Leseprobe Der Tod kommt nach Paris

Kapitel 3

Der Empfang fand in der Nähe statt, die Straße hinunter und um die Ecke in einer großen, kunstvoll eingerichteten Galerie. Eine große Auswahl von Ducasses Gemälden zierte zwei der Wände. Lichter hingen darüber von der Decke und ließen die kräftigen Farben leuchten. In der Raummitte befand sich eine freie Fläche, sodass man sich im sanften Licht zweier Kronleuchter unter die Leute mischen konnte.

George und ich kamen gegen neun an, was eine Stunde nach dem Beginn der Veranstaltung war. Wir hatten angenommen, dass die Gäste den Abend über kommen und gehen würden, doch die modisch gekleidete Menge in der Galerie nippte am Champagner, knabberte Canapés, plauderte unter sich und schien damit zufrieden, den Abend hier zu verbringen.

Wir zeigten einem Mann im Gesellschaftsanzug am Eingang unsere Einladung. Er studierte sie kurz, dann schnipste er nach einem nahestehenden Kellner, der sein Tablett mit Champagnergläsern anbot. George nahm zwei und reichte mir eines, dann schlenderten wir zu einem der ersten Ducasse-Gemälde, einer Straßenszene. Es zeigte einen breiten Boulevard, gesäumt von kahlen Bäumen und voller Kutschen und Fußgänger, die in warme Kleidung gehüllt waren. Es hätte die Straße vor der Tür zu einer anderen Jahreszeit sein können.

„Das ist neuer als die Werke, die ich bisher von Ducasse gesehen habe“, sagte ich. „Vor fünf oder sechs Jahren hat er diese pointilistische Technik noch nicht verwendet.“

George warf mir einen Seitenblick zu, dann trat er einen Schritt zurück und betrachtete das Gemälde, wobei er den Kopf nach links und rechts drehte. „Es sieht verschwommen aus.“

„Deine Augen verbinden die Farben“, sagte ich und deutete oben auf das Bild. „Siehst du, wie er hunderte kleine Punkte in einer Vielzahl von Farben gemalt hat, damit deine Augen einen grauen Himmel mit schwachem Licht, das durch die Wolken bricht, sehen können?“

„Mir war nicht klar, dass du so viel über Kunst weißt.“ In Georges Stimme schwang Bewunderung mit.

„Himmel, klang es, als wüsste ich, wovon ich rede?“ Ich lehnte mich zu ihm und senkte die Stimme. „Das tue ich nicht. Ich war nicht einmal daran interessiert, etwas über Kunst zu lernen, bis ich die Impressionisten – Monet, Degas, Pissarro – das erste Mal gesehen habe. Bei ihnen habe ich das Gefühl, das echte Leben zu sehen – echte Menschen. Nicht Götter, Charaktere aus der Bibel oder gar einen Lord Soundso, der gemalt wurde, als stünde er mitten in einer Schlacht.“

Belustigung funkelte in Georges Blick. „Dabei saß er vermutlich auf einem Sofa Modell.“

„Genau. Diese Gemälde verherrlichen ihr Subjekt nicht oder versuchen Heiligkeit oder Jenseitigkeit darzustellen.“ Ich deutete auf das Gemälde einer Frau – ihrer Kleidung nach vermutlich eine Arbeiterin –, die eine Zigarette in der Hand hatte und in ihre Kaffeetasse starrte. „Das ist modern. Sie ist real“, sagte ich. „Wenn wir in ein beliebiges Café gingen, könnten wir jemanden wie sie sehen.“

„Vielleicht nicht in einem beliebigen Café.“ Auf die Männerstimme hinter uns hin, die Englisch mit leichtem Akzent sprach, drehten wir uns um. „Die Dame ist wohl eine Prostituierte“, fuhr er fort. „Daher würden wir sie vermutlich nicht auf einer Straße wie dieser antreffen.“

Es war der Mann, der am Nachmittag an Alicias Seite gewesen war. Er sah in Abendgarderobe schnittiger aus, und seine selbstbewusste Haltung sprach von Kultiviertheit. Sein Schnurrbart war nun mit Wachs gezwirbelt, sodass er gänzlich unbewegt blieb, während er sprach. Ja, er war genauso gutaussehend wie ich ihn in Erinnerung hatte, und irgendwie schaffte er es mit seinem sachlichen Tonfall, dass ich in der Gesellschaft von Herren bei der Erwähnung einer Prostituierten nicht errötete.

„Aber Sie haben recht“, sprach er weiter. „Impressionismus und Postimpressionismus sollen das Leben festhalten, einen einzelnen Moment.“ Er machte einen Schritt zurück und verbeugte sich leicht. „Ich bin Lucien Allard. Sie beehren mich mit Ihrer Anwesenheit heute Abend, Monsieur und Mylady.“

Die Männer schüttelten sich die Hände. „Wir haben einander am Nachmittag auf der Invictus beinahe kennengelernt, nicht wahr?“, fragte George.

Monsieur Allards Mundwinkel zuckten hoch. „Mrs. Stoke-Whitney wollte sich Ihnen nicht aufdrängen, doch als sie erklärte, wer Sie sind, war ich der Ansicht, ich sollte Ihnen eine Einladung schicken. Ich bin erfreut, dass Sie sie angenommen haben.“ Sein Blick ruhte auf mir. „Sind Sie eine Bewunderin von Ducasses Werken?“

„Diesem Gemälde nach könnte ich das wohl werden“, antwortete ich. „Doch ich habe noch nicht genug gesehen, um mir dessen sicher zu sein. Und ich muss zugeben, dass ich keine Kennerin bin.“

„Ich nehme an, Sie sind ein Förderer, Monsieur Allard“, sagte George. „Schließlich haben Sie diese Ehrung ausgerichtet. Vielleicht können Sie uns durch die Ausstellung führen und uns die Feinheiten von Ducasses Arbeit zeigen.“

Alicia Stoke-Whitney war neben Allard getreten. „Niemand könnte das besser“, sagte sie. „Wenn jemand Ducasses ganz eigenen Stil kennt, dann Lucien.“

Monsieur Allard lächelte sie liebevoll an, dann wandte er sich mir zu. „Paul Ducasse war mein bester Freund. Ich habe all seine Ausstellungen und Verkäufe verwaltet, und er war frei, sich ganz seiner Kunst zu verschreiben.“

Er hob den Arm, um uns entlang der langen Wand mit Ducasses Gemälden zu führen. Ich ließ George mit Allard vorgehen und blieb mit Alicia einen Schritt zurück. Wir hörten aufmerksam zu, als Allard die Technik beschrieb und erklärte, wie Licht, Farbe und Ausdruck zusammenkamen. Ich wusste bloß, dass ich jedes dieser Bilder mit Freude an einer meiner Wände hängen hätte. Es waren alles Szenen, die der Künstler jeden Tag gesehen hatte, und Menschen, die er kannte – intime, ehrliche Porträts, die mir das Gefühl gaben, sie auch zu kennen.

Ich riss meinen Blick von einem der Bilder weg, nur um zu bemerken, dass ich die Person auf dem nächsten Gemälde tatsächlich kannte. Es war Lady Julia, wenn auch nicht so, wie ich sie je gesehen hatte. Sie stand hinter einer Staffelei, ihren Pinsel an der Leinwand, und trug einen farbbefleckten Kittel über ihrem Kleid. Dazu hatte sie einen Pinsel hinters Ohr gesteckt. Sie war höchstens dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahre alt. Ihr dunkelbraunes Haar rutschte aus dem lockeren Knoten, und wilde Locken rahmten ihr Gesicht. Der Künstler schien sie dabei eingefangen zu haben, als sie von der Arbeit aufsah.

Ihr Blick sprach unmissverständlich von Liebe.

Ich konnte nicht anders, als es anzustarren. Wenn nicht jemand hinter Ducasse gestanden hatte, während er sie malte, war Lady Julia offensichtlich in den Mann verliebt gewesen.

„Das … ist mal was“, sagte George. Er schien nicht so überrascht wie ich.

Monsieur Allard warf George einen knappen Blick zu. „Dies ist ein Beispiel seiner früheren Werke. Bei weitem nicht sein bestes Gemälde.“ Sein Blick wanderte von George zu dem Gemälde. Er verschränkte die Arme, wobei er leicht nickte. „Man sieht jedoch bereits sein Talent darin, das muss ich zugeben.“

Eine Frau trat zu Allard, die Eleganz ausstrahlte, wie es so viele Französinnen taten. Ihr blondes Haar war nur leicht eingedreht, hochgesteckt und mit einem Schmuckstück fixiert, das zur Bordüre am Ausschnitt ihres Kleids passte. Ein breites Taillenband, fast wie ein Kummerbund, trennte das Korsett und den schwarzen Seidenrock mit leichter Schleppe. Sie war genauso ein Kunstwerk wie die Gemälde an den Wänden.

Allard machte ihr Platz, um sie in die Unterhaltung einzubeziehen. „Darf ich Ihnen Madame Ducasse vorstellen?“, fragte er und wandte sich dann an sie. „Dies sind Lady Harleigh und ihr Ehemann, Monsieur Hazelton, aus England.“

Der Künstler hatte also eine Witwe zurückgelassen. „Darf ich Ihnen mein Beileid aussprechen, Madame“, setzte ich an. „So ein tragischer Unfall.“

Sie schenkte mir ein blasses Lächeln, dann sah sie von dem Gemälde zu George. „Hazelton? Ich sehe die Familienähnlichkeit. Sie sind verwandt, nicht wahr?“

Monsieur Allard keuchte. „Wollen Sie sagen …?“ Er brach ab und blickte auch von dem Gemälde zu George und zurück. „Ich wusste nicht, dass das Lady Julia ist“, sagte er. „Ich wusste nicht …“

Vermutlich hatte der Mann sich nicht wiederholen wollen. Hätte er den zweiten Satz zu Ende gesprochen, vermutete ich, hätte er gesagt, dass er nicht wusste, dass Lady Julia in Paul Ducasse verliebt war.

„Es ist viele Jahre her“, sagte Madame Ducasse und einen Moment lang glaubte ich, sie konnte meine Gedanken lesen. Dann wurde mir klar, dass sie auf Allards Worte antwortete, dass er Julia nicht erkannt hatte. „Vielleicht hätte sie dieses Gemälde gern.“

Allards Schnauben entlockte ihr ein leises Lachen. „Es ist keins seiner besten Werke“, meinte sie. „Das hast du selbst gesagt.“

„Ich sehe, warum meine Tante Interesse daran haben könnte, das Gemälde zu kaufen“, sagte George. „Doch für den Fall, dass es nicht so ist, bin ich definitiv interessiert.“

Allard hob abwehrend die Hände und verzog das Gesicht, als würde ihn die Unterhaltung schmerzen. „Heute Abend steht nichts zum Verkauf, Monsieur. Der Ducasse-Nachlass ist kompliziert, und die Dinge sind noch nicht ganz geregelt. Heute Abend sind wir bloß hier, um das Leben und Schaffen des Mannes zu feiern.“

George hielt seine Karte zwischen zwei Finger und bot sie Allard an. „Ich nehme an, es wird irgendwann zum Verkauf stehen. Die Dauer unseres Aufenthalts in Paris ist noch unbestimmt. Sie wissen, wie Sie mich hier erreichen. Doch sollte es länger dauern, den Nachlass zu klären, können Sie mich unter dieser Adresse erreichen.“

Allard steckte die Karte in seine Westentasche und reichte George eine seiner Karten. „Ich versichere Ihnen, mich zu melden, wenn die Dinge geklärt sind.“

Madame Ducasse und er verabschiedeten sich und ließen uns mit Alicia zurück. Sie winkte einen Kellner zu uns, der mit einem Tablett Canapés herbeigeeilt kam. Während George und sie sich davon etwas erlaubten, bemerkte ich eine Frau, die durch die Ausstellung schlenderte. Sie sah nicht aus, als gehöre sie hierher. Oder besser gesagt, sie sah aus, als würde sie hier arbeiten. Ihre Kleidung war sauber und adrett – ein jägergrüner Anzug und eine weiße Hemdbluse – und definitiv keine Abendgarderobe. Sie trug einen schlichten, steifen Strohhut und darunter waren ihre goldbraunen Haare zu einem einfachen Knoten frisiert. Sie war außerdem jung – achtzehn oder neunzehn. Unwahrscheinlich, dass sie in nächster Zeit teure Kunstwerke erstehen würde.

Alicia legte ihre zarte behandschuhte Hand auf meine Schulter. „Ich habe Hazelton und dich auf die Einladungsliste für den Empfang gesetzt, den die britische Delegation Ende nächster Woche ausrichtet.“ Sie legte den Kopf schief und sah zu George, der einige Schritte entfernt sein leeres Glas gegen ein volles eintauschte. „Hazelton sagt, ich solle nicht mit eurer Anwesenheit rechnen, da eure Pläne derzeit noch nicht fix sind, aber ich hoffe sehr, ihr werdet kommen.“

„In ein oder zwei Tagen werden wir Näheres wissen“, antworte ich. „Zu wessen Ehren findet der Empfang statt?“

„Wer weiß das schon? Jede Woche veranstaltet irgendein Land einen Empfang. Vermutlich waren wir bloß an der Reihe. Hätte ich gewusst, dass diese Komitees so viel Zeit damit verbringen, zu feiern und auszurichten, hätte ich meine Hilfe schon viel früher angeboten.“ Ihr helles Lachen überlagerte das Murmeln der Unterhaltungen um uns herum.

„Wie ist es dazu gekommen, dass du Teil der Kommission der Ausstellung bist? Arthur war ein Delegierter, doch du wirktest auf mich nie wie jemand, der in einem Komitee sitzen wollen würde.“

Sie blickte sich rasch im Raum um, als würde sie mir gleich ein Geheimnis anvertrauen. George, der gerade wieder zu uns treten wollte, verdrehte die Augen und tat stattdessen so, als habe er Interesse an einem der Gemälde. Alicia lehnte sich näher zu mir. „Das liegt daran, dass die Komitees, bei denen ich die Möglichkeit hatte, teilzuhaben, voller Frauen waren, und du weißt, dass ich mit anderen Frauen nicht besonders gut zurechtkomme. Sie mögen mich einfach nicht.“

„Hmm“, machte ich kopfschüttelnd. Komisch, dass ihr nie aufgefallen war, dass der Grund dafür ihre Gewohnheit war, mit den Ehemännern anderer Frauen anzubandeln.

„Doch die Delegation für die Expedition besteht fast ausschließlich aus Männern. Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel Spaß das macht.“

„Ich kann es mir vorstellen.“

„Die wenigen Frauen, die involviert sind, sind Ehefrauen von Geschäftsmännern, und sie sind wesentlich angenehmer als die Damen der Oberschicht.“

Das erinnert mich an die junge Frau, die mir eben aufgefallen war. Ich blickte mich um und sah sie in Monsieur Allards Gesellschaft. Er hielt sie am Ellenbogen fest und schien sie zur Tür zu zerren, und das nicht sonderlich sanft.

„Kennst du die Frau?“, fragte ich Alicia.

„Nein“, antwortete sie mit wachsendem Interesse. „Aber sie ist ein hübsches Ding und gemessen daran, wie Lucien sie so nachdrücklich hinauseskortiert, frage ich mich, ob sie wohl eine von Paul Ducasses lieben Freundinnen ist.“

„Was meinst du damit?“, fragte ich, vermutete aber, ihre Antwort schon zu kennen.

„Ducasse könnte man als Wüstling bezeichnen. Seine Ehefrau tut mir leid.“

„Ach, tut sie das?“ Gemessen daran, dass Alicia verheiratete Männer, darunter auch mein verstorbener Ehemann, am liebsten hatte, überraschten mich ihre Worte.

„Ich weiß, was du denkst“, meinte sie.

„Dass Ducasse mich sehr an meinen verstorbenen Ehemann erinnert?“

„Ja, das auch, aber du denkst außerdem, dass mir die Ehefrau eines untreuen Ehemanns gleich ist.“

Diese Schlussfolgerung bedurfte keiner weiteren Überlegungen. „Willst du sagen, dass es nicht so ist?“

Sie hielt inne. „Wohl nicht, aber es ist bedauerlich. Wenn ein Mann bei einer Affäre keine Diskretion wahrt, dann hat er eindeutig keinen Respekt mehr vor seiner Frau.“ Sie schüttelte den Kopf. „Das ist traurig.“

Dem konnte ich nicht widersprechen, aber mir schien, dass ein Mann, der fremdging, niemanden respektierte, weder seine Frau noch seine Geliebten, wie die Frau, die Alicia als Ducasses kleine Freundin bezeichnet hatte. Wenn Alicia Recht hatte, fragte ich mich, warum die junge Frau zu seiner Ehrung auftauchte.

Nachdem wir etwas mehr als eine Stunde in der Galerie verbracht hatten, kehrten George und ich in die Wohnung zurück. Ich bezweifelte, dass wir noch mehr erfahren hätten, wenn wir länger geblieben wären. Abgesehen von Lucien Allard und Madame Ducasse hatte keiner der Anwesenden, die wir trafen, mehr als nur eine geschäftliche Beziehung zu Ducasse gepflegt, und die meisten hatten den Mann noch nie getroffen. Die Einladungen schienen eher an die Elite der Pariser Gesellschaft als an die Freunde des Mannes gegangen zu sein. Das kam mir seltsam vor, wenn man den Zweck des Treffens bedachte. Das sagte ich auch zu George, als wir uns auf dem Sofa am Ende unseres Bettes niederließen.

„Allard hat es vielleicht als Hommage bezeichnet, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er potenziellen Käufern die Möglichkeit geben wollte, die Werke zu sehen, auf die sie bieten können, sobald er die Genehmigung zum Verkauf erhält.“

„Warum hat er dich dann so abgewiesen?“, fragte ich und zog die Augenbrauen hoch.

George reagierte irritiert. „Er hat meine Karte genommen, oder nicht? Ich denke, ich werde von ihm hören, sobald er ein Eröffnungsgebot vorliegen hat.“

Ich beugte mich vor und zog meine Schuhe aus, wobei ich mit den Zehen wackelte, als ich sie befreite. Da es so ein langer Tag gewesen war, hatten wir Bridget und Blakely den Abend frei gegeben. Ob sie nun irgendwo in der Stadt unterwegs waren oder beide schon schliefen, ich konnte Bridget nicht herbeirufen, um mir beim Ausziehen zu helfen.

Ich hätte meine bestrumpften Füße unter mich geschoben, aber George hielt sie fest und zog sie auf seinen Schoß, was meiner Meinung nach viel besser war. „Wer ist wohl befugt, ihm die Erlaubnis zum Verkauf zu erteilen?“, fragte ich.

„Nun, das ist interessant“, bemerkte er. „Ich hätte angenommen, dass die Gemälde alle Madame Ducasse gehören, aber nach unserem Gespräch mit ihr und Allard habe ich meine Zweifel.“

„Allard sagte, das Erbe sei eine komplizierte Angelegenheit. Das kann alles mögliche bedeuten, darunter auch, dass Ducasse vielleicht kein Testament hatte. Das bedeutet nicht, dass Madame Ducasse nicht erben wird.“ Ich lehnte mich zurück und schob die Füße in Georges Hände. Er folgte meinem Wunsch sofort und massierte sie.

„Was ist mit meinen Füßen?“, fragte er.

Ich machte eine einladende Geste. „Her damit.“ Als wir beide gemütlich saßen, besann ich mich wieder auf die Hommage. „Allmählich verstehe ich, warum Lady Julia nie geheiratet hat.“

„Dir ist es auch aufgefallen?“

„Oh, ja“, sagte ich. „Meinst du, dein Vater hätte ihr nicht erlaubt, ihn zu heiraten? Oder wäre es überhaupt so weit gekommen?“

„Ich weiß es nicht.“ George ließ den Kopf gegen die Sofalehne sinken. Ich schüttelte seine Füße. „Du kannst nicht einfach so einschlafen. Ich brauche Antworten.“

„Vor etlichen Jahren habe ich meine Mutter gefragt, warum Tante Julia nie geheiratet hat. Sie hat mir nur erzählt, dass Julia sich in einen Mann verliebt hatte, den sie in Frankreich kennengelernt hatte. Sie war volljährig, also hätte sie ihn heiraten können, aber ihre Eltern hielten ihn für unangemessen und waren gegen die Verbindung. Sie entschied sich dazu, die Wünsche ihrer Eltern zu respektieren. Mein Vater erbte den Titel einige Jahre später. Ich weiß nicht, ob er ihr die Liebe verwehrt hat oder ob sie es ihm nie gesagt hat oder ob es bereits zu spät war. Ducasse hat schließlich geheiratet.“

„Wie traurig. Glaubst du, sie ist in der Hoffnung, wieder da anzuknüpfen wo sie aufgehört hatten, nach Paris gegangen, nur um herauszufinden, dass er wen anders geheiratet hat?“

„Keine Ahnung.“

George schlief schon ein, und auch ich döste vor mich hin. Wir hatten zwei Personen getroffen, die mit Paul Ducasses Leben eng verbunden waren. Keiner von ihnen hatte bestritten, dass sein Tod ein Unfall war, als ich es erwähnte. Vielleicht hatte Lady Julia sich geirrt. Ich wusste, dass ich aufstehen und George wecken sollte, damit wir ins Bett gehen konnten, aber es war so gemütlich und ich war so müde, dass ich nichts weiter wollte, als meine Augen zu schließen.

Ich würde morgen über den Mord nachdenken.

***

Irgendwann in der Nacht erhoben wir uns vom Sofa, zogen uns um und kletterten ins Bett. Ich wachte gefühlte zwei Sekunden später in einem sonnendurchfluteten Zimmer auf und hörte Geräusche. Merkwürdigerweise war ich ziemlich ausgeruht.

„Wie spät ist es?“

„Kurz nach acht, Ma’am“, antwortete Blakely.

Ich drehte mich um und sah George in einen hellgrauen Cutaway schlüpfen, den Blakely ihm hinhielt. „Du bist mir ja weit voraus.“ Ich drehte mich zu meiner Bettseite um und schlug die Decke zurück.

„Ich glaube, Bridget hat schon ein Bad für dich eingelassen“, sagte George, während Blakely die Ärmel seines Mantels richtete. „Und das Frühstück wartet im Esszimmer auf dich.“

„Hach, das Leben ist gut“, sagte ich. „Ausschlafen, ein Bad, und das Frühstück wartet auch schon.“

Als Blakely fertig war und uns allein ließ, fiel mir Georges Kleidung auf. „Wo gehst du hin?“

„Ich mache mich auf die Suche nach den Zeitungen der letzten paar Tage, um zu schauen, ob etwas über Paul Ducasses Tod geschrieben wurde, außer das, was wir bereits gelesen haben.“ Er drückte mir einen Kuss auf die Schläfe. „Mit etwas Glück bin ich zurück, bevor du mit dem Frühstück fertig bist.“

„Haben sie die Zeitungen der letzten Tage nicht hier?“

„Die Haushälterin hat es verneint. Ich dachte, die Bibliothek könnte sich als nützlich erweisen. Es wird nicht lange dauern.“

George machte sich an die Arbeit, und ich stieg ins Bad. Eine Stunde später saß ich an unserem Balkontisch, genoss meine zweite Tasse Kaffee und verputzte den letzten Bissen eines buttrigen Croissants. Seufzend ging ich zurück ins Zimmer. Ich sollte meiner Schwester Lily einen Brief schreiben und sie wissen lassen, dass wir in Paris waren. Mit einem kleinen Baby würde sie in nächster Zeit vermutlich nicht in die Stadt kommen können. Vielleicht könnten George und ich sie besuchen, wenn wir mit Julias Angelegenheiten fertig waren.

George war noch immer nicht wiedergekehrt, als ich den Brief der Haushälterin übergab, was mich auf den Gedanken brachte, dass er die Ermittlung bereits ohne mich begonnen hatte. Er hatte erwähnt, dass Lady Julia es mit ihrer Privatsphäre äußert genau nahm. Da ich nicht zum Trübsalblasen neigte, entschied ich mich dazu, das Beste aus der Situation zu machen. Schließlich war ich in Paris und von hier kam die Mode. Ich konnte nicht einfach diese wunderbare Stadt besuchen und abreisen, ohne zumindest dem imposanten Kaufhaus Le Printemps einen Besuch abgestattet zu haben. Vielleicht war es an der Zeit für einen neuen Hut.

Bridget betrachtete frustriert das knittrige Kleid, in dem ich am Vorabend eingeschlafen war. „Ich weiß nicht, wie Sie das hinbekommen haben, Ma’am“, meinte sie.

„Leg das erstmal beiseite und komm mit mir mit“, sagte ich.

Kurze Zeit später waren wir auf dem Weg zu dem fabelhaften Gebäude auf dem Boulevard Haussmann.

Ich leistete dort ganze Arbeit, sodass gerade genug Zeit war, um mich zum Abendessen umzuziehen. George saß im Salon und trommelte mit den Fingern auf der Sessellehne, als ich mit der Ausbeute des Ausflugs hereinkam. „Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht“, sagte ich und stapelte meine Käufe auf den niedrigen Tisch.

„Zwei Hüte?“ George deutete auf die Hutschachteln.

„Einer ist für dich“, antwortete ich und machte mich an der Schleife der kleineren Schachtel zu schaffen. Ich hob den Deckel und holte den schönen Trilby hervor. „Sieh nur! Ist der nicht perfekt?“

George nahm mir den Hut ab und setzte ihn auf. „Sag du es mir.“

Ich rückte den Hut etwas zurecht und trat einen Schritt zurück, um ihn besser ansehen zu können. „Oh, ja. Er steht dir ausgezeichnet. Du siehst sogar noch besser aus.“

George lachte über meine Begeisterung. „Ich glaube, ich habe dich noch nie so von einem Kauf begeistert gesehen.“

Ich ließ mich auf den Sessel neben ihm sinken und stützte das Kinn auf die Handfläche. „Du hast recht. Das sieht mir nicht ähnlich. Es muss an Paris liegen. Ich habe seit Ewigkeiten nicht mehr hier eingekauft und alle sind so von den Kreationen dieser Saison begeistert. Das hat mich auch angesteckt.“ Ich tippte auf die verschlossene Hutschachtel auf dem Tisch. „Warte nur, bis du diesen Hut siehst. Er ist ganz hervorragend.“ Ich lächelte so sehr, dass mein Gesicht schmerzte, doch ich konnte einfach nicht anders. „Es ist nicht einmal das Einkaufen“, sprach ich weiter. „Mir fällt jetzt erst auf, dass da diese Energie in der Stadt ist – eine Art Spannung liegt in der Luft. Vielleicht ist es die Weltausstellung und all die Besucher.“ Ich wedelte mit der Hand. „Je ne sais pas.“

George zog die Krempe seines neuen Huts herunter und grinste mich an. „Nun, wenn das Einkaufen nicht nötig war, um dich in diese wunderbare Stimmung zu versetzen, dann wünschte ich, es wäre dir etwas früher aufgefallen.“

„Das Einkaufen könnte etwas damit zu tun gehabt haben“, sagte ich achselzuckend.

„Was immer es war, es gefällt mir. Ich weiß nicht, wann ich dich zuletzt so unbekümmert und freudig erlebt habe. Ich hasse es fast, dass ich dich nun daran erinnern muss, dass wir in etwas mehr als einer Stunde mit meiner Tante zum Abendessen verabredet sind.“

„Ich bin in weniger als einer halben Stunde so weit.“

Ich traf George zwanzig Minuten später im Salon und reichte ihm meine Stola, wobei ich seinen Anblick genoss, bevor ich mich umdrehte, damit er mir den Stoff über die Schultern legen konnte. George in Abendgarderobe sah immer herrlich aus.

Die Kendricks hatten in Paris keine Kutsche, doch ihr Lakai hatte uns eine Droschke kommen lassen. Sie wartete am Straßenrand, als wir durch das Tor aus dem Innenhof traten. „Wo treffen wir sie?“, fragte ich, als George mir in die Droschke half.

„Montmartre“, sagte er beim Einsteigen. „Sie hat uns gebeten, sie im Restaurant Moulin de la Galette zu treffen.“

„Meinst du Renoirs Moulin de la Galette?“

George legte den Arm um mich, als die Droschke sich in Bewegung setzte. „Möglich“, antwortete er. „Ich weiß nicht, wem es gehört.“

„Nein, nein, nein.“ Mit jedem Wort klopfte ich auf sein Bein. „Ich meine den Künstler Pierre-Auguste Renoir. Ich glaube, das Café ist Motiv eines seiner berühmten Gemälde. Wie aufregend, es mit eigenen Augen zu sehen.“

„Du wirkst tatsächlich aufgeregt“, sagte er grinsend.

„Das ist für mich alles neu. Ich war nie in diesem Teil der Stadt. Ist das nicht da, wo all die Künstler und Varietés sind, Musik und Tanz stattfinden, wo getrunken wird und wer weiß welche Teufeleien noch passieren?“

„Das klingt nach einem amüsanten Ort.“

„Warum will Lady Julia uns nicht in ihrem Zuhause empfangen?“

„Die Frage wird sie selbst beantworten müssen.“

„Schön. Diese Fragen sind jedoch für dich. Hast du die alten Zeitungen gefunden, nach denen du gesucht hast? Hast du etwas über Paul Ducasses Tod herausgefunden?“

„Ich habe sie gefunden und obwohl ich etwas mehr über seinen Tod erfahren habe, wirkte auf mich nichts verdächtig. Es scheint, die Polizei kam zu einem nachvollziehbaren Schluss, als sie ihn für ertrunken erklärte. Der Mann ist von seinem Boot gefallen.“

„Er besaß ein Boot? Das trübt das Bild des hungernden Künstlers aber etwas, findest du nicht?“

„Es war ein Hausboot. Er hat dort gelebt und meinem Verständnis nach war es nicht mehr als eine rostige Badewanne.“

„Wirklich?“ Die Droschke fuhr um eine Kurve, nun war der Abendwind zu spüren. Er duftete nach Blumen und fühlte sich auf der Haut geradezu herrlich an. Widerwillig riss ich meinen Blick vom Fenster los und konzentrierte mich auf die Unterhaltung. „Ich tue mich schwer damit, mir vorzustellen, wie die elegante Madame Ducasse in einer rostigen Badewanne gelebt hat.“

„Sie besaßen auch einen traditionelleren Wohnsitz in Paris“, sagte George.

„Mit traditionell meinst du an Land?“

„Genau. Wie ich hörte, hat Ducasse das Hausboot nur gelegentlich und allein bewohnt.“

„Interessant. Wenn Alicia mit ihrer Annahme richtig liegt, dann war er nicht allein. Das Hausboot klingt eher wie ein nid d’amour.“ Ich schüttelte den Kopf.

„Es mag ein Liebesnest gewesen sein, aber ein Nachbar hat ihn an dem Abend allein ankommen gesehen, als er über Bord gegangen ist.“

Das kam mir komisch vor. „Vielleicht war er die einzige Person an Bord, aber gibt es nicht weitere Hausboote in der Gegend? Der Nachbar, zum Beispiel. Hat ihn niemand gehört? Ist das nicht verdächtig?“

George nahm meine Hand. „Nicht so schnell. Du greifst zu weit vor. Es gab andere Boote in der Nähe und jemand könnte das Platschen gehört haben, aber das ist vielleicht nicht gerade ungewöhnlich. Ducasse hat sich außerdem den Kopf am Boot gestoßen, als er gefallen ist. Dadurch war er vermutlich bewusstlos, als er gestürzt ist, sodass er nicht um Hilfe rufen konnte. Die Beamten der Sûreté, der hiesigen Kriminalpolizei, haben das Boot untersucht und Blut an der Seite des Decks gefunden, was die Kopfwunde erklären würde. Sie haben mit seiner Ehefrau und Freunden gesprochen, die – so scheint es – alle zu dem Zeitpunkt andere Dinge getan haben. Der Rechtsmediziner hat nur eine oberflächliche Untersuchung durchgeführt, aber basierend auf dem, was ich herausgefunden habe, wurde richtig geschlossen, dass es ein Unfall war.“

„Nun, dann ist deine Ermittlung hier vielleicht abgeschlossen und wir können einfach den restlichen Aufenthalt genießen“, sagte ich und drückte seine Hand. „Wäre das nicht schön?“

„Schön, aber unwahrscheinlich. Ich traue Tante Julias Urteilsvermögen. Sie hätte mich nicht hergebeten, wenn sie keinen begründeten Verdacht hätte.“

„Vielleicht ist es nicht sein Tod, dessentwegen Lady Julia dich ermitteln lassen will, sondern etwas anderes.“

„Das werden wir wohl gleich herausfinden.“

Montmartre lag auf einem Hügel im Norden der Stadt, aber nicht weit entfernt. Nachdem wir im Zickzack zum neunten Arrondissement gefahren waren, bogen wir in die Rue Laffitte ein und befanden und etwa fünfzehn Minuten später auf einer Straße mit regem Fußgängerverkehr. Die Droschke kam zum Stillstand, als Männer und Frauen vom Bürgersteig auf die Straße strömten.

„Das Restaurant ist in der Nähe“, sagte George zum Kutscher. „Sie können uns hier rauslassen. Die Straße scheint eher zum Gehen als zum Fahren gemacht.“

Der Kutscher setzte uns ab. George bezahlte die Fahrt und wir gingen zu Fuß weiter. Ich hakte mich bei ihm ein. Der Abend war warm, doch der leichte Wind war kühl und blies mir eine Locke ins Gesicht, die sich aus meiner Frisur gelöst hatte. Als wir an anderen Leuten vorbeigingen, fiel mir auf, dass wir von vielen elegant gekleideten Paaren umgeben waren. Ich hatte angenommen, dass die Kundschaft der Cafés und Tanzlokale der Mittelschicht angehören würde.

„Ich hatte nicht mit so viel Glamour auf der Straße gerechnet“, sagte ich zu George.

„Ich vermute, dass viele der Paare hier Touristen sind, die neugierig sind, wie die Bohème lebt.“ Er senkte seine Stimme. „Und die Frauen sind vielleicht nicht die Ehefrauen der Herren, die sie begleiten. Wie dem auch sei, ich vermute, dass die Damen der Pariser Oberschicht ihre Abende nicht in den Restaurants und Cabarets von Montmartre verbringen.“

„Na, welch ein Glück, dass ich keine Pariserin bin.“

Als wir die Straße überquerten, bemerkte ich, dass der Asphalt ausgefahren war und das darunter liegende Kopfsteinpflaster zum Vorschein kam. Meine Schuhe rutschten auf der unebenen Straße und George hielt mich fester am Arm. „Die Realität des bürgerlichen Lebens ist vielleicht nicht so magisch, wie du denkst“, sagte er.

„Natürlich nicht“, erwiderte ich. „Aber Montmartre hat nichts mit Realitäten zu tun. Es geht nur um Möglichkeiten und das, was sein könnte, meinst du nicht auch?“

„Möglichkeiten“, sinnierte er. „Das gefällt mir.“

Als wir unser Ziel erreichten, war ich überrascht, eine große hölzerne Windmühle zu sehen, die von einem ummauerten Garten umgeben war, mit einem niedrigen Gebäude an der Seite. Lichterketten funkelten in den Bäumen und warfen einen romantischen Schein auf die Paare, die auf der Terrasse tanzten. Wir gingen an ihnen vorbei und folgten einigen anderen Leuten ins Innere des Restaurants.

Das Café war rustikal und voll mit lauten und fröhlichen Menschen. Ich konnte nicht sehen, ob die Musiker draußen oder hier drinnen spielten. Die Melodie war nicht zu erkennen. Von der Decke hingen Lichterketten herab. Es gab niedrige Tische mit Bänken und hohe Stehtische, und um alle herum standen Menschen. Überall herrschte eine feierliche Stimmung.

Als wir weiter in den schwach beleuchteten Raum hineingingen, stießen wir auf einen langen Tisch, an dem mindestens ein Dutzend Leute standen, sich unterhielten und tranken.

Eine Frau, die sich in der Mitte der Gruppe befand, erblickte uns.

„George!“ Sie wich vom Tisch zurück, nur um einem Herrn hinter ihr auf den Fuß zu treten, der ein dramatisches Heulen ausstieß. „Désolé, mon ami“, sagte sie, schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und tätschelte ihm die Wange, drehte sich dann zu uns um und winkte mit der Hand. „Kommt zu uns.“

George warf mir einen verwirrten Blick zu, der sicher auch auf meinem Gesicht zu sehen war. Das war offensichtlich Lady Julia. Aber anders als erwartet, schien sie nicht um eine verlorene Liebe zu trauern.

Kapitel 4

Lady Julia war ganz anders als die Frau, die vor zehn Jahren Fiona und meine Anstandsdame gewesen war. Sie sah auch nicht aus wie die jüngere Version ihrer selbst auf dem Ducasse-Gemälde. Ja, sie war jetzt älter, ihre Figur war runder, und sie hatte leichte Fältchen um die Augen, die darauf hindeuteten, dass sie mehr lächelte oder lachte, als ich in Erinnerung hatte. Aber das Äußere war nur ein Teil der Veränderung an ihr. Ich hatte sie immer für zurückhaltend, in sich gekehrt und vor allem für ruhig gehalten. Die Lady Julia, die uns am Tisch gegenübersaß, war alles andere als das. Ihr Gesichtsausdruck, ihre Augen und ihre Stimme sprühten vor Leben und Lachen. Sie sah glücklicher aus, als ich sie je gesehen hatte – wie jemand, der seine Unabhängigkeit in vollen Zügen genoss.

George und ich schoben uns durch die Menge, die um den Tisch stand. Sie tat das Gleiche auf der anderen Seite und wir trafen uns am Tischende, wo ein wenig mehr Platz war. Nachdem sie uns beide auf die Wangen geküsst hatte, wies sie jemanden aus der Gruppe an, uns beiden ein Glas Wein einzuschenken. Als sie Französisch sprach, war ihre Stimme tiefer als ich sie in Erinnerung hatte und samtweicht.

„Mit dieser Feier hatte ich nicht gerechnet“, sagte George. „Ich hatte den Eindruck, du wolltest eine Angelegenheit mit mir besprechen – oder ein eher ernstes Thema.“

Sie legte den Kopf schief und musterte ihn. „Feier?“ Ihr Blick wanderte den Tisch hinunter, dann wieder zu George. „Ich schätze, irgendjemand hier wird etwas feiern, aber damit habe ich nichts zu tun. Ich bin erst wenige Minuten vor dir eingetroffen und habe die Zeit mit einigen Freunden überbrückt.“

Hinter ihr drängte jemand heran und drückte ihr ein Glas mit Stiel in die Hand. „Ah, da haben wir es ja.“ Sie reichte mir das Glas. „Für dich, Frances.“ Als sie sich wieder umdrehte, warteten zwei weitere Gläser auf dem Tisch auf sie. Sie reichte eines an George und hob das andere. „Da ich bei eurer Hochzeit nicht dabei sein konnte, möchte ich die Gelegenheit nutzen, euch beiden zu gratulieren und euch noch viele glückliche Jahre zu zweit zu wünschen.“

George und ich dankten ihr, dann nahmen wir alle einen Schluck von dem Getränk, das sich als hervorragender Champagner entpuppte. Vielleicht lag es daran, dass Lady Julia so munter war. Beinahe sofort erschien ein Kellner in der typischen, langen weißen Schürze, mit weißem Hemd, Weste und kurzer schwarzer Jacke, um uns zu unserem Tisch zu führen.

Julia winkte ihren Freunden zum Abschied, und wir folgten dem Kellner zu unserem Tisch. Wir waren nur wenige Schritte entfernt, doch dieser Teil war ein wenig ruhiger, wenn ich ihn auch nicht als abgeschieden bezeichnet hätte. Wir nahmen an dem kleinen Tisch mit weißem Tischtuch Platz. Er stand so dicht am nächsten Tisch, dass dazwischen kaum Luft blieb.

„Das ist ein lebhaftes Restaurant“, bemerkte ich.

„Ist es nicht wunderbar?“ Sie sah George ernst an. „Ich bezweifle, dass das hier die Art von Menschen oder die Umgebung ist, die du gewohnt bist, doch viele meiner Freunde kommen hierher. Sie interessieren sich nicht für Gesellschaftsschichten, sondern für Kunst.“

George zog eine Augenbraue hoch. „Vermittle ich dir den Eindruck, dass ich es bevorzugen würde, woanders zu sein? Oder nimmst du einfach an, ich sei ein Snob?“

Lady Julia stieß ein helles Lachen aus. „Deshalb bist du mein Lieblingsneffe. Niemand sonst in der Familie würde das so direkt aussprechen.“ Sie tätschelte meine Hand. „Dein George ist wirklich ein Prachtexemplar, ich hoffe, das ist dir bewusst?“

„Das ist es voll und ganz.“ Ich hätte weiter ausgeholt, doch ich verstummte, als sie die Arme verschränkte und mich musterte.

„Es gab einen Moment vor deiner ersten Ehe, da dachte ich, ihr zwei würdet ein gutes Paar abgeben.“

Ich lächelte höflich. „Ach wirklich?“

„Ja, aber dann verwarf ich den Gedanken. Du wirktest auf mich einen Hauch zu fromm.“

Ich starrte die Frau an. „Zu fromm?“

Sie griff nach ihrem Glas. „Ich könnte mich geirrt haben oder vielleicht ist es nicht mehr der Fall“, sagte sie. „Falls ja, dann bin ich froh darum. Es tut George nicht gut, wenn er immer seinen Willen bekommt.“

„Hin und wieder wäre nett“, warf George ein.

Der Kellner kam, um unsere Bestellung aufzunehmen, wodurch ich einen Moment Zeit hatte, um mir zu überlegen, ob ich beleidigt sein sollte. Damals hatte ich meine Mutter ziemlich kleinlaut Entscheidungen für mich treffen lassen. Ich konnte Lady Julia keinen Vorwurf daraus machen, dass sie glaubte, ich wäre so geblieben. Und ich musste ihr zustimmen, dass es George nicht guttun würde, wenn es immer nach ihm ginge.

Der Kellner ging mit unserer Bestellung und der Anweisung, eine weitere Flasche Champagner zu bringen. Ich leerte mein Glas und versuchte mich daran zu erinnern, worüber wir gesprochen hatten, ehe George, das Prachtexemplar, und meine Frommheit Thema wurden. Ach ja, dieses Restaurant. „Ich für meinen Teil mag es hier. Es fühlt sich für mich nach Paris an. Seit unserer Ankunft kommt mir die Stadt wie unter Strom stehend vor. Hier spüre ich es auch. Ist dies das Café aus Monsieur Renoirs Gemälde? Ich habe es in einem Museum vor gut zehn Jahren gesehen. Ich erinnere mich nicht an den Namen des Gemäldes, doch es ist mir in Erinnerung geblieben.“

„Es heißt Bal du moulin de la Galette“, sagte sie und ihre Augen funkelten amüsiert. „Und du hast recht. Es ist das Café. Doch Renoir hat es von dort drüben bei den Tänzern gemalt.“

Ich blickte in die Richtung, in die sie nickte. „Du hast recht! Ich muss mir das Gemälde noch einmal ansehen, jetzt wo ich das Original gesehen habe. Doch selbst aus dem Kopf weiß ich, dass er die Essenz des Cafés eingefangen hat.“

Alle drei blickten wir auf, als ein Schatten über unseren Tisch fiel. Ein großer Mann mit rostrotem Haar, Augenbrauen und Bart stand neben Lady Julias Stuhl. Er zog seinen Hut und sah sie ernst an.

„Bonsoir, Edouard“, sagte sie. „Du warst heute nicht im Atelier.“

„Ich wusste nicht, dass du dort warst“, antwortete er mit tiefer Stimme und charmantem Akzent. Nachdem sie ihn begrüßt hatte, war Julia ins Englische gewechselt und er hatte es ihr gleichgetan.

Julia stellte uns Edouard Legrand vor, ihren Freund und Vermieter. „Du solltest dich zu uns setzen“, sagte sie und wandte sich an George. „Sieh mich nicht so an. Wir bereden heute nichts Geschäftliches. Nicht an einem so schönen Abend und wenn ich mich gerade erst wieder mit deiner bezaubernden Braut vertraut mache. Morgen ist noch genug Zeit dafür.“

George sah überrascht aus, nickte aber zustimmend. „Wenn du es so wünschst, Tante Julia. Ich bin gewillt, die Angelegenheit bis morgen ruhen zu lassen.“

Ich sah in Julias Stirnrunzeln, dass sie seine Worte genauso aufgefasst hatte wie ich – als Warnung. Sie würden die Angelegenheit morgen bereden. Schließlich war das der Grund, wieso wir nach Paris gereist waren. Trotzdem war ich damit zufrieden, den Abend einfach zu genießen.

Monsieur Legrand protestierte, er könne nicht zum Abendessen bleiben, doch der Kellner hatte gerade unseren Champagner gebracht, und er blieb gern auf ein Glas. Während George einschenkte, schob Legrand einen Stuhl zwischen Lady Julia und mich. Sie ergriff seine Hand und sagte, „Frances hat mir gerade erzählt, dass Renoir ihr gefällt.“

Er gab einen spöttischen Ton von sich. „Alle mögen Renoir – inzwischen.“

„Nun, aber das ist es. Frances mochte ihn auch schon vor zehn Jahren.“

„Vor zehn Jahren gewannen die Impressionisten an Beliebtheit. Vor zwanzig Jahren waren sie Ausgestoßene. Erzähl mir, dass sie sie vor zwanzig Jahren mochte, dann bin ich beeindruckt.“

Julia lehnte sich vor und legte die Hände auf den Tisch. „Das solltest du auch sein. Vor zwanzig Jahren war Frances ein Kind. Ich bezweifle, dass sie eine Meinung von Renoir oder einem anderen Künstler hatte. Doch als sie die Arbeit deines Mentors sah, fand sie, dass er die Essenz des Cafés eingefangen hat.“

Er musterte mich mit einem Anflug eines Lächelns auf den Lippen. „Genau das war seine Absicht“, sagte er. „Es ist, was wir alle hoffen zu vollbringen – einen Moment einzufangen.“

George reichte ihm ein Glas Champagner und er sprach weiter über seine Arbeit. Die Räumlichkeiten, die Lady Julia von ihm angemietet hatte, waren offenbar Teil eines Ateliers, das sie sich mit anderen Künstlern hier in Montmartre teilten. „Keiner von uns hat bisher öffentliches Ansehen erlangt“, sagte er. „Nun, außer Paul.“ Er sah Julia an, bis sie seinen Blick erwiderte. „Falls ich es versäumt habe, es zu sagen, dann tut mir dein Verlust sehr leid.“

Mit einem Nicken drückte sie seine Hand und nahm sein Beileid an. Interessant, dass er den Tod des Künstlers als ihren Verlust betrachtete.

Als Julia wieder nach ihrem Weinglas griff, bemerkte ich, dass Legrand seine nun leere Hand betrachtete und dann sie, während sie mit George sprach. Er bewunderte sie ganz offensichtlich. Ich fragte mich, ob sie ihn zurückgewiesen oder sein Interesse nicht bemerkt hatte.

Um ihn abzulenken, fragte ich Monsieur Legrand nach seiner Arbeit.

„Ich zeige sie Ihnen gerne, wenn Sie ins Atelier kommen, aber erwarten Sie nicht zu viel“, warnte er mich. „Wie ich schon sagte, Paul war dem Rest von uns weit voraus.“

„Wie viele Künstler teilen sich das Atelier?“

„Im Moment sind wir vier. Nun, jetzt drei. Ich weiß nicht, ob wir Pauls Platz nachbesetzen werden. Wir sind alle so gute Freunde geworden, es wäre schwierig, jemand anderen zu finden, der zu uns passt.“

„Freunde“, sagte Lady Julia in spöttischem Tonfall. „Wir sind eher eine Familie, wie Geschwister.“

Legrands Blick verriet, dass er sich nach einer sehr viel engeren Beziehung sehnte. Wenn Julia seine Gefühle nicht erwiderte – gemessen daran, wie sie errötete und sich abwendete, tat sie das nicht –, verstand ich nicht, wie sie es schafften, sich Tag für Tag ein Atelier zu teilen. Er riss den Blick von ihr los und stand auf. „So ist es“, sagte er monoton. „Nun muss ich aufbrechen und dich deiner anderen Familie überlassen.“ Er nickte George und mir zu und küsste Lady Julias Hand. „Kommen Sie irgendwann im Atelier vorbei“, sagte er zu mir, ehe er davonging.

„Er hat recht. Du musst mich im Atelier besuchen kommen. Und glaub Edouard nicht. Seine Arbeit ist wundervoll. Er erwartet nur zu viel von sich.“ Sie seufzte. „Er ist nie zufrieden.“

Er sah ernst aus, aber war er generell unglücklich oder nur unglücklich verliebt?

George lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Erzähl mir von diesem Atelier. Kannst du in deinem Zuhause nicht malen?“

Julia nahm einen Schluck, bevor sie antwortete. „Es liegt nicht daran, dass einer der Orte zum Malen geeigneter ist. Ich male an beiden.“ Sie wandte sich an mich. „Ich habe ein hübsches Atelier auf dem Land, doch in Paris sind die Meister.“ Sie gab ein Seufzen von sich. „Ich tue immer noch kaum mehr als Renoir und Monet nachzuahmen, aber ich entwickle meinen eigenen Stil. Es ist enorm hilfreich, andere Künstler um sich zu haben, die auch an ihrem Stil arbeiten. Man fühlt sich weniger einsam.“

Sie zuckte zusammen, als es direkt hinter uns krachte. Jemand war frontal mit einem Kellner zusammengestoßen. Ohne eine Chance auszuweichen, flog sein Tablett im Bogen, und die Gläser landeten auf dem Boden. Darauf folgte eine Reihe verärgerter Worte auf französisch. Es dauerte nur einen Augenblick, bis jemand aus der Küche auftauchte, die Dinge wieder ins Lot brachte und das Chaos beseitigen ließ.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder unserem Tisch zu, und es überraschte mich, dass Lady Julia aufgesprungen war und an Georges Stuhl lehnte. Mit gesenktem Kopf atmete sie schwer, als müsse sie sich von einem Schreck erholen.

George stand auf und führte sie am Arm zurück zu ihrem Platz. Sie winkte ab und setzte sich. „Es geht mir gut“, sagte sie. „Vielleicht bloß etwas nervös, mehr nicht.“

„Wegen Ducasses Tod?“, fragte George.

„Nicht jetzt“, sagte sie und blickte sich um. Bei all dem Lärm der Speisenden hatte sie Sorge, dass jemand George hörte? Sie legte ihm die Hand auf den Arm. „Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt oder Ort für die Unterhaltung. Wir bleiben bei weniger bedrückenden Themen, wenn es recht ist.“

„Ich war überrascht zu hören, dass du einen Wohnsitz außerhalb von Paris hast“, sagte ich. „Kommst du jeden Tag in die Stadt?“

„Chartres ist bloß eine Zugstunde von Paris entfernt, daher könnte ich das wohl, nehme ich an, aber wenn ich herkomme, bleibe ich immer für einige Tage. Ich habe ein kleines Quartier über dem Atelier. Es ist kaum mehr als ein Ort zum Schlafen, aber wenn ich hier sein muss, ist das nützlich.“

„Es klingt, als wäre alles, was du brauchst in Paris“, meinte George. „Warum verkaufst du nicht dein Haus auf dem Land und wohnst hier?“

Sie lachte in sich hinein. „Das könnte ich tun, doch wie würde ich dann wohnen?“ Sie lehnte sich zu ihm vor. „Ob du es glaubst oder nicht, die Leute stehen nicht Schlange, um meine Bilder zu kaufen. Die finanzielle Unterstützung deines Bruders ist großzügig, doch nicht einmal ich kann davon all meine Ausgaben decken. Wohnungen in Paris sind teuer und meine Unterkunft über dem Atelier ist viel zu klein für … meine Bedürfnisse. Außerdem habe ich langsam Einkünfte mit der Parfümerie.“

„Du besitzt eine Parfümerie?“, fragte ich.

„Richtig“, sagte George. „Damit hast du gerade angefangen, als ich dich zuletzt gesehen habe. Wie läuft das Geschäft?“

„Es kommt auf die Beine“, sagte sie und sah mich an. „Du kennst die Geschichte ja gar nicht. Ich habe das maison in Chartres fast sofort gekauft, als ich vor fast acht Jahren angekommen bin. Es gehört Land zum Bewirtschaften dazu, doch ich verstand nichts von der Landwirtschaft, also habe ich es einem Nachbarn verpachtet. Es gehört auch eine Scheune dazu. Eine Freundin von mir ist eine hervorragende Gärtnerin. Sie zieht ihre eigenen Blumen und duftenden Gewürze, und sie und ich haben die Scheune in eine Parfümerie umgebaut. Wir haben vor mehreren Jahren angefangen.“

„Mehreren Jahren?“, wiederholte George.

„Ja, es dauerte eine Weile, einen Duft zu entwickeln, der vermarktbar war. Dann braucht man eine Flasche, die ins Auge fällt, und das Wichtigste – jemanden, der sie für mich verkauft.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Das dauert alles. Es ist ein kleiner Betrieb, aber ich kann stolz sagen, dass wir Gewinn machen.“

Sie sah tatsächlich stolz aus, und das mit recht. Als ich sie vor zehn Jahren kennenlernte, hatte Georges Tante Julia nett und still gewirkt. Ich hatte sie damals recht gern gemocht, doch ich vergötterte die Frau, die sie heute war. Trotz ihres blauen Blutes sprach sie über ihr Unternehmen wie mein Vater oder sogar Tante Hetty. Sie war eine freigeistige Künstlerin und eine unabhängige Frau, und ich konnte nicht anders, als sie zu bewundern.

George ging es offensichtlich wie mir. „Du erstaunst mich immer wieder, Tante Julia. Und du beeindruckst mich. Frances und du habt das gemeinsam.“

„Wie nett von dir, dass du das sagst“, sprachen Julia und ich wie im Chor und lachten dann.

Sie legte ihre Hand auf Georges. „In meiner Erinnerung hattest du nicht immer ein solches Vertrauen in meine Fähigkeiten – nicht als ich damit angefangen habe.“

„Du hast mir wichtige Informationen vorenthalten“, warf er ein. „Du hast nie erwähnt, dass du ein Unternehmen gründen würdest, als du den Hof und das Haus gekauft hast. Hättest du meinen Rat in der Angelegenheit gewollt, glaube ich, hättest du mir alle Fakten liefern müssen.“

Der Kellner brachte den ersten Gang, was Julia die Antwort ersparte. Sie bestellte jedoch eine weitere Flasche Wein. Als der Kellner fort war, fingen wir mit unseren Vorspeisen an, und ich wagte es, einen Kommentar zu machen. „Mir scheint, George tendiert auch dazu, Informationen vorzuenthalten. Mindestens eins seiner Geschwister glaubt, du würdest die Welt bereisen.“ Ich hoffte, ich hatte keine Grenze überschritten, doch es schien mir ihrer Nichte und Neffen gegenüber geradezu gemein. „Fiona beispielsweise hat keine Ahnung, dass du in Paris sesshaft bist.“

Julia lächelte traurig. „Ich vermisse sie, aber die Geheimnistuerei war notwendig, zumindest bis jetzt. Das könnte sich ändern.“ Sie tätschelte Georges Hand. „Auch das bereden wir morgen. Genau wie mein Unternehmen.“

George runzelte die Stirn. „Wir sind jetzt hier. Was stimmt denn jetzt nicht?“

Sie legte die Gabel ab und hob das Glas. „Ich habe vielleicht überreagiert, als ich dich um Hilfe bat. Ich brauche etwas Zeit, um mich zu entscheiden.“ Sie senkte die Stimme. „Was Ducasse anbelangt. Die Beerdigung ist morgen Vormittag. Ich brauche mindestens bis dahin, um alles gedanklich zu ordnen.“

„Könntest du dich noch etwas kryptischer ausdrücken, Tante Julia? Eventuell habe ich ein oder zwei Wörter von dem, was du gesagt hast, verstanden.“

Sie lachte leise. „Ich muss noch etwas länger die mysteriöse Frau spielen. Vielleicht begleitest du mich morgen zur Beerdigung? Ich werde dann entscheiden, ob ich“ – sie lehnte sich vor und flüsterte die nächsten zwei Worte – „investigative Unterstützung benötige oder nicht.“

Sie war wirklich mysteriös.

„Du hättest doch nichts dagegen“, fragte sie mich, „wenn ich meinen Neffen ein paar Stunden ausborge?“

Ich stimmte ihr zu, dass ich keinerlei Einwände hatte.

„Hervorragend“, sagte sie. „Jetzt konzentrieren wir uns auf Vergnügen und Freude. Ich will sichergehen, dass ihr in Paris richtig willkommen geheißen werdet –“ Sie sprach den Satz nicht zu Ende, als sie jemanden in der Menge erblickte. Eine Frau in etwa meinem Alter stand einige Meter entfernt. Sie sah ein wenig wie ein verwahrlostes Kind aus, ihre hellbraunen Locken rahmten ihr bleiches Gesicht mit den großen dunklen Augen. Sie trug schwarz von Kopf bis Fuß und sah Julia an, als überlegte sie, ob sie sich nähern sollte oder nicht.

„Martine!“ Julia lächelte der jüngeren Frau zu. „Ich habe dich heute Nachmittag vermisst“, sagte sie auf Französisch. „Magst du dich zu uns gesellen?“

Die Mundwinkel ihrer zusammengepressten Lippen zuckten etwas hoch. „Nein“, sagte sie, ihre Stimme überraschend hoch. „Ich will nicht stören. Ich habe mich jedoch gefragt, ob du etwas von Pauls Beerdigung gehört hast?“ Martine rieb sich den Nacken, fast so, als wolle sie sich selbst beruhigen.

„Morgen Vormittag“, antwortete Julia. „Saint Sulpice.“

„Eine große oder kleine Veranstaltung?“

„Das werden wir abwarten müssen. Ich vermute, Lucien wird etwas Öffentliches und Auffälliges wollen. Gabrielle will es privat halten. Schwer zu sagen, wer den Kampf gewinnen wird.“

Martine verengte die Augen. „Hast du es ihr schon gesagt?“

Julia verkrampfte sich und Martine schüttelte den Kopf. „Wie ich sehe, nicht. Arme Lissette. Sie wird dir nicht danken, dass du sie im Dunkeln gelassen hast.“

Ich bemerkte, wie Julia ihre Stimme anpasste, während sie mit ihrer Bekannten sprach, und einen ruhigen, fast besänftigenden Tonfall wählte. Nach Martines letztem Kommentar wurde ihre Stimme kühl. „Wieso nur sind sich alle so sicher, sie wüssten besser als ich, wie ich mein Leben zu leben habe?“

Die jüngere Frau schien, als wollte sie etwas erwidern, doch Julia kam ihr zuvor. „Es ist nicht deine Angelegenheit, Martine. Ich kümmere mich darum, wann ich es für richtig halte.“

„Du tust also gar nichts.“ Martine beäugte George und mich stirnrunzelnd. „Ich werde dich nicht weiter stören“, sagte sie, ehe sie zum Ausgang des Restaurants ging und in der Menge verschwand.

„Zu spät“, murmelte George und sah seine Tante an. „Wer war das?“

Julia schob ihren Teller von sich und schenkte sich mehr Champagner ein. „Jemand aus dem Atelier.“

Er zog eine Augenbraue hoch. „Jemand aus der Familie, ja? Muss das schwarze Schaf sein.“

„Urteile nicht“, sagte sie und nahm einen Schluck. „Ihr Weg ist nicht leicht gewesen. Sie stand Paul sehr nahe. Der Verlust schmerzt sie.“

„Der Mann hatte eine Ehefrau“, sagte George. „Vielleicht hätte er einer jungen Frau wie ihr nicht so nahestehen sollen.“ Ich wusste, dass George sich zurückhielt und dringend fragen wollte, wie nah Julia und Paul einander gestanden hatten und ob das lange oder noch gar nicht lange her war.

Julia schnalzte mit der Zunge. „Du solltest Gabrielle kennenlernen.“

„Das haben wir“, gab George zurück. „Und zwar gestern Abend bei einer Veranstaltung, die eine Hommage an Paul Ducasse sein sollte.“

Julia hatte das Kinn auf den Knöcheln ihrer verschränkten Hände abgelegt. Auf Georges Aussage hin riss sie den Kopf hoch. „Nein!“, rief sie mit gedämpfter Stimme aus. „Du musst mir alles erzählen. Ich nehme an, Lucien war auch anwesend? Wie kommt es, dass ihr dort wart?“

George erklärte, wie wir Monsieur Allard auf dem Dampfer getroffen hatten, mit dem wir den Ärmelkanal überquerten, und wie das zu der Einladung geführt hatte.

Julias Augen weiteten sich und sie schnaubte einige Male, doch sie sagte nichts, bis der Kellner mit der bestellten Flasche Wein kam. „Unglaublich“, sagte sie, kaum dass er fort war. „Nein, was sage ich denn da? Von Lucien glaube ich es schon, aber für Gabrielle ist es absolut untypisch. Ich kann mir nicht ausmalen, wie er sie dazu überredet hat, doch nun können wir uns sicher sein, dass die Beerdigung eine sehr private Angelegenheit wird. Ein Jammer, dass ich von dieser Hommage nicht wusste, als Martine gefragt hat.“

Kopfschüttelnd nahm sie ihre Gabel und aß weiter, woraufhin George und ich einander ansahen und uns abgehängt fühlten. Julias Worte waren so nüchtern, dass ich von meiner Annahme, sie sei in Ducasse verliebt gewesen, nicht mehr so überzeugt war.

„Meine liebe Tante“, setzte George an, „ich hatte den Eindruck, dass der Tod von Monsieur Ducasse dir großen Kummer bereite und ich die Einzelheiten erforschen solle. Glaubst du, es handelt sich um Fremdeinwirkung?“

Julia brachte ihn zum Schweigen und blickte sich um. „Ich habe dir gesagt, wir bereden die Angelegenheit heute nicht.“

George sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Also gut.“

Sie senkte die Gabel und sah George an. „Besuch mich morgen früh im Atelier, und wir besprechen meine kleinen Probleme, ehe wir zur Beerdigung gehen. Danach können wir Frances treffen und weiter zur Weltausstellung gehen. Bis dahin sprich nicht von Fremdeinwirkung bezüglich Paul Ducasse. Solches Gerede könnte uns alle in Schwierigkeiten bringen.“

Kapitel 5

Nach dem Abendessen schickte Lady Julia uns fort, ohne Paul Ducasse weiter zu erwähnen. Es war gegen zehn Uhr, und die engen Straßen waren voller Feiernder, die tanzen, essen und trinken gingen. Da George am Morgen auf eine Beerdigung gehen würde, suchten wir uns eine Droschke, die uns nach Hause brachte. In der Ferne erhaschten wir einen kurzen Blick auf den erhellten Eiffelturm, als wir uns der Wohnung näherten.

Ich klingelte nach dem Concierge, während George die Fahrt bezahlte. Dann warteten wir einige Minuten, bis George wieder nach der Klingel griff, doch er hielt inne, als jemand „Wer ist da?“ aus der Loge des Concierge rief. Selbst nachdem wir uns ausgewiesen hatten, brauchte der ältere Herr eine Ewigkeit, um herauszukommen und das Tor zu öffnen. Dann grummelte er etwas darüber, dass die Bewohner die ganze Nacht kamen und gingen und seinen Schlaf störten.

„Unverschämter Kerl“, murmelte George, doch ich sah, wie er dem Mann einige Münzen reichte.

In der Wohnung und auf unserem Zimmer angelangt, klingelte ich nach Bridget, die mit einem Tablett mit heißer Schokolade hereinkam. Sie half mir aus meiner Abendgarderobe in ein Nachthemd, dann ging sie nach unten in ihr eigenes Bett.

George war hinter eine Trennwand getreten, um seine Kleidung selbst zu wechseln, und nun machte er sich an der heißen Schokolade zu schaffen.

„Kippst du da Whisky rein?“, fragte ich.

Er drehte sich um und reichte mir eine Tasse. „Bloß einen Schluck“, sagte er. „Das gibt der Schokolade etwas mehr Biss.“

Wir nahmen unsere Tassen und setzten uns an beide Enden des Sofas, so wie letzte Nacht, die Beine in der Mitte verschränkt. Ich nahm einen Schluck von der bitteren Schokolade. „Lady Julia ist mir ein Rätsel“, sagte ich.

George gab ein Prusten von sich. „Wie du selbst gesehen hast, ist sie nicht besonders entgegenkommend mit Informationen. Sie ist immer ihrem eigenen Rat gefolgt. Deshalb“, sagte er und sah mich durchdringend an, „wissen Fiona und meine Brüder nicht, dass sie hier lebt. Es war nicht meine Entscheidung, sie in Unkenntnis zu lassen.“

„Zu dem Schluss bin ich gekommen, als sie sich weigerte, heute etwas mit dir zu bereden, und ausdrücklich darum gebeten hat, dass du mich morgen nicht mitbringst. Glaubst du ihr Widerstreben lag an meiner Anwesenheit?“

„Vielleicht“, antwortete er. „Ich hatte dich gewarnt.“

„Ja, ja, ich weiß. Sie hat ein Anrecht auf Privatsphäre, und es käme mir nicht in den Sinn, das zu missachten, doch ich hoffe, sie ändert ihre Meinung darüber, ihre Familie an ihrem Leben teilhaben zu lassen. Ich weiß nicht, wie es um deine Brüder steht, doch Fiona würde ihre Tante liebend gerne wiedersehen.“

„Ich spreche morgen mit ihr darüber.“

***

Der Morgen brach viel zu bald an. George war früh aufgestanden und weckte mich, kurz bevor er zu seinem Treffen mit Lady Julia aufbrach.

„Hast du eine Idee, wie lange du fort sein wirst?“, fragte ich und rieb mir müde die Augen.

„Nicht wirklich“, antwortete er. „Ich hoffe, wir können unsere Unterhaltung über die Ermittlung führen, bevor wir zur Beerdigung gehen. Sie könnte jemanden im Verdacht haben, der auch anwesend sein wird. Das würde mir die Gelegenheit bieten, die Person zu beobachten und vielleicht einige Fragen zu stellen. Da Tante Julia mit uns zur Weltausstellung gehen will, können wir danach herkommen und dich abholen.“

„Aber das ist noch Stunden hin. Ich will nicht drinnen festsitzen, wenn ich draußen Sehenswürdigkeiten anschauen kann. Warum treffen wir uns nicht stattdessen an der Fontaine de Mers? So kann ich einen Spaziergang machen. Und es ist direkt am Eingang der Weltausstellung.“

„Vielleicht musst du lange warten.“

„Warten macht mir nichts aus. Ich will es bloß nicht in dieser Wohnung tun müssen.“

Er willigte ein, da er es eilig hatte. Beim Gehen begegnete er Bridget, die mit einem Tablett mit Kaffee und Croissants das Zimmer betrat. Ich nahm das Frühstück mit zum schmalen Tisch auf unserem Balkon. Während sich unten auf der Straße Besucher und Pariser gleichermaßen tummelten, schloss ich die Augen und genoss den Kaffee – schwarz, vollmundig und belebend. Nach nur einer Tasse war ich bereit, mich vom Stuhl zu erheben und meinen Tag zu beginnen.

Bridget brauchte nicht lange, um mich für einen morgendlichen Spaziergang anzukleiden. Ein blau-grau gestreifter Rock aus Seide, dazu eine blaue Jacke und eine weiße Hemdbluse. Es war ein älteres Ensemble, aber es passte wunderbar zu meinem neuen Hut, der über ein Auge reichte und mit blauen und grauen Federn besetzt war. Ich sah richtig schick aus – perfekt für Paris. Ich zog ein Paar graue Handschuhe an und nahm einen Spitzen-Sonnenschirm mit, als ich mich aufmachte.

Der Weg zur Rue de Rivoli war kurz, und auf dem Weg zum Tuilerien-Garten kam ich an Geschäften vorbei, die Fotografien, Bücher und anderen Schnickschnack verkauften. Der Brunnen, an dem ich George und seine Tante treffen sollte, befand sich westlich des Gartens auf der Place de la Concorde – wo früher Madame Guillotine stand, war heute ein öffentlicher Platz. Er war nicht weit entfernt, und so konnte ich mir Zeit lassen und auf dem Weg dorthin die schattigen Gehwege entlangschlendern.

Der Garten war weitläufig, mit Statuen, Teichen und natürlich den berühmten Rosskastanien, die die Grande Allée säumten. Sie spendeten willkommenen Schatten, als ich die schmalen Wege entlangschlenderte, versperrten aber auch die Sicht auf die Umgebung. Vermutlich sah ich deshalb Lady Julias Freunde Edouard und Martine nicht, die sich auf einer Bank an einem der schmalen Wege unterhielten, bis ich an ihnen vorbeiging. Ich hätte sie gar nicht bemerkt, wenn Martine nicht mit ihrer hohen Stimme geschrien hätte. Ich verstand die Worte nicht ganz, aber das Geräusch erregte meine Aufmerksamkeit, als ich vorbeiging.

Edouard stand auf, die Hände zu Fäusten geballt, als er ihr antwortete. Seine Stimme war zu leise, als dass ich ihn hätte verstehen können. Ich zögerte einen Moment und überlegte, ob ich mich näher heranwagen sollte, obwohl ich eigentlich keinen Grund hatte, sie zu belauschen. Bevor ich weitergehen konnte, trat eine ältere Frau neben mich. „Sicherlich ein Streit zwischen Liebenden“, sagte sie auf Französisch. „Wir sollten lieber weitergehen.“

Da sie kaum langsamer ging, um mit mir zu sprechen, nahm ich an, dass sie mir taktvoll mitteilte, ich solle besser weitergehen, und sie hatte Recht. Obwohl es so aussah, als ob Julias neu gefundene Familie untereinander zerstritten war, ging mich das nichts an. Um ehrlich zu sein, erinnerten sie mich sehr stark an meine eigene Familie.

Ich erreichte die Fontaine des Mers noch vor dem Mittag und war überrascht, dass George und seine Tante bereits auf mich warteten – nun ja, Julia war in ein angeregtes Gespräch mit zwei gut gekleideten Frauen verwickelt, aber George beobachtete mich. Er hob die Hand zum Gruß, als ich ihn sah, aber er wirkte verstimmt. Vielleicht war ihr Treffen nicht gut verlaufen.

„Ärger?“, fragte ich, als ich dicht genug war, um mich über das Plätschern des Brunnens zu unterhalten.

„Ich weiß es nicht“, sagte er. „Jetzt wo wir in Paris sind, ist meine Tante nicht mehr so sicher, ob wir uns in Monsieur Ducasses Mordfall noch einmischen sollten.“

„Interessant. Sie klang gestern, als hätte sie es sich anders überlegt.“

„In der Tat, doch nun hat sie sogar eingeräumt, dass sein Tod möglicherweise ein Unfall war.“ Er sah zu Julia, die sich noch immer einige Meter entfernt unterhielt, und dann wieder zu mir. „Wir könnten unter falschem Vorwand hergelockt worden sein.“

Ich schnaubte empört. „Was für eine Unverschämtheit! Wie kann sie es wagen, uns so auszunutzen?“

„Sehr lustig“, brummte George.

„Wie kannst du dich darüber beschweren, in Paris zu sein, ganz egal aus welchem Grund?“ Ich deutete zum Eingang der Weltausstellung. „Es ist noch besser, wenn wir in keinem Mordfall ermitteln, vor allem in all dieser Aufregung.“

„Ja, ja. Ich mag es nur einfach nicht, in die Irre geführt zu werden – wenn es das ist, was sie tut. Und ich weiß nicht, ob es so ist, was mir Sorgen bereitet.“

„Das verstehe ich“, sagte ich. „Aber sie könnte sich ihrer Theorie unsicher sein und skeptisch, sie dir darzulegen. Oder glaubst du, die ganze Geschichte ist eine List, um dich herzulocken? Sie hat einen Freund verloren, und vielleicht wollte sie einfach gern einen geliebten Menschen an ihrer Seite haben. Ihre sogenannte Familie hier in Paris mag nicht ausreichen. Das könnte ich verstehen.“

„Beides ist möglich, doch ich glaube, Ersteres ist wahrscheinlicher. Ihr Anwalt war heute Morgen bei uns. Ich weiß zu schätzen, dass sie eine Mordermittlung nicht erwähnt, während er anwesend ist, doch kaum war er fort, sind wir zur Beerdigung aufgebrochen. Wir sind zum Gottesdienst geblieben und haben der Witwe unser Beileid ausgesprochen, dann drängte sie mich, dich hier zu treffen. Ich konnte sie nicht dazu bringen, mir etwas zu erzählen.“

„Wie du sagtest, sie folgt ihrem eigenen Rat.“

„Warum hat sie mich dann überhaupt hergebeten?“

Ich nahm an, dass das eine rhetorische Frage war. „Sag, wie haben sie und Madame Ducasse sich einander gegenüber verhalten?“

„Vollkommen freundlich.“

Während wir miteinander sprachen, beobachteten wir den Gegenstand unserer Unterhaltung.

Vielleicht spürte sie das Gewicht unserer Aufmerksamkeit, denn sie drehte sich um und verabschiedete sich von ihren Begleitern, als sie mich erblickte, und gesellte sich zu uns.

„Frances!“ Julia ergriff meine Schultern und hauchte Küsschen auf meine Wangen. „Jetzt wo du da bist, können wir aufbrechen.“ Sie fand sich zwischen George und mir ein, hakte sich bei uns unter und führte uns über den Platz.

Der Haupteingang der Ausstellung ragte schon die ganze Zeit über uns empor, während wir am Brunnen standen. Das riesige Gebäude hatte die Form eines Turbans mit einer schmuckvollen Verzierung an der Spitze.

Wir mischten uns unter die Besucherschar, zeigten unsere Eintrittskarten und gelangten überraschend schnell durch das Tor.

Lady Julia führte uns zielstrebig an zwei prächtigen Gebäuden vorbei und eine breite Straße hinunter in Richtung Seine. „Das Gelände ist weitläufig“, sagte sie, „aber man kann alles vom Eiffelturm aus sehen. Wir sollten zuerst dorthin gehen.“

„Ist der nicht auf der anderen Seite des Flusses?“, fragte ich.

„Keine Sorge, meine Liebe“, rief Julia über die Schulter, als sie vorlief. „Auf dem Fluss gibt es Dampfer, die entlang der Ausstellung mehrfach Halt machen. Es gibt einen Halt direkt am Eiffelturm und einen weiteren hier an der neuen Brücke. Siehst du? Die Brücke ist selbst ein Kunstwerk.“

Wir liefen die Stufen zum Ufer hinunter und stellten uns in die Schlange für einen der Dampfer, die ähnlich wie Omnibusse auf dem Fluss funktionierten. „Ich habe heute Morgen etwas ziemlich Beeindruckendes über dich erfahren“, sagte Julia, während wir warteten, an Bord zu gehen. „George erzählte mir, ihr habt zusammen ermittelt, und dass du genauso gut bist wie er.“

„Hat er das wirklich gesagt?“ Ich strahlte George an. „Ich glaube, das sagt mehr über ihn als über mich aus.“

Sie sah mich neugierig an.

„Viele Frauen könnten tun, was ich tue“, sagte ich. „Doch es braucht einen Mann von Charakter und mehr als durchschnittlichem Selbstbewusstsein, so etwas zuzugeben.“

„Ah, richtig. Ich weiß bereits seit vielen Jahren, dass George ein ganz außergewöhnlicher Mann ist.“

Der außergewöhnliche Mann seufzte schwer. „Ihr Damen lasst mich gleich noch erröten.“ Er half uns beiden an Bord, dann sprang er selbst herauf, als das Boot in Richtung Pont Alexandre III ablegte.

Ich nahm neben Julia Platz, George zu meiner anderen Seite.

Er nahm unsere Unterhaltung wieder auf. „Ich habe Tante Julia von unserer gemeinsamen Arbeit erzählt, in der Hoffnung, sie vertraut sich dir an, da sie mich nicht an sich heranlässt.“ Er sah Julia an, die ihn wiederum finster anstarrte. „Gibt es etwas, das du Frances über Ducasse erzählen willst? Oder vielleicht vom Einbruch in dein Quartier?“

Ich musste mich verhört haben. „Könntest du mir den letzten Teil erklären?“

George senkte die Stimme. „Jemand ist gestern in Tante Julias Wohnung eingebrochen, als sie mit uns aus war. Es wurde nichts gestohlen, oder zumindest gibt sie es mir gegenüber nicht zu, doch das Schloss an der Tür war aufgebrochen. Sie hat es heute morgen von einem Schlosser ersetzen lassen.“

„Hast du eine Idee, wer es gewesen sein könnte?“, fragte ich sie. „Hast du etwas Wertvolles dort aufbewahrt?“

„Glaubst du, es hatte etwas mit Paul Ducasse zu tun?“, ergänzte George.

Sie hielt die Hände abwehrend hoch. „Ja.“

Das ließ uns innehalten. George und ich wechselten einen Blick, bevor er weitersprach. „Ja zu was? Wir haben drei verschiedene Fragen gestellt.“

„Zu viele Fragen“, sagte sie. „Ich habe meine Meinung geändert. Ich will euch da nicht hineinziehen.“ Sie verschränkte die Finger, dann löste sie sie rasch wieder, als wolle sie die Unterhaltung beenden. „Lasst uns jetzt die Ausstellung genießen. Seht nur, wir bewegen uns, und ihr wollt den Blick auf die Brücke nicht verpassen.“

Julia hatte recht, es war ein beeindruckender Anblick. Die imposanten geflügelten Pferde aus Bronze und Gold, die an jeder Ecke der Brücke thronten, wurden durch die eleganten, geschwungenen Linien des Bauwerks und seine Verzierungen in Szene gesetzt.

Als wir auf der anderen Seite herauskamen, ließ ich den Blick über den Fluss schweifen. „Das ist einfach unglaublich!“ Gebäude in jeder Form und Größe säumten das Ufer vor uns auf beiden Seiten der Seine. Ich sah Zwiebelkuppeln, Kirchtürme und jede Art von architektonischer Form und Struktur, die man sich vorstellen konnte.

„Das ist die Straße der Nationen“, sagte Julia. „Großbritannien ist irgendwo dort vertreten, und sieh nur, da sind die Vereinigten Staaten. Deine Landsleute, Frances.“

Die Gebäude glänzten mit sagenhaft aufwändigen Fassaden. Es war kaum zu glauben, dass sie am Ende der Ausstellung alle abgerissen werden sollten. Aber nicht, bevor Millionen von Menschen sie gesehen hatten. „Ich habe monatelang über die Ausstellung gelesen“, sagte ich, „aber das ist nichts im Vergleich dazu, sie mit eigenen Augen zu sehen.“

„Es ist erstaunlich, nicht wahr?“, sagte Julia.

Während ich von dem Anblick völlig überwältigt war, ließ sich George nicht so einfach ablenken. Er beugte sich vor, und ich sah das Leuchten in seinen Augen, das mir verriet, dass er irgendeine Erkenntnis gehabt hatte.

„Der Einbruch hat etwas mit Ducasse zu tun, nicht wahr?“, fragte er.

Ich lehnte mich auf meinem Platz zurück, damit er an mir vorbei mit Julia reden konnte.

„Jemand weiß, dass du glaubst, er wurde ermordet.“ Er beobachtete sie eindringlich. „Oder vielleicht hast du anderen Leuten erzählt, wie du über die Sache denkst. Wer immer bei dir eingebrochen ist, könnte vorhaben, dich davon abzubringen, über Ducasse zu sprechen.“

Julia zuckte zurück, als wäre sie geschlagen worden.

George nahm ihre Reaktion als Antwort. „Das ist es. Kein Wunder, dass du uns nichts erzählen willst. Du willst unser Leben nicht in Gefahr bringen.“

Das Boot legte im Schatten des Eiffelturms an. Unsere Mitreisenden warfen uns neugierige Blicke zu, als sie an uns vorbei zum Ausgang drängten. Wir blieben sitzen.

„Du solltest deine Stimme senken, wenn du von Mord sprichst, George“, sagte ich.

„Was, wenn du gestern Abend zu Hause gewesen wärst?“, fragte er Julia, die Stimme leise und besorgt. „Der Einbrecher hätte dich töten können. Erlaub Frances und mir, uns darum zu kümmern. Wir kümmern uns um dich.“ Er sah zu den aussteigenden Passagieren, die an uns vorbeiströmten. Ich bin nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, dass du hier draußen die Sehenswürdigkeiten bewunderst, wenn jemand dein Leben bedroht.“

Sie winkte ab. „Genug davon. Du magst richtig liegen, was meine Sicherheit anbelangt, doch wenn ich aufhöre zu leben und mich verstecke, haben sie dann nicht bereits gewonnen?“

„Ich würde das Verstecken lieber als etwas vorübergehendes ansehen, damit du, nun, noch etwas länger lebst.“

„Glaubst du wirklich, jemand würde versuchen, ihr etwas in der Öffentlichkeit anzutun?“ Ich tätschelte George den Arm, als er mich finster ansah. „Ganz zu schweigen davon, dass wir beide bei ihr sind. Wie kann sie unter diesen Umständen in Gefahr sein?“ Ich drehte mich zu Julia um, die sehr selbstgefällig dreinblickte. „Aber wenn wir zu Paul Ducasses Tod ermitteln, dann sollten wir das schnell tun. Zeugen vergessen Dinge. Beweise könnten verloren gehen.“

„Und ich habe mich immer noch nicht entschieden, ob ihr ermitteln sollt.“ Sie stupste George an mir vorbei mit dem Finger gegen die Brust. „Glaub nicht, du kannst mir sagen, was ich zu tun habe. Die Zeiten sind vorbei. Gib mir einfach etwas Zeit, um zu entscheiden, wie ich dieses Problem handhabe.“ Sie stand auf und zog mich mit sich. „So, ich habe das Gelände einige Male besucht, wenn ihr also erlaubt, werde ich euch eine Führung geben.“

George blickte in den Himmel. „Natürlich“, sagte er und deutete auf den Steg. „So etwas wie eine kleine Mordermittlung darf der Kunst nicht im Wege stehen.“

„Und der Industrie“, erinnerte ihn Julia. „Außerdem kannst du ja morgen weitermachen mit deinen Ermittlungen.“

Wir gingen über den Steg zur Uferstraße, wo wir auf eine große Menschenmenge trafen. „Wir werden wohl mehrere Besuche einplanen müssen“, sagte George. „Es ist schon Mittag. Ich glaube nicht, dass wir heute mehr als diesen Turm erobern können. Ich habe aus der Ferne einen Blick auf die Warteschlange erhascht. Wir werden nicht so bald hinaufsteigen.“

Wir stiegen die Stufen vom Ufer zur Straße hinauf. „Hier entlang“, sagte Julia und wies uns den Weg um den imposanten Turm herum zur Avenue de Suffren. Wir schlenderten die Straße hinunter, bogen an der nächsten Ecke ab und erschraken beim Anblick einer riesigen Weltkugel in etwa dreihundert Metern Entfernung. Überall, wo wir hinsahen, waren Menschenmassen. Glücklicherweise hatte es niemand eilig, sodass wir uns einfach dem Fußgängerstrom anschlossen.

„Die Weltkugel ist beeindruckend, findest du nicht auch?“, meinte George.

Das war sie – und genau auf unserem Weg, gleich hinter einer Fußgängerbrücke.

„Sollen wir dichter herangehen?“, fragte Julia.

„Ich glaube, die Menge schiebt uns sowieso –“ Ich verstummte, als ich ein donnerndes Krachen hörte, gefolgt von Schreien des Entsetzens.

Etwa fünf Meter vor uns klaffte ein Loch in der Menge – es ging abwärts und schien, als würden die Leute in den Boden gesogen werden. Es dauerte einen Augenblick, bis ich erkannte, dass die Fußgängerbrücke kollabiert war. Diejenigen vor uns, die nicht gestürzt waren, drückten sich gegen uns zurück. Diejenigen, die hinter uns waren, konnten nicht sehen, was passiert war, und gingen weiter. Zwischen ihnen eingeklemmt, hatte ich das Gefühl, zerquetscht zu werden. Ich verlor George und Julia aus den Augen, während die Menge wie ein Bild in einem Kaleidoskop wogte und schwankte.

Ich weiß nicht, wie lange es dauerte. Obwohl die Leute um mich herum schrien, konnte ich kaum Luft holen und auch meine Arme nicht bewegen. Als sich der Strom wieder zurückbewegte, war ich ihm hilflos ausgeliefert. Meine Füße berührten nicht mehr das Pflaster, und Panik stieg in mir auf wie ein elektrischer Schlag. Ich fürchtete, dass ich zu Boden fallen und zertrampelt werden würde, wenn sich die gegen mich gedrängten Menschen bewegten.

Als dieser Gedanke aufkam, wich die Menge hinter mir zurück. In dem neu gewonnenen Raum begann ich rückwärts zu fallen und fuchtelte mit den Armen, bis eine Hand meine ergriff. Dann umschloss ein starker Arm meinen Rücken und zog mich auf die Beine.

Ein Schwindelgefühl überkam mich, als endlich Luft in meine Lunge drang. Als ich zu sinken begann, packte mich der Arm fester, und eine Männerstimme rief eindringlich nach mir. „Non, non. Allons!“ Schwankend lehnte ich mich an und ließ mich von ihm aus dem Getümmel zu einer Bank ziehen. Dort angekommen, legte er mich ab wie ein frisch gewaschenes Kleidungsstück.

„Wenn es Ihnen gut geht, Madame“, sagte er auf Französisch, „werde ich Sie hierlassen. Es gibt andere, die Hilfe brauchen.“

„Ja, natürlich.“ Ich stützte mich auf die Ellbogen und sah mich um. „Mein Mann und seine Tante sind noch da drin.“ Ich winkte mit der Hand in Richtung der Menschenmasse, obwohl ich sehen konnte, dass sich die Menge lichtete. Die Polizei rannte mit Trillerpfeifen herbei, und die, die konnten, halfen denjenigen, die mit den Trümmern der Brücke in die Tiefe gestürzt waren. Der strahlende Montagmorgen war nun nur noch Schutt und Staub.

Dankend schickte ich den Mann los und erhob mich von der Bank, erleichtert darüber, dass meine Beine noch in Ordnung waren. Bemerkenswerterweise hatte ich immer noch meinen kleinen Pompadour am Handgelenk, was erstaunlich war, obwohl ich ansonsten völlig ramponiert war. Wenigstens stand ich noch. Sofort folgte ich dem Beispiel meines Retters und machte mich auf den Weg zurück zu den Trümmern, um mich um die Verletzten zu kümmern, bis das eigentliche medizinische Personal übernehmen konnte.

Etwa eine halbe Stunde später war die Feuerwehr eingetroffen, die zusammen mit der Polizei die Verletzten zu den Krankenwagen brachte. Ich hatte gerade einer Frau zu einem behelfsmäßigen Erste-Hilfe-Bereich in einem trümmerfreien Teil des Rasens geholfen, als ich endlich George erblickte. Wie ich sah er mitgenommen und grau vor Staub aus, war aber ansonsten unversehrt. Für mich hatte er nie besser ausgesehen. Wir fielen uns in die Arme, und einen Moment lang dachte ich, alles sei gut. Wenn wir zusammen waren, würde alles gut werden.

Dann fiel mir Julia ein, und ich wich zurück. Er legte die Hände an mein Gesicht. „Bist du verletzt?“

„Nein, es geht mir gut.“ Ich musterte ihn, während ich sprach. „Dir auch?“

„Ja, aber ich habe meine Tante aus den Augen verloren.“

„Sie stand genau neben mir, als es losging.“ Ich sah zu der Stelle, wo wir vor kurzem noch gestanden hatten. Die Polizei hatte fast alle befreit. „Komm mit mir.“ Ich zeigte auf den vollen Erste-Hilfe-Bereich. „Wenn sie noch nicht ins Krankenhaus gebracht wurde, könnte sie dort sein“, sagte ich.

Wir überquerten den Teil des Wegs, der mit Trümmern übersät war: eine seltsame Mischung aus Kleidung und Hüten, Stahlstangen und Betonbrocken. Als wir zu dem behelfsmäßigen Erste-Hilfe-Bereich kamen, waren dort etwa ein Dutzend Menschen, die auf dem Gras saßen oder lagen. Ich erblickte lila Tüll und umklammerte Georges Arm. „Da ist sie. Ich kann ihren Hut sehen.“

Ich konnte spüren, wie ihn die Erleichterung durchströmte, als wir über die Straße eilten. Ein uniformierter Polizist stellte sich uns in den Weg und hob eine Hand, um uns aufzuhalten. „Ist hier jemand, den Sie kennen?“, fragte er auf Französisch und deutete auf drei Personen, die auf dem Rasen lagen. Mein Magen verkrampfte sich.

„Die Frau dort ist meine Tante.“ George deutete auf Julia. „Ist sie …?“

Der Polizist legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Es tut mir leid, Monsieur, Madame. Ihre Verwandte hat nicht überlebt.“