Leseprobe Der Tod bleibt zu Gast

Kapitel 1

Oktober 1899

Warum geschah es immer dann, wenn ich das Gefühl hatte, das Leben könne kaum besser sein, dass das Schicksal mich mit der nächsten Katastrophe überrollte, nur um es mir unter die Nase zu reiben?

Ich weiß nicht, wie verbreitet dieses Phänomen bei anderen Leuten ist, aber mir schien dies mit erschreckender Häufigkeit zu passieren. Als ich zum Beispiel vor etwa zehn Jahren noch Miss Frances Price hieß, heiratete ich den Mann, den sich meine Mutter für mich erträumt hatte, und wurde somit Frances, Countess of Harleigh. Es war ein freudiger Anlass. Ich hatte die Familie stolz gemacht. Mein Ehemann war schneidig und gutaussehend. Ich lernte zu spät, dass er außerdem noch nichtsnutzig und untreu war. Nachdem er mich neun Jahre lang unglücklich gemacht hatte, hatte er die Dreistigkeit besessen, im Bett seiner Geliebten zu sterben. Nachdem ich aus der Trauerzeit wieder aufgetaucht war, fühlte ich mich ähnlich heiter und optimistisch. Diese Monate endeten jedoch auch mit einem Tod, genauer gesagt mit Mord.

Diese Schleife aus Hochs und Tiefs lastete gerade auf meinem Leben, das, im Augenblick, vollkommen idyllisch war, und ich konnte nicht anders, als mich zu fragen, ob die nächste Katastrophe schon hinter der nächsten Ecke lauerte. Ich machte trotzdem wie gewohnt weiter und nahm mit meiner achtjährigen Tochter in ihrem Kinderzimmer das Frühstück ein, wobei wir unseren nächsten Ausflug aufs Land planten. Als es Zeit für ihren Unterricht war, huschte ich nach unten in meine Bibliothek, wo meine Hausdame Mrs. Thompson mir eine Kanne mit Kaffee neben die heutige Post gestellt hatte. Vor dem Fenster zum Garten hinaus zwitscherten die Seidenschwänze. Ich genoss gerade den ersten Schluck Kaffee, da erfuhr ich, dass ich auf die nächste Hiobsbotschaft nicht länger warten musste.

Tante Hetty und meine Schwester Lily kamen herein und sahen viel zu betrübt für einen so schönen Morgen drein. Lily würde bald heiraten, und die letzten zwei Monate war sie als überglückliche zukünftige Braut umhergeschwirrt. Aber mit so geröteten Augen, fleckigem Gesicht und den goldblonden Strähnen, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatten, sah sie einem Ghul ähnlicher als ihrem sonst so heiteren Selbst.

Ich spürte den ersten Anflug einer Vorahnung wie eisige Finger im Nacken kitzeln. „Liebes, stimmt etwas nicht?“

Sie brach in Tränen aus.

Hetty nahm Lily in den Arm und warf mir einen finsteren Blick zu. „Jetzt sieh nur, was du angerichtet hast.“

Ich musste zugeben, dass mich dieser Vorwurf überraschte. Und mir Sorgen bereitete. Ich eilte um den Schreibtisch herum und lehnte mich zu meiner Schwester hinunter. „Lily, bitte erzähl mir, was passiert ist.“

Während ihre Tränen weiter kullerten, setzte sich Hetty auf einen Sessel und überbrachte mir die Neuigkeiten. Lily war in anderen Umständen. Ich taumelte zurück gegen den Schreibtisch und murmelte die ersten Worte, die mir in den Sinn kamen.

„Eine Katastrophe.“

Das sorgte für erneutes Geheul und einen nächsten Schwall Tränen von Lily, und Tante Hetty gab ein gereiztes Schnauben von sich.

„Also wirklich, Frances. Du bist absolut keine Hilfe. Lily wendet sich Hilfe suchend an dich und du reagierst so?“

Ich warf ihr einen vernichtenden Blick zu, der sie hätte zurückschrecken lassen sollen, doch ohne Erfolg. Hetty war gegen böse Blicke immun, ganz gleich, von wem sie kamen. Als Schwester meines Vaters war sie nicht nur genauso pragmatisch wie er, hatte genauso dunkles Haar und braune Augen, sie besaß außerdem die verblüffende Fähigkeit, alles zu Geld zu verwandeln. Hetty hatte den Verlust ihres geliebten Ehemanns überstanden, Vermögen gemacht und verloren und konnte es mit den Geschäftsmännern genauso wie mit den würdigen älteren Damen der feinen Gesellschaft aufnehmen. Von jemandem wie mir ließ sie sich nicht einschüchtern.

Sie rutschte stattdessen zu Lily heran und legte ihr schützend einen Arm um die Schulter. Lily für ihren Teil kämpfte noch mit den Tränen und tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen.

„Natürlich werde ich helfen. Du hast mich bloß überrascht.“ Ich sah zu meiner Schwester und seufzte. „Bis zu eurer Hochzeit sind es nur noch acht Wochen. Hättet ihr nicht warten können?“

Lily blickte unschuldig wie ein neugeborenes Kind drein und tupfte wieder die Tränen weg. „Das ist es ja, Franny. Wir sahen keinen Grund, noch länger zu warten.“ Als Lily abwehrend mit dem Taschentuch wedelte, zog Hetty sich auf ihren Sessel zurück. „Wir werden schließlich bald verheiratet sein. Ich hatte ja keine Ahnung, dass es so schnell passieren kann. Reggie und du wart eine Weile verheiratet, bevor Rose kam. Und Tante Hetty war jahrelang verheiratet und hat nie Kinder bekommen. Woher hätte ich das wissen sollen?“

‚Woher hätte ich das wissen sollen‘, war kaum eine Erklärung, die unsere Mutter durchgehen lassen würde. Ich wollte mir ihre Reaktion gar nicht vorstellen, hätte ich ihr so etwas vor meiner Hochzeit eröffnet. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, hätten wir dazu auch gar keine Zeit gehabt. Meine Mutter hatte Reggie als angemessenen Ehemann auserkoren, ehe wir New York verlassen hatten. Ein gemeinsamer Freund stellte uns einander vor, als wir in London ankamen. Reggie und ich tanzten einige Male, dann kamen er und meine Mutter zur Übereinstimmung und wir heirateten, ohne die Gelegenheit gehabt zu haben, einander kennenzulernen. Hatte ich erwähnt, dass meine Ehe eine Katastrophe war? Ist es da ein Wunder, dass ich wollte, dass Lily und Leo eine lange Verlobungszeit hatten und sich so in Ruhe kennenlernen konnten?

Nun, sie hatten einander nur zu gut kennengelernt. Was sollten wir jetzt also tun?

„Leo hat vorgeschlagen, dass wir ausreißen und heimlich heiraten“, sagte Lily.

Ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern, doch sie rissen mich aus meinen Gedanken. „Oh, nein. Das geht auf keinen Fall, Liebes.“

Sie knüllte ihr Taschentuch in der Faust zusammen. „Nun, wir können nicht wie geplant acht Wochen warten. Wie um alles auf der Welt erkläre ich, dass ich so bald ein Kind bekomme? Es wären weniger als sechs Monate.“

„Damit wärst du nicht die Erste, Liebes.“ Hetty tätschelte ihr die Hand.

„Nein, das nicht, aber wenn es vermieden werden kann, wäre das besser. Durchzubrennen ist quasi eine Bekanntmachung, dass man ein Kind erwartet. Ich stimme euch zu, dass das gesetzte Heiratsdatum ausgeschlossen ist, aber durchzubrennen ist keine zufriedenstellende Lösung.“ Was also nun?

Da Lily sich gefangen zu haben schien, wagte ich es, eine weitere riskante Frage zu stellen. „Was sagt Leos Mutter dazu?“

Sie sah mich entgeistert an, als hätte ich verlangt, dass sie sich selbst in Brand setzt. „Mrs. Kendrick sagt dazu nichts, da sie rein gar nichts von unserer Situation weiß.“ Sie kreischte fast. „Du kannst doch nicht ernsthaft erwarten, ich würde es ihr sagen. Frances, vorher sterbe ich.“ Sie starrte ins Leere und hielt sich den Hals, als müsse sie ersticken. „Eher sterbe ich.“

„Nun, das ist keine Option, aber wie hast du vor, das vor ihr zu verheimlichen?“

„Daher hatten wir ja ans Durchbrennen gedacht.“

Ich war froh, dass Hetty irritiert die Augen zusammenkniff. „Hattet ihr vor, für neun Monate durchzubrennen?“, fragte sie.

Lily holte Luft, um etwas zu entgegnen, dann hielt sie inne und ließ sich gegen die Rücklehne des Sessels fallen. „Mist. Ich nehme an, das müssten wir, nicht wahr?“

„Leo könnte das nicht tun, ohne seinem Vater zumindest einen sehr guten Grund zu nennen, Liebes. Wenn ihm keine sehr plausible Lüge einfällt, werdet ihr ihnen trotzdem die Wahrheit sagen müssen. Mr. Kendrick wird ihm kaum eine neunmonatige Hochzeitsreise erlauben.“

Leo Kendrick war ein Geschäftsmann. Er war sogar ein Geschäftspartner im Unternehmen seines Vaters. Ich war nicht genau darüber im Bilde, was er dort eigentlich tat, doch ein Großteil des Unternehmens drehte sich um den Bergbau und außerdem noch Produktion. Sein Großvater hatte das Unternehmen gegründet und sein Vater es ausgebaut, sodass es nun ein sehr gewinnbringendes Geschäft war. Es genügte, um seine Töchter als feine Damen zu erziehen und seine Söhne auf die besten Schulen zu schicken. Ihn selbst hatte es zum Gentleman gemacht. Auch wenn er plante, dass Leo eines Tages seinen Platz einnehmen würde, wurde von allen vier Kindern erwartet, dass sie vorteilhafte Ehen eingingen.

Leos ältere Schwester Eliza hatte genau das getan und Leos Wahl war bei seinem Vater auch auf Zustimmung getroffen. Gott sei Dank, denn die beiden waren hoffnungslos verliebt. Sie hätten schon vor Monaten geheiratet, hätte ich nicht darauf gedrängt, zu warten. Ich schüttelte den Gedanken ab. Ich würde nicht die Verantwortung für Lilys Schwangerschaft übernehmen.

Aber bei ihrem Anblick, so hilflos und betrübt, fühlte ich mich gezwungen, eine Lösung für ihre Misere zu finden – und so ging es scheinbar auch Hetty. Da sie Lily zu mir begleitet hatte, musste sie etwas länger als ich von Lilys Lage wissen.

„Hast du eine Idee, Hetty?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich dachte, durchzubrennen wäre die beste Option.“

„Es ist keine furchtbare Option, aber man sollte es nur als letzten Ausweg in Betracht ziehen. Ich bin sicher, uns fällt etwas Besseres ein.“

„Du hast recht.“ Hetty setzte eine entschlossene Miene auf. „Wir sind drei intelligente Frauen. Was würden wir tun, wenn jede mögliche Option zur Auswahl stünde?“

„Würde Graham Harleigh Manor nicht verkaufen, könnten wir dort in weniger als einer Woche die Hochzeit ausrichten“, sagte ich. „Es wären nur die engsten Familienmitglieder anwesend. Solange wir nicht in der Stadt sind, wird niemand brüskiert sein, dass er nicht eingeladen wurde.“

Ich seufzte und lehnte mich gegen den Tisch hinter mir. Den alten Familiensitz zu verkaufen, war die beste Idee, die mein Schwager je gehabt hatte. Das Ungeheuer von Herrenhaus hatte mehrere Vermögen verschlungen, so auch meins. Das Vermögen war der einzige Grund, warum Reggie mich geheiratet hatte. Nicht, dass ich nicht auch andere rettende Eigenschaften besessen hätte. Ich war eine perfekte Gastgeberin, eine gewandte Gesprächspartnerin und wusste, wie man sich für die feine Gesellschaft angemessen kleidete und verhielt. Obwohl ich größer als die durchschnittliche Frau war, war sonst an mir alles ziemlich durchschnittlich. Helle Haut, wie die Gesellschaft es verlangte, dunkles Haar, blaue Augen – nichts, was einen abschreckte, aber auch nichts, das meinen verstorbenen Gatten dazu inspirierte, in mir mehr als meine Mitgift zu sehen.

Reggies Bruder Graham war nun der Earl of Harleigh und er konnte es sich schlichtweg nicht leisten, Harleigh Manor weiter zu unterhalten. Zum Glück war das Herrenhaus selbst von seinem Urgroßvater auf einem Stück des Anwesens erbaut worden, das nicht Teil des Fideikommisses war, sodass er es verkaufen durfte.

Es wäre jedoch großartig gewesen, nun das Herrenhaus nutzen zu können.

„Eine Hochzeit in weniger als einer Woche könnte etwas zu bald sein“, sagte Hetty. „Deine Mutter wird dann erst eintreffen und Lily kann ohne sie nicht heiraten.“

„Kann ich nicht?“ Lilys Unterlippe bebte. Ich fühlte mit ihr, aber sie konnte nicht vor der Ankunft unserer Mutter heiraten und ihre Wutanfälle mir überlassen. Nicht, dass es nicht angemessen wäre, nachdem sie die lange Reise von New York hinter sich hatte, um bei der Hochzeit ihrer Tochter dabei zu sein.

„Nein, Liebes. Das geht nicht.“ Ich drehte mich um und sah in den Kalender auf meinem Schreibtisch. „Ihr Schiff legt am Dienstag an. Es wäre klug, so bald wie möglich nach ihrer Ankunft zu heiraten, denn das gibt ihr weniger Zeit, viel Aufhebens um die geänderten Hochzeitspläne zu machen.“

„Deshalb war ja das Durchbrennen eine so verlockende Idee“, erklärte Lily. „Leos Eltern sind diese Woche nicht in der Stadt. Mutter wäre nicht hier. Wir könnten heiraten und sie vor vollendete Tatsachen stellen.“

Tatsächlich würden sie gar nichts tun. Die Drecksarbeit würde an mir hängenbleiben. „Das ist Patricia Kendrick gegenüber nicht fair. Leo ist ihr einziger Sohn. Sie wird bei seiner Hochzeit sein wollen.“ Ich verschränkte die Arme und musterte sie. „Und ihr zwei werdet ihr irgendwann von dem Baby erzählen müssen, findest du nicht auch?“

„Erst nach den Flitterwochen, aber ja, du hast recht. Ich nehme an, sie wäre von uns enttäuscht, aber wenn wir rasch heiraten, wird sie zumindest erkennen, dass wir etwas getan haben, um den Klatsch zu mildern.“ Sie sah mich flehend an. „Das würde helfen, meinst du nicht?“

„Nur, wenn wir einen Landsitz finden, auf dem wir eine kleine Hochzeit im Familienkreis ausrichten können. Bisher wissen wir nur, welche nicht zur Verfügung stehen.“

Hetty legte den Kopf schief und sah zu mir herüber. „Vermieten nicht manche Familien ihre Anwesen?“

„Nicht für einen so kurzen Zeitraum.“ Hetty und Lily lebten erst seit April in London, als Lily ihr Debüt hatte. Sie hatten noch eine Menge über die Gesellschaft zu lernen. Über die vornehme Gesellschaft genauer gesagt. Man konnte ein Herrenhaus für ein Jahr oder länger vermieten, und selbst wenn dann jeder wusste, dass die Familie in finanziellen Nöten war, konnte ein solcher Schritt ein sinnvoller Ausweg aus eben diesen Nöten sein. Den Familiensitz für eine Woche zu vermieten, würde jedoch den Eindruck eines Hotels vermitteln und nach bürgerlichen Geschäften stinken. Es stand außer Frage.

„Was ist mit Leos Schwester und ihrem Mann?“ Ich ging gedanklich alle entfernten Bekanntschaften durch. „Die Durants, wenn ich mich recht erinnere. Ich weiß, dass sie ein Haus in der Stadt haben, aber wo ist Mr. Durants Familiensitz?“

Lily zog die Nase kraus. „Ich bin nicht ganz sicher, wo sie genau her sind, aber Leo wird es besser wissen als ich. Lass mich ihn holen gehen.“

Sie stand auf und ging zur Tür, als stünde Leo wartend auf dem Flur. Sie machte die Tür auf und zog ihn herein.

Himmel, er hatte wirklich vor der Tür gestanden!

Ich warf Hetty einen finsteren Blick zu, doch sie zuckte nur mit den Schultern. „Wir dachten alle, dass es besser ist, wenn Lily dir die Neuigkeiten überbringt.“

Leo, der sonst freundlich und gesellig war, schlurfte nun herein und hielt den Kopf gesenkt. Er warf mir einen nervösen Blick zu, während Lily ihn hinter sich herzog, was für sich schon ein Anblick war. Leo war nicht besonders groß gewachsen, aber er hatte eine kräftige Statur und Lily war so zierlich, dass es aussah, als würde sie einen reumütigen Goliath zu einem Sessel führen.

Nur gut. Ihm konnte es kaum unangenehmer sein als mir und er trug Mitschuld an der Lage, in der wir uns nun befanden. Ich bat ihn, Platz zu nehmen, und suchte nach den richtigen Worten.

Hetty hatte da keinerlei Probleme. „Wir haben eure Situation besprochen, Mr. Kendrick. Lady Harleigh scheint der Ansicht zu sein, dass durchzubrennen für jede Menge Klatsch sorgen würde.“

Leo nagte an seiner Unterlippe und musterte mich skeptisch mit seinen warmen braunen Augen. „Ich glaube eher, dass der Klatsch übler wäre, wenn wir bis zum geplanten Hochzeitstermin warten.“

„Vielleicht“, sagte ich. „Aber nur geringfügig. Da die Hochzeitseinladungen noch nicht verschickt sind, wäre es da möglich, dass Lily und du den Ort und das Datum ändert? Irgendwo auf dem Land, in etwa einer Woche und nur mit der engsten Familie.“

Er dachte über den Vorschlag nach und atmete dann seufzend aus. „Ich sehe den Vorteil einer baldigen Hochzeit in kleinem Rahmen, aber wo genau auf dem Land wollen Sie eine solche Hochzeit veranstalten?“

„Wäre der Familiensitz der Durants eine Option?“

Seine Augen wurden groß. „In Northumberland?“

Ich ließ mich gegen den Schreibtisch sinken und seufzte. „So weit weg?“

Er nickte. „Und ich bin nicht sicher, ob sie der Idee zustimmen würden. Durant steht seiner Familie nicht sehr nahe. Ich weiß nicht, ob er gewillt wäre, sie zu fragen.“

„Nun, damit ist die Sache entschieden“, sagte Lily. „Wir müssen durchbrennen.“ Sie kauerte sich auf die Armlehne von Leos Sessel. „Und wir sollten bald aufbrechen, ehe deine Eltern zurück sind.“

Ich hasste die Vorstellung, aber bevor ich etwas entgegnen konnte, klopfte es an der Tür und Mrs. Thompson steckte ihren Kopf mit dem grauen Haar herein.

„Mr. Hazelton ist hier, Mylady.“

„Ist er das?“ Ich konnte mir das Lächeln nicht verkneifen, das sich über meine Lippen zog. Egal, welches Problem mich auch herunterzog, allein der Gedanke an George Hazelton verscheuchte es aus meinen Gedanken.

„Musst du ihn jetzt sehen?“ Lily sah mich ungeduldig an.

Ich stand auf. „Ja, das muss ich. Er ist auf dem Weg nach Risings, also wird er nicht lange hier sein, Liebes. Außerdem haben Leo und du eine Menge zu planen.“ Ich warf ihr einen warnenden Blick zu und folgte Mrs. Thompson hinaus. „Wagt es nicht, zu verschwinden, bevor ich zurück bin.“

Kaum war ich in den Salon getreten, zog George mich in seine Arme. Ich protestierte nicht. Ganz im Gegenteil, sein Verhalten befürwortete ich sehr. George Hazelton und ich würden heiraten, jedoch behielten wir dieses wunderbare Geheimnis für uns, um Lily nicht das Rampenlicht zu stehlen. Wenn Leo und sie verheiratet waren, würden wir es bekannt machen.

Ich seufzte leise bei dem Gedanken an Lilys Hochzeit. George schob mich etwas vor sich und sah mich durchdringend an. „Das klang aber nicht wie ein zufriedenes Seufzen, Frances. Stimmt etwas nicht?“

Liebster George. Noch immer in seinen Armen, strich ich ihm eine dunkle Locke aus dem Gesicht. Ich mochte, wie ich den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm in die Augen zu sehen, jedoch nah genug war, um den dunkleren Ring um seine blassere grüne Iris zu sehen, die ich so mysteriös fand. Es würde Jahre dauern, diesen mysteriösen Mann zu enträtseln, und ich würde jedes davon zu schätzen wissen.

Ich ließ meine Hand in seine gleiten und führte ihn zu der gemütlichen Sitzgruppe von schweren Sofas und Sesseln mit dem blau-weiß gemusterten Polster, die um einen großen Teetisch standen. „Bloß eine kleine Schwierigkeit mit Lilys und Leos Hochzeit. Nichts Schreckliches, nehme ich an.“

Er runzelte die Stirn, sodass zwischen seinen Brauen zwei vertikale Linien hervortraten. „Bitte sag mir, es wird dich nicht davon abhalten, das nächste Wochenende bei mir auf dem Anwesen meines Bruders zu verbringen. Ein romantisches Rendezvous verlangt die Anwesenheit beider Beteiligten. Dazu brauche ich dich, weißt du.“

Ich legte meine Hand aufs Herz. „Aber ja. Du, ich und ein Dutzend Leute, die zur Jagdgesellschaft gehören. Das Ambiente ist atemberaubend.“

„Ich habe bloß die Evingdons, meine Schwester und ihren Ehemann eingeladen. Der Rest sind Nachbarn, die nicht im Haus übernachten, daher glaube ich, kann ich das Ambiente bieten, das du dir wünschst.“ Er senkte die Stimme, dass mir ein Schauer über den Rücken lief.

George war der jüngste Bruder des Earl of Hartfield, der gerade mit seiner Ehefrau den Kontinent bereiste. Es war eine Art zweite Hochzeitsreise. Sie waren vor einem Monat aufgebrochen und planten, noch einen weiteren Monat zu reisen. Da sie das Anwesen so für lange Zeit verließen, hatte der Earl George gebeten, nach Risings zu sehen und dafür zu sorgen, dass alles rund lief. Er hatte natürlich zugestimmt und würde heute zu einem zweiwöchigen Aufenthalt anreisen. Und wer verbrachte schon zwei Wochen auf dem Land, ohne eine Jagd auszurichten?

Die Aussicht auf so eine Veranstaltung machte ihn so vorfreudig wie ein Kind, das einen Welpen bekam. Er hatte mich mehrfach gebeten, ihn zu begleiten, und ich hatte schließlich nachgegeben. Wegen Lilys bevorstehender Hochzeit hatte ich gedacht, nur eine Woche erübrigen zu können.

„Tatsächlich könnte diese kleine Schwierigkeit dazu führen, dass ich früher zu dir aufs Land fahren kann.“

Seine Stirn glättete sich und er grinste. „Haben sie sich entschieden, durchzubrennen? Eine kluge Wahl.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Nun, es ist wohl die einzige Wahl.“

„Du meinst es ernst.“ Er lehnte sich zurück und musterte mich durchdringend. „Wirklich? Nach all der Planung haben sie vor, durchzubrennen?“

„Sie müssen bald heiraten“, sagte ich mit vielsagendem Blick.

Er starrte mich ausdruckslos an. „Sie heiraten doch bald.“

Offensichtlich musste ich an meiner Mimik arbeiten. „Nein. Ich meinte, dass sie sofort heiraten müssen.“

Seine hochgezogenen Augenbrauen verrieten mir, dass er endlich verstand. „Ist deine Mutter nicht gerade auf dem Weg? Sie wird schrecklich enttäuscht sein, wenn sie die Hochzeit verpasst.“

„Genauso wie Leos Mutter, aber uns fiel keine Alternative ein. Ich schlug eine kleine Hochzeit auf dem Land im Kreise der Familie vor, aber Harleigh Manor steht zum Verkauf und ist somit nicht zu haben.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Da Leos Eltern keinen Landsitz haben, gibt es keinen Ort, wo wir ein kleines Familienfest ausrichten könnten.“

„Sie könnten nach Risings kommen. Dort ist mehr als genug Platz.“

„Es ist lieb, dass du das anbietest, aber dein Bruder ist kein Verwandter. Wir können ihn nicht bitten, eine Hochzeit auszurichten, selbst wenn sie klein ist. Das ist eine zu große Zumutung.“

„Wenn ich dich korrigieren dürfte“, er hielt den Zeigefinger hoch, „du wirst bald die Schwägerin meines Bruders sein und damit eine enge Verwandte.“ Er hob einen zweiten Finger. „Er wohnt zurzeit nicht dort, daher ist es keine Zumutung. Und zuletzt“, nun hob er noch den Ringfinger, „richte ich bereits eine Jagd aus, da Hartfield es mir freigestellt hat, Gäste so zu empfangen, wie es mir beliebt.“ Er stupste mich mit der Schulter an. „Also bring sie nach Risings mit.“

Ich biss mir auf die Lippe und konnte mein Glück kaum fassen – oder besser gesagt: Lilys Glück. Vielleicht würde es so doch klappen. Risings lag in Hampshire. Nicht weit entfernt. Wir konnten die engste Familie dort schnell versammeln. Meine Mutter würde in wenigen Tagen eintreffen und sie und Mrs. Kendrick konnten die Hochzeit ihrer Kinder miterleben. Das konnte funktionieren. Eine schnelle, aber gesittete Hochzeit. Keine enttäuschten Eltern. Und die feine Gesellschaft nicht klüger als zuvor.

„Nur, wenn du es ernst meinst und wirklich nichts dagegen hast.“ Ich hielt inne und gab ihm die Gelegenheit, es noch einmal zu überdenken, aber er legte nur den Kopf schief und wartete auf meine Antwort.

Erleichtert, eine Lösung gefunden zu haben, lehnte ich den Kopf gegen seine Schulter. „Vielen Dank, George. Das würde alles lösen.“

„Ich helfe dir immer gern bei jedem Unterfangen. Und ich würde ungern eine Mutter von der Hochzeit ihres Kindes ausschließen.“

Mein Mund war zu einer Grimasse verzogen, als ich zu ihm aufblickte. „Ich gebe zu, dass die Vorstellung, meiner Mutter zu sagen, dass sie die Hochzeit verpasst hat, mich besonders antreibt.“ Bei dem Gedanken schüttelte es mich.

Er nickte. „Ja, ich habe deine Mutter getroffen. Ich würde die schlechten Nachrichten auch nicht überbringen wollen.“

„Nun, jetzt bleibt die lästige Aufgabe uns beiden erspart.“ Ich drückte seine Hand an meine Wange. „Vielen Dank, George. Du schaffst es immer, die beste Lösung für meine Probleme zu finden.“

„Und du bietest immer die beste Belohnung.“ Er verschränkte seine Finger mit meinen und zog uns beide auf die Beine.

„Ich erinnere mich nicht daran, dir eine Belohnung in Aussicht gestellt zu haben.“

„Du wirst früher zu mir nach Risings kommen, mindestens eine Woche früher, als ich erwartet hatte. Das nenne ich eine Belohnung.“

Er zog seine Uhr aus der Tasche, wobei er versehentlich einen Brief mit herauszog. Er fiel zu Boden, während George auf die Uhr sah.

„Musst du sofort aufbrechen?“, fragte ich.

„Fast, aber ich muss vorher noch einen Halt machen, daher sollte ich nun losfahren.“

Als er in Richtung Foyer lief, hob ich den Brief auf und ging ihm hinterher. „Machst du einen Halt beim Newgate-Gefängnis?“

„Was?“ Er drehte sich so rasch um, dass ich fast in ihn hineingelaufen wäre. „Nein. Warum solltest du so etwas fragen?“

Ich machte überrascht einen Schritt zurück und hielt ihm den Brief hin. „Der fiel aus deiner Tasche.“ Die Anspannung um seinen Mund herum verschwand, als er den Kiefer lockerte. Er nahm den Brief und steckte ihn zurück in die Manteltasche.

„Ich kam nicht umhin, zu bemerken, dass der Brief aus Newgate kommt. Stehst du im Briefwechsel mit einem Häftling?“

Er gab ein schrilles Lachen von sich. „Wohl kaum, aber es hat mit meinem Auftrag zu tun. Ich bringe den Brief ins Innenministerium.“ Er legte mir einen Finger auf die Lippen. „Frag gar nicht erst. Du weißt, dass ich es dir nicht sagen kann.“

„Ich heirate einen sehr mysteriösen Mann“, sagte ich, doch meine Worte waren durch den Druck seines Fingers auf meinen Lippen ganz verzerrt. Mit einem Lächeln nahm er den Finger weg und stattdessen berührten seine Lippen die Stelle und erinnerten mich daran, wie sehr ich ihn liebte.

Wenige Minuten später verabschiedete ich ihn an der Haustür und lehnte mich dann gegen die geschlossene Tür, um über die Ereignisse des Morgens nachzudenken. Ich war mit einem gewissermaßen heiklen Problem konfrontiert worden und mit Georges Hilfe, hatte ich es geschafft, einen Ausweg zu finden. Die Hochzeit auf Risings zu veranstalten, war die perfekte Lösung.

Fiona, Georges Schwester und meine beste Freundin, würde zusammen mit ihrem Ehemann Sir Robert bei der Jagd sein. Sie wäre eine großartige Unterstützung. Wenn ich erstmal entschieden hatte, wie wir meine Mutter nach ihrer Ankunft aufs Land holen würden, dürfte es eine recht einfache Angelegenheit sein. Es galt eine kleine intime Hochzeit zu planen. Wie schwer konnte das schon sein? Vielleicht hatte ich den Teufelskreis gebrochen. 

Kapitel 2

Nachdem ich George verabschiedet hatte, kehrte ich in die Bibliothek zurück, um die guten Neuigkeiten zu verkünden, und war überrascht, dass Lily alles andere als begeistert war.

„Ich fasse es nicht, dass du Mr. Hazelton davon erzählt hast.“

Sogar Leo wurde rot und mied erneut meinen Blick.

Herrje, vielleicht hätte ich ihm nicht davon erzählen sollen. Obwohl ich George fast schon als meinen Ehemann ansah, wussten die drei nichts von unserer Verlobung und sahen ihn verständlicherweise nicht als Teil der Familie an. Ich setzte mich auf den Fensterplatz, drehte mich zu meiner Schwester und ihrem Verlobten um. Und dann log ich.

„Ich habe ihm nichts verraten, Lily. Ich habe nur erwähnt, dass ihr zwei nicht gewillt seid, noch acht weitere Wochen zu warten, und angedroht habt, durchzubrennen.“ Ich nahm mir vor, George zu bitten, schnell zu vergessen, dass er etwas über Lilys Zustand wusste.

„Also hat er seinen Familiensitz für unsere Hochzeit angeboten?“ Leo sah nicht überzeugt aus.

„Nun, ich erwähnte meine Einwände dagegen, dass ihr durchbrennt.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Und dann hat er es angeboten.“

Lily nickte und schien die Vorstellung hinzunehmen, aber Leo beobachtete mich skeptisch. „Es wäre möglich, dass er erraten hat, dass hinter eurer Entscheidung mehr als bloß Ungeduld steckt“, fügte ich hinzu. „Aber da er angeboten hat, die Feier auszurichten und deine Familie bei sich, im Haus seines Bruders, wohnen zu lassen, nehme ich an, dass er euer Verhalten nicht missbilligt.“

Da wurde Leo noch röter, was ich gar nicht für möglich gehalten hatte.

„Warum zögerst du?“ Ich breitete die Arme aus. „Bietet euch das nicht die perfekte Lösung?“

„Das würde ich schon sagen“, sagte Hetty, die nun wie ich zuvor an meinen Schreibtisch gelehnt stand. „Das ist aber ein ziemlich großer Gefallen, Frances. Findest du nicht? Ich bin etwas überrascht, dass du bereit bist, ihn anzunehmen.“ Sie musterte mich misstrauisch. „Die Art, die ein enger Verwandter anbieten würde.“

Ein leichtes Grinsen umspielte ihre Mundwinkel. Tante Hetty hielt George für den perfekten Partner für mich und hoffte auf eine Heirat. Zu wissen, dass ich die Möglichkeit hatte, sie in Jubelstürme zu versetzen, brachte mich in Versuchung, ihr die Wahrheit zu erzählen, aber angesichts von Lilys und Leos unangenehmer Situation war dies nicht der richtige Moment dazu.

„Mr. Hazelton ist uns allen ein guter Freund und er sieht sich als Teil der Familie. Und Lily und Leo zuliebe, oder eher gesagt ihren Müttern zuliebe, habe ich mich entschieden, nicht zu lange darüber nachzudenken, wie angemessen es ist, sein Angebot anzunehmen.“ Ich zog eine Augenbraue hoch. „Nennt mich ruhig einen Feigling, aber ich würde ihnen lieber nicht erklären, warum ihre Kinder durchgebrannt sind.“

Hettys Lächeln wich einem entsetzten Gesichtsausdruck bei der Vorstellung einer solchen Aufgabe. „Nein, das kann ich dir nicht verübeln. Aber das bringt mich zu einem anderen kleinen Problem. Daisy und dein Bruder treffen erst in drei Tagen ein. Wenn wir alle nach Hampshire fahren, wie sollen sie dann zu uns finden?“

Daisy ist meine Mutter. Sie wurde auf den Namen Marguerite getauft, doch ihr Vater, der Hobbybotaniker, gab ihr kurz darauf den Spitznamen Daisy. Das hatte sie nie im Geringsten gestört, bis wir alle nach New York zogen und meine Mutter versuchte, in den Reihen der feinen New Yorker Gesellschaft Fuß zu fassen. Der Namen Daisy klang ihr zu sehr nach der Unterschicht. Doch ihr Geheimnis kam heraus und zu ihrer großen Enttäuschung wurde sie den Namen nicht mehr los, als er erst einmal bekannt war.

„Leos Eltern werden es auch nicht wissen“, sagte Lily. Sie blühte etwas auf, als würde ihr allmählich bewusst, dass der Plan wirklich aufgehen konnte.

„Kannst du deinen Eltern einen Brief schreiben, Leo?“, fragte ich. „Soweit ich weiß, besuchen sie eine der Fabriken deines Vaters.“

„Ich würde sie lieber nicht zu früh vorwarnen“, sagte er. „Meine Mutter würde meinen Vater vermutlich nach Hause schleifen, damit sie alles einfädeln kann oder versuchen kann, unsere Meinung zu ändern.“ Einer seiner Mundwinkel zuckte leicht. „Nun bin ich an der Reihe, feige genannt zu werden, aber ich würde lieber dem Butler die Anweisungen übergeben und sie nach ihrer Rückkehr nach Risings kommen lassen.“

Lily nickte zustimmend und ich konnte es wohl verstehen. Jetzt, da sie einen Plan hatten, wollten sie verhindern, dass jemand diesen Plan durchkreuzte. Nicht einmal eine wohlmeinende Mutter.

Also blieb mir nur noch unsere Mutter übrig, um die ich mich sorgen musste.

„Ich nehme an, ich werde dann meine Schuldigkeit tun und mich um Daisy kümmern“, sagte Hetty.

Als ich mich umdrehte, sah ich sie tief Luft holen, so als würde sie sich auf den bevorstehenden Zorn meiner Mutter vorbereiten.

„Was genau verstehst du unter dich um sie kümmern?“, fragte ich und stellte mir dabei vor, wie Hetty meine Mutter im Gästezimmer einsperrte.

„Ich werde hierbleiben und die beiden in Empfang nehmen. Dann berichte ich von der Planänderung und begleite sie am nächsten Tag nach Risings.“

„Das ist sehr nett von Ihnen, Mrs. Chesney.“ Leo blickte zweifelnd drein. „Auch wenn ich nicht weiß, wie wir es anders regeln sollen, sind Sie sicher, dass es Ihnen nichts ausmacht?“

„Aber sicher, mein lieber Junge.“ Sie lehnte sich vor und tätschelte ihm die Hand. „Lilys Bruder Alonzo begleitet Daisy auf der Reise. Er wird mir eine große Hilfe sein.“

„Was ist mit Leos Schwestern?“, fragte Lily. „Und mit Mr. Treadwell?“ Sie sah zu Leo. „Er soll dein Trauzeuge sein, nicht wahr?“

Leo war noch nicht so angetan wie Lily. Er zog die Stirn kraus und drehte sich zu mir um. „Solange Sie sicher sind, dass Mr. Hazelton es nicht für aufdringlich hält, sehe ich ein, dass dies eine bessere Idee ist, als durchzubrennen.“ Sein angespannter Kiefer lockerte sich etwas und er drückte Lily die Hand. „Und ich würde mich sehr freuen, meine Familie bei unserer Hochzeit dabeizuhaben.“

„Sie sind alle in Mr. Hazeltons Einladung eingeschlossen, also sei dir versichert, dass sie willkommen sind.“ Ich sah mich zwischen meinen Komplizen um. „Sind alle mit dem Plan einverstanden?“

„Einverstanden“, sagte Leo entschlossen. „Und vielen Dank, Lady Harleigh.“

Lily und Hetty nickten und damit war es entschieden. Ich überließ es Leo, sich um die Reiseplanung zu kümmern und seine Geschwister zu versammeln. Wir hatten unsere eigenen Vorkehrungen zu treffen und mussten uns schleunigst daranmachen, zu packen.

 

Leo teilte meine Liebe zum Organisieren. Zu zweit schafften wir es, einen Berg an Gepäck, fünf Hausmädchen, einen Diener, eine Nanny und eine Achtjährige pünktlich zur Victoria Station zu bugsieren, um am nächsten Morgen den Zug in die Stadt Harroway zu nehmen. Wir hatten angenommen, dass die erwachsenen Gäste in der Lage dazu waren, selbst für die Anreise zum Bahnhof zu sorgen.

Trotzdem schrumpfte die Zeit bis zur Abfahrt immer weiter und zu sechst warteten wir auf dem Bahnsteig auf Leos ältere Schwester Eliza und ihren Ehemann Arthur.

Leo reckte den Hals und hoffte, seine Schwester in der Menge von Reisenden zu finden. „Bist du sicher, dass Eliza sagte, dass sie uns hier treffen will?“ Es war das dritte Mal, dass Leo diese Frage seiner jüngeren Schwester Anne stellte, und mit jedem Mal antwortete sie zunehmend aufgebrachter.

„Sie sind erwachsen, Leo. Wenn sie nicht pünktlich kommen, bin ich sicher, dass sie auch ohne uns nach Risings finden.“

Alle Kendricks-Geschwister, die ich bisher kennengelernt hatte, ähnelten einander. Die Gesichter der Schwestern waren beide eine sanftere Version von Leos kantigen Zügen. Alle drei hatten gebogene Nasen, welliges braunes Haar und die gleiche Augenfarbe: Kaffee mit einem Schluck Milch, doch ihre Augen waren alles andere als gleich. Leos waren rund und groß, der berühmte Spiegel der Seele. Man musste ihm nur in die Augen gucken und wusste, was in ihm vorging. Clara, die Jüngste, hatte halbmondförmige Augen, die funkelten und deren Augenwinkel nach oben gingen, sodass es aussah, als würden sie lächeln.

Im Augenblick konnte man den Ausdruck in Annes Augen nur als ungeduldig beschreiben und ich glaubte nicht, dass es nur an der Unpünktlichkeit ihrer Schwester lag.

„Miss Kendrick hat recht, alter Knabe. Ich glaube, wir sollten einsteigen.“ Der Vorschlag kam von Ernest Treadwell, einem weiteren Mitglied unserer Gruppe. Wir kannten einander flüchtig, da wir in denselben Kreisen verkehrten. Er war Mitte zwanzig, groß und schlank, hatte blondes Haar und eine wichtigtuerische Art, die für diese Art von jungen Herren seiner Klasse kaum selten war. Als zweiter Sohn eines Viscounts würde er weder einen Titel erben noch jemals Geldsorgen haben, da seine Familie ungeheuer wohlhabend war und er eine großzügige Summe erhielt. Man erwartete nichts außer Charme und guten Manieren von ihm. Und wenn ihm danach war, erfüllte er diese Erwartungen auch. Er schien mir ein merkwürdiger Freund an Leos Seite, aber sie standen sich seit ihrer Schulzeit nahe, also musste Treadwell etwas an sich haben, das ich einfach nur nicht sah.

Leo stimmte ihm schließlich zu, nicht länger zu warten, doch als Treadwell gerade den Misses Kendrick in den Waggon half, rief jemand Leo aus der Ferne zu. Die Durants waren endlich eingetroffen.

„Gerade rechtzeitig“, sagte Leo. Er nahm meinen Arm und half mir die Stufe in den Zug hinauf, dann drehte er sich um, um seiner Schwester denselben Dienst zu erweisen.

Als sie im Zug waren, eilte Arthur Durant mit einem Nicken an die Gruppe durch das Abteil, während Eliza im Durchgang stand und Leo so den Weg versperrte. Er schob sie zur Seite, ging an ihr vorbei und stellte uns zwei einander vor.

Eliza hatte das gute Aussehen ihrer Mutter geerbt, makellose Haut, runde Wangen, ein spitzes Kinn und goldbraunes Haar, dazu die gleichen großen braunen Augen wie Leo. Sie kniff die Augen zusammen, als sie Treadwell erblickte.

„Guten Morgen, Mrs. Durant.“ Treadwell tippte sich an die Krempe seines Huts und lächelte ihr verschlagen zu. „Wie schön, dass Sie sich zu uns gesellen.“

Mit einem Naserümpfen setzte sie sich neben mich. „Verzeihen Sie uns die Verspätung“, sagte sie. „Ich hatte solche Mühe damit, Durant zu überzeugen, mich zu begleiten. Er war ganz entschlossen, zu Hause zu bleiben und sich ums Geschäft zu kümmern.“

„Richtig. Mir scheint, zumindest einer sollte das tun.“ Durant hatte Hut und Mantel abgelegt und balancierte eine Aktentasche auf den Knien. Die Falten zwischen seinen Brauen ließen mich schlussfolgern, dass der mürrische Gesichtsausdruck, den er aufgesetzt hatte, ein Dauerzustand war. Er ließ ihn älter aussehen, als ich ihn schätzte, aber da sein Bart Kinn und Kiefer verdeckte und seine Brille die Augen verschleierte, fiel es mir schwer, sein Alter zu erraten, wohingegen sein Gemüt sehr leicht zu lesen war. Ich hätte Eliza bemitleidet, hätte sie nicht genauso gereizt dreingeblickt.

Da Leo nicht gewusst hatte, wie viele seiner Geschwister mit uns reisen würden, hatte er ein Abteil in der ersten Klasse eines Pullmanwagens ausgesucht. Eine glückliche Wahl, denn mit den Durants zusammen waren wir nun zu acht. Es war mehr als genug Platz für uns alle, aber ich war trotzdem froh, dass ich entschieden hatte, dass Rose mit Nanny, Bridget und den anderen Hausmädchen reisen sollte. Roses Manieren waren gut, aber ich wusste nicht, ob sie für eine zweistündige Reise bereit war.

Ich hätte mich nicht darum sorgen müssen. Der Zug war kaum losgefahren, da fing das Gezanke zwischen Leos jüngeren Schwestern schon an.

Ich hatte Clara und Anne bei meinem ersten Abendessen bei Leos Eltern kennengelernt. Anne hatte mich als intelligente junge Frau beeindruckt, die mit dreiundzwanzig Jahren noch nicht verheiratet war. Ich war mir sicher, dass sie nichts lieber tun würde, als wie ihr Vater in die Geschäftswelt zu gehen. Da dies keine Option war, beschäftigte sie sich mit Vorträgen, Komitees und Literatur. Leos jüngste Schwester Clara war noch keine achtzehn, doch sie wünschte sich nichts als Feiern, Bälle und Feste. Kaum unübliche Beschäftigungen für ihr Alter. Trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten wirkten sie kultiviert und verstanden sich so gut, wie zwei Schwestern es nur konnten. Nun vermutete ich jedoch, dass ihre Freundschaft an der Anwesenheit ihrer Eltern gelegen hatte.

Innerhalb von fünfzehn Minuten nach der Abfahrt musste ich erfahren, wie sie ohne das wachsame Auge ihrer Mutter waren. Das Abteil, in dem wir saßen, war geräumig und mit bequemen Polstersitzen ausgestattet, die an der vorderen und hinteren Wand platziert waren, und außerdem gab es Teppich und Vorhänge sowie einen Tisch entlang der Seite, sodass man das Gefühl hatte, in einem kleinen Salon zu sitzen. Leo und Durant nahmen zwei Plätze an der Seite des Abteils ein und zwischen sich bauten sie einen provisorischen Schreibtisch, daher blieben neben ihnen nicht mehr ganz zwei Sitze übrig. Anne und Clara entschieden sich trotzdem, sich dorthin zu quetschen. Das Ergebnis war brisant.

„Du sitzt auf meinem Kleid!“

Anne sah von ihrem Buch auf und rückte ihren Rock zwischen ihnen zurecht. Der Frieden hielt für weniger als dreißig Sekunden an.

„Hör auf, über meine Schulter mitzulesen“, sagte Anne, ohne aufzublicken.

„Ich lese nicht über deine Schulter. Wer würde außer dir so langweilige, staubige alte Schinken lesen? Warum hast du keinen Roman mitgenommen?“

„Wenn ich es hätte, würdest du über meine Schulter lesen.“

„Aha! Dann gibst du also zu, dass ich gar nicht über deine Schulter gelesen habe.“

„Wenn du es nicht getan hättest, wüsstest du nicht, was ich lese. Und warum hast du nicht selbst einen Roman mitgenommen, wenn du gerne einen lesen möchtest?“

Das Gezanke ging mindestens die nächste Viertelstunde so weiter. Ich warf Lily einen Blick zu, die neben Mr. Treadwell einen Sitz von mir entfernt saß. Obwohl sie den Mädchen direkt gegenüber saßen, schienen die beiden sie nicht zu bemerken und führten eine Unterhaltung, bei der Lily lächelte. Allmählich fragte ich mich, ob die Streiterei nur mich störte.

„Die zwei benehmen sich wie Kinder.“ Die Worte brachen aus Eliza heraus. Sie hatte die hübschen Brauen zusammengekniffen und die dunklen Augen verengt. Als sie sich vorlehnte und ich ihr Gesicht im Profil sah, erinnerte sie mich an einen Raubvogel, der gleich seine jüngeren Geschwister angreifen würde. „Ich hätte erwartet, dass ihr euch in Gesellschaft besser benehmt als zu Hause.“

Der Tadel schien mir ziemlich schroff. Die zwei Schwestern schrecken überrascht zurück, aber so schnell, wie man Luft holt, verbündeten sie sich gegen Eliza, und was folgte, war ein schreckliches Katzengeschrei.

Leo und sein Schwager nahmen von alledem rein gar nichts wahr. Die zwei Männer beschäftigten sich mit einigen Dokumenten, doch wie sie sich konzentrieren konnten, beeindruckte mich. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus.

„Anne.“

Die drei jungen Damen sahen alle zu mir, überrascht, dass noch jemand sprach.

„Warum tauschst du nicht den Platz mit mir? Ich glaube, dass das Licht hier besser zum Lesen ist.“ Ich stand auf, bevor sie etwas entgegnen konnte, sodass sie keine Chance hatte, außer nachzugeben. Durch den Wechsel saß ich auf der Bank neben Clara und hatte Lily und Treadwell mir nun gegenüber. Eliza zog ihre Nadelarbeit heraus und Anne wandte sich wieder ihrem Buch zu.

Vielleicht würde diese neue Sitzordnung uns etwas Ruhe verschaffen. Ich lächelte Clara zu. Sie war in ein pflaumenfarbenes Reisekostüm aus Wolle gekleidet, ihre braunen Locken waren hochgesteckt und darauf thronte ein winziger Hut mit einer passend pflaumenfarbenen Feder. Sie sah so erwachsen aus, dass ich mir in Erinnerung rufen musste, dass sie erst siebzehn war und noch nicht in die Gesellschaft eingeführt. „Haben Sie viel Zeit auf dem Land verbracht, Miss Kendrick?“, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht wirklich viel außerhalb von London gereist. Einmal nach Oxford, als Leo dort zur Schule ging. Meine Eltern reisen natürlich fürs Geschäft, aber sie lassen uns zu Hause.“

„Dann dürfte dies ziemlich aufregend für Sie sein.“

Aber ich hatte ihre Aufmerksamkeit bereits verloren. Ich folgte ihrem Blick zu Lily und Treadwell, die sich noch immer unterhielten und - gütiger Himmel! Seine Hand lag auf ihrer, die auf ihrem Knie ruhte.

Es war nicht länger als ein kurzer Augenblick. Lily lachte und bewegte ihre Hand weg. Treadwell zog seine weg. Im nächsten Moment lehnte er sich vor und sagte etwas zu Anne.

Lilys Gesichtsausdruck war vollkommen ruhig: Sie errötete nicht, sah sich nicht um, ob jemand etwas bemerkt hatte. Sicherlich hatte meine Fantasie die Berührung aufgebauscht und etwas Vertrauteres daraus gemacht, als es wirklich war. Lily liebte Leo. Daran bestand kein Zweifel.

Treadwell war Leos bester Freund und ein Gentleman. Nicht, dass ein Gentleman kein Schurke sein konnte, aber Lily hatte kein Interesse an Männern, die keine andere Beschäftigung hatten, als sich zu amüsieren. Sie wollte einen Mann wie unseren Vater, der arbeitete und etwas aus sich machte. Ich musste mir den Zwischenfall eindeutig eingebildet haben und sollte ihn aus meinen Gedanken verbannen. Ich sah mich um, ob es noch jemand gesehen hatte, und bemerkte gerade noch, wie Eliza den Kopf mit zusammengepressten Lippen wegdrehte. Vielleicht hatte ich es mir nicht eingebildet. Würde sie etwas zu Lily sagen? Oder schlimmer, zu Leo?

„Clara, siehst du nicht, dass du Lady Harleigh bedrängst?“ Elizas Stimme war scharf.

Das riss mich aus meinen Gedanken und erst jetzt sah ich, dass das Mädchen sich halb über meinen Schoß lehnte und mir fast gegen das Kinn gestoßen wäre, als sie ruckartig auf ihren Platz zurückzuckte.

„Tue ich nicht“, sagte sie.

„Aber eben.“

Die restliche Reise ging auf diese Weise weiter. Eine kurze Stille gefolgt von Gezanke, dann Tadel und ein richtiger Streit. Als Eliza ihre Schwestern anfuhr, fragte ich mich, ob sie wirklich von ihnen genervt war oder ob sie von Treadwells dreistem Verhalten Lily gegenüber verärgert war und ihren Unmut an ihren Schwestern ausließ. Als wir den Bahnhof von Harroway erreicht hatten, war ich am Rande der Verzweiflung und hätte ihre Anwesenheit keine weitere Meile ausgehalten.

Als der Zug anhielt, strich ich meinen Rock glatt und rückte meinen Hut zurecht. Wieder vorzeigbar sah ich mich im Abteil um und merkte, dass alle auf mich warteten.

„Wollen wir?“

Leo ging als Erster an mir vorbei und öffnete die Tür. Mein Fuß hatte die Stufe kaum berührt, da griff George schon meine Hand und half mir hinunter. In meinen Augen hatte er nie besser ausgesehen. Er hielt seinen Homburger Hut in der Hand und die Sonne schien auf sein dunkles, ordentlich geschnittenes Haar. Er trug einen makellosen hellgrauen Anzug mit einer dunkleren Weste. Und ich stand von der Reise zerzaust da. Seinem Lächeln zufolge war es ihm jedoch ganz gleich, wie zerzaust ich aussehen mochte. Er freute sich, mich zu sehen.

„Wie schön, dass du hergekommen bist, um uns alle zu empfangen“, sagte ich und hasste es, dass ich seine Hand wieder loslassen musste, als ich auf dem Bahnsteig stand. „Ich dachte, du wärst auf der Jagd.“

Offensichtlich wollte George auch nicht loslassen. Er führte meine Hand zu seiner Brust hoch und zog mich ein wenig von meinen Reisebegleitern fort. „Und deine Ankunft verpassen? Das wäre mir nicht im Traum eingefallen.“

Wir blieben am Ende des belebten Bahnsteigs stehen und warteten auf die anderen. „Wie war die Reise?“, fragte er.

„Ich glaube, nächstes Mal werde ich bei Rose und Nanny sitzen.“ Ich verdrehte die Augen. „Oder vielleicht beim Gepäck.“

Meine Stimmung besserte sich, als ich sein Lachen hörte. „So schlimm?“

„Nein, ich bin bloß etwas mürrisch.“ Mit einem Seufzen ließ ich seine Hand los und verschränkte die Hände vor mir. Die restliche Gruppe würde gleich zu uns aufschließen. „Die Kendrick-Schwestern sind nicht gerade die Reisebegleitung, die ich mir erhofft hatte, aber ich bin sicher, es wird alles gut werden.“

„Dann wirst du erfreut sein, dass ich zwei Wagen habe, die uns nach Risings bringen.“

„Du bist mein Held“, flüsterte ich, als Lily und Leo die Kendricks zu uns führten.

„Wir müssen die Fußgängerüberführung über die Gleise nehmen, um zu den Kutschen zu gelangen“, sagte George. „Machen wir uns auf?“

George führte unsere kleine Gruppe mit Leo an seiner Seite vom Bahnsteig in Richtung der Treppe. Ich drehte mich suchend nach Lily um, da ich hoffte, eine Kutschfahrt mit den Kendrick-Schwestern zu vermeiden. Natürlich hinkte sie hinterher. Ich wollte gerade den Mund öffnen und sie bitten, aufzuschließen, da fuhr ein weiterer Zug mit quietschenden Bremsen ein.

Ich entschied mich also, mir die Worte zu sparen, bis der Lärm abgeebbt war, aber da zog eine andere Unruhe meine Aufmerksamkeit auf sich: Vor mir rumpelte und knallte etwas. Ich sah die Treppe hinauf und erblickte einen vollgestapelten Gepäckwagen, der die Stufen hinunter auf George und Leo zupolterte. Schockiert starrte ich hinauf, als Taschen und Koffer vom Wagen fielen und die Stufen herunter krachten. In einer fließenden Bewegung packte George Leos Arm und sprang zur Seite, als die Taschen und der Wagen mit lautem Krachen und einer Wolke aus Staub auf dem Pflaster aufschlugen.