Kapitel 1
„Ich bin bereit für meine Nahaufnahme, Mr DeMille.“
Daisy und ich waren gerade in der Küche beim Frühstück, als wir uns beim Klang der Stimme meiner Mutter umdrehten.
„Was zur –“, spuckte ich aus, da ich mich beinahe an meinem Tee verschluckte. Daisys Mund klappte weit auf und ein Stück halb gekauter Toast fiel heraus. Germaine, unser pelziges Spitz-Hundebaby, die unter dem Tisch auf Reste gehofft hatte, nutzte die Gunst der Stunde und verschlang es.
Meine siebzig Jahre alte Mutter posierte im Türrahmen, eingehüllt in ein bodenlanges schwarzes Abendkleid, das mit Pailletten besetzt war, von denen einige nur noch am seidenen Faden hingen. Sie hatte einen grell-pinken Pashmina-Schal um ihre Schultern gelegt und trug den dazu passenden Lippenstift. Lange Diamantohrringe baumelten an ihren Ohren, die ich als welche aus meinem eigenen Fundus von Verkleidungsschmuck erkannte und die ich seit Jahren nicht mehr getragen hatte. Ich nahm an, dass sie sich bei ihren Haaren an einer eleganten Hochsteckfrisur versucht hatte, aber es sah eher so aus, als hätte eine Elster ihr Nest auf ihrem Kopf errichtet, ein billiges Krönchen reingestopft und es dann mit einer sehr freigiebigen Nutzung von Haarspray davon abgehalten, sich zu bewegen.
Daisys Sinne erholten sich, bevor es meine taten. „Das ist … das ist ein gewagtes Outfit, Oma“, sagte sie mit einer Diplomatie, die für ihr zartes Alter ungewöhnlich war. Mum strahlte sie an und ich schluckte schwer; ich konnte sie so doch nicht aus dem Haus lassen. Es war 8.30 Uhr an einem Samstagmorgen im verschlafenen Cornwall und sie erinnerte mich an eine Frau von zweifelhaftem Ruf, allerdings im fortgeschrittenen Alter.
„Du siehst sehr … Das Kleid ist … Es ist ziemlich …“ Mir fehlten die Worte und das passierte nicht oft. Wenn man ein Bulle ist – ich war mal einer, in einem früheren Leben – erlebt man viele bizarre Dinge, bei denen die eigenen Worte entscheidend dafür sein können, ob eine Situation sich friedlich auflöst oder man sie zum Explodieren bringt. Allerdings war es dabei bisher nie um meine Mutter gegangen. Ich griff zurück auf den einen Satz, welcher der letzte Ausweg der überforderten Polizisten der Welt war. „Also, was haben wir hier?“
Mum versuchte mir einen Blick zuzuwerfen, der angekratzte Würde ausdrücken sollte, stattdessen wirkte sie, als hätte sie Verstopfungen. „Heute ist das Casting, oder nicht?“, sagte sie in einem Ton, der suggerierte, dass ich wissen sollte, wovon sie sprach. Aber das tat ich nicht.
„Was für ein Casting? Wovon redest du da?“
Sie schnalzte mit der Zunge, wie eine Frau, die andeuten wollte, wie schwierig es heutzutage war, gutes Personal zu finden, und zog einen Flyer aus ihrem goldenen Lamé-Handtäschchen, das sie umklammert hatte. Ich nahm ihn entgegen und las ihn für Daisy vor.
„‚Wollten Sie schon immer mal in einem Film sein? Das ist Ihre Chance! Statisten gesucht für ein historischen Drama, das im Oktober in Polvarrow House, Penstowan Cross, gefilmt wird. Wird gut bezahlt. Casting am Samstag, dem 27. September, ab 10 Uhr.‘“ Ich sah Mum an. „Also deswegen bist du aufgebrezelt wie Audrey Hepburn nach einem Drogentrip? Deswegen musste ich dich gestern nach Hause fahren, damit du ein Outfit holen kannst?“ Mum hatte ein eigenes Haus, aber sie lebte mehr oder weniger bei uns, jetzt, da wir zurück nach Penstowan gezogen waren. Gleichzeitig genoss sie aber ihre Unabhängigkeit – ohne den nervigen Umstand, das eigene Badezimmer putzen zu müssen.
„Ich wollte eigentlich mehr nach Downton Abbey aussehen“, sagte Mum vorwurfsvoll. „Die Filmleute haben am Mittwoch beim Kaffeeklatsch vorbeigeschaut.“ Die örtliche Kirchengemeinde veranstaltete jede Woche einen Senioren-Kaffeeklatsch, welcher die Brutstätte für Gerüchte, Skandale und Diskussionen über … ach, ich weiß nicht, Kompressionsstrümpfe, Tabletten gegen Sodbrennen und Bestattungsversicherungen war. Worüber sollten die sonst reden?
„Sie haben uns gebeten, ein gutes Wort für sie einzulegen, denn sie werden viele Statisten brauchen. Ich hab ihnen gesagt, dass meine Tochter mich hinbringen würde.“
„Wäre eine gute Idee gewesen, mir das auch zu sagen“, grummelte ich, aber es machte mir nicht wirklich etwas aus. Ich hatte für heute ohnehin noch nichts geplant.
Daisy drehte sich zu mir um, die Aufregung stand ihr ins Gesicht geschrieben, und ich wusste, was sie sagen würde, noch bevor sie den Mund öffnete.
„Ja, du kannst mitkommen“, sagte ich, „obwohl ich nicht versprechen kann, dass sie jemanden in deinem Alter brauchen können.“ Ich drehte den Flyer um; da waren mehr Informationen über den Film auf der Rückseite. „Hier steht, es ist ein historisches Fantasydrama – was auch immer das ist – mit einer Topbesetzung, inklusive –“ Ich schnappte nach Luft und sah Daisy mit weit aufgerissenen Augen an. „Zack Smith!“
Daisy sah aus, als würde sie gleich vom Stuhl fallen. „Zack Smith? Oh mein Gott, du machst Witze! Er ist unglaublich!“
„Wer zum Kuckuck ist Zack Smith?“, fragte Mum, während sie weiter ins Zimmer hoppelte und einen ihrer hohen, aber weit geschnittenen Schuhe abstreifte.
„Erinnerst du dich an den Film, den wir vor kurzem abends geschaut haben, mit dem Soldaten, der was mit dem Geheimdienst zu tun hatte und den sie, ohne sein Hemd, vom London Eye baumeln ließen?“ Daisy errötete ein wenig. Sie würde in ein paar Wochen dreizehn werden und ich wusste, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sie Jungs entdeckte, und es schien, als würde es langsam losgehen.
„Der dicke Kerl mit den langen Haaren?“ Mum verzog das Gesicht, während sie versuchte, sich zu erinnern.
„Nein, Oma“, sagte Daisy ungeduldig. „Du denkst an den falschen Film. Der, bei dem sie ihn durch die U-Bahn jagten und ihn dann im London Eye festhielten und er dann in den Fluss sprang und entwischte. Der junge schwarze Typ mit dem Sixpack.“
„Ich hab nie ganz verstanden, wieso er am Ende kein Shirt mehr anhatte“, sagte ich. „Abgesehen davon, dass man seinen Waschbrettbauch bewundern konnte, der wohl einen bleibenden Eindruck bei dir hinterlassen hat.“
„Gar nicht!“, protestierte Daisy erhitzt. „Und selbst wenn, was soll’s? Ich wette, du bist auf David Hasselhoff oder irgendwen anderen kitschigen abgefahren, als du in meinem Alter warst.“
„Der Hoff? Für wie alt hältst du mich?“, fragte ich verärgert. „Es war Mr Darcy …“
„Ja, du weißt schon, dass das eine erfundene Figur ist, oder?“
Daisy sah mich an, als wäre ich eine Spinnerin. Wobei sie da nicht ganz Unrecht hatte.
„Aus dem Fernsehen“, erklärte ich. „Colin Firth, wie er mit einem tropfnassen Hemd aus dem See steigt, war ein besonderer Moment in meinen prägenden Jahren als Teenager.“
„Uh ja, dieser Colin“, sagte Mum. „Der ist ein gutaussehender Typ. Mit dem würde ich meine Heizdecke teilen.“
„Mum!“, rief ich entsetzt.
Sie lachte. „Erzähl mir nicht, dass du dich lieber mit einem guten Buch ins Bett legen würdest als mit Mr Darcy selbst! Für den würde ich mir sogar die Trickhüfte einsetzen lassen.“
„Ehrlich, du bist – Was meinst du mit Trickhüfte?“
Ich bereute die Worte in der Minute, da ich sie ausgesprochen hatte; ich wollte nicht wissen, was eine Trickhüfte war, nicht von meiner eigenen Mutter.
„Erinnerst du dich an Margery? Die mit Alf, dem Metzger, verheiratet ist? Die mit dem Bart?“ Ich nickte. Die arme Margery hatte tatsächlich eine unglückliche Menge an Kinnhaar, mehr sogar als ihr teiggesichtiger Mann. „Sie hat sich vor ein paar Jahren eine neue Hüfte einsetzen lassen, aber es ist nie richtig verheilt. Sie hat mir erzählt, dass die manchmal aus dem Gelenk springt, wenn die beiden …“ Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu und nickte.
Daisy und ich sahen einander an, entsetzt.
„Mir wird übel“, sagte Daisy und legte den Toast, den sie gehalten hatte, mit einem schmerzverzerrten Gesicht ab. „Ich werde wohl nie wieder was essen können.“
„Es ist immer eine gute Idee, den Mann in deinem Leben glücklich zu machen“, sagte Mum. „Was glaubst du, weshalb Margery die neue Spülmaschine bekommen hat?“
***
Ich war seit Jahren nicht mehr in Penstowan Cross gewesen. Es war einer dieser unbedeutenden Orte, wo man nur hinging, wenn man dort lebte. Eigentlich war es eine verlassene Landstraßenkreuzung. An einer der vier Ecken stand eine Kirche, an der anderen ein heruntergekommener Pub, dann war da eine noch heruntergekommenere Werkstatt (eine Zapfsäule für Autos, eine für Traktoren) und eine Handvoll Pferde. Man müsste eine Münze werfen, um zu entscheiden, ob der Pub oder die Kirche mehr Besucher anzog, aber keins von beidem hatte so viel zu tun wie die Werkstatt, und alle drei hatten bessere Zeiten gesehen. Keine der vier Straßen, welche die Kreuzung ausmachten, führte an einen besonders interessanten Ort, abgesehen von (oder vielleicht einschließlich) der, die nach Penstowan selbst führte. Und natürlich die, die nach Polvarrow House führte.
Ich packte alle, inklusive Hund, ins Auto und wir fuhren los.
„Margery und Alf“, begann Mum. Daisy und ich erzitterten bei dem Gedanken an die Gymnastikübungen, die Margery wohl veranstaltet hatte, um eine neue Spülmaschine zu bekommen. „Die wohnen hier die Straße runter, auf dem neuen Land.“
„Welches neue Land?“, fragte ich. Die Kreuzung lag vor uns.
„Die neuen Eigentümer von Polvarrow haben ein bisschen von ihrem Land verkauft, oder nicht?“
„Oder nicht? Keine Ahnung.“ Mum schien manchmal zu vergessen, dass ich die meiste Zeit der letzten zwanzig Jahre weg gewesen war, und das Hin und Her des Lebens in ihrem kleinen Teil von Cornwall schaffte es leider nicht in die Londoner Abendnachrichten.
„Doch, doch, die haben die Gegend wieder richtig aufgemotzt“, sagte Mum.
Und wie sich zeigen sollte, hatte sie damit nicht gescherzt.
Der Pub war komplett umgestaltet worden. Die Malerarbeiten waren frisch, Tische waren fröhlich auf der Grasfläche davor arrangiert und ich konnte sehen, dass der Biergarten ums Eck, nun, wie ein Biergarten aussah, statt wie ein Stück Niemandsland im Kalten Krieg. Hängende Blumentöpfe zierten die Vorderseite des Gebäudes, noch voller Blüten, obwohl wir schon weit im Herbst waren.
Die alte Werkstatt war übernommen worden, mitsamt einem dieser Firmenlogos, die einem förmlich ins Gesicht sprangen, mehr Tanksäulen (und höheren Preisen) und einem örtlichen Supermarkt. Und trotz der Tatsache, dass man eine Kirche als solches nicht umgestalten konnte, sah sie wesentlich heller und einladender aus; ein Ort, um sich zu versammeln und zu danken, statt furchtbare Sünden zu gestehen und eine Dosis Höllenfeuer zu kassieren.
Ich bog ein, in Richtung Polvarrow House. Ich war bisher einmal im Herrenhaus gewesen, als mein Exmann Richard, alias ‚dieses betrügerische Schwein‘, und ich unsere Hochzeit geplant hatten. Ich hatte diese Wahnsinnsidee von einem Empfang in einem Herrenhaus, und während eines Besuch bei meinen Eltern (ich war allein, wie immer) hatte ich gehört, dass die Besitzer daran dachten, eine Hochzeitslocation daraus zu machen, um Geld für die Instandhaltung des Hauses zu verdienen. Ich hatte es niemandem gegenüber erwähnt – um ehrlich zu sein, konnte ich mich damals nicht entscheiden zwischen dem großen Kleid und einer schicken Hochzeit oder einfach nur irgendwo hinzufliegen, wo es heiß war, und am Strand zu heiraten (letztendlich machten wir keines von beidem) – und ich nahm mir einen Nachmittag frei, um mich mal umzusehen.
Es war fürchterlich. Das Haus hatte von außen einigermaßen in Ordnung ausgesehen, obwohl die Grünflächen etwas wilder zugewachsen waren als ich gehofft hatte und nichts gemein hatten mit fein säuberlich getrimmten Hecken oder gemähten Rasen mit Streifenmuster, die ich mir vorgestellt hatte; aber einmal drinnen, erschloss sich einem das volle Ausmaß des Verfalls und der Vernachlässigung, dem das Gebäude zum Opfer gefallen war. Statt wunderschöner zeitgemäßer Dekoration, auf die ich gehofft hatte, handgemachter Wandschoner, Stuckverzierungen und Vergoldungen, war da Raufasertapete – dieses seltsame geprägte Papier, das man anbrachte und dann darüber malte. Es war darüber gemalt worden, mit Zigarettenrauch geprägtem Gelb; oder vielleicht war gar nicht darübergestrichen worden und die Farbe hatte sich durch Generationen von Kettenrauchern entwickelt. Die Möbelstücke waren ein bizarrer Mix aus Antiquitäten, von denen die meisten eine neue Polsterung vertragen hätten, und zusammensteckbarem Kram von Ikea. Da waberte ein komischer, muffiger und unangenehmer Geruch von irgendwoher herum, und der Gedanke, meine Gäste einzuladen, sich hier zu setzen und etwas zu essen, das in dieser verschimmelten Jauchegrube von einer Küche zubereitet werden würde, verwandelte mein Inneres in Wackelpudding. Nein, danke. Ich entschuldigte mich schnell und ging, aber nicht ohne einen Blick von absoluter Hilflosigkeit und Verzweiflung von Seiten der Besitzer zu kassieren. Sie taten mir leid, belastet mit diesem monströsen Haus, aber nicht leid genug. Ich hoffte, dass die neuen Eigentümer genauso viel Magie an ihrem eigenen Haus angewandt hatten wie an dem Dorf.
Wir fuhren durch das Eingangstor des neuen Besitzes, welcher voller grasbewachsener Sackgassen, internen Garagen und identischen, kastigen, aber fein getrennten Häusern war. Er mündete schließlich in einer langen Zufahrt zu Polvarrow House. Das schmiedeeiserne Tor stand offen, war glänzend schwarz gestrichen, mit einem verschnörkelten PV Monogramm, das in Gold herausstach; da war kein Anzeichen von dem Rost, der es beim vorherigen Besuch verdorben hatte.
Wir fuhren eine Allee von Ulmen entlang, deren Blätter begannen, ihre Farbe von einem beinahe Limettengrün zu gelb zu wandeln, und schließlich einen Bronzeton annehmen würden, während der Herbst im Land Einzug erhielt. Auf der rechten Seite grenzte ein fein gemähter Grünstreifen an riesige Büsche – uralte Rhododendren und Azaleen, wie es aussah, obwohl ich keineswegs ein Blumenexperte bin und das wohl die einzigen Pflanzen sind, die ich erkenne. Dahinter lagen die rückwärtigen Gärten der neuen Häuser, abgegrenzt durch einen schwarzen Eisenzaun.
Die Allee machte eine Kurve nach links, weg von dem Gelände, und wir wurden mit einer ersten Aussicht auf Polvarrow House selbst belohnt, welches so viel gepflegter aussah als bei meinem letzten Besuch. In Bällchenform geschnittene Büsche standen in steinernen Töpfen entlang der Zufahrt, und ein steinerner verzierter Brunnen, der, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, gesprungene Stellen hatte und mit grünem Moos bewachsen war, spuckte nun Fontänen von Wasser in die Luft, die mit einem sanften Platschen im Becken darunter landeten.
„Wow“, sagte Daisy und ich musste ihr zustimmen.
„Es ist wunderschön, oder?“ erwiderte ich.
„Das Haus hab ich nicht gemeint“, erklärte sie, und dann sah ich, was sie gesehen hatte.
Es sah aus, als sei Hollywood – oder zumindest der Hinter-den-Kulissen-Teil – nach Cornwall gekommen. Da war ein ganzes Dorf an Zelten aufgebaut, Wohnwagen und Trucks, die auf dem Kies neben dem Haus parkten. Es schien, als würde im Moment nicht gefilmt werden, aber trotzdem war ordentlich was los – Filmleute, die mit Klemmbrettern herumliefen und wichtig aussahen, in Handys sprachen und wild gestikulierten. Ich parkte neben einem freundlich aussehenden älteren Mann, der wohl die einzige Person war, die stillstand, und ließ das Fenster herunter. Er lehnte sich bereits zu mir, bevor ich überhaupt etwas sagen konnte.
„Hallo! Sind Sie wegen des Castings hier?“, fragte er. Wir alle drei nickten. „Wunderbar! Folgen Sie einfach der Auffahrt um die Ecke und parken Sie dort, dann folgen Sie den Schildern.“ Er trat mit einem Lächeln zurück und zeigte uns, wo wir hin sollten.
Wir fuhren um das Haus herum, auf die Rückseite von Polvarrow House. Der Parkplatz war gerammelt voll und ich erkannte einige der Wagen. Wir parkten und stiegen aus. Ich hatte Mum überreden können, sich etwas weniger Exzentrisches anzuziehen, indem ich sie mit einem anschließenden Besuch im örtlichen Gartencenter bestach. Sie liebte es, dort herumzustöbern und sich Pflanzen anzusehen, obwohl sie genauso braune Daumen hatte wie ich und dort selten etwas kaufte. Sie hatten dort auch ein wirklich gutes Café und ich hatte vor langer Zeit gelernt, dass meine Mutter so ziemlich alles für einen warmen Früchtekuchen und eine nette Tasse Tee tat.
Wir folgten den Schildern, die in Richtung ‚Casting‘ wiesen, zurück zur Vorderseite des Hauses und in ein großes Zelt. Der nette Mann, mit dem wir vorhin gesprochen hatten, stand davor und lächelte, als er uns entdeckte.
„Sie haben einen Parkplatz gefunden? Wunderbar!“, rief er enthusiastisch.
„Sind Sie der Regisseur?“, fragte Daisy.
Er lachte. „Oh, ach du liebe Güte, nein“, sagte er. „Ich habe mit all dem nichts zu tun. Ich bin David Morgan, der Eigentümer von Polvarrow.“
„Ihnen gehört das hier?“, fragte ich. „Es ist wunderschön. Ich war einmal hier, vor Jahren, als der letzte Besitzer noch hier war, und es war in einem ganz schön schlimmen Zustand.“
Er nickte. „Ja, sie waren nette Leute, aber ich denke, die Reparaturen wurden zu viel für sie. Es ist wirklich teuer, ein Haus wie dieses instand zu halten.“
„Aber sicher ist es das wert.“
Er drehte sich um und sah sich stolz das Haus an. „Ja. Ja, das ist es.“
Wir alle bewunderten Polvarrow House für einen Moment, als –
„Nosey!“ Wir drehten uns alle um, um meinen ältesten Freund auf der Welt zu entdecken, Tony Penhaligon, der im Eingang des Zeltes stand und ein Blatt Papier umklammerte. Er winkte uns. „Bist du auch gekommen, um dich einzutragen?“
„Sag mir nicht, deine Mutter hat dich auch hierher geschleppt?“, fragte ich, während Germaine, mit wedelndem Schwanz, zu ihm hinüber rannte. Sie war immer froh, ihn zu sehen. Er kniete sich hin und begrüßte sie.
„Niemand hat mich hergeschleppt“, sagte er und lachte, als Germaine erst seine Hand und dann seine Taschen abschnüffelte. „Es tut mir leid, Süße, aber heute habe ich keine Leckerlis für dich.“
„Ich hab auch keine erwartet“, erwiderte ich.
Er richtete sich wieder auf, die Augenbrauen hochgezogen. „Du weißt, dass ich mit dem Hund gesprochen habe?“
Ich seufzte. „Ja. Ich bin’s gewohnt, dass sie mehr Aufmerksamkeit bekommt als ich. Also, du willst wirklich in diesem Film mitspielen?“
„Na klar!“ Tony nickte aufgeregt. „Ich wollte immer auf die große Leinwand. Erinnerst du dich nicht an die ganzen Schulaufführungen?“
„Uh, ja!“, rief Mum. „Ich erinnere mich. Du warst in Der Wind in den Weiden.“
„Rate mal, wen ich gespielt habe?“ Tony wandte sich an Daisy, die versuchte, den Hund zu beruhigen.
„Den Wind“, murmelte ich.
„Du warst eifersüchtig, weil ich die Hauptrolle bekommen habe, und was warst du? Oh ja, ein altes Waschweib!“
„Du musstest dich mit einem grün bemalten Gesicht vor allen auf die Bühne stellen“, machte ich klar.
„So eifersüchtig …“
„Müssen wir vorsprechen?“, fragte Daisy. „Machen sie Probeaufnahmen, wie man’s immer im Fernsehen sieht?“
„Nein“, sagte Tony. „Du füllst nur dieses Formular aus und wartest darauf, dass sie dich aufrufen. Sie schauen dich mal an, um zu sehen, ob du richtig aussiehst –“
„Ob man richtig aussieht?“, fragte ich.
„Es ist ein historisches Drama, oder nicht? Keine Tattoos oder Nasenringe.“ Tony zwinkerte Mum zu. „Versteck besser deine Tattoos, Shirley!“
Mum kicherte. Ich verdrehte die Augen. Tony schaffte es immer, meine Mum um seinen kleinen Finger zu wickeln, besser als ich es konnte, was wohl kaum fair war.
„Und das ist alles?“, hakte Daisy nach. Sie war bei dem Gedanken daran, sich vor alle hinstellen und schauspielern zu müssen, aufgeregt, aber auch nervös gewesen, nahm ich an, und nun sah sie erleichtert aus.
Tony nickte. „Das ist alles. Nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste. Hier.“ Er führte uns in das Zelt. Drinnen stand ein langer Tisch, der voll mit Formularen und Tassen voller Kugelschreiber war. Eine gelangweilt aussehende Frau saß dahinter und scrollte auf ihrem Handy. Sie sah kaum auf, als wir eintraten. An der Zeltwand war eine Reihe Stühle aufgestellt worden, die meisten davon waren besetzt, während am anderen Ende ein weiterer Tisch stand, hinter dem ein Mann und eine Frau saßen. Er schrie: „Der Nächste!“, und der Inhaber des Stuhls, der ihnen am nächsten war, stand auf, übergab das Formular und wartete dann peinlich berührt vor ihnen. Alle auf den Stühlen standen auf und rutschten auf den nächsten Stuhl.
Mum und Daisy nahmen beide ein Formular und setzten sich, um sie auszufüllen. Tony sah mich erwartungsvoll an, aber ich schüttelte den Kopf.
„Nein. Mich verlangt es nicht danach, auf der großen Leinwand zu erscheinen.“
„Wirklich? Das glaube ich dir nicht.“
„Ich will wirklich nicht.“
„Du willst bloß nicht wieder als Wäscherin gecastet werden.“ Tony grinste und ich tat, als ob ich ihm eine verpassen wollte, der er einfach auswich. „Nein, ehrlich, denk doch mal darüber nach. Es ist wirklich einfach. Alles, was du tun musst, ist rumzustehen und ab und zu mal ‚Rhabarber, Rhabarber‘ zu rufen oder so was. Die bezahlen dir einen Hunderter und füttern dich, nur fürs Kostüm tragen.“
„Hundert?“ Das war verführerisch, aber … nein. „Du brauchst doch nicht etwa Geld, oder? Der Laden läuft doch gut?“ Tony führte das einzige Kaufhaus der Stadt, welches seiner Familie seit einigen Generationen gehörte.
„Der Laden läuft prima, ich will nur ein Filmstar werden. Wie gut, dass ich einen netten Boss habe.“ Er sah mich ernst an. „Wie viel hast du im Moment zu tun?“
„Genug“, sagte ich, aber ich hatte tatsächlich überhaupt keine Arbeit. Mein Catering Business kam erst langsam in die Gänge, aber es war nicht die richtige Jahreszeit für Hochzeiten oder Outdoor Events, und die Weihnachtsfeier-Saison fing erst in ein paar Monaten an. Um ehrlich zu sein, lebte ich gerade von meinen Ersparnissen, und die würden nicht mehr lange reichen.
„Wirklich?“ Tony senkte seine Stimme. „Komm schon, Jodie. Das ist leicht verdientes Geld. Ich mache mir Sorgen um dich.“
„Das musst du wirklich nicht.“
„Doch, das muss ich. Ich will nicht, dass dir das Geld ausgeht und du wieder zurück nach London ziehst; ich habe mich daran gewöhnt, dass du wieder hier bist.“ Er lächelte. „Ich brauche dich hier, um mich rauszuboxen, wenn ich in Schwierigkeiten gerate. Nicht, dass ich eine weitere desaströse Hochzeit plane oder ähnliches.“ Mein erster Job, den ich – wieder zurück in Penstowan – hatte, war das Catering für Tonys Vermählung mit seiner ehemaligen Verlobten Cheryl, und zu sagen, es wäre nicht nach Plan verlaufen, wäre eine Untertreibung. Die Leiche seiner Exfrau war in den Büschen der Hochzeitslocation aufgetaucht und Cheryl hatte aus Angst die Kurve gekratzt, weshalb es so wirkte, als hätte sich Tony beider entledigt.
Ich sah ihn an. „Das solltest du besser nicht. Ich denke nicht, dass Nathan mich eine weitere Mordermittlung hindurch ertragen würde.“
„Oh, ich weiß ja nicht. Ich glaube, ihm gefällt das …“ Tony sah sich um, als der Mann hinter dem Tisch wieder ausrief: „Der Nächste!“
„Also schön, dann setz dich wenigstens zu uns.“
Wir gingen zu Daisy und Mum. Sie waren aufgeregt und plauderten mit Tony, aber ich saß da und dachte: Ein Hunderter für einen Tag, nur fürs im Kostüm rumstehen? Ich könnte tatsächlich einen Hunderter am Tag gebrauchen. In ein paar Wochen war Daisys dreizehnter Geburtstag und ich wusste, was ich ihr schenken wollte, aber ich wusste nicht, ob ich mir das leisten konnte. Und das Pornomobil – mein Cateringwagen, der wegen dem, äh, interessanten Geschäft seines Vorbesitzers so hieß – hatte ein klapperndes Geräusch entwickelt, das nicht mal mehr durch ein voll aufgedrehtes Radio übertönt werden konnte, was normalerweise meine gängige Reparatur-Strategie war. Ich hoffte, dass es nur eine temporäre Unpässlichkeit war und kein Todesröcheln, aber ich fürchtete, dass es das Letztere war.
Ich stupste Tony an. „Bist du dir sicher, dass sie so viel zahlen?“
„Jepp. Ich hab gefragt.“
„Für wie viele Tage werden die uns wohl brauchen?“
„Ich weiß nicht, aber die sind nur für zwei Wochen hier. Offenbar haben sie das meiste des Films schon in Schottland gefilmt.“ Er kicherte. „Ich dachte, du wärst nicht interessiert?“
„Bin ich nicht.“ Ich senkte meine Stimme. „Aber Daisy braucht einen neuen Computer, also wollte ich ihr einen richtig guten zum Geburtstag schenken. Sie interessiert sich für Fotografie, und ich will ihr diese ganzen Programme schenken, und all das zusammengenommen ist wirklich teuer.“
„Dann mach das hier, um Himmels willen! Das wird lustig! Und wir können Zeit miteinander verbringen!“ Tony sprang auf und nahm ein weiteres Papier, dann setzte er sich und warf es mir in die Hände. „Füll das aus und hör auf, so dumm zu sein.“
Also hörte ich auf, dumm zu sein. Wie konnte ich so eine Summe Geld ablehnen, dafür, dass ich ein vornehmes Kleid anziehen und vornehm aussehen würde, in einem vornehmen Haus? Ich füllte das Formular aus und wartete darauf, dass ich an der Reihe war. Die Casting-Leute kamen endlich zu uns, sahen uns vier an, nickten und schickten uns mit dem Versprechen weg, dass sie sich mit dem Zeitplan für den Film melden würden. Sogar zu Daisy sagten sie, sie würde einen Anruf bekommen, obwohl sie vermutlich nur für einen Tag gebraucht werden würde.
„Also, das war’s dann“, sagte Mum. „Ich bin bereit für meinen warmen Früchtekuchen, Mr DeMille.“
Kapitel 2
Es war knapp eine Woche später, als ich den Anruf bekam. Daisy war in der Schule und Mum wurde nicht am Set gebraucht (ich hatte die Sprache schon drauf), also ließ ich sie auf den Hund aufpassen und machte mich auf den Weg nach Polvarrow House.
„JA!“ Meine Freundin Debbie sprang mich in der Sekunde an, da ich meinen Wagen verließ. Sie war eine laute (sehr laute) Frau aus Manchester und sie hatte meinen Highschool Schwarm geheiratet (der immer noch ein wunderbarer Mann war, allerdings mit vierzig nicht mehr ganz die Sahneschnitte, die er mit sechzehn gewesen war), aber mit ihr hatte man immer Spaß und ich war sehr froh darüber, dass sie, nach Tonys unglücklicher Hochzeit vor ein paar Monaten, mit Callum und ihren beiden Kindern nach Penstowan gezogen war.
„Tony sagte, dass du dich hier eingetragen hast“, sagte sie und zog mich in eine schnelle Umarmung, ließ mich dann los und glättete den Stoff ihres Kleides. „Das wird richtig lustig, oder? Was hältst du von diesen Röcken?“
Sie drehte sich kurz für mich. Ich musste zugeben, dass sie wahnsinnig gut in ihrem Kostüm aussah. Es war ein langes Seidenkleid in Pfauenblau-grün – meiner Lieblingsfarbe. Es war ein Empire-Schnitt, die Art, die eng unter der Brust saß, dann weiter wurde und so alle molligeren Stellen versteckte. Und es hob einige Stellen hervor, die an Debbie wirklich nicht hervorgehoben werden mussten. Ich nickte in Richtung ihres beeindruckenden Dekolletés.
„Da könntest du ein Fahrrad drin abstellen“, sagte ich und sie kicherte.
„Ich weiß! Gut, oder nicht? Ich hab Callum ein Selfie geschickt und er wäre beinahe hierhergekommen, um mich von meinem Korsett zu befreien.“
„Also, wann ziehst du dein Kostüm an?“, sagte ich und sie lachte wieder.
„Schätzchen, wir werden so viel Spaß haben … Na los, geh und schnapp dir dein Kostüm!“ Sie schubste mich in Richtung eines großen Wohnwagens, der neben den alten Ställen geparkt war.
Der Wagen war das pure organisierte Chaos. Die Kostümbildnerin, eine Frau in ihren Fünfzigern mit einem Wust an krausem Haar, einer winzigen Brille auf ihrer Nase und einem Maßband um ihren Hals, pflügte durch eine Schar von Statisten, die sich alle in ihre Kleider quetschten und sich einander die Reißverschlüsse zuzogen.
„Nicht daran ziehen; Sie zerreißen sonst den Stoff“, ermahnte sie eine der Frauen, die ich aus dem örtlichen Supermarkt kannte. „Einatmen.“
„Wenn ich noch tiefer einatme, werde ich blau“, murmelte die Frau. Ich lächelte sie voller Mitleid an.
„Dann passen Sie wenigstens zum Kleid“, sagte die Kostümbildnerin. Sie wandte sich an mich. „Name?“
„Jodie Parker“, sagte ich und streckte mich nach einem Kleid, das an der Stange in meiner Nähe hing. Sie schnappte mir das Kleid weg.
„Moment mal …“ Sie sah sich das Klemmbrett in ihrer Hand an, dann sah sie an mir hoch und runter mit einem dünnen Lächeln. „Ah ja, Sie gehören nicht zu dieser Gruppe. Hier rüber.“ Sie führte mich weg von den Reihen wundervoller Seidenkleider zu einer anderen, die nach einer Reihe von Kartoffelsäcken aussah.
Das soll wohl ein Scherz sein, dachte ich, als sie mir mein Outfit reichte …
***
„Oh mein Gott!“ Tony war die letzte Person, die ich in diesem Aufzug sehen wollte, also war er natürlich der Erste, den ich traf, als ich das Zelt verließ.
Ich blickte ihn finster an. „Sag kein Wort“, grummelte ich.
Er verkniff sich das Grinsen, aber es blieb nicht lange verschwunden. „Es tut mir leid, ich kann … ich kann nur nicht glauben, dass du schon wieder die Rolle des Waschweibs ergattert hast!“ Er lachte, aber es war eher mitleidig als dass er sich über mich lustig machte.
„Das ist nicht fair“, grummelte ich und war mir bewusst, dass ich wie Daisy klang, der gesagt wurde, dass sie unter der Woche nicht bis nach neun Uhr aufbleiben durfte. „Ich meine, hast du Debbie gesehen? Sie sieht fantastisch aus. Dieses Kleid, das sie bekommen hat –“
„Ich dachte, du wärst nicht der Typ für Kleider?“, fragte Tony verständlicherweise, da er mich bisher nur in Jeans und T-Shirt gesehen hatte. Als Erwachsene zumindest.
„Bin ich auch nicht. Ich bin aber auch nicht der Kartoffelsack tragende Typ.“ Ich ließ mich auf eine Bank fallen. „Das werde ich nie ungeschehen machen können. Ihr gehört alle zur Aristokratie und ich bin eine Magd.“
Tony lächelte und setzte sich neben mich. „Wenn es dir ein Trost ist, das hier ist nicht das bequemste Outfit, das ich je getragen habe.“ Er zog am Kragen des Hemds. Er war gerüscht.
„Das ist eine Wahnsinnsbluse, die du da trägst“, kicherte ich.
„Jap. Ich kann förmlich sehen, wie sich der Trend durchsetzt, bis ihn alle Freitagabend im King’s Arms Pub tragen. All die Kerle, die auf ein Pint reinkommen, nachdem sie den ganzen Tag fischen waren, werden ganz verrückt nach dieser Rüschenbluse sein.“ Er lächelte mich an und ich fühlte mich besser, obwohl der Stoff meines furchtbaren Kleides sich wie Sackleinen anfühlte und ich schon spüren konnte, wie er unter meinen Armen rieb.
„Dir ist klar, dass ich jede Menge Fotos von dir in dieser Bluse machen werde – und diese Hosen! Wie eng ist bitte diese Hose?“
„Mein Würstchen und die beiden Fleischbällchen fühlen sich an, als wären sie eingeschweißt worden“, sagte Tony und stellte sich auf seine zwei Beine, um mir exakt vorzuführen, wie eng die Hose war. Lieber Gott, die waren wirklich recht eng.
Ich schluckte schwer. Was hatte ich gerade gesagt? Oh, ja.
„Ich werde eine Menge Fotos von dir in diesem Aufzug machen, und sobald du mich nervst, wird ein neues veröffentlicht …“
Wir saßen und beobachteten, wie Mitglieder der Crew hin und zurück über das Gelände tippelten und aus den Trailern, die auf dem Kies geparkt waren, rein- und raushüpften. Tony zeigte auf einen der Wagen.
„Siehst du den großen da? Das ist Faith Mackenzies Trailer.“
„Faith Mackenzie? Ich wusste nicht, dass sie dabei ist. Wer sonst noch?“
„Na ja, Zack Smith ist der große Star. Ich wette, du weißt, dass er dabei ist.“ Ich nickte heftig und er grinste. „Was ich so mitbekommen habe, ist er der junge Anwärter auf den Thron oder der rechtmäßige Erbe oder so was. Du weißt, wie diese Dinge funktionieren. Faith ist die böse Königin und sie ist mit Jeremy Mayhew verheiratet.“
„Wer ist das? Der Name kommt mir bekannt vor.“
„Er hat den Bullen in dieser Serie vor ein paar Jahren gespielt, Bagnall. Der aus dem Norden. Zuletzt war er in Game of Thrones, darin hatte er einen grausamen Tod.“
„Hatte den nicht jeder?“, sagte ich. „Ich weiß, was du meinst. Ich dachte, er wäre vor Jahren an einer Alkoholvergiftung oder so was gestorben.“ Mayhew war ein Schauspieler aus Liverpool, gutaussehend, mit einem rauen Gesicht, was man früher wohl einen ‚harten Kerl‘ genannt hätte – im Prinzip ein Trinker mit einem Wutproblem und einer Prise frauenfeindlichem Sexismus. Faith hatte das Alter erreicht, in dem man sie als ‚Liebling der Nation‘ bezeichnete. Sie hatte als Model begonnen, dann hatte sie in den achtziger Jahren in ein paar kleinen Hollywoodfilmen mitgespielt, bevor sie ein Stammgast im britischen Fernsehen wurde und schließlich Langzeitmitglied einer Langzeitseifenoper. „Woher weißt du das alles eigentlich? Das ist doch erst unser erster Tag am Set.“
„Ich rede mit Menschen.“
„Damit meinst du wohl, dass du genauso neugierig bist wie ich!“
Tony grinste und schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht neugierig, ich bin eine gesellige Person. Und dann ist da noch die andere Hälfte des Liebespaares, denn so was braucht man immer. Eine weitere Schauspielerin, von der ich noch nie gehört habe, Kim Tacky-irgendwas. Japanerin, glaube ich.“
Ich dachte angestrengt nach. „Kimi Takahashi? Sie war vor ein paar Jahren in so einem Superheldenfilm, in dem die Maschinen sich erheben.“
„Terminator?“
„Nein, nein, ein neuerer Film, einer für Kinder. Daisy war wie besessen davon. Kimi hat einen Toaster oder so was gespielt.“ Tony lachte auf. „Ich meine es ernst! Sie war so was wie die Seele einer vierseitigen Sandwichmaschine –“
Tony legte seine Hand auf mein Bein, um sich wieder zu fangen, während er herzlich lachte. Normalerweise wäre es mir nicht aufgefallen, aber diese engsitzenden Hosen hatten eine ziemlich beunruhigende Wirkung auf mich.
„Hör auf, du machst mich fertig“, keuchte er. „Oh Gott, diese Hosen sind so eng. Einmal niesen und der Schritt ist hinüber.“ Und das gab mir nun auch den Rest.
Wir ernteten ein paar seltsame Blicke, dieses seltsam gekleidete Pärchen, das sich auf einer Bank kaputtlachte, während alle anderen Leute um sie herum ihre Arbeit machten, aber letztendlich machte es das nur schwerer, aufzuhören.
Aber wir hörten – irgendwann – damit auf und als Debbie zu uns kam, untersuchte sie unsere geröteten Gesichter und mit Tränen gefüllten Augen neugierig. Nicht lange danach wurden wir ans Set gerufen – in den großen Ballsaal.
Polvarrow House hatte keinen großen Ballsaal gehabt, als ich das letzte Mal da gewesen war, aber nun schon.
„Wahnsinn“, sagte ich, während wir in den Raum gescheucht wurden, und sogar Debbie, die wirklich nicht schnell zu beeindrucken war, pfiff durch ihre Zähne.
„Verdammte Axt!“
Der Raum war hell und groß, mit hohen Fenstern auf jeder Seite, durch die man das Gelände sehen konnte. Das letzte Mal, als ich diesen Raum gesehen hatte, hatte er einen Neuanstrich bitter nötig gehabt und war mit Möbeln vollgestellt gewesen. Nun hatte er all die geschichtlichen Details, die ich mir damals erhofft hatte: einen großen marmornen Kamin an einem Ende, weiße Stuckgesimse und dekorative Verzierungen an der Decke. Es gab einen riesigen Spiegel über dem Kamin und jemand hatte mit der Vergoldung etwas übertrieben, aber wenn ich genau hinsah, konnte ich erkennen, dass viel davon nur goldene Farbe war; die Filmleute hatten ein paar temporäre Veränderungen vorgenommen, um den Raum noch beeindruckender aussehen zu lassen, als sein Gerüst es vermuten ließ. An den Fenstern hingen schwere goldene Samtvorhänge und überall waren Lichter und Kerzen, die sich auf dem Marmor und dem Gold widerspiegelten; der Raum war für abends ausgestattet worden.
„Alles klar, willkommen!“ Eine offiziell aussehende, aber lächelnde junge Frau stand vor den versammelten Statisten. „Mein Name ist Lucy. Ich bin der erste AD“, – eine Frau in der Menge der Statisten hob die Hand –, „der erste Assistent Director, das heißt die erste Regieassistentin. Ich bin quasi die Vermittlerin zwischen unserem Regisseur Sam Pritchard und allen anderen.“ Die Frau senkte ihre Hand. Lucy lächelte wieder. „Okay, wie Sie sehen, sind wir auf einem Ball. Wir werden in dieser Szene unseren jungen Thronanwärter kennenlernen, den lieben Zack. Es wird ein bisschen Tanz geben, aber alles, was Sie tun müssen, ist rumzustehen und sich zu amüsieren. Sie sollen aussehen, als hätten Sie Spaß, aber denken Sie daran, dass wir uns in einer Art Parallelwelt des 18. Jahrhunderts befinden, also nichts zu Wildes.“ Sie fixierte Tony mit einem strengen Blick. „Denken Sie daran, Sie sind nicht mit Ihren Kumpels im Pub!“ Alle lachten höflich und Tony verbeugte sich ein bisschen, verzog aber das Gesicht als seine Hosen aufgrund der Bewegung ein Ächzen von sich gaben. Sie wandte sich an mich und meine Kollegen vom Hauspersonal; da war noch ein großer, linkischer Kerl in einer engen Dieneruniform, der gequält herumzappelte. Reibung, dachte ich. „Also Ihre Gruppe muss sich im Raum verteilen, als wären Sie jederzeit bereit, zu Diensten zu sein. Also passen Sie auf, aber starren Sie niemanden direkt an; Sie sind Personal, vergessen Sie das nicht.“ Meine Kollegen und ich nickten, aber eine rebellische kleine Stimme in mir stimmte nicht zu; ich war immer noch sauer wegen meines Kostüms.
Das Walkie-Talkie an Lucys Gürtel knackte und sie antwortete, hielt eine Hand hoch, um uns vom Reden abzuhalten, während sie zuhörte.
„Okay, wenn Sie alle hier warten könnten …“, sagte sie und stürmte davon.
Wir standen herum und warteten. Und warteten. Meine Füße begannen zu schmerzen und im Raum wurde es immer heißer. Alle schienen wichtige Dinge zu tun zu haben – Kabel ausrollen und sie mit Klebeband festkleben, um Stolperfallen zu vermeiden, Möbel abstauben und sie einen winzigen, aber wichtigen Zentimeter nach links zu verschieben, dann zurück nach rechts, dann, nein, zurück nach links, die Kamera justieren – aber wir Statisten standen nur rum. Und warteten.
„Verdammt nochmal, ist das langweilig“, sagte Debbie gähnend. Tony zog am Schritt seiner Hosen herum. Einige Crewmitglieder wanderten herum und schalteten die großen Scheinwerfer aus, damit sie nicht überhitzten. Und dann standen sie auch herum, plapperten und ich bekam den Eindruck, dass dieses Herumhängen keine ungewöhnliche Sache war.
„Ach, was solls“, grummelte ich und machte mich auf zu einem Stuhl am Kamin. Der zappelige Diener sah schockiert aus, bis die meisten der Statisten meinem Beispiel folgten und sich irgendwo eine bequeme Möglichkeit zum Sitzen oder Stehen suchten. Tony schob einen Stuhl quer durch den Raum und erntete dafür einen bösen Blick von einem der Möbel rückenden Crewmitglieder, aber den ignorierte er. Er stellte ihn neben meinen und wies Debbie an, sich dort zu setzen, dann platzierte er sich auf dessen Lehne, während er seine fest eingepackte Leistengegend langsam niederließ, bis sie beinahe auf meiner Augenhöhe war. Ich drehte mich vorsichtig zur Seite.
Die Filmleute begannen sich ihre Uhren und Telefone anzusehen. Es gab Gemurmel und Diskussionen. Vielleicht war diese lange Wartezeit doch nicht normal. Ich beobachtete eine Gruppe bei einer der Kameras, und es sah aus, als hätten sie einen der jungen Männer ausgewählt, der losziehen und herausfinden sollte, was los war, als Lucy, der erste AD, wieder hereingestürmt kam.
„Tut mir leid, Leute, wir machen jetzt Mittagspause“, sagte sie und wandte sich zum Gehen. Einer der Kameraleute rief ihr durch das allgemeine Stöhnen hinterher.
„Was ist los, Luce?“
„Gar nichts. Faith hat gerade nur eine Art kleinen Unfall …“
Kapitel 3
Natürlich spitzte ich bei diesen Worten die Ohren. Für mich war ‚eine Art kleiner Unfall‘ oft das Codewort für ‚ein verdammt großes Desaster‘, besonders, wenn es mit der Betonung und dem Gesichtsausdruck einherging, die Lucy anschlug und den sie präsentierte. Ich folgte Tony und Debbie aus dem Saal und fragte mich, welche Art von ‚Unfall‘ der Filmerei heute Morgen den Riegel hatte vorschieben können.
„Lasst uns was essen“, schlug Tony vor. Essen ist in meinen Augen immer eine gute Idee, obwohl, wenn jemand anderes kochte, entsprach es oft nicht meinem Standard. Wirklich schade, dass sie mich nicht für das Catering engagiert haben, dachte ich. Ich fragte mich, ob Polvarrows Küche nun auch besser und in einem hygienischeren Zustand war als bei meinem letzten Besuch.
Aber ich bekam nicht die Chance, das herauszufinden, denn wir wurden nach draußen geleitet, in die Nähe des alten Kutscherhauses, wo ein klassischer Airstream Wohnwagen geparkt war – einer von diesen richtig langen, silbernen Retro-Anhängern, die aussehen wie ein Projektil, der pure amerikanische Stil der fünfziger Jahre. Natürlich, dachte ich und erinnerte mich an einen meiner Kollegen in der Cateringschule. Er hatte mir damals erzählt, dass er sich nach dem Abschluss mit einem mobilen Cateringgeschäft selbstständig machen und sich dabei auf Film- und Fernsehsets spezialisieren würde, denn die drehten nicht immer an Orten mit Küchen, zumindest nicht solche, in denen man jeden Tag und über mehrere Tage für eine große Menge an Leuten kochen konnte. In den Räumlichkeiten hier würde man auf jeden Fall Probleme bekommen.
Eine Klappe an der Seite des Wohnwagens war geöffnet und bildete eine Theke, und innen war eine fantastisch zugeschnittene Küche zu erkennen. Auf der Ablagefläche war eine Reihe Tabletts mit Pasta zu erkennen, eine weitere mit Würstchen und Burgern, Tofu, Reis, Gemüse – es schien, als würden bei diesem warmen Buffet alle Arten der Ernährung bedient, egal wie ungewöhnlich sie waren. Außerdem waren auf der Ablage noch Behälter mit Salaten und Sandwiches zu sehen. Das Radio war laut aufgedreht und der Koch, ein Typ mit olivfarbenem Teint in seinen Dreißigern, sang mit, entweder war es ihm nicht bewusst oder es kümmerte ihn einfach nicht, dass sich inzwischen eine Schlange gebildet hatte. Er drehte sich um, immer noch singend, und hielt eine Pfanne mit einem herrlich duftenden Curry, die er dem Buffet hinzufügte. Dann knallte er einen großen Stapel Teller daneben und lächelte die Reihe hungriger Filmleute an.
„Buon appetito!“, rief er. „Haut rein!“
Das Essen sah wunderbar aus, roch auch so und mir gefiel auf jeden Fall der Anblick des Currys. Aber da war eine lange Schlange Menschen vor uns und ich wusste, wir würden noch eine ganze Weile warten müssen, bis die alle durch waren.
„Hmm …“ Ich murmelte leise vor mich hin, aber wohl nicht leise genug, denn Tony drehte sich schnell zu mir.
„Ich kenne dieses ‚Hmm‘“, sagte er, „was denkst du?“
„Ich denke nur darüber nach, mich vielleicht ein bisschen umzusehen …“
***
Mein kleiner Spaziergang führte mich über den Kiesweg, zurück zu der Bank, auf der Tony und ich vorhin unseren Lachanfall gehabt hatten. Es waren einige Leute vor dem großen Wohnwagen versammelt, den er als Faith Mackenzies ausgemacht hatte. Ich erkannte ihren Schauspielkollegen Jeremy Mayhew, den ich für gewöhnlich in harten zeitgenössischen Dramen sah, in denen er ausnahmslos in Jeans und Lederjacke herumlief. Er war gut gebaut, etwas stämmig und wirkte in den Kniebundhosen und Reiterstiefeln etwas seltsam, aber immerhin war sein Hemd weniger gerüscht als Tonys (ich nehme an, zu viele Rüschen würden von dem bösen Charakter seiner Figur ablenken). Ich hatte ihn einmal in den Wiederholungen dieser albernen Polizeiserie aus den Achtzigern gesehen, und als Jungspund war er ziemlich heiß gewesen, aber die vielen Jahre des Trinkens hatten zu den offensichtlichen Anzeichen geführt – wie den rot gefärbten Wangen und der Nase, die typisch für Alkoholiker war. Er war immer noch attraktiv, auf eine raue, sinnliche Art – die Art von Typ, mit der man Spaß hatte, solange man mit Ausschweifungen und einem Kebab anstelle eines edlen Dinners und einem Abend in der Oper einverstanden war.
Neben ihm stand ein junger Mann, der groß und schlank war und eine Baseballkappe trug. Ich nahm an, er war etwa in meinem Alter (in den Vierzigern), aber er hatte etwas Junges an sich, und das Superhelden-Shirt und die schwarz eingefasste Brille, die er trug, ließen ihn wie den typischen Filmnerd wirken. Daran, wie sich die Menschen in seiner Gegenwart verhielten, schien er aber doch jemand Wichtiges zu sein. Lucy gehörte auch zu ihnen, und ab und zu drehte sie sich um, um sicherzugehen, dass ihnen nicht zu viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde; sie versuchte offenbar, den Vorfall herunterzuspielen. Ein Kleinwagen mit den Worten 24 Stunden Schlosser mit einem Schloss und Schlüssel als Logo an der Seite, kam herangefahren und ein Mann – ich nehme an, der Schlosser – sprang heraus und griff sich seinen Werkzeugkasten aus dem hinteren Teil des Wagens. Lucy eilte zu ihm, sprach schnell mit ihm und führte ihn dann zu dem Wohnwagen. Die kleine Gruppe teilte sich und der Mann mit dem Werkzeug baute sich vor der Tür auf und untersuchte sie.
„Du bist ja so neugierig …“ Ich erschrak, als Tony neben mir auftauchte, zwei Hot Dogs mit Brötchen in der Hand. Er reichte mir eines. „Zwiebeln und Ketchup, aber kein Senf.“
„Danke.“ Ich nahm es ihm ab und biss einmal rein, wobei ich Ketchup auf meiner Nase verteilte. Er schüttelte den Kopf und wischte mir die Soße mit einem Finger vom Gesicht.
„Dreckspatz. Dich kann man nirgendwo mit hinnehmen. Was siehst du dir da an?“
Ich antwortete nicht gleich. Wir sahen zu, wie der Schlosser ein Spezialwerkzeug herausholte und vorsichtig das Schloss bearbeitete.
„Faith hat sich eingeschlossen“, sagte ich.
Tony lachte. „Also nichts zu Dramatisches.“
„Nein.“ Ich nahm einen weiteren Bissen Wurst. „Wer ist der Kerl mit der Baseballkappe?“
Tony kniff die Augen zusammen. „Ich glaube, das ist Sam Pritchard. Der Regisseur.“ Er schluckte einen Bissen Wurst herunter. „Lustig, oder? Ich habe alle seine Filme gesehen, aber ich könnte ihn in einer Menschenmenge nicht erkennen, selbst wenn mein Leben davon abhängen würde.“
„Mmm …“ Ich sah zu, wie der Regisseur (wenn er das wirklich war) mit Lucy sprach und dann davoneilte. „Wie sperrt man sich denn in einem Wohnwagen ein?“
„Was meinst du damit?“ Tony betrachtete die Szenerie weniger interessiert als ich.
„Na ja, das ist ein Wohnwagen, nicht Fort Knox. Der wird ein einfaches Yale-Schloss haben, oder nicht?“ Ich hatte als Teenager in einer Urlaubsregion schon einige Wohnwagen geputzt. Die meisten meiner Freunde hatten Ferienjobs gehabt, bei denen sie dasselbe hatten tun müssen. „Wenn man reingeht und die Tür zuzieht, schließt es, oder? Also kann niemand von außen rein, jedenfalls nicht ohne Schlüssel.“
„Ja.“ Tony saugte ein kleines Stück Zwiebel auf, das drohte, von seinem Brötchen zu fallen.
„Aber alles, was man von innen tun muss, ist, den kleinen Knauf zu drehen, und die Tür geht auf. Warum macht sie das nicht einfach?“
Tony sah mich an. „Dein sechster Sinn kitzelt wieder, nicht wahr?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Das ist das Polizeitraining. Das verlässt einen nie … Vielleicht ist sie zusammengebrochen. Vielleicht geht es ihr schlecht und sie kommt nicht an die Tür ran.“ Wir beobachteten, wie der Schlosser vom Schloss abließ und sich bückte, um sehr vorsichtig durch das Schlüsselloch zu sehen. Jeremy, der in der Nähe geblieben war, ging auf die Tür zu und sagte etwas, die Worte an den Wohnwagen gerichtet, dann trat er wieder zurück.
„Hmm“, murmelte ich. „So viel zu meiner Theorie.“ Ich merkte, wie Tony sich verwirrt zu mir drehte. „Er hat nicht geklopft oder geschrien oder ähnliches, oder? Also ist die Person im Trailer – vermutlich Faith – einfach nur auf der anderen Seite der Tür. Und weder Lucy noch der Regisseur sehen wirklich besorgt aus, nur ein bisschen gestresst. Also ist Faith nicht bewusstlos oder so etwas.“ Ich blickte mich um. „Niemand ist panisch genug dafür, dass sie krank wäre. Die sehen alle eher nach Technikern aus, nicht wie Mediziner.“
„Na, das ist doch schon mal gut, oder nicht?“, sagte Tony, der langsam das Interesse verlor.
„Ja, aber warum öffnet sie dann nicht einfach die Tür?“ Ich sah zu, wie der Schlosser sich an die Regieassistentin wandte und in Richtung Schloss gestikulierte. Sie trat wieder vor und sah auch durch das Schlüsselloch, aber sie konnte offensichtlich nichts erkennen, denn sie zuckte mit den Schultern. Der Schlosser zeigte auf die Tür und es wirkte, als sei er mit seinem Latein am Ende.
Ich machte mich auf den Weg, aber Tony hielt mich am Arm zurück.
„Moment mal, was machst du da?“
Ich lächelte. „Ich wollte meine Hilfe anbieten. Und herausfinden, was da los ist.“
„So, so neugierig …“
***
Ich schritt über den Kies und hielt direkt neben Lucy und dem Schlosser an, die noch immer miteinander sprachen.
„… Mechanismus ist verkeilt“, sagte er und hielt inne, während sie mich beide anstarrten.
„Ich bin gerade ein bisschen beschäftigt“, erklärte Lucy. „Was ist los? Ein Problem mit Ihrem Kostüm?“
„Nein …“, begann ich und unterbrach mich dann aber. „Sieht es aus, als gäbe es ein Problem mit meinem Kostüm?“ Ich zupfte verlegen daran.
Jeremy Mayhew hatte auch angehalten, um mich von oben bis unten zu beurteilen, wandte sich aber ab (ich war ein bisschen beleidigt, dass er so schnell beschlossen hatte, dass ich nicht mehr wert war, als einen kurzen Blick) und sprach wieder zu der Tür.
„Schau dir das Schloss noch einmal an, Schätzchen. Siehst du den kleinen Knauf? Dreh mal dran –“
„Um Himmels willen, Jeremy, ich weiß, wie man eine verdammte Tür öffnet! Ich habe mich nicht selbst eingeschlossen!“ Ich erkannte Faiths Stimme, die aus dem Inneren des Wagens kam; sie klang genauso wie ihre Figuren aus dem Fernsehen. Und sie war kurz davor zu explodieren.
Lucy starrte mich immer noch an und wartete darauf, dass ich mich erklärte.
„Nein, tut mir leid, ich bin nur gekommen, um nachzusehen, ob Ms Mackenzie vielleicht gerne etwas zu Essen hätte, während sie in ihrem Wohnwagen festsitzt?“, sagte ich und versuchte, so hilfsbereit wie möglich zu klingen. „Ich könnte ihr einen Teller aus dem Foodtruck bringen.“
„Oh ja, bitte!“, schrie Faith, bevor Lucy überhaupt reagieren konnte. „Warum hast du nicht daran gedacht, Lucy?“
Die Regieassistentin warf mir einen bösen Blick zu, als wäre es meine Schuld, dass der Wohnwagen ein kaputtes Schloss hatte.
„Ich schicke gleich jemanden …“, begann Lucy, aber Faiths geisterhafte und etwas erschöpfte Stimme unterbrach sie.
„Nein, lass es sie machen. Sie ist ja schon hier und bietet es an. Wie ist Ihr Name?“
„Jodie“, antwortete ich. „Gibt es ein Fenster, durch das wir uns unterhalten können? Ist vielleicht einfacher, als die Tür anzuschreien …“
„Auf der Rückseite“, sagte Faith. Ich lief um den Wohnwagen herum. Da gab es ein breites Fenster, von dem ich annahm, dass es etwa die Länge der Lounge haben musste, aber es war zu weit oben, um vom Boden aus hindurchzusehen, und für etwas Privatsphäre waren schwere Vorhänge angebracht worden. Ich sah mich um; in der Nähe stand eine Plastikbox. Ich kippte die Kabel, die sich darin befanden, aus und trug die Box rüber zum Fenster, stellte mich gerade darauf, als sich die Vorhänge bewegten und das Fenster ein wenig geöffnet wurde.
Faith Mackenzie, ehemaliges Model, Filmstar und Rangälteste einer Seifenoper, blickte heraus. Obwohl sie in ihren späten Fünfzigern war (oder vielleicht den frühen Sechzigern – niemand kannte ihr wahres Alter), wirkte sie wie eine viel jüngere Frau. Sie hatte wunderbare Haut, glänzendes Haar und eine schmale Figur; alles deutete darauf hin, dass sie viel Zeit (und Geld) darauf verwendete, sich um ihr Aussehen zu kümmern. Ich konnte sie mir nicht vorstellen, wie sie das Haus je mit weniger als einem Gesicht voll Make-up verließ – und sicher nicht in Jogginghosen und T-Shirt, es sei denn, sie war wirklich unterwegs zum Training –, nicht einmal, um schnell die Straße runter eine Packung Kekse und Milch zu holen; die einzige Zeit, zu der meine Trainingsklamotten heutzutage noch ausgeführt wurden. Sie hatte außerdem ein freundliches Lächeln, sogar jetzt, wo sie sich furchtbar langweilen musste und langsam ungeduldig wurde.
„Huhu!“, trällerte sie. „Hallo Jodie, das war Ihr Name, nicht? Danke, dass Sie an mich gedacht haben.“
„Oh, ach, das ist doch nichts“, sagte ich locker. Ich musste zugeben, ich war ein bisschen verlegen; ich war nie ein großer Fan von Seifenopern gewesen, aber seit Mum mehr oder weniger bei uns eingezogen war, hatten wir alle angefangen, sie zu gucken. Und obwohl Faith offensichtlich gerade eine Pause vom Filmen von Mile End Days machte, liefen die Folgen mit ihr trotzdem noch und wir hatten sie am gestrigen Abend tatsächlich als Pub-Inhaberin Clara Brown gesehen. Clara war eine vorlaute Cockney-Matriarchin, jemand, den man nicht auf dem falschen Fuß erwischen wollte, und, was ich so mitbekommen hatte, war die Rolle in diesem Film dasselbe in Grün, mit einem feineren Akzent.
Ich räusperte mich. Oh mein Gott, ich rede mit Clara! Mum wird ausrasten. „Also, was ist denn da drinnen los? Geht es Ihnen gut?“
Sie verdrehte die Augen, aber eher aufgrund der Situation, denn wegen mir, nahm ich an. „Die dämliche Tür klemmt. Die sind der Meinung, dass ich mich aus Versehen selbst eingeschlossen habe, das habe ich aber nicht. Die denken alle, ich bin eine alte Tante in den Wechseljahren. Und wenn Jeremy noch einmal versucht, mit mir durch diese Tür zu reden, dann schwöre ich bei Gott …“
Ich lachte mitfühlend. „Also, ich habe gerade mitbekommen, dass der Schlosser sagte, der Mechanismus wäre verkeilt. Das bringt sie hoffentlich zum Schweigen. Ich nehme mal an, dass Sie nicht aus dem Fenster klettern können?“
Faith seufzte. „Ich bin tatsächlich eine alte Tante in den Wechseljahren und eine gefeierte Schauspielerin. Auf keinen Fall quetsche ich mich durch ein Wohnwagenfenster. Kann nicht einfach jemand die Tür aufbrechen? Da draußen müssen doch eine Menge kräftiger junger Männer sein.“
„In welche Richtung geht die Tür auf?“, fragte ich. „Nach innen oder nach außen?“
„Nach außen.“
„Dann müsste sie jemand von innen aufbrechen. Ich nehme nicht an, dass Sie das versuchen möchten“, sagte ich und lachte.
„Nicht wirklich.“
„Dachte ich mir.“ Ich sah mir das Fenster noch einmal an. „Lässt sich das Fenster noch weiter öffnen?“
***
„Du willst, dass ich was tue?“ Tony sah aus, als würden seine Bauklötze wirklich staunen.
„Du passt schon durch das Fenster. Mach schon, du willst doch immer der Held sein.“
„Will ich? Daran erinnere ich mich gar nicht.“
„Alles klar, aber du wolltest schon immer ein Schauspieler sein, und wenn du dich mit Faith gut stellst, kriegst du vielleicht eine Sprechrolle.“ Ich schubste ihn ein bisschen. „Mach schon.“
„Jodie …“
Ich setzte mein ernstes Gesicht auf. „Ich glaube an dich, Tony. Und um ehrlich zu sein, bin ich nicht kräftig genug, um die Tür einzutreten, sonst würde ich es selbst machen.“
Er sah mich einen Moment an, dann lachte er.
„Also gut, ich gehe rein.“
Faith sah aus dem Fenster, während wir auf sie zugingen. Lucy hatte meine Rückkehr zum Wohnwagen mit dem Essenstablett ignoriert, welches Gino, der singende Foodtruck Besitzer, zubereitet hatte. Das Gesicht des Filmstars leuchtete hungrig auf, was ich zuerst auf den Pasta-Salat schob, den ich dabeihatte, aber dann stellte ich mit Entsetzen fest, dass es Tony war, denn sie angeierte. Hmm. Vielleicht war das letzten Endes doch keine so gute Idee.
„Hier ist Ihr Essen“, sagte ich und reichte es nach oben. Tony, der größer war, nahm mir den Teller ab und reichte ihn durch das offene Fenster.
„Miss Mackenzie“, sagte er mit einer kleinen Verbeugung. Ja, ja schon klar, übertreib mal nicht, Tone, dachte ich. Sie ist nicht die Königin; sie spielt bloß eine.
Sie lächelte. „Bitte, nennen Sie mich doch Faith“, säuselte sie und nahm ihm den Teller ab. Sie hatte ein so wunderschönes Lächeln und strahlte Tony wie die Sonne an. Hmm …
„Nun, wenn Sie einen Schritt zur Seite machen würden, Miss … Faith, dann komme ich zu Ihnen rein.“
„Uh, sind Sie hier, um mich zu retten, oder sind Sie der Nachtisch?“, kicherte sie und hob anzüglich eine Augenbraue an. Meinen Blick zog sie auf jeden Fall an. Hmm …
Tony lachte. „Fangen wir erst einmal mit der Tür an“, sagte er. Er stellte sich auf die Plastikbox, dann zog er sich weit genug nach oben, dass sein Oberkörper auf einer Höhe mit dem Fenstersims war. Einen Moment lang dachte ich, dass er doch nicht reinpassen würde – er hatte ein paar Pfund zugelegt, seit ich wieder zurück war, da ich ihn ein bisschen zu oft verköstigt hatte –, aber die engen Hosen waren ein Beweis, dass er sich doch wieder ein wenig um seine Figur kümmerte, und er schaffte es, sich durch das Fenster zu zwängen, bis nur noch seine Füße herausguckten. Er trainiert wieder, dachte ich zustimmend.
Ich konnte gedämpftes Gekicher aus dem Inneren des Wohnwagens hören und dann musste Faith ihn wohl an den Armen gepackt und hineingezogen haben, denn er verschwand aus meinem Sichtfeld.
„Verdammt“, schrie er.
„Geht es dir gut?“, fragte ich besorgt.
„Diese bescheuerten Hosen …“
Faith lachte und plötzlich konnte ich Tony vor meinem inneren Auge sehen, wie er auf der Wohnwagencouch neben einer lüsternen Faith saß, nur in seinen Unterhosen. Was, wenn er die Tür nicht aufbekam? Dann wären sie für, ich weiß nicht wie lange, dadrinnen eingepfercht und ich rechnete ihm keine allzu guten Chancen aus. Falls er sich überhaupt wehren würde, dachte ich. Ich sprang auf die Plastikbox und versuchte mich hochzuziehen.
Tony sah aus dem Fenster. „Mir geht’s gut, nur ein Riss in meiner … Was machst du denn da?“
Ich sah lässig zu ihm nach oben – oder so lässig, wie es möglich war, wenn man an einem Fensterrahmen hing, ein Bein so weit nach oben gestreckt, wie es nur ging, während ich in ein hässliches Dienerinnenkostüm gekleidet war. „Ich dachte, du könntest vielleicht Hilfe brauchen.“
„Sei nicht blöd. Geh nach vorne und warne die anderen, dass ich gleich versuchen werde, die Tür einzutreten.“ Sein Kopf verschwand wieder und ich stand noch eine Sekunde da, wütend darüber, dass ich es überhaupt vorgeschlagen hatte und dass Tony zugestimmt hatte (obwohl das auch meine Schuld war, weil ich ihn dazu gedrängt hatte), aber am meisten war ich sauer auf Faith, weil sie eine viel attraktivere Aussicht für einen Mann war als eine mittellose Alleinerziehende mit einem Geschäft, das in die Binsen ging, und einem Bäuchlein, das beständig gegen ein braunes Leinenkleid ankämpfte. Nicht, dass ich darauf achtete.
Der Schlosser packte gerade ein und Lucy diskutierte mit ein paar Crewmitgliedern, während Jeremy männlich, aber letztlich nutzlos, herumstand.
„Wir könnten versuchen, die Tür aus den Angeln zu heben und sie abzunehmen“, sagte einer von ihnen zögerlich.
„Nicht nötig“, verkündete ich. „Sie treten besser zurück.“ Lucy sah mich an, aber bevor sie etwas sagen konnte, drang ein Schrei aus dem Trailer, eine Mischung aus Bruce Lee mit Verstopfung und einer Banshee, und die Tür krachte auf. Tonys Wucht hatte ihn durch die Tür und die Luft fliegen lassen, er verfehlte die Stufen, die von der Tür zum Boden hinunter führten, und galoppierte auf mich zu. Ich schwankte heftig unter seinem Gewicht, aber irgendwie schaffte er es, aufrecht zu bleiben und mich gleichzeitig zu halten, zog mich in seine Arme, bevor ich ins Gras plumpsen würde.
„Oh, mein Held!“ Faith stand im Türrahmen. Sie nahm eine verdächtig schmeichelnde Pose ein, halb zur Seite gewandt, drapiert im Türrahmen, während das Licht durch das offene Fenster hinter ihr einfiel und sie mit einem warmen Schimmer umrahmte, beinahe eine Aura. Sie stellte sicher, dass sie jeder im besten Licht gesehen hatte (oder war ich einfach nur gemein?), bevor sie aus dem Wagen trat und zu Tony eilte. „Geht es Ihnen gut?“
„Ja“, erklärte Tony und ließ mich ungalant los. „Keine gebrochenen Knochen.“
„Oh, da bin ich ja so froh. Es war so nett von Ihnen, zu kommen und mich zu retten.“ Sie wand ihren Arm durch seinen. „Kommen Sie doch mit und essen mit mir zu Mittag. Wir müssen Sie wieder zu Kräften bringen.“
Wegen WAS?, dachte ich. Ich warf Tony einen vernichtenden Blick zu. „Mir geht’s auch gut, danke der Nachfrage.“
Faith wandte sich mit einem Lächeln im Gesicht an mich, aber ich vertraute ihr nicht länger. „Natürlich, Jodie, danke für Ihre Hilfe. So, jetzt gehen wir aber zum Mittagessen.“ Und dann führte sie Tony davon.