Kapitel 1
April 1900
„Sie haben recht, Jarvis. Hier lässt sich kaum mehr als auch nur eine Hutnadel unterbringen.“ Ich blickte von der Türschwelle des Dachbodens durch den im Sonnenstrahl tanzenden Staubschleier auf vermutlich Generationen zurückgelassener Dinge der Hazeltons – alte Truhen, Kisten und Möbelstücke, sowohl montiert als auch in Teilen, die mit Tüchern bedeckt waren, wiederum ebenfalls mit Staub und noch mehr Kisten bedeckt.
„Wo kommt all das her?“ Ich blickte zu unserem Butler Jarvis. Er war genauso groß wie ich und ich sah ihn im Profil an. Abgesehen von seiner Adlernase, waren seine Gesichtszüge recht flach, bis seine Lippen sich zu einem Lächeln verzogen und seine Wangen sich rundeten.
„Als Lord Brandon das Haus übernahm“, sagte er, „wurden die meisten Möbel des alten Earls auf den Dachboden gebracht, genau wie Lord Brandons Habseligkeiten, als Mr. Hazelton einzog.“
„Und dann sind Rose und ich mit unseren Sachen eingezogen und noch mehr Möbelstücke wurden auf den Dachboden verbannt.“ Mr. Hazelton – George – war seit zwei Monaten mein Ehemann. Rose war meine achtjährige Tochter. Seit mindestens zwei Generationen war das Haus das Heim des Earl of Hartfield gewesen, doch der letzte Erbe, Georges älterer Bruder Brandon, war ausgezogen, als er den Titel und das Stadthaus des Earls geerbt hatte. Da der nächste Erbe, Brandons Sohn, erst zehn Jahre alt war, würde er das Haus noch einige Jahre nicht brauchen.
George hatte den Pachtvertrag des Hauses vor einem Jahr übernommen und ich war nach unserer Hochzeit eingezogen. Ich hatte gerade die letzte Stunde damit verbracht, nach einem Raum zu suchen, den ich als mein Büro in Anspruch nehmen könnte. Im dritten Stock gab es ein Schulzimmer und Schlafzimmer für Rose und Nanny. George hatte ein Schlafzimmer neben unserem aufgegeben, um mir ein Boudoir und Bad bauen zu lassen, was eine Hochzeitsüberraschung war. Ich brauchte einen Ort zum Arbeiten, doch ich hatte ein schlechtes Gewissen dabei, noch einen weiteren Raum für mich zu verlangen. Die Möbelstücke aus einem Raum auf den Dachboden zu verbannen war jedoch eindeutig ausgeschlossen.
Ich sah zu Jarvis. „Irgendeine Idee?“
„Aber gewiss. Ich hätte da einen Ort im Sinn.“ Jarvis hatte eine Stimme wie ein fernes Donnergrollen. Es verlieh seiner Stimme eine Gravitas, die mich ihm vom ersten Kennenlernen an hatte vertrauen lassen – selbst wenn in seinen tiefliegenden Augen der Schalk spielte.
„Erzählen Sie schon.“
„Lassen Sie es mich Ihnen zeigen.“ Er ging in Richtung der schmalen Treppe und stieg sie vor mir in den dritten Stock hinunter, wo wir durch die stoffbespannte Tür traten, durch die wir in das sonnendurchflutete Kinderzimmer und Schulzimmer gelangten. Rose erhielt jedoch ihren Unterricht zusammen mit ihrem Cousin im Haus des Earl of Harleigh, meinem Schwager. Unsere Schritte hallten durch den nahezu leeren Raum. Ich fragte mich, ob ich hier oben eine Ecke für mich abtrennen konnte. Doch Jarvis führte mich weiter.
Ich folgte ihm hinunter in das Erdgeschoss und fragte mich, wo dieser mystische Ort wohl sein mochte, als er vor der offenen Tür zur Bibliothek meines Ehemanns stehenblieb und mir klar wurde, was er da vorschlug. „Nein, nein, Jarvis. Das geht nicht.“
„Sie haben mich um meine Meinung gebeten, Madam, und ich glaube, dass dies der perfekte Ort ist.“
„Der perfekte Ort wozu?“
Ich warf einen Blick in den Raum. George stand über seinen Schreibtisch gelehnt, um zu sehen, wieso wir vor der Tür herumstanden. Er zog die Augenbrauen neugierig hoch und sein freundliches Lächeln brachte mich ebenso zum Lächeln.
„Gar nichts, Liebling“, sagte ich. „Lass dich nicht stören.“
„Nun, ich möchte die Antwort hören.“ George war um den Schreibtisch herum an die Tür gekommen und lehnte an der Wand. „Wofür ist es der perfekte Ort?“
„Der perfekte Ort für eine Tasse Kaffee“, sagte ich und blickte über seine Schulter. „Wie ich sehe, hast du bereits eine Kanne.“
Sein Blick huschte zum Butler und dann wieder zu mir. „Du hast Jarvis dazu um seine Meinung gebeten?“
„Wie bitte?“
„Er sagte, du hättest ihn um seine Meinung gebeten.“
„Das hast du falsch verstanden“, antwortete ich.
„Bloß ein Ausdruck“, sagte Jarvis gleichzeitig.
Der Butler und ich wechselten einen Blick. „Ich hole noch eine Tasse“, sagte er, bevor er sich umdrehte und praktisch davonsprintete.
„Was zum Henker ist mit euch beiden?“ George beäugte mich skeptisch, als ich an ihm vorbei hastete und an der Gästeseite seines Schreibtischs Platz nahm.
„Ich suche bloß nach einem Ort, wo ich mir selbst ein kleines Arbeitszimmer einrichten und dich deines in Ruhe genießen lassen kann.“ Die Bibliothek war von einem ursprünglich riesigen Salon abgetrennt worden. Da sie an zwei Wänden eine Tür hatte, konnte man die Bibliothek sowohl durch den Salon als auch vom Flur aus betreten. Bücherregale verdeckten die dritte Wand, in denen Georges Jura-Schinken, einige Bände über Gartenbau und Reisen, die Werke Shakespeares und zwei Kricketschläger standen. Zwei Ohrensessel rahmten das Fenster, durch das man in den Garten blickte. Georges Schreibtisch stand vor dem Bücherregal. Ich hatte den Platz die letzten zwei Monate genutzt, während er sich davon erholt hatte, dass er kurz nach unserer Hochzeit angeschossen worden war. Bei einem gewöhnlichen britischen Gentleman war es nicht alltäglich, dass er sich etwas wie eine Schusswunde zuzog, doch George war kein gewöhnlicher Gentleman.
Zu erfahren, dass die Kugel ihn im Oberarm getroffen hatte und nicht tödlich war, war eine große Erleichterung gewesen. Er hatte sich schnell erholt, doch er stemmte noch immer Gewichte, um die Kraft in seinem Arm zurückzugewinnen. Inzwischen hatte er solche Muskeln in den Armen und Schultern aufgebaut, dass er seine Anzüge für Änderungen zum Schneider hatte bringen müssen. Ich befürwortete sein neues Aussehen sehr, doch es würden immer sein schiefes Lächeln und das Blitzen in den grünen Augen sein, die mein Herz höherschlagen ließen. Das – und sein Talent dafür, dass ich mich durch ihn wie die schönste Frau im Raum fühlte.
Um ehrlich zu sein, war ich groß – fast so groß wie George, schlank genug, um mit Hilfe eines guten Korsetts in so ziemlich jede Mode zu passen, und mein Haar war glücklicherweise dick und dunkel. Ansonsten war ich recht durchschnittlich – Stupsnase, ein gewöhnlicher Teint und blaue Augen. Oh, und dazu ein amerikanischer Akzent. In London waren Amerikaner jedoch auch recht gewöhnlich geworden. Ganz gleich, in Georges Augen war ich eine Göttin.
Er trat um den Schreibtisch herum und wollte sich setzen, als ich die aufgeschlagene Zeitung bemerkte. „Gibt es irgendetwas Interessantes?“
„Nichts, das mit dir mithalten könnte.“ Er faltete die Zeitung, legte sie beiseite und richtete seine Aufmerksamkeit mit besagtem schiefem Grinsen auf mich.
„Eine schlaue Antwort“, sagte ich.
„Ich muss schlau sein, wenn ich mit dir mithalten will. Du würdest keinen Narren als Ehemann dulden.“
„Gewiss kein zweites Mal. Wobei ich Reggie wohl nicht direkt einen Narren genannt hätte.“
George zog eine Augenbraue hoch. „Schürzenjäger? Prasser? Taugenichts?“
Reggie war mein erster Ehemann gewesen. Er und meine Mutter hatten entschieden, dass der Adelstitel seiner Familie und die Dollar meiner Familie ausgezeichnet zueinanderpassten. Unsere Ehe hatte keinen Einfluss auf seinen Lebensstil gehabt – den eines Junggesellen. Zehn Jahre nach unserer Hochzeit starb er im Bett einer seiner letzten Geliebten. Folglich trafen all diese Worte auf ihn zu. Zumindest meiner Meinung nach.
Ich lehnte eine Hand auf Georges. „Er war auch Roses Vater.“
Er lächelte. „Ja, ja. Aber ich möchte mir gern einbilden, dass sie nach dir kommt, meine Liebe. Rosie zuliebe werde ich davon ablassen, schlecht über den Mann zu sprechen.“
Jarvis tauchte mit einer Kaffeetasse auf und George goss mir ein. „Wie lauten deine Pläne für den Tag?“, fragte er.
„Tee mit Viscountess Winstead und ihrer Familie.“
Er schnitt eine Grimasse und tat so, als schaudere es ihn. Zumindest glaubte ich, dass er nur so tat. „Warum tust du dir das an?“
Augusta Ashley, Viscountess Winstead, war eine außergewöhnlich übellaunige ältere Dame, die Sorte Mensch, die ich normalerweise nicht aufsuchen würde. Doch die Familie ihres verstorbenen Ehemanns besaß das Anwesen, das an Harleigh Manor, den Landsitz meines verstorbenen Ehemannes, angrenzte, wo ich einen Großteil meiner Ehe und meine gesamte Trauerzeit verbracht hatte. Lady Winstead war während letzteren Zeitraums meist dort gewesen und obwohl ich sie nicht als angenehme Gesellschaft bezeichnen würde, war sie im Vergleich zu meinen angeheirateten Verwandten eine willkommene Ablenkung. Außerdem war sie zu Rose nett gewesen.
„Lady Winstead hat mich gebeten, ihre Nichte für die Vorstellung vor der Queen zu unterstützen.“
„Bloß die Vorstellung? Was umfasst das?“
„Nicht besonders viel: das richtige Kleid in Auftrag geben, einen Hofknicks üben und lernen, sich von der Queen zu entfernen, während man eine fast drei Meter lange Schleppe trägt. Und natürlich wie man den Nachmittag bei Hofe verbringt.“
„Wieso stellt Lady Winstead ihre Nichte nicht selbst vor?“
„Ich bin sicher, das würde sie, wenn die Familie nicht noch um den Tod ihres Ehemanns trauern würde. Erinnerst du dich nicht daran, dass Lord Peter gleich nach Weihnachten verstorben ist? Niemand aus der Familie wird in den nächsten sieben oder acht Monaten an gesellschaftlichen Veranstaltungen teilnehmen.“
Er zog die Augenbraue wieder hoch. „Aber die Nichte schon? Hat sie denn eigentlich einen Namen?“
„Katherine Stover. Sie ist mit Lady Winstead verwandt, nicht mit Lord Peter.“ Ich runzelte die Stirn. „Es schien mir seinerzeit eine gute Idee zu sein. Du warst noch dabei, dich zu erholen, und ich brauchte etwas zu tun. Miss Stover wurde auf dem Weg von Devon in die Stadt jedoch aufgehalten, sodass wir den ersten Salon der Queen verpasst haben. Der nächste findet erst Ende des Monats statt und mit der trauernden Familie könnte es sein, dass sie mich darum bitten, mehr als nur die Vorstellung zu übernehmen und tatsächlich ihre ganze Saison zu betreuen.“
„Wäre das ein Problem?“
Ich schenkte ihm mein süßestes Lächeln. „Ich hatte gehofft, dass wir jetzt, da du genesen bist, Pläne für unsere Hochzeitsreise schmieden könnten.“
Ein familiärer Notfall hatte unserer ursprünglichen Hochzeitsreise ein Ende bereitet. Als Wiedergutmachung hatte mein Vater uns eine großzügige Summe Geld geschenkt, doch George war überraschend empfindlich gewesen, das Geld zu nutzen.
„Ja. Nun, die Hochzeitsreise wird leider noch etwas länger warten müssen.“ Er lächelte verlegen. „Ich habe einen Auftrag angenommen und bin nicht sicher, wie lange es dauern wird, ihn zu vollenden, oder wohin er mich führen wird.“
Meine Enttäuschung war von kurzer Dauer und sogleich verflogen, als ich die Freude in seinem Blick sah. George tat „etwas“ für die Regierung, genauer gesagt das britische Innenministerium, doch mehr wusste ich selbst nicht. „Das sind großartige Neuigkeiten. Ich hatte das Gefühl, dass du genesen bist und rastlos wurdest. Kannst du mir etwas über diesen Auftrag erzählen?“
„Ich soll das Verschwinden eines recht ungewöhnlichen und wertvollen Gegenstandes untersuchen.“ Er zog die Augenbrauen bedeutungsvoll hoch. „Genauer kann ich es wirklich nicht beschreiben.“
„Verstehe. Dann ist es wohl etwas Altes, nehme ich an.“
Er lachte. „Ich kann es nicht sagen.“
„Immer ist alles so geheim.“ Ich schnalzte mit der Zunge. „Man sollte glauben, du könntest dich zumindest deiner Ehefrau anvertrauen.“
„Nimm es nicht persönlich. Ich kann es dir nicht sagen, weil sie mir noch nicht gesagt haben, um was es geht.“
„Dann nehme ich an, ist es gut, wenn ich selbst auch einen Auftrag habe. Wann fängst du an?“
„Ich habe vor, meinen Kontakt heute zu treffen, um herauszufinden, was er über die Angelegenheit weiß. Ich sollte jetzt aufbrechen.“
„Auf mich wartet heute bloß Tee mit Lady Winstead“, sagte ich.
Er verzog das Gesicht. „Ich vermute, dein Auftrag wird deutlich beschwerlicher als meiner.“
George wollte sich dringend mit seiner Kontaktperson treffen, daher brach er sofort auf. Ich kümmerte mich um einige Briefe, ging die Speisepläne der Woche mit dem Koch durch, genoss einen Spaziergang mit Rose am frühen Nachmittag und machte mich gerade für meine Verabredung mit Lady Winstead fertig, als Jarvis mir die Visitenkarte eines Besuchers nach oben in mein Ankleidezimmer brachte.
Ich nahm sie entgegen, ohne den Kopf zu drehen, denn Bridget, meine Zofe, hielt mein Haar fest in einer Hand und einen sengend heißen Lockenstab in der anderen.
„Lady Esther ist hier?“, fragte ich, doch da ich ihre Karte in der Hand hielt, war die Antwort offensichtlich.
„Ja, Ma’am. Ich habe sie in den Salon gesetzt, um herauszufinden, ob Sie zu Hause sind.“
Ich überlegte einen Moment lang, ob ich für Lady Esther zu Hause sein wollte. Auch wenn sie nicht so ungenießbar wie Lady Winstead war, verlangte es meiner Geduld einiges ab, zwei solcher Damen an einem Nachmittag zu treffen. Lady Esther stattete einem jedoch nie grundlos einen Besuch ab. Ich sah auf die Uhr auf meinem Ankleidetisch. Genug Zeit hatte ich noch. „Ich werde sie empfangen.“
„Sehr gut, Ma’am.“
Jarvis ging, um die Dame darüber informieren, dass ich sogleich unten sein würde, und Bridget stellte meine Frisur schneller fertig, als mir lieb war. Ich hatte daher keinen anderen Grund noch länger in meinem Zimmer zu verweilen, als innere Kraft zu sammeln. Ein tiefer Atemzug und ich wagte mich hinunter in den Salon.
Obwohl ich in Georges Haus gezogen war, war der Salon genauso, wie ich ihn eingerichtet hätte. Der lange, schmale Raum hatte einen dunklen Eichenboden, die getäfelten Wände waren elfenbeinfarben gestrichen und der Raum war in drei klare Bereiche unterteilt, die den Übergang vom Esszimmer zum Garten bildeten – jeweils für Tee, Spiel und Unterhaltung. Die ältere Lady Esther saß am letzten dieser Plätze an einer der Türen, die zum Garten führten. Sie versank beinahe komplett im dick gepolsterten Klubsessel. Nicht, dass sie sonderlich klein war. Sie war durchschnittlich groß, doch auffällig dünn, sodass sie nahezu kantig wirkte – ihre Schultern, Ellenbogen, Hüften, selbst ihre Wangenknochen und ihr Kinn waren spitz und irgendwie gefährlich. Ihre Zunge war unbestreitbar die schärfste in ganz England.
„Guten Tag, Lady Esther“, sagte ich beim Eintreten. „Wie freundlich, dass Sie mich besuchen.“
„Und wie freundlich, dass Sie mich empfangen.“ Sie legte die Hände auf den Gehstock und lächelte.
Ich erstarrte im Gehen. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich die Frau noch nie hatte lächeln sehen, obwohl sie gelegentlich die Zähne zeigte. Das war anders. Dieses Lächeln wirkte echt und wenngleich nicht sonderlich gewinnend, ließ es sie fast nahbar wirken. Ich brauchte einen Moment, um mich zu fassen.
Das Lächeln verwandelte sich in einen mürrischen Gesichtsausdruck, als hätte es rasch genug davon. „Hören Sie auf, so schockiert dreinzugucken“, schimpfte sie. „Ich kann angenehm sein, wenn mir der Sinn danach steht – wenn ich in der Gegenwart von jemandem bin, der die Mühe wert ist.“
Aha! Da war die Dame, an die ich mich gewöhnt hatte. Ich nahm auf dem gleichen Sessel auf der anderen Seite des Fensters Platz. „Meine Güte, wollen Sie damit sagen, dass ich die Mühe wert bin, dass Sie sich angenehm geben? Ich fühle mich geschmeichelt.“
„Das sollten Sie sein.“ Sie verengte den Blick. „Ich war nicht sicher, ob Schmeicheleien bei Ihnen wirken, aber ich dachte, es würde wohl nicht schaden.“
Mein Bauchgefühl riet mir zur Vorsicht. „Was erhoffen Sie sich denn damit?“
„Ich wünsche mit Ihnen Tee zu trinken.“
„Es tut mir furchtbar leid, doch man erwartet mich zum Tee bei den Ashleys. Ich sollte sogar recht bald aufbrechen.“
Sie stieß mit ihrem Gehstock auf den Boden, dass ich zurückschreckte.
„Dessen bin ich mir bewusst“, sagte sie. „Ich wünsche Sie zu begleiten. Lady Winstead ist eine alte Freundin und ich hörte, dass Sie darüber nachdenken, ihre Nichte zu protegieren. Ich möchte Sie begleiten, um sicherzustellen, dass Sie sich ihrer annehmen.“
Ich wusste nicht, was mich mehr überraschte – dass Lady Esther von meinen Angelegenheiten wusste oder dass Lady Winstead eine Freundin hatte. Und dass es ausgerechnet Lady Esther war. Offensichtlich stimmte es wohl, was die Leute sagten: ‚Gleich und Gleich gesellt sich gern.‘ „Inwiefern haben Sie ein Interesse daran?“
„Ich habe lediglich die Absicht, dienlich zu sein.“
Ihre Mundwinkel zogen sich wieder nach oben. Die Frau führte eindeutig etwas im Schilde. Da sie jedoch so direkt gefragt hatte, wäre es sehr unhöflich gewesen, sie nicht einzuladen, mich zu begleiten. Vermutlich würde ich schon noch herausfinden, was sie vorhatte.
Wenn sie so weit war, es mir zu verraten.
„Nun, wenn wir pünktlich sein wollen, sollten wir wohl nun aufbrechen.“
Wir nahmen Lady Esthers Kutsche und von dem Moment an, als ich mich auf den weichen Ledersitz sinken ließ, hielt sie ein andauerndes Plaudern am Laufen – über das Wetter, einen bevorstehenden Ball, die Unterschiede zwischen meinem Stadtteil Belgravia und Mayfair, in das wir fuhren. Jedes Mal, wenn ich versuchte, ein Wort einzuwerfen – poch, poch, poch – stieß sie mit dem elendigen Gehstock auf den Kutschenboden und unterbrach mich. Hätte ich noch mehr Zeit mit ihr verbringen müssen, wäre ich Gefahr gelaufen, einen Tick zu entwickeln.
Wir hatten das Haus der Ashleys fast erreicht, als sie Luft holte. Ich ergriff sofort die Chance, das Thema zu wechseln. „Wie lange kennen Sie Lady Winstead?“
„Gute fünfzehn Jahre bereits. Ich habe sie bei ihrer Hochzeit mit Lord Peter kennengelernt. Sie nahm nicht am gesellschaftlichen Leben teil, als ihr vorheriger Ehemann noch lebte.“
Das lag daran, dass er Bankier gewesen war und nicht Teil des Adels – der gleiche Grund aus dem ich eine Sponsorin gebraucht hatte, die mich vor meiner ersten Ehe in die Gesellschaft einführte. Und hier war nun die gebührliche, blaublütige Lady Esther und wünschte unsere beiden Gesellschaften. Wie interessant.
„Dann waren Sie eine Freundin Lord Peters vor seiner Ehe?“
Sie warf mir einen schiefen Blick zu. „Sie meinen vor seiner zweiten Ehe? Nein, wir waren bloß entfernte Bekannte. Seine erste Ehefrau passte mir nicht, doch Augusta und ich entwickelten bei unserem ersten Treffen eine Freundschaft.“
„Ich bin überrascht, dass sie nicht Sie gebeten hat, Miss Stover zu protegieren.“
Ihre Miene versteinerte. „Soll das Ihr Ernst sein? Ich bin viel zu alt für solche Albernheiten.“
Wir hielten an. Ein kurzer Blick aus dem Fenster verriet mir, dass wir den Wohnsitz der Ashleys erreicht hatten. Der Stallbursche sprang von der Kutsche und öffnete uns die Tür. Ich sah zu, wie Lady Esther flink ausstieg, wobei sie die Hand des Stallburschen nur leicht berührte. Obwohl ich es schwer vorstellbar fand, dass sie sich für etwas für zu alt hielt, wäre ich nicht überrascht gewesen, wenn sich hinter dieser Situation tatsächlich Albernheiten verbargen.
Die Ashleys waren eine bedeutende Familie in der Gesellschaft. Lord Peter, der verstorbene Viscount Winstead, war bis zu und auch noch während seiner ersten Ehe mit Mary Sinclair, der vierten Tochter von Lord Pomerance, vor etwa fünfzig Jahren ein ziemlicher Herumtreiber gewesen. Als stets pflichtbewusste Ehefrau hatte Lady Mary dem Viscount zwei Söhne geschenkt, bevor sie prompt an Scharlach starb. Lord Peter war wie üblich auf Erkundungsreisen in Ägypten gewesen und die Jungen waren von ihren Kindermädchen sicher vor der Krankheit geschützt worden, sodass Lady Mary mit so wenig Unannehmlichkeiten wie irgendmöglich für ihre Familie verstorben war. Es war zu bezweifeln, dass die Ashleys auch nur einen weiteren Gedanken an sie verschwendet hatten.
Mit zwei Söhnen war Lord Peter der Ansicht gewesen, dass sein Titel gesichert sei, und für mehr als dreißig Jahre alleinstehend geblieben, was zu einer Reise nach der nächsten nach Ägypten und in den Sudan führte, bis er dafür bekannt wurde, bei seinen umfangreichen Ausgrabungen die interessantesten und aufregendsten Artefakte zu finden. Dann hatte er alle damit überrascht, dass er im Alter von siebzig Jahren einen anderen, aber vielleicht noch tückischeren Weg gegangen war, der ihn vor den Altar von St. George’s geführt hatte. Er heiratete Augusta Fairweather, die kinderlose und sehr reiche Witwe eines Bankiers. Die Dame hatte selbst bereits das sechzigste Lebensjahr durschritten und genug Reichtum, um die ihr bleibenden Jahre so zu verleben, wie es ihr gefiel. Dass sie sich stattdessen dazu entschloss, wieder den Bund der Ehe einzugehen, hatte aus der Partie eine doppelte Überraschung gemacht.
Insbesondere für seine Kinder.
Die Hochzeit hatte vor fünfzehn Jahren stattgefunden und die Leute spekulierten noch, wie es zu der Partie zwischen dem aufgeschlossenen, abenteuerlichen Adligen und der stets übellaunigen Bürgerlichen gekommen war.
Da Lord Peter im Laufe ihrer Ehe nur wenige Monate mit seiner Gemahlin in England verbracht hatte, vermutete ich finanzielle Gründe.
Lady Esther und ich wurden in einen großen, weitläufigen Salon mit dunkel getäfelten Wänden geführt, in dem mich der Anblick mehrerer ägyptischer Artefakte, darunter eine Standuhr in Form eines Obelisken und eine riesige Vase auf einem Bronzesockel, die beide überall mit ägyptischen Motiven verziert waren, nicht weiter überraschte. Es war jedoch überraschend, alle Ashleys um einen niedrigen Teetisch herum versammelt anzutreffen. Ich nahm an, dass nach vier Monaten der Trauer jeder Besucher eine willkommene Ablenkung darbot.
Zwei Mitglieder der Familie kannte ich gut. Simon, der jüngere Sohn des verstorbenen Viscounts, mit seiner Frau Violet, die sich immer Si und Vi nannten, waren enge Freunde meines verstorbenen Ehemanns gewesen. Sie standen von ihren Plätzen auf dem Sofa auf und begrüßten mich wie eine alte Freundin.
Wir waren keine alten Freunde.
Trotzdem nahm ich Vi bei den Händen, als sie sie mir entgegenstreckte, und hauchte Küsse in die Luft nahe ihrer Wange. Als sie mich losließ, nahm Si meine Hand und sprach mir sein Beileid aus. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er von Reggies Tod sprach, der bereits mehr als zwei Jahre her war. Sie waren nicht zu seiner Beerdigung gekommen und ich nahm an, dass dies wohl das erste Wiedersehen seitdem war.
Sie sahen einander so ähnlich, wie zwei nicht verwandte Menschen einander nur ähneln konnten. Beide waren blond und blauäugig, doch nun über vierzig wurde Sis Haar dünner und Vi hatte dunkle Ringe unter den Augen. Auf ihren Gesichtern zeichneten sich die gleichen Falten ab, sodass ich mich fragte, ob sie noch in die kraftzehrenden Bemühungen, den Prince of Wales zu unterhalten, verstrickt waren.
„Lady Harleigh.“
Ich unterdrückte ein Seufzen und wandte mich Jonathon Ashley zu, der dramatisch Luft holte und kurz mit der Hand den Mund zuhielt, wobei er seinen Siegelring am kleinen Finger zur Schau stellte. „Entschuldigung. Es heißt jetzt Mrs. Hazelton, nicht wahr?“
Er sprach noch so salbungsvoll wie vor zehn Jahren, als er gehofft hatte, mir einen Heiratsantrag zu machen. Mutter hatte diese Hoffnungen rasch im Keim erstickt. Ich erwiderte sein Lächeln.
„Und ich bin nun Viscount Winstead“, fuhr er fort. „Ist es nicht amüsant, wie unser Schicksal sich so schnell wie ein Herzschlag verändern kann?“
Da es der Herzschlag seines Vaters gewesen war, besser gesagt: dessen Ausbleiben, der sein Schicksal verändert hatte und ihm diesen Ring am Finger vermacht hatte, war ich über seine Wortwahl entsetzt. Amüsant. Typisch Jonathon. Zum Glück hatte Mutter ihn abgelehnt.
Er musste etwa fünfzig sein. Auch blond, doch mit dunklen Augen und stämmiger, mit Schnauzbart und ordentlich gestutztem Bart. Unterschiedlichere Brüder waren kaum zu finden. Einer wollte nichts als Amüsement, während der andere die Bedeutung des Wortes nicht einmal verstand. Jonathon hatte jung geheiratet und seine Frau vor etwa zehn oder zwölf Jahren verloren. Man musste annehmen, dass sie an Langeweile gestorben war.
Er stellte seinen Sohn, Andrew, einen jungen, etwa siebzehnjährigen Mann vor, der das Abbild seines Vaters mit dunklerem Haar und ohne Bart war.
Ich war entsetzt, als mein Blick auf Lady Winstead fiel. Sie trug ein angemessenes Nachmittagskleid, das Haar hochgesteckt und aus ihrem faltigen Gesicht frisiert, doch ihre braunen Augen sahen leer aus und ihr Mund stand leicht offen, als sie sich in ihrem Krankensessel zurücklehnte, der an das kurze Ende des Teetischs geschoben worden war. Sie hob den Kopf als Reaktion auf unsere Begrüßung, umklammerte die Teetasse fester und hustete leicht, sodass ihr der Schal von der Schulter rutschte. Obwohl sie weit über siebzig war, hatte ich nicht damit gerechnet, dass sie so zerbrechlich und krank aussehen würde.
Lady Winstead heftete den Blick auf Lady Esther und schien sprechen zu wollen. Bevor sie die Worte über die Lippen bringen konnte, erzitterte die Hand, die die Teetasse hielt. Sie streckte den Arm aus, als wolle sie die Tasse auf den Tisch stellen, ließ sie jedoch stattdessen fallen. Lady Esther und ich sprangen zurück, als der Tee auf den Boden spritzte, wo Lady Winstead im nächsten Moment zum Liegen kommen sollte, die vom Sessel hinabrutschte und haltlos, ganz ohne jeden Versuch, den Sturz abzufangen, zu Boden fiel.
Himmel! War die Frau gerade einfach so gestorben?
Kapitel 2
Eine jüngere Frau, die neben Lady Winstead gesessen hatte, sank auf den Boden und um die Beine des Teetischs herum, um die Finger an den Hals der älteren Dame zu legen. Da sich auf ihrem Gesicht Erleichterung spiegelte, nahm ich an, dass sie einen Puls gespürt hatte.
Zumindest besaß sie die Geistesgegenwart, etwas zu unternehmen. Der Rest von uns sah entsetzt zu.
Dann spürte ich das Stechen von Lady Esthers Ellenbogen an den Rippen. „Haben Sie vor, sich dieses Drama wie im Theater anzusehen?“ Ihre Worte und der Stoß katapultierten mich ins Handeln.
Ich sank auf die Knie, als Lady Winstead das Bewusstsein wiedererlangte, und hielt die junge Frau auf, die der Kranken hatte aufhelfen wollen. „Es wäre vielleicht besser, sie nicht zu bewegen“, sagte ich. „Sie könnte sich bei dem Sturz verletzt haben. Wir sollten einen Arzt rufen.“
„Ich hole ihre Schwester“, sagte sie.
„Ich dachte, Sie seien die Krankenschwester“, murmelte Lady Esther.
„Richtig“, sagte Lord Jonathon. „Sie beide werden Miss Katherine Stover noch nicht kennengelernt haben.“
Das war also Miss Stover. Sie sah etwas jünger als zweiundzwanzig aus. Ich musterte die großen braunen Augen mit den Brauen, die im Moment zusammengekniffen und heruntergezogen waren, als sie sich aufraffte und den Ashleys einen wütenden Blick zuwarf, die noch immer auf ihren Plätzen saßen, als sei nichts vorgefallen.
„Verzeihen Sie mein Benehmen“, sagte sie und strich eine dunkle Haarsträhne über die Schulter, die sich gelöst hatte, „das Vorstellen sollte warten, bis ich mich um meine Tante gekümmert habe.“ Damit eilte sie aus dem Raum.
Ich blickte zu Lord Jonathon hinüber, der ihr grimmig nachsah.
Ich mochte sie jetzt schon.
„Da geht Ihr Schützling, Mrs. Hazelton. Sollten Sie sich entschließen, die Rolle als ihre Sponsorin anzunehmen.“ Seine Worte waren zwar höflich, doch sein Grinsen deutete auf Feindseligkeit hin. Ich fragte mich, ob sie kein willkommener Gast in seinem Haus war. Sie war schließlich nicht mit ihm verwandt. Angesichts Lady Winsteads offensichtlicher Gebrechlichkeit war er vielleicht der Ansicht, dass jemand anders die Aufgabe übernehmen sollte, sie bei sich aufzunehmen.
Ich legte Lady Winsteads Kopf auf meinen Schoß und hoffte, ihr so ein besseres Kissen zu bieten als der gebohnerte Holzboden. Als ich ihre Hand nahm, schlossen ihre Finger sich sanft um meine. Ich fragte mich, was sie in solchem Ausmaß geschwächt hatte. Zuletzt hatte ich sie vor vier Monaten bei der Beerdigung ihres Ehemanns gesehen. Abgesehen davon, dass ihr sichtlich Schlaf gefehlt hatte, hatte sie für jemanden, der ein Dreivierteljahrhundert alt war, gesund und munter gewirkt.
Ich sah zu ihren Stiefkindern, die, wenngleich sie dabei unwohl wirkten, bisher keinen Finger gekrümmt hatten, Lady Winstead zu helfen. „Miss Stovers Hingabe für ihre Tante macht ihr Ehre“, sagte ich und fragte mich dabei, ob jemand auf den Hinweis eingehen würde.
„Oh, sie ist wirklich engagiert“, sagte Vi, als Si und sie sich wieder setzten. „Mit Kate hier könnten wir auf die Krankenschwester glatt verzichten.“
„Miss Stover ist nicht hier, um die Krankenschwester zu geben.“ Lord Jonathon warf der Frau seines Bruders einen stechenden Blick zu. „Sie soll vor der Queen knicksen und sich dann einen Ehemann suchen.“
Lady Esther bemühte sich gar nicht erst, mit ihrer Empörung zurückzuhalten. „Diese Unterhaltung ist sowohl gefühllos als auch albern angesichts der Umstände. Wird keiner von Ihnen einen Arzt rufen?“ Ihre Stimme ließ die Frage wie eine Anweisung klingen und trotzdem reagierte keiner von ihnen, bis sie mit ihrem Gehstock kräftig auf den Boden stieß.
Lord Jonathon hob die Hand, als Si Ashley aufstand, vermutlich um Lady Esthers Anweisung nachzukommen. „Wir warten damit, den Arzt zu rufen, wenn ich bitten darf. Zumindest bis Schwester Plum sie sich angesehen hat. Sie hat sich die letzten Monate um unsere Stiefmutter gekümmert und ist mit solchen Vorfällen vertraut.“
„Schwester Plum kümmert sich sehr gut um sie“, sagte Vi Ashley zu Lady Esther. „Sie wird Ihre Freundin in kürzester Zeit auf den Beinen haben.“
„Vielleicht hilft etwas Tee“, schlug Andrew Ashley vor.
„Sie hat Tee getrunken, als es passiert ist“, schalt Lady Esther. Die Worte Sie Dummkopf hingen unausgesprochen in der Luft, doch wir alle wussten, dass sie sie gedacht hatte.
Ich hielt den Kopf der Dame so gut ich konnte. Ihr Puls fühlte sich unter meinen Fingern langsam an, doch er war gleichbleibend. Ich tupfte sanft die kleinen Schweißperlen mit meinem Taschentuch von ihrem Gesicht und sah, dass ein Augenlid versuchte, sich zu öffnen. Als sie es schaffte, verriet ihr Blick blanke Angst. Mein eigenes Herz schlug schneller, als ich nichtige Worte säuselte, die sie beruhigen sollten.
Nach vermutlich bloß wenigen Minuten, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, kam Miss Stover in Begleitung einer Dame mittleren Alters mit kräftiger Statur und grauem Haar zurück, die in eine zartblaue Bluse und einen Rock mit einer weißen Schürze gekleidet war – die übliche Uniform einer Krankenschwester. Ohne ein einziges Wort an uns zu richten, kniete sie sich auf Lady Winsteads andere Seite. Das zweite Auge der Witwe ging auf und sie bewegte nun den Kopf. Schwester Plum fuhr mit geübten Händen über die Gliedmaßen ihrer Patientin, erklärte, sie dürfe sich bewegen, und hob sie dann in den Krankensessel. Angesichts ihrer Tüchtigkeit bewegte ich mich einfach aus dem Weg. Miss Stover stand neben der Krankenschwester und rang die Hände.
Als sie Lady Winstead wieder in den Sessel gesetzt hatte, nickte die Krankenschwester Lord Jonathon zu. „Ich bringe sie nun auf ihr Zimmer.“
Er genehmigte es mit einer Geste und sie schob ihre Patientin auf den Flur hinaus.
Ich drehte mich zu meiner Begleitung um und war nahe daran, vorzuschlagen, dass wir gehen und die Familie allein lassen sollten, doch Lady Esther war eindeutig anderer Ansicht. Sie nahm auf dem Sofa Platz und wies Vi mit einer Handbewegung an, Tee einzuschenken. „Was ist ihr zugestoßen?“, verlangte sie von der Runde zu erfahren. „Hat sie eine Art Anfall oder Krankheit erlitten?“
Der Etikette nach sollte man in solchen Situationen fortfahren, als sei nichts passiert, damit der Gastgeber sich nicht unwohl fühlte. Lady Esther warf oft die Manieren über Bord, doch ihr aggressiver Tonfall ließ es so klingen, als beschuldige sie die Familie der Nachlässigkeit. Ich nahm eine Tasse Tee von Vi entgegen, um mich gegen was auch immer für Unannehmlichkeiten folgen würden, zu stärken.
Lord Jonathon stand auf, die Miene angespannt. „Mylady, wir tun alles Nötige für die Pflege unserer Stiefmutter und mir missfällt jede Andeutung des Gegenteiligen. Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen.“ Er nickte ihr kaum merklich zu und stolzierte aus dem Raum.
Si und Vi wechselten unbehagliche Blicke.
Andrew räusperte sich. „Es tut mir leid, dass Ihre Freundin nicht so ist, wie Sie sie in Erinnerung haben. Ihre Gesundheit hat die letzten Monate abgebaut, doch sie hat heute zugegebenerweise einen besonders schlechten Tag.“
„Ich versichere Ihnen“, fügte Si hinzu, „dass sie die beste Pflege erhält.“
Ich hörte das empörte Schnauben in ihrem Hals, doch es war ihr hoch anzurechnen, dass Lady Esther keinen solchen Ton von sich gab. „Woran genau leidet sie?“, fragte sie in einem gemäßigteren Ton, der mich soweit beruhigte, dass ich einen Schluck Tee trank.
„Der Arzt hat es auf die Trauer zurückgeführt“, sagte Andrew.
Ich prustete und bedeckte sofort den Mund mit einer Serviette. Meine Nase brannte von der heißen Flüssigkeit. Während ich meine Lippen tupfte, konnte ich sehen, dass Lady Esther soweit war, wegen der Erklärung an die Decke zu gehen. Ich legte die Serviette auf den Tisch und stand auf. „Ich glaube, wir haben genug Ihrer Zeit beansprucht, meinen Sie nicht, Lady Esther? Wir sollten aufbrechen.“
Meine Worte genügten, um sie abzulenken. „Sie hatten noch keine Gelegenheit, mit Miss Stover zu sprechen.“
„Sie ist im Augenblick eindeutig bekümmert. Ich werde ihr einen Brief schreiben und ein Treffen zu einem anderen Zeitpunkt vereinbaren.“
Si, Vi und Andrew folgten meinem Vorbild und standen auf, sodass Lady Esther keine Wahl blieb, außer sich widerwillig zu fügen. Die Familie beeilte sich, nach dem Butler zu klingeln, der unsere Sachen brachte und uns zur Tür begleitete. Ich holte erst ruhig Luft, als ich die ältere Dame aus dem Haus und zurück in der Kutsche sitzen hatte.
Sie behielt ihr mürrisches Schweigen bei, bis wir unterwegs waren. „Trauer.“ Sie knurrte das Wort. „Haben Sie je etwas so Unsinniges gehört?“
Ein Ehepartner, der vor Trauer verkümmerte, war nicht unbekannt, doch es schien in Lady Winsteads Fall schwer zu glauben – den Großteil ihrer Ehe hatten sie und ihr Ehemann auf verschiedenen Kontinenten gelebt. Ich konnte die Möglichkeit nicht gänzlich abtun, doch Lady Esther kannte ihre Freundin viel besser als ich.
Ich drehte mich zu ihr um. „Ist es nicht denkbar? Trauert Lady Winstead nicht um den Verlust ihres Ehemanns?“
„Nicht bis zur Selbstzerstörung.“ Ihr Kiefer verkrampfte sich, als sie ihren Gehstock fester umklammerte. „Sie waren nicht gerade Romeo und Julia. Er wollte Geld. Sie wollte Ansehen. Natürlich hätte sie um ihren Ehemann getrauert, aber sie hätte weitergemacht. Das macht unsereins so. Ich weiß nicht, was Augusta zugestoßen ist, aber die Familie hat etwas Übles im Sinn.“
Unsereins. Spannend. Lady Winstead hatte in den Adel eingeheiratet, doch genau wie ich stammte sie aus der Mittelschicht. Aus diesem Grund hätte Lady Esther uns niemals so gesehen. Oder? „Was meinen Sie mit unsereins?“
Sie machte eine abwinkende Handbewegung. „Die von uns, die tun, was getan werden muss, und weitermachen. Wir sind nicht fantasievoll. Wir verwandeln unser Leben nicht in Poesie oder Schauspiel. Wir kümmern uns darum, unser Leben zu leben. So war Augusta, nicht jemand, der verkümmern würde und der Vergangenheit nachtrauert. Sie mag die Vergangenheit vermissen, aber sie würde weitermachen.“
„Was glauben Sie dann, was mit ihr passiert ist? Glauben Sie, dass ihre Stiefkinder sich nicht um sie kümmern würden, wenn sie krank ist? Dass sie sie sterben lassen würden? Das klingt für mich ziemlich fantasievoll. Vorausgesetzt, die eigene Fantasie hat einen Hang zum Makabren.“
„Ich bin nicht sicher, was ich ihnen zutrauen soll.“ Sie musterte mich von unten bis oben, als ob sie meinen Wert bestimmen wollte. „Hier sind die Fakten, die ich kenne. Die Kinder des verstorbenen Viscounts und ihre Stiefmutter haben nichts füreinander übrig. Sie haben große Einwände gegen die Hochzeit erhoben, doch nach der Heirat waren sie alle über Augustas Vermögen erfreut.“
„Wenige Menschen rümpfen die Nase, wenn ihnen Geld geschenkt wird.“ George gehörte zu diesen wenigen.
„Wohl wahr und dank dieser Geschenke haben sie sie toleriert“, sprach sie weiter. „Nun, das letzte Mal habe ich Augusta bei Lord Peter Beerdigung gesehen, wo sie nachvollziehbar niedergeschlagen war, jedoch nicht von Trauer ergriffen. Sie sprach davon, im neuen Jahr sechs Monate außer Landes zu reisen und sich bei ihrer Rückkehr ein eigenes Zuhause zu suchen. Sie bat mich, sie in der darauffolgenden Woche zu besuchen, damit sie mir genauer sagen könne, wo sie leben würde, damit ich sie besuchen könnte, wenn ich mich dazu entschloss.“ Lady Esther zog die Augenbrauen fragend hoch. „Klingt das wie eine Frau, die sich in einen Stuhl auf ihrem Zimmer kauern und an Trauer sterben würde?“
Klang es nicht. Es klang eher genau wie die Lady Winstead aus meiner Erinnerung. Doch mit dem Tod eines geliebten Menschen zurechtzukommen, war vor und nach der Beerdigung sehr unterschiedlich. Vor der Veranstaltung ist man gut beschäftigt – und danach ist man mit seinen Sorgen ziemlich allein. Dies sagte ich auch Lady Esther.
„Ich lebe lange genug, um das selbst erlebt zu haben. Genau wie Agusta, weshalb sie diese Reisepläne geschmiedet und weshalb ich sie dazu ermutigt hatte. Aber wissen Sie, was passiert ist, als ich sie bloß fünf Tage später besuchte?“
Sie wartete gar nicht erst auf meine Antwort, denn natürlich wusste ich es nicht.
„Mir wurde der Besuch verwehrt.“
Sie zischte die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus. Ich wettete, dass niemand Lady Esther je etwas in ihrem gesamten Erwachsenenleben verwehrt hatte. Ich musste angemessenes Erstaunen gezeigt haben, denn sie fuhr mit ihrer Geschichte fort.
„Der Butler sagte mir, es ginge ihr nicht gut und sie empfange keinen Besuch. Ich bin sicher, Ihnen ist klar, dass ich protestiert habe.“
Ich konnte mir vorstellen, wie sie einen Anfall bekam. Ich war überrascht, dass der Butler eine solche Probe überlebt hatte.
„Er hat mich dann in einen Salon begleitet, wo Jonathon Ashley sich meiner annahm. Er hat mir das gleiche Ammenmärchen von einer Krankheit und dass sie ungestört bleiben müsse erzählt. Ich habe ihn daran erinnert, dass ich ihre beste Freundin bin und sie zu sehen wünschte, doch er blieb ungerührt.“
„Ist es denn nicht möglich, dass sie wirklich krank war?“
Sie winkte ungeduldig ab. „Sie ist nie krank.“
„Eben war sie es eindeutig.“
„Da stimme ich zu und das ist es, was mir Sorgen bereitet. Wissen Sie, warum ich darauf bestanden habe, Sie heute zu begleiten, als ich erfuhr, wo Sie hinwollten? Sie haben sie mich die ganze Zeit über nicht sehen lassen. Ich würde wetten, dass sie ihr auch meine Briefe vorenthalten, denn die meisten bleiben unbeantwortet.“
Die Sorge um ihre Freundin war nicht von der Hand zu weisen. Ich hatte die stoische Frau noch nie in solchem Ausmaß bekümmert gesehen. „Sie sagten, Ihre meisten Briefe. Was hat sie geschrieben, wenn sie Ihnen geantwortet hat? Wie hat sie ihre Umstände erklärt?“
Lady Esthers behandschuhte Finger verkrampften sich um den Gehstock. „Sie hat erst kürzlich damit begonnen, sie zu beantworten. Und ich gebe zu, dass vieles von dem, das sie schreibt, nicht sonderlich viel Sinn ergibt. Ich kann ihr Vertrauen nicht verletzen und Ihnen alles erzählen, aber ich kann Ihnen sagen, dass sie Angst hat und mich um Hilfe gebeten hat.“
Ihre Worte brachten die Erinnerung an die Angst, die ich in Lady Winsteads Gesicht gesehen hatte, als sie zusammengebrochen war, zurück. Ihre körperliche Verfassung konnte ich jedoch nicht ignorieren.
Lady Esther legte ihre Hand auf meine. „Ich weiß, was Sie denken und zu höflich sind, um es auszusprechen. Auch wenn ich nicht einen Moment lang glaube, dass sie an Trauer stirbt, lässt sich nicht abstreiten, dass sie abbaut. Ich muss herausfinden, ob ihre Stiefkinder hinter dieser Verschlechterung stecken. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mich zurück ins Haus lassen werden, aber Sie werden dort sein – und wie ich weiß, sind Sie höchst wachsam. Alles, worum ich bitte, ist, dass Sie Augusta und ihre Stiefkinder beobachten und mir sagen, ob meine Sorgen berechtigt sind.“
„Bei Ihnen klingt das, als wären sie die Borgias“, sagte ich, obwohl ich anfing, mich über die Familie zu wundern. „Können Sie mir nichts von den Briefen berichten und was Sie vermuten?“
„In den Briefen steht nichts, das Ihnen mehr helfen wird als Ihre eigenen Augen und Ohren. Ich bitte Sie nicht leichtfertig, ich habe den Verdacht, dass Sie in dieser Art von Ermittlung geübt sind. Irre ich mich in dieser Annahme?“
Sie irrte sich nicht und sie wusste es. Letzten Herbst war ihr Neffe Zielperson einer meiner Ermittlungen gewesen. Sie war damals hilfsbereit gewesen. Vielleicht schuldete ich ihr einen Gefallen.
„Dies ist ein Thema, bei dem ich meine Meinung lieber für mich behalte“, antwortete ich. „Doch was, wenn ich kein schändliches Verhalten in dem Haus erkennen kann?“
„Ich bin sicher, Sie werden Ihr Bestes tun, und ich bin mit den Informationen, die Sie mir verschaffen, zufrieden. Sie ist meine Freundin, Frances. Sie hat mich um Hilfe gebeten. Das ist das Mindeste, das ich für sie tun kann.“
Konnte ich da Nein sagen?
„Ich kann nichts versprechen“, sagte ich, „doch ich werde mein Bestes tun.“