1
Er packte den Hals der offenen Flasche, zog sie sich auf die Brust und wiegte das kalte Glasgefäß hin und her. Er lauschte dem Schlaflied des Whiskys, der zum Hals der Flasche hinaufschwappte.
Einige Tropfen fielen auf sein Gesicht und er versuchte, sie mit der Zunge zu erreichen. „Hab ich dich“, flüsterte er kichernd, als er das köstliche Kribbeln auf seinen Lippen spürte. „Hier wird nichts verschwendet.“ Dann breiteten sich der subtile, blumige Duft und das leicht scharfe Raucharoma des achtzehn Jahre alten Glenmorangie in seinem Mund aus.
Süße Besinnungslosigkeit, komm mich holen.
Er drehte die Flasche auf den Kopf und hielt sie mit beiden Händen fest. Als er die Augen öffnete, konnte er kaum etwas sehen. Die Lampe war aus … oder? Glas kratzte über seine Zähne, es bebte und knirschte. Er würgte und drückte sich in die Kissen, während er hörte, wie die Tür zum Schlafabteil zuschlug und ihn im Inneren einsperrte. Die Tür. Ja, sie hatte sich geschlossen. Allein zu sein, war jetzt genau das richtige. Allein schweben.
Er hatte nicht genug Platz.
Konnte nicht husten.
Er würgte – bekam keine Luft.
Die Flasche war so schwer, dass er sie nicht hochheben konnte. Sie steckte tief in seinem Mund, in seinem Rachen. Sie war zu schwer, um sie wegzuschieben.
Er wand sich, um die Flasche packen zu können, doch dort traf er auf andere Hände. Diese Hand – die beiden Hände – schlugen seine fort.
Etwas krachte hinter seinen Zähnen. Lass mich los. Blut. Es schmeckt scharf, so scharf wie das Glas. Blut und Glas.
Er fand nichts, woran er sich hätte festhalten können.
Alex Duggins schnaubte und blinzelte angesichts des beißenden Gestanks, der ihr in der schwindenden Nachmittagssonne in die Nase stieg. Das war nicht der Rauch aus dem Schornstein irgendeines abgelegenen Hofes.
Die Scheibenwischer schoben Schnee über die Windschutzscheibe ihres Range Rovers und drückten ihn zu einer Schicht zusammen, die ihr die Sicht nahm. Alex lehnte sich vor und zuckte zurück, als Schlamm auf die Scheibe spritzte .
Ein völlig verschmutztes Fahrzeug kam auf sie zugerast, hüpfte über die Fahrspuren im gefrorenen Boden und wurde nicht langsamer. Falls der Fahrer oder die Fahrerin ihren Range Rover bemerkt hatte, änderte das nichts. Der Wagen beschleunigte sogar noch und schoss auf sie zu, als wäre eine Kollision das erklärte Ziel. Alex konnte die Person am Steuer immer noch nicht ausmachen und erhaschte nur einen kurzen Blick auf die Lackierung in Tarnfarben, die man auch im Krieg hätte einsetzen können.
Alex riss das Steuer herum, lenkte ihr Fahrzeug zum Rand der Fahrspur und stieg auf die Bremse. Ihre Reifen waren gut. Sie gruben sich in den Boden ein und brachten sie ruckelnd zum Stehen. Sie ließ den Kopf sinken und presste sich eine Hand auf die Brust. Ihr Herz hämmerte.
Sie war immer noch aufgewühlt, während sie den wolkenschweren, grauen Horizont nach der Quelle des Brandgeruchs absuchte. Sie parkte den Wagen und stieg aus. Ihre Stiefel sanken knirschend in das gefrorene Gras und Farnkraut neben der Fahrspur ein, die eine leichte Steigung hinaufführte. Wenn der Weg nicht von alten, blattlosen Bäumen gesäumt wäre, hätte man meinen können, die Bauträger hätten ihn nur als praktische Zufahrt angelegt. Doch sie hatten einen Weg benutzt, der schon seit langer Zeit existierte.
Vielleicht war das ein Zeichen dafür, dass sie aus Stanton direkt nach Folly-on-Weir hätte zurückkehren sollen, statt den langen Weg zu wählen.
Die Dunkelheit brach über sie herein, doch Alex wollte noch nicht heimkehren.
Sie lief immer weiter. Das breite Baustellentor vor ihr stand offen. Darüber erstreckte sich ein Schild über die ganze Breite der Fahrspur: Robert Hill. Es war nur der Name des Bauträgers, der diese makellose Cotswold-Landschaft in ein angeblich „attraktives“ Dorf verwandeln wollte. „Luxusleben zu moderaten Preisen.“
Das Gerede in den umliegenden Dörfern und Städten klang allerdings ganz anders: „Das ist doch nur ein weiterer Versuch der reichen Elite, sich gutes Cotswold-Ackerland unter den Nagel zu reißen.“ Diese Einschätzung hatte Alex schon viel zu oft gehört. Aus einer Laune heraus hatte sie heute beschlossen, sich das neue Dorf einmal selbst anzusehen.
Das letzte Stück des Weges war steiler, da er zur Spitze eines Hügels führte, und Alex lehnte sich in die Steigung. Es war Sonntag, und das war wohl die Erklärung für die Ruhe; das Fehlen von Baulärm. Dieses Bauprojekt war Dauerthema im Black Dog, ihrem Pub mit angeschlossenem Gasthof in Folly. Die Einwohner dieser Gegend standen Veränderungen nicht gerade offen gegenüber, oder lehnten sie in vielen Fällen sogar gänzlich ab, selbst wenn diese Veränderung einen breiten Landstrich betraf, der längst dem Bauträger gehörte. Doc James, der in Folly ansässige Arzt, erinnerte sich noch an die Familie Hill, die früher einmal in der Nähe gewohnt hatte. Laut ihm baute Robert Hill auf seinem eigenen Grund und Boden, und das Land war noch nie bewirtschaftet worden.
Der ölige Gestank wurde intensiver. Alex brannten die Augen und sie blinzelte wiederholt. Verbrannte da jemand alte Reifen? Sie wusste nicht, was man alles legal draußen verbrennen durfte. Wenn sie an der Kreuzung der B4632 Richtung Cheltenham und der B4077, die sie üblicherweise nach Folly zurückführte, nicht das Schild mit der Aufschrift „Robert Hill“ gesehen hätte, wäre ihr gar nicht eingefallen, hier vorbeizukommen.
Sie wollte mit eigenen Augen sehen, worum sich der ganze Wirbel drehte. Und sie wollte noch nicht nach Folly zurückkehren, zu ihrer Mutter, die in immer düstererer Stimmung versank, was so gar nicht ihrem Wesen entsprach – es war kein erfreuliches oder angenehmes Gefühl, deswegen nicht nach Hause fahren zu wollen.
Alex lief durch das offenstehende Tor. Es gab kein Schild, das ihr den Zutritt verwehrt hätte. Auf den Grundstücken in der Nähe gab es kaum mehr zu sehen als Eckpfähle mit orangenen Plastikbändern, die im frischen Wind flatterten. Dahinter sah man Häuser in verschiedenen Graden der Fertigstellung. Die Grundstücke waren nicht riesig, aber die Gebäude sehr individuell gestaltet und klug angeordnet, um Privatsphäre zu ermöglichen.
Der Blick über das Tal und den Wald und das, was sie von den Häusern sehen konnte, verlieh den Stimmen Gewicht, die hinter diesem Projekt alles andere als „moderate“ Preise vermuteten. Aber wen ging das schon etwas an, abgesehen vom Bezirksvorstand der Cotswolds, der Bauaufsicht und den anderen Behörden, die bei einem solchen Projekt die Finger im Spiel hatten? Man sollte die Angelegenheit wohl ihnen überlassen.
Die Straßen waren bereits angelegt und Alex folgte der ersten Abzweigung nach rechts.
Eine Explosion.
Das Geräusch kam von Westen, hinter ihrer rechten Schulter, und wiederholte sich in Salven. Sie blieb stehen und drehte sich um. Mit offenem Mund starrte sie auf eine schwarze Rauchwolke, die vom Ende eines Bauwagens aufstieg, an dem schlammverkrustete Ausrüstung stand.
Lauf! Nein, jemand könnte ihre Hilfe brauchen – dringend. Alex sprintete auf die Rauchfahne zu, während sich ihre Eingeweide verkrampften und der nach Gummi riechende Qualm in ihrer Kehle brannte. Und im Rennen zog sie ihr Handy heraus und wählte den Notruf. Sie durfte keine falsche Scheu zeigen. Das Schlimmste, was passieren konnte, wäre, dass sie unnötig Alarm auslöste – zumindest hoffte sie, dass das das Schlimmste war.
Sie musste nicht weit laufen. Das Ende eines großen Bauwagens ragte zwischen zwei von Gerüsten eingehüllten Häusern hervor. Das Knistern des Feuers ließ sie innehalten, bis sie hinter den Fenstern das Flackern der Flammen sah.
Sie hielt immer noch das Handy in der Hand, während sie weiterlief, aber Abstand zu der sich ausbreitenden Rauchwolke hielt, bis sie die ganze Szene überblicken konnte. Es war ein großer Bauwagen, der auf Ziegelsteinen aufgebockt war, und die große, moderne Metalltreppe, die zur Tür hinaufführte, gab bereits spürbar Hitze ab.
Alex drückte sich das Handy ans Ohr.
„Welchen Notdienst brauchen Sie?“, fragte eine männliche Stimme.
Sie öffnete den Mund, um „Feuer“ zu rufen, doch plötzlich trat ein Mann strauchelnd ins Freie und schlug sich auf die qualmenden Hosenbeine. „Krankenwagen“, rief sie. „Bei der Baustelle von Robert Hill, in der Nähe von Winchcombe. Feuer in einem Bauwagen. Es breitet sich aus … sehr schnell. Schicken Sie sofort Hilfe.“
Während sie den Mann anstarrte und den Anweisungen des Telefonisten lauschte, versuchte sie, näher heranzugehen. Der Mann mit der qualmenden Kleidung ließ sich zu Boden fallen und rollte sich brüllend herum, doch es waren keine Schmerzensschreie, das konnte sie hören.
Alex zog ihre Jacke aus und lief weiter, bis sie spürte, dass die Hitze sie ganz umfing. Sie rannte zu dem Mann, warf den Anorak über ihn, schlug mit Händen und Armen darauf und folgte ihm, während er sich weiterrollte.
Sie hörte ein lautes Krachen und sah, dass Flammen aus der Vorderseite des Bauwagens schlugen. Das Dach warf Blasen und wölbte sich. Die Außenhaut blätterte von den metallenen Knochen des Hängers ab und ließ nichts als ein schwarzes, unwirkliches Gerippe zurück. In der intensiven Hitze schien alles zu schmelzen.
„Der Krankenwagen ist unterwegs, Madam“, sagte die körperlose Stimme aus ihrem Handy. „Legen Sie nicht auf.“
„Wir brauchen auch die Feuerwehr.“ Alex’ Stimme war jetzt kaum mehr als ein Krächzen, doch der Telefonist sagte, er habe verstanden, und wiederholte die Anweisung, in der Leitung zu bleiben. „Die Feuerwehr ist schon unterwegs, Madam.“
Alex warf das Handy zur Seite und schlug mit ganzer Kraft weiter auf den Mann ein, bearbeitete seine Beine und rollte ihn in ihrer Jacke hin und her.
Der Brandgeruch und der rußige Qualm trieben ihr Tränen in die Augen, doch das Gefühl von Dringlichkeit ließ ein wenig von ihr ab. Er lag keuchend da, halb in ihre Jacke eingewickelt, und schwächer werdende Rauchfahnen stiegen von ihm auf.
Eine weitere Explosion zerriss die Luft, lauter als die erste. Vom hinteren Ende des Bauwagens wurden Bruchstücke durch die Gegend geschleudert.
Sie kniete sich neben den Mann. „Der Krankenwagen ist unterwegs“, sagte sie ihm und versuchte sich dabei an einer beruhigenden Stimme. „Sie haben bestimmt Schmerzen, aber alles wird gut. Halten Sie durch, der Notarzt ist unterwegs. Gott sei Dank sind Sie da rausgekommen.“
Er gab ein Geräusch von sich, das eher ein gedämpftes Stöhnen als ein Schrei war, und griff nach ihren Händen. „Die anderen?“
Er presste die Augenlider zusammen und krümmte den Rücken.
Alex schüttelte ihn und zuckte bei dem Gedanken zusammen, dass sie ihm Schmerzen bereiten könnte. „Was meinen Sie? Reden Sie mit mir!“ Sie sprang auf und sah sich hektisch um, in der Hoffnung, irgendjemanden zu sehen. „Wer sind Sie?“ Sie kniete sich wieder neben den Mann, der höchstens Mitte fünfzig zu sein schien. Doch wer konnte sich bei seinem rußbedeckten Gesicht schon sicher sein?
„Sie sind da drinnen.“ Er stieß die Worte keuchend aus und hustete alle paar Sekunden. „Ich konnte sie nicht erreichen. Es war so verdammt heiß. Oh mein Gott, was soll ich nur tun?“
Das Kreischen von Sirenen war zu hören und kam näher. Die Lautstärke ließ vermuten, dass alle Fahrzeuge sämtlicher Feuerwachen und Polizeistationen der Gegend unterwegs waren.
Eine leise Stimme war aus ihrem Handy zu hören und Alex hob es auf. „Ich bin noch da“, sagte sie. „Es könnten Personen im Feuer eingeschlossen sein. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“
„Sie tun gar nichts“, sagte der Telefonist recht freundlich, aber bestimmt. „Wer ist das Brandopfer, das Sie gefunden haben?“
„Einen Moment.“ Sie drehte sich zu dem Mann am Boden um, der sich jetzt aufgesetzt hatte und sich das Gesicht rieb. Sie merkte, dass Tränen durch den schwarzen Schmutz auf seinen Wangen rannen. „Wie heißen Sie, bitte? Der Notruf möchte das wissen. Die Fahrzeuge kommen schon näher.“
„Gott sei Dank“, sagte er. „Bob Hill. So heiße ich. Robert Hill. Ich habe wirklich Mist gebaut.“
2
Die Rettungssanitäter hatten Robert Hill auf eine Bahre gelegt und trugen ihn rasch zu einem Rettungswagen. Auch wenn das Blaulicht noch immer blinkte, schwieg die Sirene jetzt, doch die Aktivitäten der Feuerwehr übertönten noch jede Ruhe, die an anderer Stelle einkehren mochte.
Alex zitterte, nicht nur der Kälte wegen, sondern auch aus Entsetzen. Sie stand allein außerhalb des Bereiches, in dem alle zu retten versuchten, was es noch zu retten gab, und fühlte sich nutzlos.
Es hatte seine Gründe, dass man bei der Tätigkeit der Feuerwehr auch von Brandbekämpfung sprach. Jetzt gerade kämpften sie, richteten kräftige Wasserstrahlen auf den fast völlig zerstörten Bauwagen und eilten in ihrer Entschlossenheit, die Flammen zu löschen, rasch hin und her. Die Männer waren ein eingespieltes Team, arbeiteten konzentriert und zielstrebig, aber vor allem waren sie beinahe furchteinflößend entschlossen.
Machten sie sich keine Sorgen, dass das Wasser alles zerstören oder gar wegspülen könnte, was noch vom Bauwagen übriggeblieben war? Was wusste sie schon?
Ein Mann in schwerer, raschelnder Ausrüstung und dicken Stiefeln kam auf sie zu. Sein Gesicht war unter dem Helm bereits rußverschmiert.
„Sind Sie Alex Duggins?“, rief er. „Sie haben den Notruf abgesetzt?“
Sie trat von einem Fuß auf den anderen und antwortete: „Ja.“ Ein vertrautes, nervöses Kribbeln lief an ihrer Wirbelsäule empor. „Ich kam nur her, weil ich mir das Bauprojekt mal ansehen wollte. Ich habe so viel davon gehört, dass ich neugierig wurde. Alle reden darüber.“
Er sah sie eindringlich an. „Hat der Verletzte mit Ihnen gesprochen?“
„Ja.“
„Was hat er Ihnen über den Bauwagen gesagt? Die Zentrale teilte uns mit, er hätte andere Personen erwähnt, die es nicht aus dem Feuer geschafft hätten?“
Ohne ihren Anorak und mit dem abkühlenden Schweiß auf ihrer Haut zitterte Alex selbst in ihrem dicken Pullover und der langen Wollhose und schlang sich die Arme um den Körper. „Er hat sich nicht sehr eindeutig ausgedrückt, aber seine Hose hatte Feuer gefangen. Wir konnten sie löschen, aber er wird gewiss Schmerzen haben.“
„Ja.“ Sein Ton legte nahe, dass er sich nicht für die offensichtlichen Einzelheiten interessierte. „Aber was hat er gesagt? Die Rettungssanitäter lassen uns noch nicht mit ihm sprechen.“
„Er fragte nach ‚den anderen‘, nachdem ich erwähnt hatte, dass er froh sein könne, es aus dem Feuer rausgeschafft zu haben. Dann sagte er, dass er die anderen Personen nicht hatte retten können. Er war sehr … er war entsprechend der Umstände sehr aufgebracht.“
„Natürlich. Bleiben Sie hier. Die Polizei ist auf dem Weg und wird mit Ihnen sprechen wollen. Wir können Ihre Kontaktdaten von den Polizisten bekommen, falls wir noch einmal mit Ihnen sprechen müssen.“
„Können Sie nicht einfach meine Adresse notieren, damit ich mich auf den Weg machen kann? Der Black Dog in Folly-on-Weir.“ Sie vermied es, ihre Wohnadresse zu nennen, da sie ohnehin nicht viel Zeit dort verbrachte.
„Ich weiß, wo das ist“, sagte der Mann und schaute sie noch einmal an. „Sie werden trotzdem auf die Polizei warten müssen, Miss.“ Er nickte zum Eingang der Baustelle. „Da vorne steht jemand, um sicherzustellen, dass niemand ohne Erlaubnis rein oder raus geht.“
„Ich kann hier nichts Nützliches tun“, protestierte sie. „Man wird sich in Folly Sorgen um mich machen, wenn ich nicht auftauche.“ Sie wollte von diesem Ort verschwinden.
Diesmal antwortete der Feuerwehrmann nicht mehr.
Alex dachte sehnsüchtig an die Decke, die in ihrem Range Rover lag, und überlegte, sie zu holen, doch ihr wurde bewusst, dass sie sich würde erklären müssen, ehe man sie gehen ließ, und im Augenblick schien es hier vor Ort niemanden zu geben, den man auch nur für einen Moment ablenken konnte. Zu versuchen, die Wache am Tor zu überreden, war wohl eine schlechte Idee.
Sie lief auf und ab und blickte immer wieder lange auf den Rettungswagen, da sie im Inneren Bewegung ausmachen konnte. Sie glaubte nicht, dass Robert Hill ernsthaft verletzt war, aber es würde eine Weile dauern, bis er sich beruhigt hätte.
Mit einem Feuerwehrmann zu sprechen, stand nicht zur Debatte. Sie konnte die Anspannung der Truppe förmlich spüren, während sie einerseits das Feuer bekämpften, und andererseits herauszufinden versuchten, ob es noch weitere Opfer in der ausgebrannten Ruine des Bauwagens gab.
Robert Hill hätte auch ohne ihr Auftauchen überlebt, und am Verlauf des Brandes hätte sie nichts ändern können. Sie hätte nach dem Bücherverkauf einfach direkt nach Hause fahren sollen, so wie sie es ursprünglich vorgehabt hatte.
Zögerlich holte sie ihr Handy heraus und rief im Black Dog an.
„Guten Abend.“ Der Leiter ihres Pubs, Hugh Rhys, hatte abgenommen. „Black Dog. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Alex beugte sich vor und starrte in der Dunkelheit auf ihre Füße. „Alex hier. Ich wurde aufgehalten. Falls jemand fragt: Ich hoffe, bald da zu sein.“
Nach kurzer Stille fragte Hugh: „War das alles? Wollen Sie mir lieber nicht erzählen, was Sie aufgehalten hat, oder ob es Ihnen gut geht, oder mich bitten, Tony etwas auszurichten – oder Lily?“
Hugh war ihr ein Rätsel; ein vermögender Mann, der sich dafür entschieden hatte, einen Pub auf dem Land zu leiten, und der sein Privatleben sehr privat hielt. Dass er ihr solche Fragen stellte, bedeutete, dass jemand aufgebracht war, weil sie so lange fortblieb, und das auch zum Ausdruck gebracht hatte. Das könnte entweder Tony Harrison sein, ihr Liebhaber und bester Freund, oder, was nicht weniger wahrscheinlich war, Lily Duggins – Alex’ Mutter.
„Regt sich meine Mutter auf?“, fragte Alex und mied damit bewusst die andere Option, da Tony es hasste, wenn sie mit anderen über ihr gemeinsames Leben sprach. „Sagen Sie ihr, dass ich aufgehalten wurde, aber es mir gutgeht und ich Spaß habe. Ich hoffe, dass es nicht mehr allzu lange dauert.“
„Wenn Sie so viel Spaß haben, warum hoffen Sie dann, dass es bald vorbei ist?“ Das war Hughs typische verbale Spitzfindigkeit. „Klingt laut bei Ihnen.“
„Punkt für Sie, mein Lieber. Halten Sie bitte die Stellung.“ Sie legte auf und dachte darüber nach, Tony anzurufen, doch eine weitere Sirene ließ sie innehalten.
Die Frontscheinwerfer eines Fahrzeugs hüpften auf der unebenen Baustellenzufahrt auf und ab. Dahinter folgte ein Streifenwagen. Auf dem Dach des zivilen Fahrzeugs blinkte in der Nähe des Beifahrerfensters ein einzelnes Blaulicht.
Die Limousine kam zum Stehen, die Sirene verstummte und das blitzende Licht erlosch, dann stellte der Fahrer den Motor ab und die beiden vorderen Türen wurden geöffnet.
Zwei Männer liefen bergab auf die Fahrzeuge der Feuerwehr und den Rettungswagen zu.
Alex schaute angestrengt zu ihnen, glaubte aber nicht, dass sie die Männer kannte. Das war schon mal etwas. Sie war nicht in der Stimmung für ein falsches, fröhliches Wiedersehen – nicht dass sie überhaupt mit Gewissheit auf fröhliche Stimmung hätte hoffen können, ob falsch oder nicht. Ihre deutlich zu häufigen Begegnungen mit der Polizei von Gloucestershire hatten zu einer „interessanten“ Dynamik zwischen ihr und einigen der Detectives geführt.
„Sir!“
Der Ruf eines Feuerwehrmannes erregte ihre Aufmerksamkeit. Einer der Männer, der mit einer Axt das schwelende Gerippe des Bauwagens bearbeitet hatte, lief schnellen Schrittes zu einem der Einsatzfahrzeuge zurück. Sie hatten etwas gefunden. Jemanden? Oder was von der Person übrig war? Man brauchte es nicht selbst gesehen zu haben, um sich vorstellen zu können, was ein solcher Brand mit einem menschlichen Körper anstellen würde – oder mit mehreren Körpern.
Alex war so auf die dunklen Silhouetten der umtriebigen Polizisten und Feuerwehrleute konzentriert, dass sie die Gestalt, die sich vom Rest der Gruppe gelöst hatte, erst bemerkte, als der Lichtschein einer Taschenlampe auf ihre Füße fiel und dann zur Seite zuckte. Der Mann mit der Taschenlampe kam mit wehendem Mantel auf sie zu geeilt, den Hut hatte er sich tief ins Gesicht gezogen.
Als er näherkam, hob er den Blick und rief: „Alex? Um Himmels willen, Sie kommen ja rum. Was tun Sie hier?“
Sie stöhnte und trat einen Schritt zurück.
Detective Sergeant Bill Lamb höchstpersönlich. Es gelang ihm immer schnell, dass sie sich überflüssig und lästig fühlte, als hätte sie nicht alle Tassen im Schrank.
„Hallo, Detective Sergeant“, sagte sie förmlich, hoffte aber, dass sie dabei sachlich und freundlich klang. „Sie kommen selbst viel rum. Willkommen.“ Jetzt klang sie, als würde er ihr Revier besuchen, verdammt.
„Wo ist Ihre Jacke?“, fragte er, als er näherkam.
Dies war kein guter Moment. „Die wurde wegen des Feuers ruiniert.“
Trotz der Dunkelheit konnte sie seinen ungläubigen Gesichtsausdruck ausmachen. „Im Feuer? Diesem Feuer?“ Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter nach hinten.
„Nicht ganz.“ Wenigstens konnte er ihr Erröten nicht sehen. „Oder, na ja, ich schätze … Ich trug meinen Anorak, als … ein Mann aus diesem Bauwagen gerannt kam. Seine Hose war angesengt und qualmte, deshalb habe ich ihm die Jacke über die Beine geworfen und ihm geholfen, als er sich herumrollte, um sicherzugehen, dass er nicht brennt. Dabei lag er natürlich am Boden.“
Der Detective zog sein Notizbuch aus der Innentasche und schrieb unter Zuhilfenahme seiner Taschenlampe etwas auf. „Dann ist er ein Freund von Ihnen?“
„Nein!“ Alex sog kalte Luft zwischen den Zähnen hindurch. „Das habe ich nicht gesagt, und es ist auch nicht der Fall. Ich war nur zufällig hier und habe mir die Baustelle angesehen. In der Gegend wird viel darüber geredet, deshalb wollte ich mich mal umsehen.“
„Ganz … zufällig“, murmelte er, während er auch das notierte. Er sah sie mit einem scharfen Blick und ohne zu blinzeln aus seinen verstörend hellblauen Augen an, die sie nur zu gut kannte. „Sie sind die ganze Strecke von Folly hergefahren, um sich ‚das mal anzusehen‘ – an einem Sonntagabend im Dunkeln?“
Er hatte ein Talent dafür, sie aus der Ruhe zu bringen. Warum konnte sie sich ihm gegenüber so schlecht beherrschen? Eine ihrer engsten Freundinnen hielt ihn für einen wundervollen Mann, also musste es etwas mit ihrem eigenen getrübten Eindruck von ihm zu tun haben.
„Bill“, hob sie mit bestimmtem Ton an. Sie sprachen sich mit Vornamen an und Formalitäten waren überflüssig. „Ich war am Nachmittag auf dem Rückweg von Stanton. Ich habe das Schild für dieses Bauprojekt gesehen und bin hergefahren. Es war schon später als ich dachte, und wurde schneller dunkel, als ich vermutet hatte, aber hier bin ich. Und vermutlich ist das auch gut so, denn dieser Mann brauchte Hilfe.“
Er schrieb schweigend weiter und Alex hörte nichts als ihren eigenen Atem.
„Bill! Hier drüben!“
Das war eine weitere Stimme, die ihr wohlbekannt war; die von Detective Chief Inspector Dan O’Reilly. Und somit stand ihr eine weitere unangenehme Begegnung bevor.
„Kommen Sie bitte mit“, sagte Bill und rief: „Komme, Chef.“ Er ließ seinen Regenmantel von den Schultern gleiten und legte ihn Alex um, die schon auf dem Weg zu seinem Vorgesetzten war.
Alex sagte „Danke“ und schlurfte neben ihm her, wobei sie den Mantel anhob, damit er nicht über den Boden schleifte.
„Geht’s ein wenig schneller, Alex?“
Verdammt! Man konnte doch keinen Mann anfahren, der einem gerade in einer kalten Nacht seinen Mantel geliehen hatte. Und vermutlich sollte man auch nichts Niederträchtiges über ihn denken. Sie würde einiges zu erklären haben, wenn sie nach Folly zurückkehrte – besonders Tony gegenüber. Tony nahm ihre „übermäßige Impulsivität“, wie er diese Eigenschaft nannte, meist mit Nachsicht oder gar liebevoller Akzeptanz – meistens. Dieses Mal würde es nicht allzu leicht werden, alles zu erklären.
„An der Rückseite des Bauwagens, Sir“, sagte der Feuerwehrmann. „Ich würde sagen, dort befand sich einer dieser abgetrennten Bereiche mit einem Schlafsofa. Davon ist natürlich kaum noch etwas übrig.“
„Keine Anzeichen für weitere Leichen?“, fragte Dan, blickte dann kurz zu Alex und nickte ihr zu. Sie hob eine Hand und blieb zurück, während Bill zu seinem Vorgesetzten trat.
„Bislang nur die eine, Sir“, antwortete der Feuerwehrmann auf Dans Frage. „Das Feuer war sehr heftig.“
Alex wollte sich den ausgebrannten Bauwagen nicht anschauen, konnte es aber nicht verhindern. Das Feuer schwelte noch an einigen Stellen, wo es zischte und knackte, doch es schien weitgehend unter Kontrolle zu sein. Mehrere Feuerwehrleute standen an der Rückseite des zusammengefallenen Wracks und schienen alle auf die gleiche Stelle zu starren. Sie war zu weit entfernt, um Details ausmachen zu können, doch das verdrehte Ding zwischen den Trümmern entging ihr nicht. Das musste zwar keine Leiche sein, aber es war möglich.
„Die Kavallerie ist unterwegs“, sagte Dan zu Bill. Dann fügte er über die Schulter hinzu: „Hallo, Alex.“
„Hi, Dan.“ Falls es noch mehr zu sagen gab, wollte es ihr nicht einfallen.
Dan stand wie üblich ohne Kopfbedeckung da und hatte seine charakteristische Pose eingenommen: den Mantel nach hinten geschoben und die Hände tief in die Hosentaschen gesteckt. „Dann mal los“, sagte er. „Sie nicht, Alex. Bleiben Sie bitte, wo Sie sind.“
Sie stampfte mit den Füßen auf, um ihren fröstelnden Kreislauf in Schwung zu bringen, tat wie ihr geheißen und wünschte, sie könnte sich einfach weit weg teleportieren.
Die Doppeltür an der Rückseite des Krankenwagens stand immer noch offen. Es war mittlerweile völlig dunkel und Licht drang aus dem Inneren. Sie fragte sich, wie es Bob Hill ging, lief auf das Fahrzeug zu, blieb in respektvollem Abstand stehen, war aber nah genug, um zu rufen: „Entschuldigung. Ich habe Mr. Hill gefunden. Dürfte ich erfahren, wie es ihm geht?“
Eine Notärztin streckte den Kopf heraus, zog sich aber rasch wieder zurück und unterhielt sich mit jemandem. „Kommen Sie her, wenn Sie wollen“, sagte die Frau, als sie wieder herausschaute. „Mr. Hill geht es gut. Wir sorgen dafür, dass er es angenehm hat.“ Sie sprang aus dem Wagen und kam auf Alex zu. Leise fügte sie hinzu: „Er versucht, uns einzureden, dass er nicht ins Krankenhaus müsste, aber darum wird er nicht herumkommen. Er glaubt, er könnte einfach nach Hause fahren.“
Alex lief neben ihr her. „Eine typisch männliche Reaktion, schätze ich“, sagte sie und grinste die Notärztin an.
Die Frau schwang sich athletisch ins Fahrzeug. „Ihre Freundin, die bei Ihnen war, ist hier, Mr. Hill.“
Alex war dabei, in den Wagen zu steigen und wollte sagen, dass sie den Mann nicht kannte, musste sich aber darauf konzentrieren, nicht auf Bills langem Regenmantel oder den glatten Metallstufen auszurutschen.
Bob Hill lachte.
„Er hat ein Beruhigungsmittel bekommen“, sagte der zweite Rettungssanitäter mit einem vielsagenden Blick auf den Patienten, „aber er ist sehr lebhaft.“
„Ich kannte ihn vor dem heutigen Abend gar nicht“, sagte Alex und grinste Hill an, der überhaupt keinen Schmerz zu verspüren schien. „Wir sind uns begegnet, nachdem das Feuer ausgebrochen war. Wie geht es Ihnen, ähm, Mr. Hill?“
„Nennen Sie mich Bob, und sagen Sie diesen netten Leuten, dass ich mittlerweile bestens in der Lage bin, allein nach Hause zu fahren. Danke übrigens. Sie haben den Tag gerettet. Ich weiß nicht einmal, ob ich ein Handy dabeihabe. Und falls ja, weiß ich nicht, wo es ist.“
„Ich bin froh, dass ich zugegen war“, sagte Alex. Hill hatte ein schmales, attraktives Gesicht und glattes, dunkles Haar, das ordentlich frisiert war und erste graue Stellen aufwies. „Man wird Sie für eine Untersuchung ins Krankenhaus bringen. So ist es am besten.“
„Aber ich habe mein eigenes Auto“, sagte er mit breitem Grinsen. Man hatte ihm das Gesicht gereinigt – eine große Verbesserung. Er versuchte, sich aufzusetzen, wurde aber sofort wieder mit sanftem Nachdruck auf sein Kissen befördert.
„Den Wagen kann jemand für Sie nach Hause fahren“, sagte Alex. „Wo wohnen Sie?“
„Temple Guiting. Knighton House.“
„Wie lautet die Telefonnummer, Sir?“, fragte der männliche Rettungssanitäter. Sein Namensschild wies ihn als Mr. Pain aus, was Alex als unvorteilhaften Namen empfand.
„Es hat keinen Zweck, dort anzurufen“, sagte der Patient jetzt weniger fröhlich. „Es ist niemand da. Alle sind fort.“
Pain sah Alex an. „Aber es ist nicht weit“, sagte er. „Sie könnten seinen Wagen fahren, oder? Folgen Sie uns zum Krankenhaus. Ich glaube nicht, dass man ihn dortbehalten wird. Die Polizei wird allerdings mit ihm sprechen wollen, bevor wir da sind. Sobald er dazu in der Lage ist. Wie geht es Ihnen, Bob?“
„Blendend“, sagte Hill. „Es geht mir fabelhaft.“
„Das ist schön zu hören.“ Bill Lamb war auf leisen Sohlen zu ihnen gestoßen und lehnte sich herein, um Bob Hill sehen zu können. „Steht Ihr Wagen sicher, Sir?“
„So sicher wie die Häuser“, sagte Bob und schien zu kichern. Er wurde wieder ernst. „Ich werde ihn später holen. Oder meine neue Freundin fährt ihn für mich zum Krankenhaus. Sie ist ein gutes Mädchen. Ohne sie hätte ich das nicht geschafft.“ Seine Augenlider fielen zu.
Bill sah sie nicht an, sagte aber sehr leise: „Der Detective Chief Inspector hat Sie angewiesen, sich nicht vom Fleck zu bewegen. Die Zeugenbefragung ist nicht Ihre Aufgabe, wissen Sie noch?“
Sie ignorierte ihn. „Dürfte ich etwas für ihn aufschreiben?“, fragte sie Murdock, die Notärztin, die Alex sofort Notizblock und Stift reichte.
„Hier sind mein Name, meine Adresse und meine Telefonnummer“, sagte sie beim Schreiben. „Für Sie und für Mr. Hill, falls er mich erreichen will.“ Sie riss das Blatt ab und übergab es, bevor sie aus dem Fahrzeug sprang und auf knisterndem, gefrorenem Boden landete.
„Und ich habe ihn nicht befragt“, sagte sie. „Ich habe mich bloß erkundigt, wie es ihm geht.“
„Wie nett“, sagte Bill. „Sie haben offensichtlich eine Menge gesehen – wenn nicht gar alles.“
„Also …“
Bill schnitt Alex das Wort ab. „Ich werde Sie jetzt in einen Wagen setzen, wo Sie auf Detective Chief Inspector O’Reilly warten werden. Er kann sich dann um Sie kümmern.“
3
Tony Harrison hatte kaum mit Katie den Schankraum des Black Dog betreten, als die Hündin losstürmte und wie eine blonde, etwas zu gut genährte Slalomläuferin zwischen den Tischen hindurchsauste. Tony sah zu, während sie auf den Tisch der Burke-Schwestern am Kamin zuhielt. Die Flammen flackerten und zuckten vor den rußgeschwärzten Steinen und spiegelten sich in dem Pferdegeschirr aus poliertem Messing, das an dem breiten, vom Alter dunkel gewordenen Kaminsims hing. Katie legte sich zu Bogie, Alex’ Terriermischling (auch als Standard British Breed bekannt), auf die blaue Tartandecke, die immer für die beiden Tiere bereitlag, und sah sich um, als würde sie darauf warten, von vielen Freunden willkommen geheißen zu werden.
Harriet und Mary Burke waren dick in winterliche Wollsachen eingepackt und hatten sich breite Schals umgelegt. Sie schenkten den Hunden Aufmerksamkeit und wurden im Gegenzug wild abgeschleckt.
Hugh Rhys stand hinter dem Tresen und blickte Tony direkt mit einem Blick an, der nicht nur nahelegte, dass er ihn erwartet hatte, sondern auch, dass er in irgendeiner Weise Hilfe brauchte – auf der Stelle.
Tony machte sich auf den Weg zum Tresen und grüßte die Stammgäste, die ihm zuriefen. Doch seine Aufmerksamkeit galt Hugh.
„Ambler?“, fragte Hugh und griff nach einem Pintglas.
„Machen Sie einen Macallan draus“, sagte Tony. „Einen doppelten. Was ist los?“
„Ich glaube, das wissen Sie bereits.“
Tony nickte knapp. „Alex sagte, sie hätte Sie angerufen. Konnten Sie ihren Worten mehr Sinn entlocken als ich?“
„Ich hatte das Gefühl, sie wollte nicht, dass es Sinn ergibt“, sagte Hugh. Er hielt sich am Tresen fest, streckte die Arme durch und straffte den Rücken. „Sie sagte, sie sei aufgehalten worden und würde sich verspäten. Und nein, sie konnte nicht mehr Details nennen. Seit Lily hier ist, hat sie alle Hände voll damit zu tun, spät eintreffende Gäste ins Gasthaus einzuchecken – und ich bin ihr für ihre Hilfe sehr dankbar. Das Restaurant ist auch sehr gut besucht.“ Er deutete in den Gang vom Schankraum zum Restaurant, von dem auch die sieben Gästezimmer des Erdgeschosses abgingen. „Sie ist nicht gerade glücklich, und ihr von Alex’ Nachricht zu erzählen, hätte nichts verbessert. Die beiden führen eine stille Auseinandersetzung – oder passiert das nur in meiner Fantasie?“
„Nein. Und mir sagt sie auch nicht, was los ist. Ich hatte allerdings damit gerechnet, dass Alex mittlerweile da ist. Wie lang ist das Telefonat her?“
Hugh legte die Stirn in Falten und stellte den Whisky vor Tony ab. „Stunden“, sagte er. „Zwei, nein, drei.“
„Mich hat sie vor anderthalb Stunden angerufen. Geht es Ihnen gut, Hugh? Sie sehen auf jeden Fall nicht so aus.“
„Was weiß ich schon? Meine Intuition ist nicht gerade mein verlässlichster Sinn, aber der ganze Pub gibt heute negative Schwingungen ab, und dieses Gefühl kann ich eigentlich nur als Intuition bezeichnen.“
Tony fiel kein nützlicher Kommentar ein.
„Spüren Sie auch etwas?“, fragte Hugh. „Oder halten Sie mich für verrückt?“
Tony zog die Schultern hoch und schüttelte langsam den Kopf. „Die Stimmung ist ziemlich düster.“
„Lily ist da leider auch keine Hilfe“, sagte Hugh. „Sie ist in letzter Zeit richtig kratzbürstig, und das ist noch freundlich ausgedrückt. Aber sie kann eigentlich auch nur eine der Ursachen dafür sein, dass es sich anfühlt, als würden wir auf den Weltuntergang zusteuern. Das würde sie allein nicht zustande bringen.“
Tony drehte sich um, lehnte sich mit dem Rücken an den Tresen und betrachtete den Raum. Es war voll, was für einen Sonntagabend üblich war, doch irgendetwas war anders. „Es ist zu leise“, sagte er plötzlich und blickte über die Schulter zum Leiter des Pubs zurück. „Die meisten Anwesenden haben die Blicke gesenkt. Alle Münder bewegen sich, und doch wirkt die Lautstärke gedämpft.“
„Exakt“, sagte Hugh durch zusammengebissene Zähne. „Das hier ist doch kein Bestattungsunternehmen, verdammt. Andere würden vielleicht die Musik aufdrehen oder jedem Gast einen Witz erzählen, aber das ist nicht mein Stil. Ich leite den Black Dog, um nicht mehr vorgeben zu müssen, ich wäre es, der andere Leute glücklich macht. Ich mag recht umgänglich sein, aber ich bin nicht für die Stimmung der Menschen hier verantwortlich.“
Tony dachte über diese Aussage nach und drehte sich möglichst lässig zu dem anderen Mann um. Er hatte von ihm noch nie einen Kommentar dazu gehört, warum ein wohlhabender Mann wie er hier in Folly-on-Weir lebte und tat, was er tat. Ihm gehörte so ziemlich das größte Haus im Ortskern, das Green Friday, doch er hatte sich dafür entschieden, in einer kleinen Wohnung hier im Obergeschoss des Pubs zu wohnen. Manchmal vermietete er sein Haus, aber nur, wenn die Interessenten einen Tipp erhalten und Hugh ausfindig gemacht hatten.
Hugh schien sich unwohl zu fühlen und Tony verwarf die Idee, seine nicht existierenden, psychologischen Fähigkeiten an ihm auszuprobieren. Es gab Gründe dafür, dass er sich für die Veterinärmedizin und nicht die menschliche Medizin entschieden hatte. Dass er nur mit Unbehagen im Verstand und den körperlichen Problemen menschlicher Patientinnen und Patienten herumstochern konnte, war nur einer davon. Tiere hatten auch Persönlichkeit, manchmal sogar eine stärkere als der Mensch, aber er konnte sich stets verlässlich von seiner guten Beziehung zu den Tieren leiten lassen. Er musste nicht warten und darauf hoffen, dass sie reden würden – oder nicht zu viel redeten.
Er nahm die Messingglocke vom Tresen und läutete sie energisch. „Haben alle schon ihre Lose für den Geschenkkorb der Kirche gekauft?“, rief er. „Ich weiß, dass ein riesiger Truthahn mit Gemüse und Pasteten von den Derwinters dabei ist, Bier und Wein vom Dog, ein Nachmittagstee im Leaves of Comfort, serviert von unseren lieben Schwestern, Harriet und Mary Burke, und eine kostenlose Untersuchung samt Zahnreinigung von eurem großartigen, ortsansässigen Tierarzt. Nur für Hunde, Katzen, Meerschweinchen, Rennmäuse, Hamster oder andere Tiere – persönlicher Vorbehalt bei Tieren, die größer sind als ich oder die ich nicht identifizieren kann. Und keine Haustiere mit opponierbaren Daumen. Haben sich alle ihre Gewinnchance gesichert?“
„Ja“, rief ein ganzer Chor inmitten von Gelächter. Manche verneinten und hoben eine Hand, um anzuzeigen, dass sie ein Los kaufen wollten. Liz Hadley, die heute, wie auch an den meisten anderen Abenden, arbeitete, holte eine Rolle mit Märkchen unter dem Tresen hervor. Sie grinste und plauderte, während sie ihre Runde machte.
Der Geräuschpegel stieg.
„Nicht schlecht“, sagte Hugh. „Sie haben verborgene Talente. Wenn es hier mal wieder so unterkühlt ist, weiß ich, wen ich anrufen kann.“
„Ja.“ Tony wurde immer angespannter, je mehr Zeit verstrich. „Haben Sie versucht, Alex zurückzurufen?“
„Zweimal. Und Sie?“
„Auch zweimal. Ich lande direkt auf der Mailbox. Sie ist nur rüber nach Stanton gefahren – angeblich.“
Hugh klopfte Tony auf den Handrücken. „Wir sollten lieber nicht spekulieren. Sie wird bald wohlbehalten zurück sein.“
„‚Bald‘ ist schon lange vorbei.“
„Und da kommt Lily wieder.“ Hugh seufzte. „Ich wusste, dass der Frieden nicht mehr lange halten würde.“
„Frieden?“ Tony lachte kurz auf und trank einen Schluck von seinem Macallan. „Hier ist alles bis zum Bersten angespannt. Ich rechne jeden Augenblick damit, dass die Fensterscheiben zerspringen. Dass Alex verschollen ist, hat gerade noch gefehlt.“
„Sie ist auch angespannt“, sagte Hugh leise. Er erhob die Stimme, als Lily näherkam. „Alle eingecheckt, Lily? Erwarten wir noch jemanden?“
Lily war groß, deutlich größer als ihre Tochter, und trat mit zusammengepressten Lippen an den Tresen. Ihre mandelförmigen, grünen Augen waren völlig ausdruckslos. Sie antwortete nicht auf Hughs Frage.
„Hallo, Lily“, sagte Tony.
„Hast du etwas von Alex gehört? Was hat sie dir gesagt?“
„Ja, und nicht viel“, antwortete Tony. „Sie wurde auf dem Rückweg von dem Bücherverkauf in Stanton aufgehalten.“
Lily trug ihr dunkles Haar deutlich länger als Alex. In ihren Locken waren graue Strähnen zu sehen. Von Größe und Haarschnitt abgesehen ähnelten sich die beiden Frauen sehr.
„Darf ich dir einen Drink ausgeben?“ Tony trat näher an sie heran. „Du wirkst beunruhigt. Geht es nur um Alex?“
„Ich bin nicht beunruhigt.“ Lily senkte den Blick. Das überzeugte ihn nicht.
„Was ist mit dem Drink?“
„Nein, danke. Warum geht sie nicht ans Handy? Fällt dir dazu etwas ein?“ Sie stützte die Ellenbogen auf dem Tresen ab. „Mir schon, aber ich denke dabei an nichts Gutes. Ja, du hast recht, ich bin beunruhigt. Wie kannst du entspannt hier rumstehen, während Alex in so einer Nacht da draußen ist und wir nicht wissen, ob irgendetwas Schreckliches passiert ist?“ Lily vergrub das Gesicht in den Händen.
Tony und Hugh sahen sich an. Tony legte vorsichtig einen Arm um Lilys Schultern, um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen, und lehnte sich zu ihr. „Lass uns in die Küche gehen und überlegen, was wir tun sollen. Du hast recht, wir können nicht einfach rumstehen und warten.“
Die Gespräche im Schankraum erstarben plötzlich, dann wurde es kurz laut und rasch wieder sehr leise.
Tony schaute über die Schulter und blickte direkt in Detective Chief Inspector Dan O’Reillys ernstes Gesicht.