Leseprobe Der Tod bringt Blumen

Erinnerung

Fünf Jahre zuvor:  Hamburg im Sommer 2008

»Komm schon, lass doch die Pennerin!« Leonies Freunde schlenderten kopfschüttelnd weiter, als sie neben dem großen Stoffbündel in einem dunklen Hauseingang stehen blieb. Sie zögerte. Wollte sie wirklich wissen, ob sich unter diesem Altkleiderhaufen ein Mensch verbarg, während ihre Freunde den nächsten Club anstrebten, um die Graduiertenfeier fortzusetzen?

Schon in der Schule und dann während des Journalismusstudiums hatte Leonie die Kluft immer deutlicher gespürt, die zwischen ihrem Leben und dem der Menschen lag, die sie interessierten, nämlich diejenigen auf der anderen Seite, die schon von Geburt an weniger Glück hatten als sie selbst. Es war Zeit, diese Kluft zu überspringen, also gab sie ihrem Impuls nach und beugte sich vor. Sie erkannte lange Haare und einen angewinkelten Arm, der unter den alten Decken hervorlugte. War das eine Frau oder noch ein Mädchen?

»Leo?«, hörte sie die Stimme einer ihrer Studienkolleginnen. »Wir gehen zur Amphore. Kommst du nach?« Leonie winkte ihr zu, bevor sie sich umdrehte und in die Hocke ging.

Die Frau lag zusammengekauert auf der Seite, und das dunkelblonde Haar mit aufgehellten Spitzen verdeckte ihr Gesicht, sodass Leo ihr Alter nicht einschätzen konnte. Die Strumpfhose unter dem kurzen Jeansrock sah fleckig aus, erst beim genauen Hinsehen erkannte Leonie Blut. Auch die Bluse war blutbefleckt. Leonie kämpfte ihren Fluchtimpuls nieder.

»Hallo, hören Sie mich?« Eine innere Erregung ergriff Leonie, die nicht nur der Sorge um diese Person geschuldet war: Das hier war vielleicht der Anfang von allem. Von dem, was sie wirklich wollte. Über die Benachteiligten schreiben, die Menschen zum Hinsehen zwingen und den armen Kreaturen dadurch helfen. Dass sie selbst sich nicht einfach wieder zurückziehen konnte, war klar. Als die Frau leise stöhnte und sich rührte, bemerkte Leonie, dass sie ihr unwillkürlich die Hand auf den Oberarm gelegt hatte. »Was ist mit Ihnen?«, fragte sie.

Die Angesprochene drehte den Kopf in Leonies Richtung. Die Haare lagen noch immer in klebrigen Strähnen auf ihrem Gesicht, aber darunter erkannte Leonie jetzt die Züge eines jungen Mädchens. Jünger als sie selbst, viel jünger. Es blinzelte ins Licht der Straßenlaterne und ließ die Augenfarbe erkennen: helles Grüngrau, eine Farbe, wie man sie nicht oft sah. Die Wimpern waren so stark getuscht, dass sie wie die Beine einer dicken Spinne wirkten, der dunkle Lidschatten war viel zu dick aufgetragen und zu schmierigen Klecksen verwischt. Sie war benommen, Leonie konnte sehen, wie sich zuerst Panik, dann Überraschung und Erleichterung in ihrem Blick abzeichneten, alles unter zusammengezogenen Brauen. Leonie schloss daraus, dass sie Schmerzen litt.

Mit einer hellen Stimme murmelte das Mädchen Worte, die Leonie nicht verstand. Sie zückte ihr Handy, doch der Arm des Mädchens schoss vor, und mit erstaunlich festem Griff packte es Leonies Arm. Ein Schwall Wörter sprudelte aus seinem Mund hervor, die Sprache war für Leonie nicht erkennbar. Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Ich rufe den Notarzt«, sagte Leonie eindringlich. »Du bist verletzt, jemand muss nach dir sehen.«

Wieder sprach das Mädchen Unverständliches und versuchte, sich aufzusetzen. Leonie stützte es mit der freien Hand, bis es auf dem Bürgersteig saß. Die Haare rutschten aus seinem Gesicht und hingen auf eine Bluse herunter, die aufgeknöpft war. Ein Nichts von einem blutroten Spitzen-BH umspannte die kleinen Brüste. Auf der Haut sah Leonie Flecken, deren Herkunft sie lieber nicht wissen wollte. Hämatome zeichneten sich ab, die noch frisch sein mussten und fast zusehends dunkler wurden.

Eine Mischung aus Schweiß, blumigem Parfüm, billigem Aftershave, Alkohol und noch etwas anderem schlug Leonie entgegen. Sie sog scharf die Luft ein. Willkommen in der realen Welt. Noch immer klammerte sich das Mädchen mit beiden Händen an ihren Armen fest und redete auf sie ein.

Leonie ließ den Blick über seinen Körper wandern, entdeckte aber glücklicherweise keine offenen Wunden, nur viele Kratzer. Woher stammte das viele Blut? Das Mädchen starrte Leonie mit seinen unglaublichen Augen an. Es musste eine Schönheit sein, versteckt unter einer dicken Schicht aus Schminke und Dreck.

Leonie half dem Mädchen auf die Beine. »Wie alt bist du?«

»Achtzehn«, sagte das Mädchen mit einem starken Akzent.

Leonie lachte bitter. »Niemals.« Sie strich dem Mädchen vorsichtig die Haare über die Schulter zurück. Es war etwa so groß wie sie selbst und noch schlanker, beinahe dürr.

Das Mädchen steckte offensichtlich tief in Schwierigkeiten. Und Leonie jetzt auch, denn sie konnte nicht so tun, als wäre nichts. Sie hob das Handy wieder hoch und hielt den Arm des Mädchens fest. Es machte einen schwachen Versuch, sich zu befreien, aber von der Kraft, die Leonie eben in seinem Griff gespürt hatte, war nichts mehr übrig, und schließlich ließ es die Schultern sinken.

»Ich rufe einen Notarzt. Keine Angst, alles wird gut.«

Ganz mechanisch sprach sie die Trostworte, die ihre Mutter ihr früher immer ins Ohr geflüstert hatte, wenn sie aus Albträumen aufgeschreckt war. Ob sie je selbst daran geglaubt hatte?

Viele Stunden später, es wurde bereits hell, gab sie einer Polizistin zu Protokoll, unter welchen Umständen sie das Mädchen gefunden hatte. Sie fragte, woher es komme, wie alt es sei, und ob ihm geholfen werde. Die Polizistin rieb sich über die Augen, dann sah sie Leonie mit einem resignierten Blick an. »Wollen wir es hoffen.«

Als Leonie am späten Vormittag endlich den Vorgarten der elterlichen Villa am Harvestehuder Weg betrat, hatte sich ihre Welt gewandelt. Obwohl sie geahnt hatte, worüber sie schreiben würde, hätte sie nicht gedacht, dass es sie so unverhofft überfallen würde. Ihre Eltern würden nicht begeistert sein.

Sie jedoch wusste bereits, wem sie die Story anbieten wollte. Und vielleicht war Mircela noch zu retten.

Mircela war jetzt das Wichtigste.

Kapitel 1

»Frau Schober, Sie haben große Fortschritte gemacht. Ich denke, wir können Sie wieder in die Alltagswelt entlassen. Fühlen Sie sich gewappnet, Ihrer Arbeit nachzugehen?«

Unverwandt sehe ich Doktor Treibel an und zucke mit keiner Wimper, obwohl ich in meinem Kopf zwei innere Stimmen hören kann. Wenn mein Psychotherapeut von der Existenz meiner inneren Zwillinge wüsste, würde er mir noch unzählige weitere Sitzungen in seiner düsteren Praxis aufzwingen, daran zweifle ich keine Sekunde. Was für ein Glück, dass ich ihm niemals von meinen ganz persönlichen Ratgeberinnen erzählt habe, deren Stimmen oft in meinem Kopf gegeneinander und gegen mich an streiten. Natürlich ungebeten.

Ich fürchte, wenn Doktor Treibel von »Lady Tough« und »Heulsuse« wüsste, wie ich die beiden insgeheim getauft habe, würde er mir noch nicht den Berufsalltag empfehlen.

Von ihnen weiß niemand außer meiner Rebellenschwester Kat, die wie ich schon als Kind gegen unsere Streberfamilie aufbegehrte. Versonnen lächle ich beim Gedanken an Kat und ihre Biohühner. Doch selbst ihr gegenüber erwähne ich die Zwillinge schon lange nicht mehr. Zu gut kann ich mich daran erinnern, wie Kat reagierte, als ich im letzten Jahr ihre Frage, ob ich innere Stimmen hören würde, mit einem klaren »Ja« beantwortete. Dabei ging es mir da wegen mehrerer Mordanschläge auf mich so schlecht, dass kein Mensch ernsthaft behaupten kann, diese Stimmen wären Zeichen einer psychischen Erkrankung gewesen. Es war eine Ausnahmesituation!

Aber bevor ich mich auf der Psychocouch in diesen Erinnerungen verliere, straffe ich die Schultern und versuche, mit voller Konzentration wieder zu meinem Therapeuten zurückzukehren.

»Fräulein Schober?« Doktor Treibel wartet auf eine Antwort. Er sitzt vorgebeugt in seinem Sessel und betrachtet mich.

»Oh ja.« Ich schiebe die Beine zur Seite und setze mich aufrecht auf das Sofa. »Ich kann wieder arbeiten. Ich habe alles hinter mir gelassen.«

Er spitzt die Lippen, wodurch er mich an meinen Chef im Callcenter Mediaboutique Saarlouis erinnert. Beide sehen mit dieser Mimik so verdorrt aus wie Sultaninen, deren Haltbarkeitsdatum überschritten ist. Trotzdem werde ich überglücklich sein, wenn ich den Chef wieder täglich sehe. Das hätte ich niemals für möglich gehalten.

»Gut, dann wünsche ich Ihnen für die Zukunft viel Glück.« Treibel steht auf und streckt mir die Hand hin. »Erstaunlich, wie gut Sie das alles verkraftet haben.« Er sieht auf meinen Bauch, der vom doppelten Babyglück, das darin heranwächst, noch nichts erkennen lässt. »Meinen Glückwunsch! Ich vermute, es hängt mit Ihrem Zustand zusammen.«

»Ja, ganz bestimmt. Die Zwillinge machen mich stark.« Zweistimmiges Gelächter erklingt in meinem Kopf, und ich gebe mir alle Mühe, nichts davon erkennen zu lassen. Ich werde diese Stimmen noch zum Schweigen bringen. Allerdings werde ich das ganz allein hinbekommen, ohne die Hilfe eines sogenannten Fachmanns, der doch sofort die Gelegenheit beim Schopf ergreifen würde, nur um noch mehr Geld an mir zu verdienen. Ich weiß, dass ich das kann, schließlich habe ich es schon einmal geschafft: nach der Mordserie im letzten Sommer, an der ich irgendwie mit schuld war.

Ich lege eine kurze Gedenkminute an meinen ehemaligen Kollegen Maurice ein, der in seinem etwas einfach gestrickten Weltbild glaubte, die Kunden der Mediaboutique abmahnen zu müssen, die mich durch ihre Unflätigkeiten am Telefon zum Weinen gebracht hatten. Seither ist er Patient der Klinik in Merzig, und ich muss gestehen, dass ich nach einem Besuch dort meine Anwandlung, in Sachen Traumabewältigung Dr. Treibel meine inneren Stimmen zu enthüllen, ganz schnell niedergekämpft habe. Und das ist auch gut so, sonst könnte ich heute bestimmt noch nicht wieder in meinen Job einsteigen.

Ja, es ist ein ungeliebter Job. Aber dennoch erleichtert es mich, dass ich mich nicht mehr nur mit meiner kleinen Maisonettewohnung im Ortsteil Beaumarais, meinem Liebsten, Kriminalkommissar Frank Kraus – der leider eher zu viel als zu wenig Arbeit hat, seit er mit dem Gedanken spielt, sich befördern zu lassen – und mit Babykram beschäftigen muss. Ganz ehrlich, nach der Lawine unzähliger geschenkter und ungelesener Bücher zum Thema Zwillingsaufzucht habe ich die Nase bereits gestrichen voll und freue mich, wenn ich wieder unter normale Menschen komme, vor allem meine liebe Arbeitskollegin und Freundin Lena Kougelhupf, die mit meinem Juristenbruder Rouwen erste Pläne einer gemeinsamen Zukunft schmiedet. Natürlich werde ich die Produktion von Babykleidung, die ich in den langen, freien Tagen aufgenommen habe, einstellen müssen, aber das ist nicht weiter schlimm, weil ich längst eine komplette Erstlingsausstattung zusammen habe, und zwar zweifach, wie es bei Zwillingsmüttern nun mal nötig ist.

In den schwierigen Wochen nach den Mordanschlägen habe ich mich an ein Hobby aus meiner Adoleszenzphase erinnert. Damals, als ich noch nicht wusste, dass ich mal Grundschulpädagogik studieren würde (was ich geschmissen habe), hatte ich gerade mein Herz fürs Nähen entdeckt. Ich habe mir in den späten Teeniejahren zahlreiche coole Röcke, Hosen und Oberteile selbst genäht. Auch meine Rebellenschwester Kat hat heute noch ein paar Einzelstücke von meiner Nadel in ihrem Schrank hängen. Aber mit diesem Hobby – das meine Mutter, die Apothekerin, mit einer Sorge betrachtete, die ich niemals ganz verstanden habe – hörte ich irgendwann auf, als ich in meinem Studiengang feststellen musste, dass die angehenden Grundschullehrerinnen ebenfalls begeisterte Schneiderinnen waren, jedenfalls viele von ihnen. Ich hatte keine Lust, mich darin mit ihnen zu messen.

Als ich nun etwas später die Praxis meines Psychologen verlasse, fühle ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder frei. Es ist nur vergleichbar mit dem Tag, an dem Frank mich aus den Klauen seines psychopathischen Kollegen Herbert rettete. Auch diesen Gedanken vertreibe ich rasch wieder. Das ist Geschichte.

Die sehr vitalen Zwillinge, die in meinem Bauch heranwachsen, haben sich uneingeladen zu uns gesellt. Aber wir haben ja noch viele Monate Zeit, uns auf sie zu freuen. Das Jahr ist noch jung, und erst im Sommer werden wir zu viert sein. Ich schlucke jedes Mal, wenn ich an die Geburt denke. Ich, Lucinda Schober, die nichts-auf-die-Reihe-Bekommerin, werde meine eigene Familie haben! Ohne Heiratsurkunde, das haben Frank und ich einmütig beschlossen, und es hat die Lage zwischen uns ungemein entspannt.

Ein Lächeln auf den Lippen, schlendere ich über den Großen Markt zur Fußgängerzone. Die Februarsonne strahlt und gibt trotz der Kälte eine erste Vorahnung darauf, wie zauberhaft Saarlouis bald erblühen wird. Ich denke darüber nach, ob ich zur Wache in die Alte-Brauerei-Straße gehen soll. Vielleicht hat Frank Zeit für eine Tasse Kaffee.

»Lucy!« Die dunkle Frauenstimme ruft meinen Namen, als handle es sich um einen Befehl. Unwillkürlich straffe ich die Schultern, um größer zu erscheinen, und hebe das Kinn, bevor ich mich zu ihr umdrehe. Einen Monat habe ich sie nicht gesehen, und keine Sekunde habe ich sie vermisst. Immerhin trägt sie die Haare jetzt wohl endlich in ihrer Naturfarbe, nachdem sie vorher meinen Stil imitiert hatte. Weizenblond und schulterlang sind sie inzwischen. Sie fallen in weichen Wellen und sehen natürlich zum Niederknien aus. Ich kann nicht umhin, Ilinas natürliche Eleganz zu bemerken, mit der sie sich bewegt. Und um die ich sie von der ersten Sekunde an beneidete, als unser Chef Dürrbier sie letzten Sommer in unserem Callcenter Mediaboutique vorstellte.

Sie wirkt gar nicht, als käme sie aus einem anderen Land, so auf den ersten Blick. Ihre Anmut, der Schnitt ihres feinen Gesichts und die himmelblauen Augen sind international; am ehesten erinnern sie mich an Grace Kelly. Ich seufze heimlich und ärgere mich über meine Gedanken. Eigentlich habe ich mir jegliche Vergleiche mit Ilina längst verboten. Umso mehr, als ich schwanger bin und täglich damit rechnen muss, auseinanderzugehen wie eine Dampfnudel.

Während Ilina sich mir nähert, bemerke ich überrascht, dass es mich tief im Innern freut, sie zu sehen. Zwar habe ich sie als intrigante Person erlebt, die mich aus unbekannten Gründen auf dem Kieker hatte. Andererseits hat sie mich in der Mediaboutique mit ihrem unvergleichlichen Vanillekaffee so oft aus tiefen Abgründen gerettet, wenn ich mit berüchtigten Horrorkunden wie dem »Hengst von Hamburg« zu tun hatte. Und auf ihre barsche Art ist sie richtig witzig. Zumindest, wenn die Scherze nicht auf meine Kosten gehen. Deshalb bin ich trotz aller Wiedersehensfreude auf der Hut, als sie schließlich heran ist und den Kopf leicht schräg legt, womit sie in der Männerwelt vermutlich immer sofort punkten kann. Vielleicht kann ich mir bei ihr auch noch was abgucken, um meine eher ungeschickte Art meinen Mitmenschen gegenüber zu verbessern, schießt es mir durch den Kopf.

»Ist es wahr, was sagt Lena? Kommst du bald wieder zum Arbeiten?« Ilina schüttelt mir kurz die Hand. Als wäre das nicht schon überraschend genug, beugt sie sich plötzlich vor und zieht mich für eine Sekunde wie eine Freundin in die Arme.

»Ähm, ja. Ich komme gerade vom Therapeuten.« Ich stocke. Da hat sie mich mit ihrer herzlichen Begrüßung doch glatt ausgeknockt! Weshalb bin ich so bescheuert und gebe sowas zu? Geringschätzung ist bekanntermaßen eine ihrer Haupttugenden.

»Verstehe. Hast du schlimme Erfahrungen gemacht.« Sie schluckt. Bleibt ihr etwa die Stimme weg? Wer ist dieses empathische Wesen, und was hat es mit der Schlange Ilina gemacht?

»Lucy, hallo Lucy! Warte mal!« Bei den Rufen, die ich höre, habe ich sofort ein Bild vor Augen: Die Frau schiebt hektisch einen Kinderwagen vor sich her, die eine Hand in der Luft, und winkt mir, obwohl ich sie noch gar nicht sehen kann. Das Bild bestätigt sich in dem Moment, in dem ich mich umdrehe. Ellen, Franks Exfrau. Es gibt mir jedes Mal einen winzigen Freudenstich im Bauch, wenn ich die Vorsilbe »Ex« denke. Die beiden haben es in letzter Sekunde geschafft, sich scheiden zu lassen, bevor das Baby geboren wurde. Nun sind Ellen und der Dieter zwar noch nicht verheiratet, aber wenigstens brauchen sie kein kompliziertes Vaterschaftsverfahren anzustrengen. Ohne die Scheidung wäre nämlich Frank der rechtliche Vater der kleinen Lily geworden, obwohl er und Ellen schon lange kein Paar mehr sind. So wird das Baby in Kürze den klangvollen Namen Schimmelschnulze erhalten, und ich weiß aus erster Hand, dass Ellen bereits Unterschriften geübt hat. Sie hat eine Weile gebraucht, sich damit anzufreunden, aber jetzt liebt sie ihn ebenso sehr wie den Dieter, der ihn ihr beschert hat. Und – nun ja – anspruchsvoller als Kraus, Franks Nachname, ist er allemal. Unter uns gesagt.

Seit der Silvesternacht, in der sie ihr Kind zur Welt brachte, habe ich Ellen nicht mehr gesehen. Sie wirkt ein bisschen fülliger als früher, was ihre Ausstrahlung einer lebensfrohen und sinnlichen Frau kein bisschen mindert, im Gegenteil. Die Haare hat sie in einem nachlässigen Dutt zusammengenommen, sie ist in eine kuschelige Jacke gekleidet, die sie auch in der Schwangerschaft trug. Der Reißverschluss ist offen, was mir einen Blick auf ihre Brüste erlaubt. Diese Üppigkeit ist neu. Als sie heran ist, kann ich in ihren Augenwinkeln Müdigkeit erkennen. Ein kleiner Widerspruch zu der wonneproppigen Lebensfreude, die sie ansonsten ausstrahlt.

»Oh, Ellen, wie schön! Lass mich mal Lily sehen.« Schon beuge ich mich über den Kinderwagen und sehe ein schlafendes Baby mit Schnuller im Mund. Erst danach begrüße ich Ellen mit zwei Wangenküsschen.

Ilina wirft ebenfalls einen Blick in den Buggy, bevor sie Ellen ein hinreißendes Lächeln schenkt. »Ist sie eine wunderschöne kleine Honigschnute. Herzlichen Glückwunsch!«

Ellen lacht laut. »Oh, vielen Dank. Ja, sie ist so ein Schatz.« Sie blickt sich um und deutet auf das Eiscafé, vor dem soeben ein kleiner Tisch frei wird. Bei diesem Sonnenschein hat der Betreiber Tische und Stühle nach draußen geholt und warme Decken bereitgelegt. »Wollen wir einen Kaffee trinken?« Sie schiebt den Buggy über den Weg.

Da bleibt mir wohl keine Wahl, wenn ich Ellen nicht vor den Kopf stoßen will. Außerdem wollte ich ohnehin einen Kaffee trinken. Ich sehe Ilina an, und ich fürchte, ein heimliches Flehen liegt in meinem Blick, denn noch bevor ich sie frage, ob sie auch möchte, sagt sie: »Kommt mir ein Kaffee gerade recht.« Sie wirft einen Blick auf die Armbanduhr. »Zwanzig Minuten habe ich.«

Ellen hat den Kinderwagen bereits schräg neben einem kleinen, runden Tisch geparkt. Ilina und ich setzen uns hin, als ein erstes Wimmern aus dem Wägelchen erklingt, und von einer Sekunde auf die andere macht Ellen den Eindruck einer Frau, die komplett aus dem Hier und Jetzt abtaucht. Sie beugt sich über den Kinderwagen und hebt vorsichtig ihr Baby heraus, das mit einem »Plopp« seinen Schnuller ausspuckt. Ich will schon mit einer hastigen Bewegung danach greifen, als ich sehe, dass er an einer bunten Holzperlenkette baumelt. Die Mutter drückt das Baby an sich, Wange an Wange, und obwohl sie in meine Richtung schaut, bemerke ich, dass Ellen wortwörtlich nichts sieht. Ein eigenartiges Gefühl überkommt mich plötzlich und unerwartet – ist es Rührung? Schließlich trage auch ich heranwachsendes Leben in mir.

Ellen lässt sich auf den Stuhl sinken, bringt in einer einzigen Bewegung das Kind in die richtige Position und gibt ihm die Brust. Sofort entspannt sie sich und kehrt mental wieder zur Erde zurück. Sie lächelt uns an. »Was möchtet ihr? Ich gebe einen aus.«

Wenige Minuten später kämpfe ich innerlich gegen eine Panikattacke an, denn in meinem Kopf formt sich in mindestens zwei Tonlagen die Frage, ob ich es hinbekommen kann, in der Öffentlichkeit meine Kinder zu ernähren. So? Und dann gleich zwei?

»Lucy, träumst du?«

Ich zwinkere und wende den Blick von dem saugenden Symbionten an Ellens Brust ab. Ellen und Ilina sehen mich abwartend an.

»Ähm …«

Warum grinst Ilina? Erst als Ellen loslegt, wird mir klar, dass ich wohl einen ausführlichen Vortrag verpasst habe, den sie gehalten hat. »Hast du mir überhaupt zugehört? Wie ich dir gerade erklärt habe, ist Stillen das Praktischste, was du dir denken kannst.« Sie legt sich eine Mullwindel über die Schulter, nimmt das Baby hoch und tätschelt ihm den Rücken. Meine Antwort wartet sie gar nicht erst ab, sondern spricht sofort weiter. »Es ist schön, wirklich. Wenn es sich mal eingespielt hat, ist es schön.«

»Bei mir werden es aber zwei Säuger sein«, wage ich zu bedenken zu geben.

»Aber du bist nicht allein, du hast Frank an deiner Seite … dass ihr Zwillinge bekommt, weiß er ja wohl?«

Ilina lässt ihre Blicke von Ellen zu mir wandern, sie kann ihr Feixen nicht unterdrücken. Ich spare mir eine Antwort.

»Möchtest du sie mal halten? Sie ist nach dem Trinken meistens gut gelaunt.« Schon steht Ellen auf und reicht mir das Baby über den Tisch. Keine Chance, abzulehnen. Ungeschickt springe ich hoch und nehme das Bündel entgegen. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein Baby in den Händen halte. Ich weiß nicht, wie ich sie anpacken soll, aber Ellen setzt sich einfach. Sie ist erstaunlich unaufgeregt, mir unerfahrener Person ihr Wichtigstes anzuvertrauen. Was, wenn ich es kaputtmache?

Das Baby schaut mich mit riesigen Knopfaugen in einer undefinierbaren Farbe an. Es hat ein Strickmützchen auf dem Kopf, ich kann seine Haare nicht sehen. Der Mund und die Nase sind so winzig! Überhaupt ist alles an Lily winzig, und ich wundere mich über das Gewicht, das mir nicht zu ihr zu passen scheint. Endlich beschließe ich, sie so zu halten, wie Ellen es gerade vorgemacht hat. Das Baby ist ja wach, also lege ich es mir an die Schulter. Sein Geruch löst in meinem Hirnstamm irgendwas aus. Ich fühle eine unglaubliche Zärtlichkeit diesem fremden Kind gegenüber.

Das Köpfchen wird schwerer, und ihr gleichmäßiger Atem verrät mir, dass sie einschläft. »Ellen, nimm du sie wieder.« In dem Moment, in dem ich aufstehe und mich vorbeuge, damit die Mutter mir das Kind aus den Armen nehmen kann, rührt das Baby sich. Es macht einen Ton, und ich spüre, wie der Kragen meiner Winterjacke nass wird.

»Ups!« Ellen lacht und nimmt Lily. Das Baby schläft einfach weiter, als hätte es mir nicht gerade meine Lieblingsjacke vollgekotzt. Das gibt Punktabzug. »Aber jetzt erzähl mal. Wie weit seid du und Frank denn mit euren Planungen?«

»Planungen?«, echoe ich schwach.

Ich mag Ellen sehr, ohne Zweifel. Aber bislang kümmerte sie sich ausschließlich um den Dieter, die Trennung von Frank und die Vorbereitungen auf die Geburt. Ich war bisher nie in ihrer Schusslinie, und solange es nicht um mich ging, konnte ich über vieles lachen, was sie von sich gab. Oft erfuhr ich erst durch Frank von ihren Aktionen, und ich musste ihr teilweise Respekt zollen für ihre Schlagfertigkeit. Dadurch, dass wir beide in einem Chor singen und immer gemeinsam zu den Proben fahren, ist eine lockere Freundschaft zwischen uns entstanden. Trotzdem: Ich habe keinerlei Ambitionen, meine Beziehung zu ihrem Exmann mit ihr zu erörtern.

Als in meinem Kopf zwei Stimmen anfangen, mir Vor- und Nachteile meiner Beziehung zu nennen, stülpe ich schnell den Deckel über den geistigen Kübel, in dem all das vor sich hinbrodelt, was mir an meinem geliebten Kriminalkommissar den letzten Nerv raubt. Entschlossen schiebe ich mehrere innere Bilder zur Seite: seinen ewigen Schmutzwäschehaufen auf und neben dem Stuhl, die Plattensammlung auf dem Sideboard, die meinen Gildeclowns ihren Lebensraum streitig macht, seine in der gesamten Wohnung verteilten Schuhe und die *ächz* stets offene und deformierte Zahnpastatube im Bad. Und das alles in meiner kleinen Wohnung! Meine Näh-Orgien haben die Situation natürlich nicht gerade einfacher gemacht.

»Also, ich kann dir nur sagen, wenn du in Frank einen echten Partner haben willst, musst du früh anfangen, ihn zu erziehen.«

Bei ihrem letzten Wort bleibt mir der Schluck Kaffee im Hals stecken, den ich gerade genommen habe. Mein Hustenanfall erspart es mir, darauf zu antworten.

»Ich kenne ihn. Er braucht ewig, um sich auf Veränderungen einzustellen. Wenn das Kind erst mal da ist, sind alle Versprechungen verpufft. Das Baby ändert alles.«

Ich runzle die Stirn. Ilina neben mir hat den Rücken durchgestreckt. Wahrscheinlich weidet sie sich an der Realsatire, die vor ihren Augen abläuft.

»Zuerst häkeln und stricken sie noch Mützchen und versprechen, dass sie nachts aufstehen, wenn das Baby weint. Aber glaub mir, bei den Kerlen klappt das mit dem Mutterinstinkt nicht so. Die ticken anders.« Ellen hat angefangen, den Buggy zu schaukeln. Ihre Bewegungen werden mit jedem Satz heftiger. »Aber der Herr ist ja zu müde von der Arbeit und den Kursen, die er hält. Der kriegt es gar nicht erst mit, wenn die Kleine sich vollgekackt hat und rumbrüllt wie eine Sirene.« Der Buggy wippt bedrohlich auf und ab. Ich sage nichts, spüre nur Ilinas Hand, die sich auf mein Bein gelegt hat und ab und an zudrückt. Ich kann ihr Verhalten nicht genau interpretieren, zu sehr bin ich von Ellen gebannt, deren Gesicht jetzt nicht mehr fröhlich und zufrieden wirkt.

»Und der Dieter ist ein guter Vater!« Sie wird laut, anscheinend muss sie sich selbst davon überzeugen. »Was meinst du erst, wie das mit Frank wird? Bereite ihn darauf vor, sag ihm, dass du es allein nicht schaffen wirst. Er soll Überstunden sammeln und nach der Geburt so lange frei machen, wie er kann. Du musst ihn mit zur Geburtsvorbereitung nehmen, er muss lernen, wie das geht. Du kannst dich nicht um zwei Babys gleichzeitig kümmern.« Sie hält einen Moment inne. Lily wimmert jetzt, und Ellen steckt ihr grob den Schnuller in den Mund. Ihr ist gar nicht aufgefallen, wie paradox ihr letzter Satz klingt; natürlich werde ich mich um zwei Babys kümmern müssen!

Ilina hat zwischenzeitlich die Kellnerin herbeigewunken und zahlt unsere drei Kaffee. Sie nimmt meinen Ellbogen. »Lucy, wir müssen. Ist es höchste Zeit, Dürrbier wartet.«

Ellen ruckt mit dem Kopf hoch. »Arbeitest du wieder? Ich dachte, du bist noch in Behandlung. Auch so ein Thema. Unterstützt er dich darin?«

Ich fasse nicht, was mit Ellen passiert. Dankbar lasse ich mich von Ilina hochziehen. »Ja, ich arbeite wieder. Danke für deine guten Ratschläge, aber bitte heb sie in Zukunft auf, bis ich dich danach frage.«

Erst als wir um die nächste Ecke gebogen sind, erlauben Ilina und ich uns, lauthals loszulachen.

»Dachte ich immer, Horrorliste auf Arbeit ist für dich das Schlimmste.« Ilina zieht ihre aristokratischen Brauen hoch, und dieses Mal höre ich deutlich einen Abklatsch der gewohnten Geringschätzung. »Aber nein, ist dein Leben noch viel gruseliger.« Mich überläuft ein Schauder bei ihren Worten.

Ich begleite Ilina bis zur Mediaboutique, weil ich meinen Wagen eh auf dem Großen Markt geparkt habe. Sie erkennt meinen Twingo und deutet mit dem Kinn in seine Richtung.

»Falls du willst kaufen neues Auto, würde ich übernehmen die Nuckelpinne.«

Ich zucke nur mit den Schultern und blicke an der Front des großen Gebäudes hoch, Ilina folgt meinem Blick. »Tja, wirst du bald wieder jeden Tag herkommen. Ach, fällt mir ein, hast du heimlichen Bewunderer.« Sie bleckt in einem Grinsen wie in ihren besten Zeiten die Zähne, eine Augenbraue possierlich hochgezogen.

Ich runzle die Stirn. »Wie meinst du das? Was für einen Bewunderer?«

»Ist Gedicht in Mediaboutique für dich angekommen.« Sie malt Anführungszeichen in die Luft. »›An holde Lucinden‹ steht darüber.« Sie lacht schnaubend, ihre Augen blitzen vor Vergnügen. Also ist sie doch noch die eher niederträchtige Person, als die ich sie kennengelernt habe.

Ich verdrehe die Augen. Mein Name in voller Länge ausgesprochen ist schon schlimm genug, aber noch ein -n drangehängt? Wer macht denn sowas?

Ich starre noch immer Ilina an, und tief in mir drin wird ein Erinnerungsschnipsel geweckt, aber ich finde keine konkrete Info, um welche Art von Erinnerung es sich handelt. Das beunruhigt mich eine Sekunde, weil ein eigenartiges Gefühl damit verbunden ist, aber dann straffe ich die Schultern. Wahrscheinlich weckt die Tatsache, dass mir jemand ein Gedicht geschickt hat, eine Assoziation zu einem meiner früheren Freunde, und ganz im Ernst? Die können mir gestohlen bleiben. Also zucke ich mit den Schultern. »Ich weiß von nichts.«

Ilina mustert mich einen Moment, dann zuckt sie ebenfalls die Achseln. »Macht nichts, ganze Büro freut sich darüber.«

»Wieso das denn?«

»Weil Dürri hat ausgedruckt und an Wand gepinnt. ›Gebenedeit der Tag, der Mond, das Jahr‹, so fängt an, aber kann ich nicht weiter, muss ich immer schon lachen nach erste Zeile.«

Ich verziehe den Mund. »Was ist das denn?«

»Ach, ist doch nur Lyrik. Und anscheinend schon sehr alt.« Sie blickt auf die Uhr an der Ludwigskirche. »Ich muss rein. Bis Montag, Lucy! Freue mich, dass du wiederkommst.«

***

An diesem Morgen fällt der Blick von Kriminalkommissar Frank Kraus beim Betreten seines Büros auf den Schreibtisch, der dem seinen gegenüber steht und seit mehreren Wochen verwaist war. Jetzt steht eine blau blühende Topfpflanze darauf, und ein Stapel Aktenmappen liegt neben der Computertastatur. Dann entdeckt er die Snoopy-Tasse neben dem Bildschirm und weiß, wer sich hier eingerichtet hat: Tina Kunz, die im letzten Jahr noch darunter gelitten hat, dass sie als Kriminalkommissarin bisher nur zuarbeiten durfte. Jetzt erfüllt sich also endlich ihr Wunsch, und sie bildet mit Frank zusammen ein Team.

Es hätte deutlich schlimmer kommen können: Mit Tina versteht er sich richtig gut, sie haben auch früher schon zusammengearbeitet, wobei sie immer die Arbeiten erledigt hat, die man vom Schreibtisch aus durchführen kann. Tina ist eine der wenigen Kolleginnen, die seine Sauklaue entziffern können, was sich besonders beim Berichte-Schreiben als echter Glücksgriff erwiesen hat.

Frank setzt sich und schaltet seinen Computer ein, da kommt Tina herein. Sofort legt sich ein eifriges Lächeln auf ihr Gesicht, das ihm wieder einmal bewusst macht, wie viel jünger sie ist. Trotz ihrer fünfundzwanzig Jahre könnte sie auch noch als Teenager durchgehen. Aber, nun gut, sie ist nicht nur optisch so jung, sondern auch ihrer Lebensweise nach, was sich vielleicht noch als Vorteil entpuppen könnte. Tina ist viel fitter als er selbst in allen Dingen, die mit Social Networking zusammenhängen, und das ist nur ein positiver Aspekt. Ein weiterer ihrer Pluspunkte liegt darin, dass sie ein fotografisches Gedächtnis besitzt, was sich in der Vergangenheit schon einige Male als Tüpfelchen auf dem i erwiesen hat – auch im letzten Fall, den Frank noch mit Herbert zusammen gelöst hat.

»Guten Morgen!« Sie stürmt auf ihn zu, sodass er sich unwillkürlich aus seinem Sitz erhebt, um ihre impulsive Umarmung entgegenzunehmen. Sie drückt ihn fest, so wie man es von Familienmitgliedern gewohnt ist – typisch für Tina. »Jetzt hast du mich an der Backe, Frank. Ich freue mich!«

Er muss lachen, schiebt sie von sich und blickt in ihr koboldhaftes Gesicht. Tina erinnert ihn mit ihrer zerzausten Kurzhaarfrisur, deren Farbe alle paar Wochen wechselt, ein bisschen an Kat Schober, Lucys »Rebellenschwester«. »Herzlich Willkommen, Krümel!«

Wie erwünscht, blitzen ihre Augen bei dem verhassten Namen auf. »Don’t call it Krümel«, faucht sie, und er muss grinsen, weil sie ihren Tadel in eine Anspielung auf eine Fernsehwerbung für ein Toastschnitzel packt. Tina gleitet hinter ihren Schreibtisch und lässt sich auf den Stuhl fallen, dann greift sie zu der obersten Akte. »Wusstest du schon, dass wir Herbert beerben werden?«

»Wie meinst du das?«, fragt er.

»Du weißt ja, dass er, bevor er in Saarlouis arbeitete, bei der Sitte war?«

»Ach so, ja.« Er zieht die Nase hoch. »Wir bekommen die halbseidenen Fälle. Glücklicherweise gibt es davon hier ja nicht so viele.«

»Hm, tja. Ich muss jedenfalls diese Akten nochmal durchgehen und erfassen, solange es für uns beide keinen neuen Fall gibt.«

Frank tritt neben sie und blickt auf mehrere handschriftlich ausgefüllte Formblätter. Er erkennt Herberts kantige Schrift, die im Gegensatz zu seiner wenigstens leserlich ist – wahrscheinlich auch der Grund, weshalb diese Formulare noch nicht digital erfasst sind. Er verzieht den Mund. »Das bedeutet dann wohl, dass ich den Bericht zu meinem letzten Fall selbst schreiben muss?«

Tina lacht auf. »Ja, das bedeutet es.« Sie sieht zu ihm hoch und zwinkert. »Wollen wir hoffen, dass das Telefon bald klingelt und ich«, ihre Augen strahlen, »mit dir zu unserem ersten gemeinsamen Fall gerufen werde.« Sie reibt sich die Hände. »Ich kann es kaum erwarten. Endlich raus auf die Straße!«

»Da bin ich ganz bei dir. Auf eine gedeihliche Zusammenarbeit, Krümel!« Feixend biegt er sich zur Seite, um dem Wurfgeschoss auszuweichen, das sie in seine Richtung feuert. Erst als er sich gleich darauf bückt, um das Ding vom grauen Büroteppich aufzuheben, erkennt er, was es ist: ein Kronkorken von der Biersorte, die Herbert gern zum Feierabend getrunken hat.

Er wirft ihn in den Papierkorb unter seinem Tisch. »Wollen wir hoffen, dass unser erster Fall ganz geradlinig wird und nichts mit Lucy zu tun hat!«

Tina sieht ihn stirnrunzelnd an, dann kichert sie. »Na, deine Freundin war jetzt zweimal hintereinander in Morde verwickelt, irgendwann muss ja auch mal Schluss sein.«

»Dein Wort in Gottes Hörrohr.«

Sie grinsen sich einvernehmlich über die Schreibtische hinweg an, dann vertiefen beide sich in den Schreibkram. Nach einer halben Stunde wird Frank bewusst, dass er diese neue Konstellation mag. So sehr er Herbert bis zu seinem Fehltritt letztes Jahr als Kumpel gesehen hat, ist Tinas Anwesenheit doch viel unkomplizierter. Heimlich nimmt er sich vor, ihren Wunsch zu respektieren und sie in Zukunft nicht mehr Krümel zu nennen. Sie hat ihr Studium mit deutlich besseren Noten abgeschlossen als er selbst und verdient Respekt. Und noch etwas beschließt er in dieser Sekunde: Es ist an der Zeit, auf den nächsten Schritt in seiner Karriere hinzuarbeiten. Umso mehr, als er bald Vater von Zwillingen wird.

Kapitel 2

Die letzten freien Tage, bevor ich wieder in meine Arbeit einsteige, nutze ich, um mir noch zwei hübsche Hosen zu nähen, die man im Bund der Größe des Bauchs anpassen kann, und um die Babyausstattung für die Zwillinge in meinem Koffer auf dem Schlafzimmerschrank zu verstauen, nachdem ich jedes Teil mit dem Handy fotografiert habe, um die Sachen am Montag Lena zu zeigen. Dort oben ist der Babykram erst mal aus den Füßen. Jetzt, da ich bald wieder ein normales Leben beginne, nerven mich die herumliegenden Nähutensilien, die ich in den letzten Wochen täglich benutzt, aber irgendwie gar nicht mehr wahrgenommen habe. Frank hat erst gestern was von Nestbau gemurmelt und irritiert einen der Stühle freigeräumt, damit er sich neben der Nähmaschine an den Tisch setzen konnte. Aber da es sowieso schon spät am Abend und er sehr hungrig war, habe ich nicht weiter nachgefragt.

Ja, ich gestehe: Ich habe es genossen, mich in Schnittmuster, Stoffproben und hübsche Accessoires für Babykleidung zu vertiefen. Meine neue Sucht habe ich vor mir selbst damit gerechtfertigt, dass wir durchs Selbermachen viel Geld sparen. Okay, gleichzeitig hatte ich auch für nichts anderes mehr Zeit, das gebe ich freimütig zu. Kinderwagen, Kindersitze, Kinderzimmer, größere Wohnung? Das sind alles Dinge, um die man sich später immer noch kümmern kann. Ich bin erst in der siebzehnten Schwangerschaftswoche. Man sieht nicht mal, dass ich schwanger bin. Also, wenn man mich nicht so gut kennt. Sonst schon.

Ich habe gerade den Koffer auf den Schrank geschoben – erstaunlich, wie schwer diese winzigen Kleidungsstücke sind –, als ich die Wohnungstür höre. Das muss Frank sein. In letzter Zeit hat es sich so ergeben, dass ich abends immer ein warmes Essen vorbereitet habe, weil es oft spät wird, bis mein Kriminalkommissar nach Hause kommt. Und da ist mir das bisschen Zeit, das uns noch bleibt, einfach zu schade für Küchenarbeit oder Planungen unserer Zukunft.

»Lucy, bist du oben?« Seine Stimme klingt nach guter Laune.

Sofort wird es in meinem Bauch warm. Wer hätte gedacht, dass sich eine Schwangerschaft positiv auf die Libido auswirkt? Ich jedenfalls nicht.

Vielleicht spielt auch die Angst eine Rolle, dass es mit den etwas akrobatischeren Aktionen, die wir in den letzten Monaten ausprobiert haben, bald vorbei sein könnte, die mich geradezu gierig danach macht, alle Gespräche, die ich mit meinem Liebsten führe, im Bett zu beenden. Allerdings haben wir heute noch nicht gegessen, also steige ich vom Stuhl herunter und trage ihn rasch zu der Treppe, bevor Frank heraufgestiegen ist und am Ende das Mahl als unwichtig deklariert. Denn bei aller Liebe – das geht gar nicht. Schließlich musste ich mir schon meine heißgeliebten Trüffelpralinés und Schokolade abgewöhnen, weil sie mir neuerdings Unbehagen bereiten. Noch dazu sind die Vormittage, was meinen Appetit und meine Fähigkeit, Essen zu genießen, angeht, nach wie vor problematisch. Da kann niemand ernsthaft von mir erwarten, dass ich auf meine Abendmahlzeit verzichte. Egal, wie toll der Sex sein mag: Mit leerem Magen geht das einfach nicht. Frank weiß das, und doch versucht er immer mal wieder, schneller zu sein als ich.

Heute jedoch nicht! Ich halte ihm den Stuhl entgegen, als er die oberste Stufe der Raumspartreppe erklommen hat, und schenke ihm mein reizendstes Lächeln. »Kannst du den bitte runtertragen? Wir können sofort essen.«

Zum Glück versteht er, worum es hier geht, und tut, was ich ihm aufgetragen habe. Kurz darauf lassen wir es uns schmecken.

»Hast du in letzter Zeit etwas von Herbert gehört?« Warum ich Frank ausgerechnet nach meinem Antagonisten frage, ist mir selbst nicht klar, aber anscheinend weckt das Wissen, ab Montag wieder täglich zu arbeiten, auch die Erinnerungen an andere Details meines Alltagslebens.

Frank kaut den Bissen Lasagne fertig und schluckt runter. Seine dunklen Brauen haben sich über den warmen, braunen Augen leicht gehoben. Ich muss mich beherrschen, nicht mit meinem Zeigefinger das Tröpfchen Soße in seinem Mundwinkel aufzutupfen. Bevor er antwortet, leckt er es selbst ab. Verstörend, dass ich diese simple Geste als warmes Gefühl unterhalb meines Nabels spüre!

»Nein, warum fragst du?«

»Ich weiß nicht genau. Mit wem arbeitest du denn jetzt zusammen, immer noch mit dieser, wie heißt sie noch?«

»Du meinst die … Dings. Nein, die ist in Mutterschutz. Aber Tina darf jetzt endlich ran, wir werden in Zukunft ein Ermittlerteam bilden.«

»Tina? Cool, ich mag sie.« Ich muss sofort daran denken, wie sie auf meiner legendären Party letzten Oktober völlig verwirrt auf die Familienbande Schober reagiert hat. Und wie sie mir Ilinas Intrigen gegenüber zur Seite stand. Ja, Tina ist sympathisch. Außerdem kennen die beiden sich schon seit mindestens drei Jahren.

»Ja, ich auch. Sie ist noch ein bisschen übermotiviert, aber das wird sich einspielen.«

»Ach komm, du bist ja nur sauer, weil du ihr dann nicht mehr die Berichte aufs Auge drücken kannst.«

Frank verzieht seine vollen Lippen, dann grinst er entwaffnend. »Deine Kombinationsgabe erstaunt mich doch immer wieder.« Es sieht so aus, als wolle er noch etwas anhängen, aber dann schweigt er.

»Was ich dir noch erzählen wollte«, fange ich an, weil mir in dieser Sekunde wieder einfällt, was Ilina zu mir gesagt hat. »Im Callcenter habe ich anscheinend einen heimlichen Verehrer.«

»Oh nein, nicht schon wieder!«

Etwas pikiert wackle ich mit den Schultern. »Was ist das denn für eine Antwort? Du weißt doch noch gar nichts.«

Er greift mit seiner warmen Hand nach meiner, und ich liebe seine Berührung viel zu sehr, um sie abzustreifen.

»Lucy, sei mir nicht böse, aber mit Verehrern haben wir bisher nur schlechte Erfahrungen gemacht, stimmt’s?«

Ich nicke, den Mund zu einer beleidigten Schnute gezogen, und murmle: »Ist das vielleicht meine Schuld?«

Er schenkt mir ein unwiderstehliches Lächeln. »Nur indirekt, weil du einfach so betörend bist.«

»Pff. Herbert war nicht mein Verehrer, sondern deiner!» Böse funkle ich Frank an, der eine Grimasse schneidet und seine Gabel neben den geleerten Teller legt.

»Was genau bedeutet denn in diesem Fall ›heimlicher Verehrer‹?«

»Ilina hat mir erzählt, es gäbe da ein Gedicht, vielleicht auch mehrere, die bei Dürri gelandet sind, aber an mich gerichtet waren. Der Verehrer hat also wenigstens nicht meine persönliche Mailadresse.«

Frank legt den Kopf schräg und denkt nach. »Lass uns das mal im Auge behalten. Wer weiß, wer dahinter steckt. Gedichte sind oft nur der Anfang.«

»Der Anfang wovon?«

»Ach, nichts. Wir behalten das einfach mal im Blick, ja? Bist du satt, Liebes?«

Er greift nach meinem leeren Teller und stellt ihn auf seinen, dann steht er auf und räumt beide in die Spülmaschine. Sein Lächeln vertreibt alle Fragen aus meinem Kopf, die ich ihm noch stellen wollte, und als er nach meiner Hand greift, braucht es keine weiteren Überzeugungskünste, um mich nach oben in unser kuscheliges Schlafloft zu locken. Es ist eh schon spät, und nichts ist entspannender als ein Gutenacht-Schäferstündchen mit meinem hinreißenden, attraktiven, ausdauernden, unwiderstehlichen, nimmersatten Kriminalkommissar.

***

Am Montagmorgen fühle ich mich gut gewappnet, als ich das Gebäude der Mediaboutique nach fünf Wochen Zwangspause zum ersten Mal wieder betrete, und niemanden erstaunt es mehr als mich selbst, dass ein gerührtes Kribbeln in meiner Brust anwächst, nachdem ich den Lift bestiegen habe. Die Türen schließen sich gerade, da schiebt sich eine grazile Frauenhand dazwischen, wodurch sie mit einem leisen Zischen wieder aufgehen. Ilina huscht neben mich, und mit dem Rücken zu all den Bankern, die im dritten Stockwerk aussteigen, stehen wir einträchtig nebeneinander – fast gleich groß, blond und brünett, und erstaunlicherweise gibt es keinerlei negative Schwingungen zwischen uns beiden. Anscheinend haben sich alle Animositäten, die uns jemals getrennt haben, verflüchtigt. Noch wage ich es nicht, diesem Frieden zu trauen, aber ich erlaube mir vorsichtig, eine Freundschaft mit der Vanilla-Latte-Königin in Betracht zu ziehen. Dass sie bei Weitem nicht so unbedarft ist, wie sie anfänglich glauben machen wollte, habe ich ja längst bemerkt. Und auch Lena hat mir erst neulich in einem Telefonat berichtet, dass Ilina ihr in einer Diskussion mit Dürri darüber, wann wir Mitarbeiterinnen ein Gespräch grußlos beenden dürften, zur Seite gestanden hat.

»Bist du wieder fit?«, fragt sie mich, nachdem die Anzugträger den Aufzug verlassen haben, und ich sehe nur Interesse in ihren Augen.

»Ja, und ich freue mich auf die Arbeit. Auch wenn ich mir auf lange Sicht was anderes suchen will. Aber erst mal ist es schön, euch alle wiederzusehen.«

»Das ist kluge Entscheidung.« Sie lässt ihren Blick zu meinem Bauch wandern. »Solltest du machen schnell, bevor man Babys kann sehen.«

Ausnahmsweise reagiere ich gnädig auf diese Bemerkung, zumal ich das ja auch so sehe. Aber generell mag ich kluge Ratschläge nun mal so gar nicht. Ich nicke einfach, und schon öffnen sich die Fahrstuhltüren zu dem altgewohnten Pling.

Als hätte er gewusst, wer kommt, steht Dürrbier da, die Hände im Rücken verschränkt, mit leicht vorgebeugtem Rumpf. Irre ich mich, oder hat sich sein Haarkranz noch weiter Richtung Hals verschoben? Nein, auf ihn freut sich keine einzige Faser in mir. Eher weckt sein Anblick einen Fluchtimpuls in meinem Rückenmark. Aber ich bewahre Haltung und erwidere sein Lächeln, in dem er seine von Zigarillo-Rauch und Kaffee gelblich verfärbten Zähne bleckt.

»Welch ein Glanz in unseren heiligen Hallen«, ruft er aus. Ich kann nicht verhindern, dass meine Augen sich bei seinen Worten in Richtung Decke verdrehen. Irre ich mich, oder höre ich die Kolleginnen leise kichern? Mist, mein Hochgefühl wird sofort gedämpft. Ich meine, verstohlene Blicke zu spüren. Trotzdem bemühe ich mich um ein unverkrampftes Lächeln und sehe meinen Chef an.

»Guten Morgen, Herr Dürrbier.« Ohne seine Antwort abzuwarten, schicke ich mich an, den langen Weg durch die Schreibtische der Kolleginnen – die männlichen Mitarbeiter sind natürlich mitgemeint, wie immer – zu meinem Arbeitsplatz einzuschlagen, da packt mich der Chef am Arm. Zum Glück trage ich einen Wollpullover, sodass er nicht meine Haut berührt. Nur mit Mühe ein angewidertes Grunzen unterdrückend, starre ich die knochige Hand an, deren Finger wie mit gelblichem Leder überzogene Klauen aussehen. Überhaupt wird mir in einem irrationalen Gedankenblitz klar, ist alles an Dürri gelb. Fahlgelb. Ekelgelb. Ich schlucke mühsam und frage mich eine Sekunde, ob solche Empfindungen für meine Babys gut sein können. Doch bevor ich mich in einem Gedankenwirrwarr verlieren kann, sorgt mein Kleinhirn dafür, dass ich die Klauenhand durch eine natürlich wirkende Bewegung abschüttle und meinem Chef emotionslos in die Augen blicke.

»Wir heißen Sie herzlich Willkommen, liebe Frau Schober, und freuen uns, dass Sie wieder unter uns weilen. Ihr Arbeitsplatz«, damit deutet er auf meinen Schreibtisch, und ich sehe Lena, die mir dort gegenübersitzt und mir ihr liebevoll-verschwörerisches Lächeln schickt, »und Ihre Kollegin warten schon auf Sie. Und doch«, er macht eine Kunstpause und beeindruckt mich damit nachhaltig, denn Eloquenz hat bisher wahrlich nicht zu Dürris Stärken gezählt, »und doch möchte ich Ihnen zuvor noch etwas zeigen, liebe Frau Schober.« Er betont das Wörtchen »liebe«, das er nun bereits zweimal benutzt hat, was mich hellhörig werden lässt. Immer, wenn Dürri jemanden als »lieb« bezeichnet, geht es ihm einzig und allein um den gesteigerten Umsatz. Und für einen gesteigerten Umsatz kann ich ja nicht verantwortlich sein, da ich fünf Wochen nicht gearbeitet habe. Das Ganze ist also mehr als suspekt. Er will wieder nach meinem Arm fassen, was ich nur durch geschicktes Umgreifen meiner Handtasche verhindern kann, und dirigiert mich nun zu der Wand, an der immer die Mitarbeiterinnen des Monats ausgehängt werden. Ich entdecke neben dem Kasten ein DIN-A4-Blatt und ahne, was das ist. Mit einem nervösen Ziehen im Bauch nähere ich mich dem ominösen Gedicht meines heimlichen Verehrers. Offenbar ist es bisher doch nur eines, oder Dürri hat nur eines aufgehängt. Ilina folgt mir auf dem Fuß, und ich höre ihre leise Stimme die absurden Worte deklamieren, die sie mir schon einmal aufgesagt hatte: »Gebenedeit der Tag, der Mond, das Jahr«, und wieder fängt sie an zu glucksen.

Ich bin nahe genug heran, um die Überschrift entziffern zu können: 

An Lucinden

Dürri deutet mit einer großspurigen Geste auf den Bogen Papier. Das nervöse Ziehen wird zu einem Kribbeln, und mit wachsendem Erstaunen lese ich den eigentümlichen Text auf dem Blatt.

Der Segen

Gebenedei’t der Tag, der Mond, das Jahr,

Die Jahreszeit, die Stunde, die Sekunden,

Das schöne Land, der Ort, wo mich gebunden,

Wo mich umstrickt der holden Augen Paar:

 

An diesem Punkt angekommen, bemerke ich, dass Dürri leise mitliest, und überrascht erkenne ich die Begeisterung in seiner Stimme. Ein Seitenblick überzeugt mich davon, dass er diesen Text auswendig aufsagen kann. Ich schlucke, dann lese ich rasch weiter, um mit Dürris Tempo mithalten zu können.

 

Gebenedei’t, das ach! so süss mir war,

Das erste Bangen, dem sich Lieb’ entwunden:

Der Bogen und der Pfeil, die ich empfunden,

Die Wunde, die mein Herz trifft immerdar.

 

Gebenedei’t die Worte, die ich ihr,

Der Herrin, ihren Namen rufend, weihte;

Die Seufzer und die Tränen, die Begier:

 

Gebenedei’t sei eine jede Seite,

Die Ruhm ihr gab, und der Gedank’ in mir,

Der sie allein nur kennt, und keine Zweite.

In meinem Ohr höre ich immer noch Dürris gedämpfte Stimme, und nur widerwillig gestehe ich mir ein, dass seine Intonation diesem … Sonett? … irgendwie was gibt. Ich begreife sofort, dass es ein Liebesgedicht ist, wundere mich allerdings, dass es mit »Der Segen« betitelt ist. Ich nehme mir vor, im Internet danach zu suchen, weil ich gleich denke, dass es auch berühmt sein könnte. Leider bin ich in dieser Hinsicht nicht sattelfest.

»Wundervoll, nicht wahr, Frau Schober?« Dürris Augen leuchten in seinem gelben Gesicht vor Begeisterung, und für einen wahnwitzigen Moment frage ich mich, ob er es womöglich selbst …? Aber nein, das wäre absurd. Trotzdem vermag ich sein Verhalten nicht einzuschätzen. Was bezweckt er mit seiner Freundlichkeit mir gegenüber? Denn nicht nur, dass er mich jetzt zu meinem Schreibtisch geleitet, er fordert Ilina auch noch dazu auf, mir einen Kaffee an meinen Arbeitsplatz zu bringen.

»Nehmen Sie doch bitte die Lieblingstasse unserer Mitarbeiterin dafür. Die mit der Mohnblume.« Mit diesen Worten entfernt der Chef sich endlich in Richtung seines Büros, und ich atme auf.

»Was warn das?«, erklingt die warme Stimme von Lena, und sie zwinkert mir über unsere Bildschirme hinweg zu. »Hascht du dem Dürri irgendwas verabreicht?«

Ich erwidere ihr herzliches Lächeln und schüttle den Kopf, während ich meinen PC einschalte und darauf warte, dass sich die Maske öffnet, um mich einzuloggen. »Du, ich habe null Ahnung.« Mit einem Kopfrucken in Richtung der Mitarbeiterwand und des Gedichts spreche ich weiter: »Und was das dort soll, weiß ich auch nicht. Wann ist dieses komische Gedicht denn angekommen?«

Lena blickt nachdenklich zur Seite, dann nickt sie kurz. »Vor einer Woche. Es hängt seit acht Tagen da.«

»Hier, bitteschön.« Ilina ist herangekommen und stellt meine Tasse mit der Mohnblume neben meinen PC.

Mit einem leichten Kopfschütteln reiche ich sie ihr zurück. »Sei mir nicht böse, Ilina, aber ich kann das nicht trinken.«

»Ach, wegen Koffein? Aber hast du doch letzte Woche noch Kaffee mit uns getrunken?«

Lena beugt sich herüber und streckt die Hand aus. »Ich nehm den Kaffee gern.« Sie lacht auf. »Es liegt nit am Koffein, hab ich recht?«

Ilina übergibt Lena die Tasse, dann tippt sie sich nachdenklich mit dem Zeigefinger auf die Oberlippe und mustert mich. Ein Ausdruck des Erkennens zieht über ihr schönes Gesicht. »Ah, weiß ich. Hat der Chef benutzt deine Tasse vor ein paar Wochen. Ist es deshalb?«

Ich nicke. »Genau. Seitdem kann ich mich nicht mehr überwinden, daraus nur einen einzigen Schluck zu trinken. Auch wenn ich mir hundertmal sage, dass sie in der Spülmaschine völlig sauber geworden ist.«

»Bringe ich dir gleich frischen Kaffee«, erklärt Ilina.

»Hm, dein Vanille-Kaffee ist einfach köstlich«, murmelt Lena, die gerade einen Schluck genommen hat. Um uns herum höre ich plötzlich ein warnendes Zischen, das den Lärm der permanent geführten Telefongespräche der Kolleginnen untermalt, und da sehe ich im Augenwinkel die Gestalt, die sich nähert. Woher Dürri weiß, wenn irgendwo ein paar Minuten nicht gearbeitet wird, ist mir echt ein Rätsel – vielleicht spioniert er die Aktivitäten auf unseren Computern aus? Und ich habe bisher nicht einmal nachgesehen, ob es noch Mails zu beantworten gibt, geschweige denn die erste Liste geöffnet, die Dürri mir zugeteilt hat, und die ich abtelefonieren soll. Jedenfalls naht er in seinem typischen Stechschritt heran, der einfach lächerlich wirken würde, wenn der kleine Mann nicht eine frappierende Ähnlichkeit mit Stromberg hätte, dem Inbegriff des intriganten, fiesen Büromenschen. Dadurch erhält seine Gangart etwas subtil Bedrohliches. Sie wissen schon, wie bei diesen kleinen Hunden, die auf den ersten Blick als Wadenbeißer zu entlarven sind. Vor denen muss man sich in Acht nehmen.

Lena stellt rasch ihre Tasse ab, richtet den Blick auf ihren Bildschirm und wählt eine Telefonnummer, was ich daran erkenne, dass sie wenig später freundlich in ihr Headset säuselt, um den Kunden zu begrüßen, der am anderen Ende der Leitung abgehoben hat. Ilina ihrerseits entfernt sich von unserem Schreibtisch, und zwar in die entgegengesetzte Richtung, um nicht am Chef vorbeizumüssen. Ich lege rasch das Headset an, öffne die erste Liste und klicke auf die oberste Nummer. Als Dürri heran ist, ertönt das Freizeichen, und nach dem zweiten Läuten ist jemand dran.

Einer Bemerkung meines Chefs komme ich zuvor, indem ich meine übliche Begrüßung abspule: »Einen wunderschönen Guten Tag, Callcenter Mediaboutique, Lucinda Schober am Apparat.« Dürri grinst zufrieden und geht weiter, während ich versuche, meinem ersten Kunden ein Zeitungsabonnement aufzuschwatzen.

Tja, bis zur Mittagspause hat sich trotz des von Ilina gestifteten Kaffees in der Eulentasse (meiner zweitliebsten) in meiner Gefühls- und Gedankenwelt die Erkenntnis festgesetzt, dass ich mir einen anderen Arbeitsplatz suchen muss. Dringend.

Die Pause ist eine Erlösung, und es tut mir so gut, endlich wieder mit Lena zusammen zu den Kasematten zu schlendern, wo wir zu Mittag essen wollen.

»Weißt du, Rouwen meint, ich sollte auch sehen, dass ich von der Mediaboutique wegkomme«, sagt sie, nachdem ich ihr erzählt habe, dass ich schon vor Monaten nach einem anderen Job Ausschau halten wollte. Mein Juristenbruder Rouwen, der sich durch die Beziehung mit Lena in einer überraschenden Metamorphose vom überperfektionistischen, gnadenlosen Rechtsanwalt zu einem herzlichen und sensiblen Guten entwickelt hat, rät ihr also das Gleiche? Eigentlich sollte mich das nicht überraschen, da ich weiß, dass Lena im Callcenter ihr Licht definitiv unter den Scheffel stellt – wie ich selbst ja auch. Bei mir war es die Revolte gegen die elterlichen Ansprüche, die mich dazu verleitet hat. Aber auch Lena hat ihr Studium vorzeitig beendet und ist in der Mediaboutique gestrandet, allerdings aus anderen Gründen als ich: Sie leidet unter Prüfungsangst, was ihr den Abschluss unmöglich gemacht hat.

»Ehrlich gesagt denke ich drüber nach, wieder ins Modebusiness einzusteigen«, überrascht sie mich mit ihren Worten. Lena ist eine etwas spezielle Art Frau. Früher hielt ich sie für unscheinbar, was aber wohl daran gelegen hat, dass sie sich den gesellschaftlichen Diktaten unserer Zeit gebeugt hatte. Lena ist der Typ, den man als Plus-Size-Model buchen könnte. Und das meine ich ganz ohne Häme. Lena ist eine Wawawawumm-Frau, und bloß weil wir in den Medien, in Filmen, Zeitungen und auf Werbeplakaten mit Magermodels vollgespammt werden, schämt jemand wie sie sich ihrer Formen. Ich kann mit meiner eigenen Figur unter der Wahrnehmungsschwelle hindurchtauchen, weil ich weder dick noch dünn, weder groß noch klein bin. Ich bin einfach gut so. (Es hat mich eine ganze Weile gekostet, dazu zu stehen. Mein Traummann und Kriminalkommissar hat mir da sehr geholfen.)

»Modebusiness?«, frage ich überrascht, weil ich nicht den geringsten Schimmer hatte, dass sie damit was am Hut hat. Weil sie noch bis vor einigen Monaten – genauer gesagt, bis sie zum ersten Mal in Kontakt mit dem Haus Schober gekommen ist, in dem Äußerlichkeiten eine eminent wichtige Rolle spielen – auf ihre Kleidung nicht sonderlich viel Wert gelegt hat. Lena kleidete sich unauffällig, was sich inzwischen allerdings geändert hat. Sie ist unglaublich stilsicher, was Muster und Farben betrifft, und ihre Kurven setzt sie perfekt in Szene, ohne dabei auch nur im Geringsten plakativ, herausfordernd oder gar vulgär zu wirken. Ich habe mir heimlich schon so manchen Styling-Tipp bei ihr abgeguckt.

»Ja, ich entwerfe und nähe meine Klamotten wieder selbst. Früher wollte ich Designerin werden, aber das Studium hat mich total entmutigt.« Sie deutet auf das Lokal, zu dem wir gehen wollten. »Das La Tasca hat heute Ruhetag. Sollen wir ins Delphi in der Bastion VI?«

»Lucy, Lena«, höre ich eine sonore weibliche Stimme, und zum ersten Mal löst sie kein unangenehmes Ziehen in mir aus. Auch Lena wirkt eher erfreut, als sie sich umdreht und Ilina erkennt, die mit raschen Schritten auf uns zukommt. »Darf ich anschließen mich? Wollt ihr essen gehen zur Feier des Tages?«

»Feier des Tages?«, frage ich und warte, bis sie heran ist.

»Erster Arbeitstag.« Ilina grinst entwaffnend. »Wohin wollt ihr?«

»Zum Delphi.« Sie schließt sich uns an, und nachdem wir den Anton-Merziger-Ring überquert haben, betreten wir das urige Restaurant in den Gewölben der ehemaligen Festungsanlagen und lassen uns vom Kellner einen Tisch zuweisen.

Unsere Entscheidung für ein Getränk und ein Gericht fällt rasch, und ich frage Lena nach ihren Plänen. »Aber nochmal zu deinen Modeideen. Du willst daraus einen Beruf machen? Was schwebt dir denn vor? Willst du einen Laden eröffnen?«

»Nein, vorerst nicht. Ich will Mode machen und sie im Internet anbieten, verstehst du?«

»Meinst du, das läuft?«, frage ich zweifelnd.

Lena runzelt die Stirn und nimmt vom Kellner ihre Apfelschorle entgegen, um einen großen Schluck zu trinken. »Es ist den Versuch wert, oder nicht? Ich muss mir ein Label schaffen, einen guten Namen.«

»Mode für Mollige?« Ilina grinst, und ich bin mir nicht sicher, ob ich da Überheblichkeit vonseiten der zierlichen, personifizierten Eleganz erkenne. Sie schenkt dem Kellner, der ihr nun ihren Salatteller hinstellt, ein atemberaubendes Lächeln, bevor sie Lena zunickt. »Finde ich eine super Idee.«

»Tatsächlich?«, fragen Lena und ich gleichzeitig.

»Klar. Du hast es drauf.«

Auf dieses unfassbare Kompliment der ehemaligen Zimtzicke schweigen Lena und ich beeindruckt und genießen die ersten Bissen unseres Essens.

»Ich finde, sie hat recht«, sage ich schließlich. »Erstens bist du wirklich gut«, ich deute mit dem Kinn auf den Hosenträgerrock aus blassrotem, verwaschenen Jeansstoff, den sie heute trägt und um den ich sie ehrlich beneide, »und ich kann mir auch vorstellen, dass dir das richtig Spaß machen wird. Ich finde Nähen nämlich auch total geil.«

Lena legt ihre Gabel zur Seite und schaut mich an. »Du? Seit wann?«

»Ach, ich mache nur Babykram.« Ich winke ab und ziehe verlegen den Kopf zwischen die Schultern. »Und ein bisschen Schwangerschaftsmode. Aber ich entwerfe nicht selbst.« Ich halte inne und schaue zur Decke, mir darüber klar werdend, dass ich mir mal wieder etwas nicht zutraue und es nur deshalb nicht mache. »Also, Ideen hätte ich schon, aber ich traue mich nicht. Schließlich habe ich keine Ausbildung. Und außerdem erledigt sich das ja, wenn die Babys erst mal da sind und ich meine normale Figur zurück habe.«

Damit zücke ich mein Handy, um Lena die Babystrampler, Höschen und Oberteile zu zeigen, die ich genäht habe. Sie quiekt begeistert.

»Lucy, die sind klasse! Und was ist mit den Schwangerschaftssachen? Hast du davon auch ein paar Bilder?«

Darauf zeige ich ihr auch die Pumphosen, die ich für mich selbst genäht habe, und die bis in den Sommer hinein mitwachsen werden.

Sie strahlt mich an. »Daraus machen wir was! Kannst du dir vorstellen, auch Sachen im Partnerlook zu nähen? So Mama-und-Kind-mäßig, meine ich. Wir könnten gemeinsam einen Internethandel aufziehen. Babysachen, Mamasachen, Freundinnensachen. Mode von echten Frauen für echte Frauen, sowas halt. Ich mache meine Kollektionen für Frauen, du machst deine für Babys und Schwangere beziehungsweise Mamas.«

Verdattert starre ich sie an, doch mein Zögern dämpft ihre Begeisterung kein bisschen. »Wie viel Vorlauf brauchst du, um ein paar Teile in mehreren Größen zu machen? Oder«, sie redet sich immer mehr in Begeisterung, während Ilina von ihr zu mir blickt und dabei ihren Salat verspeist, »wir können auch auf Bestellung produzieren. Aber dazu brauchen wir ein paar Teile, die wir zeigen können. Am besten am lebenden Model, also Fotos von dir und von mir. Und vielleicht dürfen wir Ellens Lily auch als Fotomodel nehmen. Dann stellen wir Bilder online und warten, was passiert. Ich kenne ein paar Shops, bei denen man Selbstgemachtes anbieten kann. Das machen wir, Lucy!«

»Ich, ähm …«, fühle mich überfordert und zögere. »Ich denke drüber nach, okay?« So schnell bin ich nicht im Umschalten, schon gar nicht, wenn es um berufliche Aussichten geht. Sonst wäre ich ja auch längst nicht mehr bei der Mediaboutique.

»Solltest du aber machen schnell mit Nachdenken«, erklärt Ilina, die ihren Salat aufgegessen hat. »Ist es jetzt guter Zeitpunkt, um Business zu starten. Wenn du erst mal hast Bauch und dann Babys, wird sein besser, wenn schon ein paar Leute kennen eure Sachen.« Sie wendet sich Lena zu. »Finde ich das wirklich großartige Idee. Macht das.«

Wir reden uns noch eine Weile die Köpfe heiß, weil ich mich immer noch nicht auf den Gedanken einlassen kann und beide mir in den schönsten Farben ausmalen, was für ein großartiges Geschäft aus der Idee entstehen könnte. Am Ende haben sie mich fast überzeugt, und erst als wir das Lokal verlassen, wird mir bewusst, dass meine inneren Zwillinge dazu gar nichts gesagt haben.

Darüber freue ich mich heimlich, als wir zurück ins Callcenter kommen und Ilina mit dem Versprechen, uns einen Kaffee zur Stärkung für den Nachmittag zu bringen, in Richtung Kaffeekabuff verschwindet, während Lena und ich unseren Schreibtisch ansteuern.

Wir sehen sofort die Traube der Kolleginnen, die vor der Mitarbeiterinnenwand stehen und etwas anstarren. Schon bewegen sich meine Füße wie ferngesteuert auf die Wand mit dem DIN-A4-Bogen zu, der dort angepinnt wurde – neben das »Gebebenei’t«-Gedicht, das ich noch nicht verdaut habe. Spätestens, als die Kolleginnen auseinandertreten, um eine Gasse für mich zu bilden, ist mir klar, dass es ein zweites Schreiben an mich ist, und dass Dürrbier es ausgedruckt und aufgehängt haben muss.

Und nun muss ich mich doch sehr um Disziplin bemühen, da die inneren Stimmen gerade loslegen wollen, während ich mich dem Text nähere. Wie beim letzten Mal steht »An Lucinden« darüber. Mir wird ein bisschen übel, als ich halblaut lese:

Ungewissheit

Seh’ ich dich: nicht seufze ich, noch wein’ ich:

Erblick’ ich dich: stets meiner Herr erschein’ ich;

Und dennoch, war ich lange von dir ferne,

so fehlt mir etwas, seh’ ich wen so gerne,

und sehnsuchtsvoll frag’ ich mich selber trübe:

Sprich, ist das Freundschaft, oder ist es Liebe?

»What the fuck«, höre ich Lena murmeln und blicke zu ihr. Ihre Stirn ist gerunzelt, als sie meinen Blick erwidert. Ich ziehe die Mundwinkel nach unten und schüttle den Kopf, bevor ich nach Dürri Ausschau halte. Er hat anscheinend nur darauf gewartet, dass ich nach ihm suche, denn schon ist er zur Stelle und sieht mich lauernd an, ohne etwas zu sagen.

»Woher ist das?«, frage ich tonlos.

»Wundervoll, nicht wahr? Es kam heute Morgen per Mail. Leider ohne Absender, sonst hätte ich den Sender gefragt, ob er diese beiden wunderbaren Gedichte selbst verfasst hat. Und ich würde ihm Ihre E-Mail-Adresse geben. So sehr ich diese Lyrik wertschätze, so sehe ich doch ein, dass dies eine Privatangelegenheit ist, liebe Frau Schober.«

»Sind des Wahnsinns Sie?«, erhebt Ilina ihre kräftige Stimme und spricht meine Gedanken laut aus. »Werden Sie auf keinen Fall geben heraus Lucys Adresse. Wäre auch gegen die Datenschutz-Grundverordnung.«

Beeindruckt werfe ich Ilina einen Seitenblick zu. Wie leicht ihr dieses Wort von den Lippen kommt, das ich immer erst nach dreimaligem Anlauf aussprechen kann.

Dürri duckt sich fast unmerklich, dann nickt er in einer ergebenen Geste, die bei ihm wirklich deplatziert wirkt. »Da haben Sie recht, Fräulein Kowalska.« Darauf klatscht er in die Hände. »Und nun alle wieder hübsch zurück an die Arbeit. Wenn unsere Mediaboutique solche Post bekommt, bedeutet das, dass unsere Arbeit wertgeschätzt wird, so müssen wir das sehen, nicht wahr? Also bitte, meine Damen – und Herren – steigern Sie den Umsatz, und vielleicht erhalten wir bald alle solche Liebeslyrik.«

Mit nach wie vor mulmigem Gefühl im Magen drehe ich mich um, da greift Dürris Klauenhand nach meinem Arm, und er streckt mir ein zusammengerolltes Blatt entgegen, das er zuvor hinter seinem Rücken verborgen haben muss.

»Es geht noch weiter, meine liebe Lucinda. Das Gedicht hat noch viele Strophen. Wenn Sie mich fragen: Da ist Ihnen jemand in tief empfundener Liebe zugetan. So etwas erlebt man nicht oft. Sie sollten sich geschmeichelt fühlen.« Für einen Moment erscheint seine Zunge zwischen den trockenen Lippen, ein auf verstörende Art erschreckender Anblick. Entgeistert strecke ich die Hand aus, um das Papier an mich zu nehmen, und abermals formt sich weit hinten in meinem Kopf die bange Frage, ob Dürrbier etwas mit der Sache zu tun hat. Auf die Tatsache, dass er mich mit meinem Vornamen angesprochen hat, gehe ich nicht ein. Ich straffe die Schultern, um seine Hand abzuschütteln zu können, ohne meinen Ekel offen zu zeigen. Schließlich will die Höflichkeit gewahrt bleiben. Mein Kopf jedenfalls fühlt sich an wie mit Watte gefüllt, nachdem ich, zurück an meinem Platz, die restlichen Strophen des Gedichts gelesen habe. Außer der wiederholten Frage »ist das Freundschaft, oder ist es Liebe?« verstehe ich ehrlich gesagt nicht sehr viel.

Schwind’st du dem Blick, will oft mir’s nicht gelingen,

Dein Bildnis den Gedanken abzuringen;

Und dennoch fühl’ ich manchmal wider Willen,

Dass stets es meine Seele wird erfüllen.

Und wieder thu’ ich mir die Frage trübe:

Sprich, ist es Freundschaft, oder ist es Liebe?

 

Ich litt zuweilen; nicht hatt’ ich den Willen,

Zu dir zu gehen, mein Leid dir zu enthüllen;

Doch wie ich planlos nicht des Weges achte,

Weiss nicht, was mich an deine Schwelle brachte;

Und überschreitend sie, frag’ ich mich trübe:

Was führt hieher mich? Freundschaft oder Liebe?

 

Mein Leben gäb’ ich für dein Glück zur Stelle,

Für deine Ruhe dräng’ ich bis zur Hölle,

Wiewohl mein Herz den kühnen Wunsch nie dachte:

Wenn ich dein Glück, ich deine Ruhe machte!

Und wieder thu’ ich mir die Frage trübe:

Sprich, ist das Freundschaft, oder ist es Liebe?

 

Wenn deine Hand auf meinem Arme lieget,

Fühl’ ich in holde Ruhe mich gewieget,

Mein Leben, scheint’s, hat leiser Schlaf geendet;

Doch stärk’rer Herzensschlag mich ihm entwendet,

Und macht mich durch die laute Frage trübe:

Sprich, ist das Freundschaft, oder ist es Liebe?

 

Als ich dies Lied dir schrieb in stiller Stunde,

War Dichtergeist nicht über meinem Munde;

Voll Staunen hab’ ich selbst nicht wahrgenommen,

Woher Gedanke mir und Reim gekommen;

Und noch zum Schluss schrieb ich die Frage trübe:

Was hat beseelt mich? Freundschaft oder Liebe?