Prolog
An einem Freitagabend kurz vor Mitternacht, irgendwo in Breda
Er nahm die Scheine aus dem Geldautomaten und steckte sie mit dem Anschreiben in den Umschlag, den er bereits mit Einweghandschuhen mitten aus dem Zehnerpack gezogen hatte, um keine Spuren zu hinterlassen. Mit dem Zeigefinger strich er über die Lasche, um sie festzudrücken.
Beiläufig sah er nach links und rechts, um sich zu vergewissern, dass sich niemand in seiner Nähe aufhielt. Dann ging er los, bog um die nächste Ecke und blieb vor einem der Geschäfte in der kleinen Einkaufsstraße stehen. Für den Fall, dass ihn jemand beobachtete, beugte er sich und sah auf seinen linken Schuh. Schließlich kniete er sich hin und gab vor, den scheinbar zu lockeren Schnürsenkel neu zu binden. Dabei schob er den Umschlag unter der Ladentür hindurch, bis nur noch ein kleines Stück nach draußen ragte. Mit dem Fingernagel schnippte er den Umschlag dann so kraftvoll weg, dass der gut zwei Meter weiter über den Boden rutschte und genau mitten im Gang liegen blieb, damit man ihn beim Hereinkommen auf keinen Fall übersah.
Schließlich richtete er sich auf und ging weiter, wobei er auf einem Zickzackkurs die Stadt durchquerte, damit niemand eine Verbindung zwischen dem Mann, der sich vor dem Geschäft hingekniet hatte, und dem Mann herstellen konnte, der gut zwei Kilometer entfernt in seinen an einer Durchgangsstraße abgestellten Wagen einstieg und nach Hause fuhr.
Am Montagmorgen darauf, um zwei Uhr nachts mitten in Zuiderdijk
Die von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidete Gestalt huschte genau zwischen zwei der recht weit voneinander entfernten Laternen über den Deich, sodass weder der von links noch der von rechts kommende Lichtschein sie erfassen konnte. Sie lief die Schräge hinunter und überquerte den Parkplatz, der zur Pension Huis Zonnebloem gehörte. Dort präsentierten sich mindestens drei potenzielle Ziele, doch die standen zu dicht beisammen und würden dem Vorhaben vermutlich gemeinsam zum Opfer fallen. Das wäre zu viel des Guten gewesen, jedenfalls für den Augenblick. Sollte der Plan in der momentanen Form keinen Erfolg erkennen lassen, konnte der Einsatz immer noch erhöht werden.
Die Gestalt lief weiter, überquerte die Straße, auf der um diese Zeit nichts los war, und eilte weiter in Richtung Supermarkt. Gleich dahinter an der Ecke parkte ein Wagen mit dem richtigen Kennzeichen, wie die Gestalt erfreut feststellte.
Im Schatten, den die Laterne auf der anderen Straßenseite warf, legte die Gestalt das mit Benzin getränkte Stoffbündel auf den rechten Vorderreifen des Wagens und zündete den langen Stoffstreifen an, der bis auf den Boden reichte. Aus einigen Metern Entfernung sah sie zu, wie die Flammen sich an dem Streifen nach oben arbeiteten und schließlich das Bündel erfassten. Als es eine Stichflamme gab, wandte sich der Brandstifter ab und verschwand im Dunkel der Nacht. Ab jetzt war klar, dass die Flammen auf den Motorraum übergreifen würden, lange bevor die Feuerwehr hier eintraf. Mit ein wenig Glück würde sich das Feuer auch bis in den Fahrgastraum ausbreiten, aber nötig war das nicht. Der Wagen würde so oder so als Totalschaden eingestuft werden, auch wenn die Flammen „nur“ im Motorraum wüten sollten.
1. Kapitel
„Schon wieder?“, fragte Knut Hansen, der an seinem üblichen Tisch auf der kleinen Terrasse hinter der Pension Huis Zonnebloem saß. Im angrenzenden Garten hatten die Sonne und die Wärme der letzten drei Wochen dafür gesorgt, dass das Gras in die Höhe geschossen war und ein wilder Mix aus Blumen aller Art farbenprächtig blühte. Meisen, Spatzen und Amseln wuselten auf der Suche nach Essbarem hin und her, während hoch über ihnen die Möwen ihre Bahnen zogen und sich dabei krächzend und kreischend darüber austauschten, wo es am ehesten etwas zu fressen gab. „Das ist doch jetzt schon das dritte Mal in den letzten zwei Wochen, richtig?“
Jenny van Oosterburg, Inhaberin der Pension, nickte grimmig, während sie ihm den Teller Stamppot mit Rookworst servierte. „Das dritte Mal allein hier in Zuiderdijk. Wenn man die Wagen dazurechnet, die unter anderem in Westkapelle, Aagtekerke und Meliskerke in Flammen aufgegangen sind, kommt man schon auf elf. Und immer trifft es die Fahrzeuge unserer Touristen, was noch viel schlimmer ist.“
„Weil die dann wegbleiben“, murmelte Knut und strich sich über seinen grauen Kinnbart, der ihm etwas Würdevolles verlieh, während seine volle weiße Mähne etwas von einem Künstler vermittelte. Überhaupt sah der Mann für einen Vierundachtzigjährigen so blendend aus, dass man ihn gut und gerne fünfzehn Jahre jünger geschätzt hätte.
„Eben. So was ist keine gute Werbung“, sagte sie. „Die Polizei tappt noch immer im Dunkeln.“
„Vielleicht sollten Sie die Ermittlungen übernehmen, Jenny“, schlug der Mann vor, dem der deutsche Einschlag bei der Aussprache kaum noch anzuhören war. Allerdings lebte er auch schon so lange hier, dass er mittlerweile vermutlich in seiner deutschen Heimat nach dem einen oder anderen richtigen Begriff suchen musste. „Sie haben doch schon erfolgreich zwei Morde aufgeklärt … Nein, warten Sie, es waren drei Morde, nicht wahr?“
Jenny lächelte fast ein wenig verlegen. „Anfängerglück“, sagte sie ausweichend, da sie über ihre Erfolge als inoffizielle Ermittlerin nicht gern redete. Natürlich freute es sie, wenn es gelang, einen Mörder zu überführen, damit er für sein Verbrechen bestraft wurde. Aber es änderte nichts daran, dass zuvor Menschen hatten sterben müssen, die niemandem etwas getan hatten – und selbst wenn die ihrerseits einem anderen das Leben genommen hätten, wäre es keine Rechtfertigung gewesen, mit ihnen genauso zu verfahren.
„Anfängerglück?“, wiederholte Knut amüsiert. „Kommen Sie, Jenny. Selbst wenn nur ein Bruchteil von dem zutrifft, was man sich über Ihr kriminalistisches Gespür erzählt, können Sie es mit der Polizei locker aufnehmen. Schließlich waren Sie diejenige, die auf der richtigen Spur war. Die Polizei hätte sich doch vor allem mit dem Zeeland-Ripper gnadenlos blamiert.“
Jenny winkte lachend ab. „Erinnern Sie mich bloß nicht daran. Da hätte ich mit meinem Tipp auch ganz böse auf die Nase fallen können.“
„Ah, wenn man vom Teufel spricht“, redete Knut weiter. „Da kommt schon die Polizei. Bestimmt braucht man Ihren Rat, Jenny.“
Sie lächelte ihn an und schüttelte den Kopf. „Das glaube ich eher nicht. Das ist unser neuer Wijkagent Wim Houtmans“, sagte sie, gerade als der junge uniformierte Polizist zu ihr an den Tisch kam und mit zwei Fingern zum Gruß an den Schirm seiner Dienstmütze tippte.
„Hallo, Jenny“, begrüßte er sie.
„Hallo, Wim. Darf ich Ihnen einen unserer Stammgäste vorstellen? Knut Hansen, kommt aus Bremerhaven und lebt seit über zwanzig Jahren als Dauercamper auf Vissers’ Campingplatz.“
„Vissers? Ist das Camper’s Delight?“, fragte der Polizist und strich sich nachdenklich über seinen Schnauzbart, der ihn noch mehr wie Tom Selleck in Magnum aussehen ließ, als es ohnehin schon der Fall war.
„Richtig“, bestätigten Jenny und Knut im Chor.
„Schöner Platz“, sagte Wim. „Keiner von der Sorte, bei denen jeden zweiten Tag die Polizei auftauchen muss, um für Ruhe zu sorgen.“
„Es gibt halt auch noch normale Menschen“, meinte Knut und fragte gleich darauf: „Was ist überhaupt ein Wijkagent? Ich glaube nicht, dass ich das schon mal gehört habe.“
„Streng genommen ist der Begriff hier auch nicht richtig“, räumte Houtmans ein. „Eigentlich ist ein Wijkagent jemand, der in einer größeren Stadt immer im selben Viertel unterwegs ist. Dadurch lernt er die Menschen dort besser kennen, und er kann bestimmte Situationen leichter einschätzen, wenn es darum geht, ob eine Hundertschaft anrücken soll oder ob nicht eher drei Streifenwagen genügen. Außerdem haben die Menschen immer denselben Ansprechpartner, was für mehr Vertrauen in die Polizei sorgen soll.“
„Tut es das auch?“
„Mehr Vertrauen, meinen Sie?“, fragte der Polizist und nickte bestätigend. „Das funktioniert wirklich. Es ist viel einfacher, kleine Konflikte zu lösen und die Ruhe wiederherzustellen, wenn jemand mit den Beteiligten redet, der sie auch kennt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber hier ist meine Aufgabe eher, schneller an Ort und Stelle zu sein als die Kollegen, die irgendwo mit dem Streifenwagen unterwegs sind.“
Knut zog die Augenbrauen hoch. „Aber in Zuiderdijk passiert doch nicht jeden Tag etwas.“
„Oh, ich bin ja nicht nur hier in Zuiderdijk eingesetzt“, stellte Houtmans klar. „Ich bin eigentlich immer von Dorf zu Dorf unterwegs und sehe nach dem Rechten. Allerdings gehe ich davon aus, dass ich mit Beginn der Osterferien häufiger da anzutreffen sein werde, wo die meisten Urlauber sind.“
„Dann werden wir uns ja noch häufiger sehen“, meinte Knut, prostete ihm und Jenny mit seinem Glas Trappistenbier zu, dann begann er zu essen.
„Sind Sie eigentlich hergekommen, weil Sie hier Ihre Mittagspause verbringen wollen, Wim?“, wollte Jenny von dem Polizisten wissen. „Oder geht es um den angezündeten Wagen von letzter Nacht?“
„Ersteres wäre mir lieber, aber der Wagen ist leider der Grund, warum ich eine Runde durchs Dorf machen muss“, antwortete der junge Mann und verzog den Mund. „Auch wenn ich davon ausgehen muss, dass niemand etwas gesehen hat, muss ich trotzdem so viele Leute befragen, wie es machbar ist. Haben Sie heute Morgen im Dorf zufällig irgendwelche Äußerungen mitbekommen, ob jemandem etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist? Irgendein fremder Wagen, der nur kurz irgendwo geparkt hat?“
Jenny schüttelte nur seufzend den Kopf. „Es ist ja immer das Gleiche. Bis jemand von dem rötlichen Lichtschein in seinem Schlafzimmer aufwacht, steht der Wagen schon längst komplett in Flammen, und der Brandstifter ist weit weg … oder gleich nebenan“, fügte sie nachdenklich an. „Ich meine, es kann ja auch jemand hier aus dem Dorf sein, der etwas gegen die Touristen hat.“
„Obwohl alle von ihnen profitieren“, hielt Wim dagegen.
„Mehr oder weniger“, stimmte Jenny ihm zu. „Wir haben ja zum Glück keine zwei Dutzend Kneipen rund um die Kirche verteilt. Wenn ich überlege, was woanders los ist, wo die Touristen nur hinfahren, um sich zu betrinken, dann können wir uns hier in Zuiderdijk nicht beklagen.“
„Und trotzdem richten sich die Brandanschläge bislang gegen Autos aus Deutschland, Belgien und Frankreich“, sagte Wim und wandte sich an Knut. „Meneer, haben Sie irgendetwas gesehen oder gehört? Ich weiß, der Campingplatz liegt ein Stück von Zuiderdijk entfernt, aber Sie könnten ja theoretisch etwas Ungewöhnliches beobachtet haben.“
Knut schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Ich lege mich jeden Abend um zehn Uhr ins Bett und schlafe bis sieben Uhr durch. In dieser Zeit höre ich nichts. Ich würde nicht mal hören, wenn ein Polizeiwagen mit Sirene über den Campingplatz rasen würde.“
„Da sind Sie zu beneiden“, sagte der Polizist lächelnd, dann setzte er eine ernste Miene auf. „Nach diesem erneuten Vorfall ist beschlossen worden, dass Fahrzeuge mit ausländischem Kennzeichen bis auf Weiteres nicht mehr in unmittelbarer Nähe zu Gebäuden oder Grünanlagen oder unter Bäumen parken dürfen. Sie dürfen auch nicht zu dicht neben anderen Fahrzeugen parken. Bislang hat sich der Brandstifter damit begnügt, einzeln abgestellte Autos anzuzünden, aber wir können nicht davon ausgehen, dass er das auch so beibehalten wird. Wir dürfen daher nicht riskieren, dass die Flammen auf ein Gebäude überspringen oder dass aus einem brennenden Auto gleich drei brennende Autos werden.“ Mit einer Kopfbewegung deutete er in Richtung Deich. „Falls Sie momentan Gäste aus dem Ausland haben, sagen Sie ihnen bitte, dass sie nur da am Straßenrand parken sollen, wo die Flammen auf ihre eigenen Autos beschränkt bleiben.“
Jenny zog die Augenbrauen hoch. „Das wird den Leuten nicht gefallen.“
„Dass sie so parken sollen?“, fragte der Polizist.
„Nein, dass die Polizei davon ausgeht, dass alle anderen Wagen auch noch abgefackelt werden könnten“, sagte sie. „Ich schätze, der eine oder andere wird dann wohl lieber abreisen.“ Sie zuckte flüchtig mit den Schultern. „Die Osterferien haben noch nicht angefangen, und es sind noch nicht viele Touristen hier. Also ist das Risiko hoch, dass es übernächste Nacht einen von ihnen erwischt, und ich würde so ein Risiko ganz sicher nicht eingehen wollen.“
Wim nickte verständnisvoll. „Leider haben wir noch nicht den Hauch einer Ahnung, wer dahintersteckt und nach welchem Prinzip er vorgeht – falls er nach einem Prinzip vorgeht.“
„Also, ich würde so ein Risiko nicht eingehen“, meldete sich Knut zu Wort, der seinen Teller bereits zur Hälfte leer gegessen hatte. „Dann ist mir ja die kuriose Überraschung lieber, die mir letzte Nacht bereitet worden ist.“
„Was für eine Überraschung?“, fragte Jenny erstaunt. „Sie hatten gar nichts erwähnt.“
„Ach, als ich heute Morgen aus meinem Wohnwagen kam, lag ein Strauß Tulpen auf der obersten Stufe vor der Eingangstür. Schwarze Tulpen. Zehn Stück“, betonte er. „Ausgesprochen schön, muss ich sagen. Nur weiß ich noch nicht, wer meine heimliche Verehrerin ist.“
„Na, die wird sich bestimmt bald zu erkennen geben, wenn sie mitbekommt, dass Sie bei Ihren Nachbarn auf dem Campingplatz herumfragen“, sagte Jenny.
„Tja, hoffentlich ist sie nicht älter als ich“, gab Knut schmunzelnd zurück.
„Wäre das ein Problem für Sie?“, fragte Wim verwundert.
Knut hob abwehrend eine Hand. „Sie wissen doch, wie die Leute reden, wenn sich eine ältere Frau einen jungen knackigen Liebhaber zulegt. Das wäre mir etwas unangenehm, muss ich sagen.“
Während Knut todernst blieb, konnte Jenny nicht anders als breit zu grinsen, was vor allem daran lag, dass der Polizist ihren Stammgast unschlüssig ansah. Ganz offenbar wusste er nicht, ob er Knuts Worte für bare Münze nehmen sollte oder nicht.
„Erlösen Sie ihn“, sagte Jenny schließlich.
„Da hab ich Sie aber rangekriegt, wie?“, rief Knut ihm lachend zu.
„Allerdings“, musste Wim grinsend gestehen. „So was sollte mir eigentlich nicht passieren.“
„Sie müssen einfach mehr Zeit mit mir verbringen, junger Mann“, meinte Jennys Stammgast, der sich bestens amüsierte. Dann wurde er wieder ernst. „Ich will aber erst recht nicht hoffen, dass irgendeine Sechzigjährige mit mir anbandeln will. Mit so jungem Gemüse kann ich nichts anfangen.“
Wieder zog Wim die Augenbrauen zusammen und musterte den älteren Mann eindringlich.
„Das ist mein Ernst, junger Mann“, sagte Knut nach einer kurzen Pause. „Da liegt eine ganze Generation dazwischen, und ich habe mit meinen vierundachtzig Jahren ganz andere Interessen als jemand, der fast ein Vierteljahrhundert jünger ist.“
„Interessant“, sagte Wim nachdenklich. „Ich hatte eigentlich erwartet, dass solche unterschiedlichen Einstellungen mit dem Alter verschwimmen würden.“
„Ganz im Gegenteil“, machte Knut ihm klar und aß den letzten Happen auf. „Für eine typische Sechzigjährige bin ich ein alter Knacker. Ich könnte ja praktisch ihr Vater sein, und so was wollen die sich genauso wenig vorstellen wie ich.“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber vielleicht sind die Tulpen ja auch für jemand anders gedacht und nur zufällig vor meinem Wohnwagen gelandet, und am Nachmittag klopft jemand an meine Tür und erklärt mir, dass das nur ein Irrtum war. Was mir ehrlich gesagt lieber wäre, denn ich habe keine große Lust auf Kontakte zu anderen Touristen. Ich fahre schließlich nicht ins Ausland, um mich da mit anderen deutschen Touristen zu unterhalten. Wenn, dann will ich was vom Land sehen und mit den Leuten reden, die da leben.“ Dann stand er auf, trank den letzten Schluck Bier und verkündete: „Und jetzt kehre ich erst mal in meinen Wohnwagen zurück und halte meinen Mittagsschlaf, damit ich ausgeruht bin, wenn sich die zukünftige Dame meines Herzens später am Tag bei mir blicken lassen sollte.“
„Viel Erfolg“, riefen Jenny und Wim ihm gleichzeitig hinterher. Er winkte ihnen über die Schulter zu und verließ das Grundstück der Pension in Richtung Marktplatz.
„Ein rüstiger älterer Herr, muss ich sagen“, bemerkte der Polizist.
„Stimmt, und sein Alter sieht man ihm auch nicht an“, ergänzte Jenny.
„Ich hoffe, hier ist nicht von mir die Rede“, ertönte eine amüsierte Stimme hinter ihnen, die Jenny bestens bekannt war.
Sie drehte sich um und begrüßte ihren guten Freund Rainer Trompeter mit einer herzlichen Umarmung, während der Polizist sich mit einer knappen Geste verabschiedete und weiterging. „Nein, von dir war nicht die Rede“, versicherte sie Rainer auf dem Weg zurück in die Pension. „Wir sprachen über deinen Landsmann Knut Hansen.“
„Dann kann ich nur zustimmen. Den würde wohl kaum einer auf über achtzig schätzen. Ich wünschte, ich würde in dem Alter auch noch so frisch und munter aussehen.“
„Wer sagt, dass du das nicht tun wirst?“
„Netter Versuch, Jenny“, sagte er lachend. „Aber dafür müsste ich jetzt noch schnell mit einer sehr langen Frischzellenkur anfangen, damit ich nicht länger älter aussehe, als ich bin.“
„Tust du doch gar nicht“, protestierte sie.
„Tu ich doch“, beharrte Rainer. „Aber notfalls kann ich mir immer noch meine eigene Maske modellieren, die mich wieder wie zwanzig aussehen lässt.“
„Tja, es hat seine Vorteile, ein international angesehener Maskenbildner zu sein“, sagte sie und schlenderte neben ihm her in Richtung Eingang zu ihrer Pension.
„Das kannst du laut sagen“, erwiderte er und grinste sie an. „Vor allem dann, wenn einem sein Ruf vorauseilt.“
„Klingt ganz so, als wäre dein Termin gestern in Hilversum gut gelaufen.“ Sie betraten die Pension, Jenny ging hinter die Empfangstheke und warf einen Blick auf den Monitor, um zu sehen, ob Mails eingegangen waren.
„Das kann man so oder so sehen“, sagte er und lehnte sich gegen die Theke. „Ich meine, ich bin hergekommen, um ein paar Monate meine Ruhe zu haben, und jetzt habe ich ein neues Engagement.“
„In den Staaten?“, fragte sie erschrocken. „Musst du schon wieder abreisen?“
Hastig hob er abwehrend die Hände. „Nein, nein, keine Sorge. So schnell wirst du mich nicht los. Allerdings werde ich dir nicht jeden Tag stundenlang auf die Nerven gehen können. Im Studio in Hilversum wird demnächst eine neue Fernsehserie gedreht, die erst mal auf fünf Jahre angelegt ist. Fantasy, und das heißt jede Menge Masken und jede Menge Arbeit für mich.“
„Fünf Jahre?“, wiederholte sie und zog beeindruckt die Augenbrauen hoch. „Und was ist mit deiner Arbeit in Hollywood? Dann kannst du doch da gar nichts mehr tun.“
„Kein Problem“, sagte er und winkte gelassen ab. „Meine Jungs haben da alles fest im Griff, und was hier entsteht, ist ja auch eine internationale Produktion. Einer der Produzenten kennt mich noch aus den Staaten und war völlig begeistert, als er meinen Namen auf dem Terminplan entdeckt hatte. Er hat mich engagiert, ohne dass ich irgendetwas tun musste.“
„Meinen Glückwunsch.“ Jenny lächelte ihn strahlend an. „So viel also zum Thema Auszeit.“
„Ach, das ist sogar ganz gut, dass sich das ergeben hat“, sagte er und griff nach der Tageszeitung, die auf der Theke lag. „Nichtstun ist auf Dauer auch nicht das Wahre, und da es hier nicht jede Woche einen neuen Mord aufzuklären gibt, gehen mir allmählich die Freizeitbeschäftigungen aus.“
„Na ja, einen Mord kann ich dir nicht bieten, aber letzte Nacht wurde wieder ein Auto angezündet.“
„Touristen?“
Sie nickte ernst. „Leider ja. Wenn der Feuerteufel nicht bald gefasst wird, werden sich unsere ausländischen Touristen andere Ziele im Land suchen. Wer will schon für ein paar Tage ans Meer fahren, wenn er nicht weiß, ob er noch ein fahrbereites Auto hat, wenn es wieder nach Hause geht?“
„Kann ich verstehen. Allerdings mache ich mir jetzt Sorgen um meinen Wagen. Der hat schließlich auch ein deutsches Kennzeichen, und es wird den Brandstifter sicher nicht interessieren, wenn ich einen Zettel mit der Aufschrift ‚Bin kein Tourist‘ ans Fenster klebe.“
„Oh, stimmt“, murmelte Jenny erschrocken. „Daran hatte ich gar nicht gedacht. Warte mal!“ Sie schnippte mit den Fingern. „Na, klar. Ich werde da drüben bei Meneer de Gieter nachfragen. Der hat vor Ewigkeiten seinen Führerschein abgegeben und seinen Wagen verkauft. Wenn er die Garage nicht für irgendwas anderes benutzt, kannst du deinen Wagen bestimmt da reinstellen. Dann ist er vor dem Verrückten in Sicherheit.“
Schmunzelnd erwiderte Rainer: „Dann wollen wir nur hoffen, dass es nicht dieser de Gieter ist, der hier überall die Autos anzündet.“
„Dann müsste er schon einen Turbomotor in seinen Rollator eingebaut haben, um sich schnell genug vom Tatort zu entfernen“, sagte sie lachend. „Ich soll dir übrigens einen schönen Gruß von Knut bestellen. Er ist momentan auf der Suche nach seiner Verehrerin!“
„Verehrerin?“, fragte Rainer verwundert.
„Kuriose Geschichte. Erzähle ich dir bei einem Teller Erbsensuppe.“
„Unox?“
„Was anderes kommt hier nicht auf den Teller“, sagte sie mit einem Augenzwinkern und kam hinter der Theke hervor, um in die Küche zu eilen.