann hakte er sich bei Dorothea unter, zog hinter sich Bürotür zu und sie gingen hinüber in den Salon und von dort auf die Terrasse.
Johanna hörte ihn sagen: »Lass uns einen Kaffee nehmen, meine Liebe«, und wusste, das belauschte Gespräch war nicht beendet. Aber was sie gehört hatte, reichte ihr. Jetzt ergab so Vieles einen Sinn.
Wilhelm hatte sich etwas beruhigt. Die kurzfristige innere Atemnot, die ihn überkommen hatte, verflüchtigte sich und machte dem rationalen Handeln, dessen er sich rühmte, Platz. Er war im Kampfmodus. Am Ende des Tages, darüber war er sich absolut sicher, würde alles gut ausgehen. Stürme solcher Art rissen einen Wilhelm zu Hohenlinden nicht von den Füßen. Er würde es sich und seiner Frau beweisen. Und Helene würde sich fügen, sie war doch ein intelligentes Mädchen. Sein Mädchen.
Wieder einmal würde er beweisen, dass er das Schicksal bezwingen kann. Und für die kommenden Tage galt, niemanden auch nur im Entferntesten glauben zu lassen, irgendetwas wäre nicht in Ordnung.
Helene
Es war eine Freude, der kleinen Gruppe zuzusehen, die die provisorisch zusammengezimmerte Tanzfläche am nächsten Tag bevölkerte. Helene selbst hatte nach anfänglichem Zögern ausgelassen getanzt und ruhte sich nun, völlig außer Puste, ein wenig aus. Insgeheim wunderte sie sich, wie sie diese Ablenkung genoss und freute sich daran, dass Johanna genau den Geburtstag bekommen hatte, den sie sich so wünschte.
In diesem Jahr gab es die lange Tafel mit weißen Leintüchern, opulent ausstaffiert mit blitzendem Geschirr, Kristallgläsern und edlem Besteck, die sie sich ersehnt hatte. Arme voll duftender Blumen und Gräser hatte Johanna höchstselbst aus den Staudenbeeten des Gartens geholt und in große tönerne Gefäße verteilt. Rosen fanden in den Kristallvasen der Mutter einen würdigen Platz und die letzten Gänseblümchen reckten im guten Meissner Porzellan ihre Köpfe der Sonne entgegen. Neben hohen Kerzenleuchtern mit je acht Armen und Schalen mit frischem Obst, fand jeder Gast eine eigens für ihn bestickte Serviette vor. Selbstverständlich mit hauseigenen Spitzen und dem jeweiligen Namen und dem Datum des Festes versehen. Johannas Vater hatte sie damit überrascht und diese kleine, elegante Geste versöhnte selbst Dorothea mit der etwas lässigen Art dieses Geburtstages. Das alles machte wirklich etwas her.
Man hatte mittlerweile schon ausgiebig gespeist, danach einen Spaziergang über die Flure bis hinauf zur kleinen Kapelle gemacht und sich dann mit Boccia die Zeit vertrieben. Johanna schien gelöst und lachte viel.
Sogar ihre Mutter hatte Freude an dem Fest. Schmunzelnd musste Helene ihrem Vater Respekt zollen, der mit der Einladung deren ältester Freundin für Ablenkung gesorgt hatte. Am Morgen war die Kutsche mit Hannelore und ihrem zweiten Ehemann Moritz Tandell in den Hof eingefahren und der Mutter waren ob der Freude und Überraschung die Tränen gekommen. Bis dahin hatte sie an diesem oder jenem herumgenörgelt und es fast geschafft, ihnen allen die gute Laune zu vermiesen.
Hannelore Tandell aber verstand es, die Aufmerksamkeit ihrer Mutter mit Anekdoten von ihrer Hochzeitsreise ganz auf sich zu lenken und die beiden saßen schon seit Stunden unter dem großen Schirm auf der Terrasse. Dorothea war beschäftigt, lachte, plauderte und trank.
Helene sah um sich herum vergnügte Paare, ausgelassene Gespräche unter Freunden und fühlte sich mit einem Male seltsam verloren. Als sie gestern Mittag gehört hatte, dass ihre Mutter eine Gruppe von Musikern aus Bad Elster engagiert hatte und sogar der Dirigent der Kaiserbad Kapelle kommen würde, hatte sie gehofft, Curt zu treffen. Und natürlich wollte sie glauben, dass auch er sehnlichst auf ein Wiedersehen mit ihr hoffte. Auf dem Wagen aber, der kurz nach dem Essen die Landstraße herauffuhr, konnte sie ihn nicht ausmachen und war dann augenblicklich von einer betrübten Stimmung erfasst worden.
Gänzlich in den Gedanken an Curt verloren, bemerkte Helene die kleine Gruppe nicht, die sich um den Dirigenten und Orchesterleiter gebildet hatte. Man begann fröhlich zu lachen, zu gestikulieren und Glückwünsche an die junge Frau auszusprechen, die sich eben jetzt von dessen Arm löste. Noch als Helene verzweifelt darüber nachdachte, woher sie die blonde, hochgewachsene Schönheit kannte, rief ihr ihr Bruder Gustav zu: »Komm herüber, Helene, wir wollen anstoßen. Es gibt etwas zu feiern. Sitz doch nicht so allein dort herum.«
Während er ihr das zurief, geleitete er die kleine Gruppe an den Tisch, rief den Bediensteten etwas zu und sorgte für Nachschub aus den Rotweinreserven ihres Vaters. Wilhelm hatte ebenfalls aufgehorcht und kam mit Hannelores Ehemann die Stufen der Freitreppe hinab in den Garten, um als Gastgeber nicht unhöflich zu wirken. Helenes Blick ging hinauf in die dichter werdenden Wolken und sie dachte für einen winzigen Moment an ihre Großmutter, die sich vor einer Weile verabschiedet hatte, um nochmals zur Kapelle zu gehen. Dann aber begab sie sich hinüber an den Tisch und griff sich ein Glas Apfelsaft.
»Auf Ihre Tochter und den Herrn Stargeiger, den künftigen Schwiegersohn, Herr Leibel«, hörte sie ihren Vater gerade noch einen weiteren Toast ausbringen, als ihr der erste Schluck fast in der Kehle stecken blieb. Sie verschluckte sich, atmete an der falschen Stelle und spürte, wie sich ihre Speiseröhre verkrampfte.
Der Saft rann ihr aus dem Mundwinkel auf ihr neues, mit Spitzen besetztes Kleid und mit schreckgeweiteten Augen sah sie, wie die kleinen goldenen Tropfen in den feinen Stoff eindrangen. In Zeitlupe stellte sie ihr Glas ab, fasst sich an die Kehle und bekam in letzter Sekunde eine Stuhllehne zu fassen. Langsam erlangte sie ihre Beherrschung zurück, als die Worte ihres Vaters nun nicht nur ihr Ohr, sondern auch ihr Bewusstsein erreichten. Dieser sprach weiter aufgeregt mit Leibel, während sich die anderen dessen Tochter zuwandten.
»Welche Fügungen das Schicksal manchmal für uns bereithält, nicht wahr? Sie müssen glücklich sein über diese Verbindung, Herr Leibel. Alles, was ich bisher von Curt Blasewitz gehört habe, ist beeindruckend vielversprechend. Hat ihr Schwiegersohn nicht im nächsten Jahr den Platz der ersten Geige im Leipziger Gewandhausorchester inne? Hoffentlich bleibt er diesem Hause noch lange erhalten. Er hat doch wohl keine Ambitionen, sich in Richtung Wien von Ihnen zu entfernen?«
Helene schluckte ein weiteres Mal hart, nahm das Glas neben sich wieder auf und leerte es mit einem Zug. Suchend sah sie sich nach der Flasche um, füllte mehr Saft nach und kippte auch diesen hinunter. Da begegnete sie dem entgeisterten Blick ihrer Mutter, die sofort anhob, etwas zu rufen.
Als sie in die Augen der jungen Frau sah, um deren Verlobung solch Bohei gemacht wurde, entschied sie, die Flucht anzutreten. Sie raffte ihre Röcke und lief, so schnell es ging, aufs Haus zu. Sie musste weg hier, in ihr Zimmer und nie wieder herauskommen.
Sie sah nicht nach links oder rechts, war einzig auf ihre Schritte bedacht, als man sie am Arm fasste und zum Stehen zwang. Sie sah in die fragenden Augen ihrer Schwester.
»Lass mich los, Johanna. Bitte«, flüsterte sie keuchend.
»Was ist denn mit dir los? Willst du nicht gratulieren? Das ist unhöflich. Und wo willst du hin? Der Kuchen wird gleich aufgetragen …«, plapperte ihre Schwester auf sie ein.
»Hat Vater wirklich von Curt Blasewitz gesprochen, Johanna? Dieses blasse, farblose Geschöpf da drüben heiratet Curt, den Stargeiger? Ich habe mich nicht verhört?«
Helenes Mundwinkel zuckten und ihr Blick schwirrte unablässig zwischen ihrer Schwester und der Tochter des Kapellmeisters hin und her. Sie knetete ihr Taschentuch und jeder konnte sehen, wie sich Helenes Brustkorb seltsam schnell auf und ab bewegte. Fast schien es ihr, sie stünde kurz vor einem Asthmaanfall und da verdrehte Helene auch schon die Augen und sackte nach hinten weg. Johanna konnte sie nicht auffangen und so schlug sie hart mit dem Hinterkopf gegen das Sandsteingemäuer der Freitreppe.
So, als ob es ein unsichtbares Zeichen gegeben hätte, begannen die Geiger in diesem Moment wieder ihr Spiel und die Aufmerksamkeit der Anwesenden richtete sich ganz auf den Tanzboden. Einzig Wilhelm hatte die Szene an der Treppe beobachtet, schnappte sich Emma, das Zimmermädchen und deren Bruder Jacob und sie liefen hinüber, um zu helfen.
Sie trugen Helene in ihr Zimmer hinauf. Schon wenige Momente nach ihrer Ohnmacht war sie wieder zu sich gekommen, ihr Vater jedoch bestand darauf, einen Arzt holen zu lassen. Sie vermochte es nicht, ihn mit einer Lüge zu beruhigen und ihre Versicherung, die kurze Atemnot kam nur durch die Blütenpracht am Tisch, in die sie unvernünftigerweise ihre Nase gesteckt hatte, entlockte ihm nur ein Lächeln. Wilhelm beaufsichtigte Emma, als sie die Schürfwunde am Hinterkopf versorgte und verließ dann mit einem prüfenden Blick auf seine Jüngste, ihr Zimmer. Leise schloss Johanna hinter ihrem Vater und Emma die Tür zu Helenes Kammer.
»Raus mit der Sprache, Lenchen. Was ist los? Curt Blasewitz? Du und Curt? Du musst mir jetzt sofort alles erzählen, es ist zu spät für Geheimnisse. Ich ahne, was mit dir ist und nur das du es weißt, Mutter und Vater sind auch im Bilde.«
Vor dem Fenster des Mansardenzimmers zog ein Gewitter auf, aber die beiden jungen Frauen nahmen nichts davon wahr. Sie waren in ihr Gespräch vertieft.
Helene erzählte ihrer Schwester von ihrem ersten Verliebtsein, den Tagen im Frühling, als sie gemeinsam in Bad Elster auf den Konzerten die Bekanntschaft des Musikensembles gemacht hatten. Sie gestand ihr, dass all die Termine bei der Putzmacherin und ihre Spaziergänge im Park weder mit Emma noch mit ihren Freundinnen stattgefunden hatten.
Sie ließ Johanna an ihrer Schwärmerei für den gut aussehenden Geiger teilhaben. Erstaunt und ungläubig musste diese mit anhören, wie sich ihre 17-Jährige Schwester zu mehr als nur einem Kuss hatte hinreißen lassen.
»Ich hätte dich für schlauer gehalten. Das Verliebtsein muss dir gehörig die Sinne vernebelt haben.«
Als sie ihr offenbarte, dass sie unglaubliche drei Male mit dem Geiger auf sein Pensionszimmer gegangen war, schüttelte Johanna ungläubig den Kopf.
»Ich habe mich mit ein paar Liebesschwüren abspeisen lassen. Danach sind wir an die Ostsee gefahren und er hat auf keinen meiner Briefe geantwortet.«
Johanna sah ein, dass die Ankündigung der Vermählung einen Dolch in Helenes Herz getrieben hatte, ahnte aber auch, dass mehr hinter der Geschichte steckte. Sie sprach mit Engelszungen auf ihre Schwester ein. Als sie nach weiterem Drängen noch immer nicht mit der ganzen Wahrheit herausrückte, wurde Helene mit dem konfrontiert, was Johanna am gestrigen Nachmittag gehört hatte.
Helene war geschockt und konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, woher die Mutter wusste, wie es um sie stand.
»Sie ist mir unheimlich, weißt du?«, flüsterte Helene unter Tränen.
Doch Johanna wollte davon nichts wissen. »Wenn das deine einzigen Sorgen sind, dann frage ich mich, ob dein Kopf nicht doch etwas abbekommen hat. Unsere Mutter mag abgehoben sein, aber sie weiß immer, was in ihrem Hause vor sich geht.«
Ein gellender Schrei aus dem Hof ließ die beiden jungen Frauen aufhorchen. Johanna wies ihre Schwester an, im Bett zu bleiben, und machte sich selbst auf, um nachzusehen, wer so schrie und vor allem warum. Doch Helene scherte sich nicht um Anweisungen, sie folgte ihr stante pede die steile Stiege hinunter.
Der Anblick, der sich ihnen bot, war gespenstig und schien nicht von dieser Welt zu sein. Noch vor einer Stunde hatte die Sonne gestrahlt, hatten sie alle ausgelassen Geburtstag gefeiert. Als sie nun die Treppe hinunterliefen, ergoss sich gerade ein weiterer Schwall Regenwasser in die im Halbdunkel daliegende Diele, als beide Flügel der Haustüre aufgestoßen wurden. Irgendjemand schob ihre Mutter herein. Sie hatte keinen trockenen Faden mehr am Leib.
Johannas Schritte verlangsamten sich, als sie hinter ihrer Mutter Jacob ausmachte, der mit wirrem Schopf und völlig durchnässt in einer Wasserlache stand und einen leblosen Körper auf den Armen hielt. Arme und Beine der Person hingen schlaff herab, die Haare verdeckten das Gesicht und das lange dunkelblaue Kleid mit dem hohen Spitzenkragen trieften vor Nässe.
Dieses Kleid gehört Omama, dachte Helene benommen und sie konnte sehen, dass Johanna auch verstand, wer dort in Jacobs Armen lag. Automatisch liefen sie die Stufen hinab, und in diesem Moment schien sich Helenes Körper von ihrem Geist zu trennen. Sie nahm die Geschehnisse wie durch eine Nebelwand wahr. Ihre Mutter stieß einen weiteren Schrei aus und wurde von Hannelore hinüber in den Salon geführt. Ihr Vater befahl, die Tür seines Arbeitszimmers zu öffnen, schob Jacob hindurch und sie verschwanden aus ihrem Blickfeld.
»Was ist hier los? Warum ist denn hier so ein Geschrei«, ließ sich August hören, der aus dem Speisezimmer trat, in dem die anderen Gäste das Fest offenbar fortgesetzt hatten. Als das Unwetter herangerollt war, hatte er dafür gesorgt, die Tische im Salon decken zu lassen.
Dass sich sein Schwiegervater mit Jacob, diesem Burschen aus dem Dorf, den seine Frau so mochte, auf die Suche nach dessen Mutter gemacht hatte, war ihm, weinselig wie er war, nicht aufgefallen. Nun musste er sich zusammennehmen, der Alkohol vernebelte ihm ein wenig die Sinne. Johanna nahm die letzte Stufe, schob ihren offensichtlich angetrunkenen Mann aus dem Weg, und stürmte nach ihrem Vater in dessen Arbeitszimmer. Helene folgte ihr.
Wie befürchtet, war es ihre Großmutter, die da leblos auf einem zu kleinen Sofa lag. Feine Rinnsale aus Regenwasser liefen von ihren bläulichen Fingerkuppen und bildeten auf dem Holzboden eine Pfütze.
Helene wollte ihr nicht ins Gesicht sehen, aber es war unvermeidbar. Das ihr noch gestern so liebevoll zugewandte Antlitz war starr und spitz, die prallen Wangen schienen seltsam eingefallen und hatten jegliche Spannung verloren. Zum Glück waren ihre Augen geschlossen, diesen Anblick hätte sie nicht verwunden. Helenes Herz schlug ihr bis in den Hals, und sie musste sich konzentrieren, um nicht auf der Stelle einfach in die Knie zu sinken.
Auf einmal kam ihr die Omama klein und verletzlich vor, wie ein Vögelchen, das beim Sturm aus dem Nest gefallen war. Aber was, um Himmels willen, war vorgefallen? Sie schaute zwischen Johanna und Jacob, der betreten neben dem Stuhl stand und ihrem Vater hin und her.
»Bei dem Unwetter können wir keinen Arzt holen, fürchte ich«, hörte sie ihn resigniert sagen und sah Jacob dabei zu, wie er versuchte, am bläulich schimmernden Hals der alten Dame einen Puls zu tasten.
Dann sah sie ihm benommen dabei zu, wie er sein Ohr an ihren Mund legte. Seine Bitte um einen Spiegel rauschte an Helene fast vorbei.
Wozu braucht er jetzt einen Spiegel, ein Arzt muss her, dachte sie entsetzt, als Hannelore, die unbemerkt neben August den Raum betreten hatte, einen kleinen Spiegel aus ihrem Reticule klaubte. Jacob hielt ihn der Großmutter vor den Mund. Helene sah, wie er einen Moment innehielt, tief Luft holte und sich sein Brustkorb unter dem klitschnassen Hemd hob und senkte. Dann sah er auf, schaute sie beide betreten an und schüttelte seinen Kopf.
Solche wehmütig klagenden Augen habe ich noch nie gesehen, dachte Helene verzweifelt und dann gaben ihre Knie nach. Sie rutschte langsam wie ein großes Blatt, das im Herbst bedächtig auf den Boden segelt, an der kühlen Wand hinab. Sie schwebte, schien kein Gewicht mehr zu haben, ihre Hände griffen ins Leere, verzweifelt suchte sie nach Halt. Doch da war nur Kälte, Dunkelheit und der bohrende Schmerz, der Verlust genannt wird.