Kapitel 1
Kurland St. Mary, England, Mai 1817
„Lucy, meine Liebe, du kannst Major Kurland nicht ewig ignorieren.“
„Das weiß ich.“
Lucy Harrington seufzte und wandte sich vom Fenster ab, aus dem sie gerade noch gespäht hatte, um den Major in seiner Kutsche auf seinem Weg die mit Bäumen gesäumte Auffahrt hinunter zu beobachten. Er hatte mit Sophia für exakt fünfzehn Minuten zusammengesessen, während Lucy sich feige in der Bibliothek versteckt hatte, bis sie sicher sein konnte, dass er wieder weg war.
„In einem so kleinen Dorf wie diesem fällt es mir jetzt schon schwer, ihm aus dem Weg zu gehen. Wenn ich ins Pfarrhaus zurückkehre, werde ich direkt neben Kurland Hall wohnen.“
Sophia tätschelte ihren Hund und blickte dann zu Lucy auf. „Ich verstehe immer noch nicht, was er getan hat, um solch eine Reaktion von dir zu erhalten.“ Sie hielt kurz inne. „Ist etwas auf dem Weg von London hierher vorgefallen? Ihr beide habt auf der gesamten Reise kaum ein Wort gewechselt. Ich musste die ganze Zeit reden, um die Stille zu füllen. Ich habe mich vor Major Kurland vermutlich völlig zum Narren gemacht!“
„Ich glaube nicht, dass er das so sieht. Ich hatte gehofft, dass du nicht bemerken würdest, dass wir uns gestritten hatten.“
„Das war kaum zu übersehen. Ihr neigt dazu, euch gegenseitig zu provozieren, aber nur selten redest du nicht darüber, worum es dabei geht. Ich bin mir nicht ganz sicher, was schlimmer ist, die Streitereien oder das Schmollen.“ Sophia seufzte. „Ich hoffe sehr, dass ihr euren Streit bald beilegt, sonst wird meine Hochzeit eine ausgesprochen schwierige Angelegenheit. Andrew hat Major Kurland darum gebeten, als Trauzeuge am Altar an seiner Seite zu sein. Der Major war heute hier, um mich darüber zu informieren.“
Lucy setzte sich auf das Sofa neben Sophia, wobei sie Hunter, den Hund, regelrecht vertreiben musste, da er seinen Platz nur widerwillig aufgab. „Ich schwöre, dass ich nichts tun werde, das sich negativ auf deine Hochzeit auswirken könnte. Wenn das heißt, dass ich Major Sir Robert Kurland, den Baronet, behandeln muss wie den Prinzregenten, dann werde ich dies tun.“ Sie drückte Sophias Hand. „Ich wollte nie, dass du wegen meiner Dummheit leiden musst.“
„Deiner Dummheit?“ Sophia hob die Augenbrauen. „Was in aller Welt hast du getan, Lucy? Hast du dich ihm an den Hals geworfen?“
„Ha! Ich hätte liebend gern etwas auf ihn geworfen.“ Lucy erhob sich und schritt auf dem Teppich auf und ab. Die Hände hielt sie gefaltet hinter dem Rücken. „Er … hat um meine Hand angehalten.“
„Guter Gott!“ Sophia kicherte. „Ich dachte, die gelöste Verlobung mit Miss Chingford hätte den Gedanken gänzlich aus seinem Kopf vertrieben. Was war deine Antwort?“
„Was glaubst du wohl? Wie du bereits gesagt hast, haben wir uns den Rest der Reise ja nicht gerade wie innig Verliebte verhalten, oder?“
„Du hast den Antrag abgelehnt?“
Lucy hob ihr Kinn. „Selbstverständlich, schließlich war es ein Antrag unter Zwang.“
„Hat ihm etwa jemand eine Pistole an den Kopf gehalten?“
„Natürlich nicht.“ Sie blickte ihre Freundin mit ernster Miene an. „Es war nur eine metaphorische Pistole. Mein Onkel hat Major Kurland aufgefordert, zu erklären, was seine Absichten mir gegenüber sind.“
„Ich vermute, der Earl wollte in Abwesenheit deines Vaters nur seiner Pflicht nachkommen. Major Kurland hat seine Aufmerksamkeit ausgesprochen stark auf dich fixiert. Viele haben deswegen bereits gemunkelt.“
Lucy drehte aufgeregt eine weitere Runde auf dem Teppich. „Du weißt, warum er meine Gesellschaft gesucht hat. Es lag ausschließlich daran, dass wir damit beschäftigt waren, einen Mord aufzuklären. Nichts davon beruhte auf irgendwelchen romantischen Vorstellungen seinerseits mir gegenüber.“
Sophia klopfte auf den Platz neben ihr. „Setz dich doch bitte, Lucy, meine Liebe. Ich bekomme Kopfschmerzen, wenn du hier noch länger auf und ab gehst. Ich vermute, dass Major Kurland keinerlei Anstalten gemacht hat, den Antrag sonderlich romantisch vorzutragen, richtig?“
„Selbst dann hätte ich es ihm nicht abgenommen.“ Lucy ließ sich schwer auf das Sofa fallen. „Tatsächlich hat er sogar angedeutet, dass er mir einen Antrag schuldig sei.“
„Oje.“
„Es klang, als würde er zum Galgen geführt werden und hätte sich mit seinem Schicksal bereits abgefunden.“
Sophia unterdrückte hinter vorgehaltener Hand einen Laut.
Lucy sah sie zornig an. „Lachst du etwa über mich?“
„Ich … gebe mein Bestes, es nicht zu tun. Ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie Major Kurland diese Worte zu dir sagt. Ich bin überrascht, dass du nichts nach ihm geworfen hast.“
„Es kam mir tatsächlich in den Sinn, aber ich wollte im Gasthaus nicht viel Aufsehen erregen.“
Sophia neigte den Kopf zur Seite und studierte Lucy ein wenig zu eingehend. „Du findest die Angelegenheit nicht amüsant, oder?“
„Nein, es war furchtbar peinlich.“
„Dann tut es mir leid, dass ich gelacht habe“, sagte Sophia mit aufrichtiger Stimme. „Vielleicht hättest du, wenn er sein Anliegen anders vorgetragen hätte …“
Lucy sprang auf, als der Butler das Zimmer betrat und sich verbeugte.
„Mr Stanford ist hier, Madam. Wünschen Sie ihn zu sehen?“
„Das wäre wunderbar. Bitte lassen Sie ihn eintreten.“ Sophias Freude über die Ankunft ihres Verlobten ließ ihr Gesicht erstrahlen. Es hatte Zeiten gegeben, in denen Lucy sich gefragt hatte, ob Andrew Stanford für sie selbst ein guter Ehemann gewesen wäre. Aber nachdem sie herausgefunden hatte, dass er plante, einen Großteil seiner Zeit in London zu verbringen, einer Stadt, die sie als dauerhaften Wohnsitz nicht ertragen könnte, war sie beinahe erleichtert gewesen, als sie erfuhr, dass er sich in Sophia verliebt hatte.
Sein Lächeln wurde breiter, als er in den Gesellschaftssalon trat und Lucy erblickte.
„Miss Harrington, was für eine Überraschung! Als mir Robert eben in der Auffahrt entgegenkam, sagte er mir, Sie seien nicht zu Hause.“
Lucy fühlte, wie sie errötete. „Ich bin gerade erst von einem Spaziergang zurückgekehrt, Mr Stanford.“
„Das sehe ich.“ Amüsiert wanderte sein Blick über ihr luftiges Tageskleid und die dünnen Hausschuhe – Kleidung, die kaum für einen Spaziergang an der frischen Luft geeignet war. „Haben Sie sich auf dem Dachboden versteckt, um dem Unhold aus dem Weg zu gehen?“
„Andrew! Zieh die arme Lucy nicht auf“, sagte Sophia streng.
„Nun, es ist recht amüsant, zu sehen, wie Robert überlistet wird. Was hat er nur getan, um eine solche Behandlung zu verdienen?“
Lucy zwang sich zu einem Lächeln. „Major Kurland hat nichts Falsches getan. Bitte entschuldigen Sie mich. Ich muss gehen und zu Ende packen.“ Sie nickte Sophia zu. „Ich werde morgen zurück sein und dir mit den letzten Einladungen helfen, aber es könnte bis zum Nachmittag dauern. Ich bin sicher, dass mein Vater Tausende Dinge von mir erledigt wissen will.“
„Da bin ich mir sicher.“ Sophia sah sie mitfühlend an. „Meine Mutter wird vielleicht morgen schon hier sein, damit werden die Vorbereitungen viel leichter von der Hand gehen.“
Lucy machte einen Knicks vor Mr Stanford und ging dann hoch in ihr Schlafgemach, von dem aus der Park von Hathaway House zu sehen war. Ihre Taschen waren bereits gepackt, aber sie wollte die Gesellschaft des verlobten Pärchens meiden, bevor Sophia sich noch genötigt sah, Mr Stanford zu enthüllen, was Major Kurland getan hatte. Sophia war normalerweise sehr diskret, aber sie schien unfähig zu sein, irgendetwas vor Mr Stanford verborgen zu halten. Und vielleicht war das ganz gut so.
Da es ein schöner Nachmittag war, entschied Lucy sich, zu Fuß zum Pfarrhaus zu gehen, statt mit ihrem Gepäck in der Kutsche zu fahren. Sie hatte bereits eine Nachricht an ihren etwas eingeschnappten Vater geschickt, um ihm zu versichern, dass sie jetzt nach zwei Wochen bei Sophia endlich heimkommen würde. Sie hatte beschlossen, dass es ihm guttun würde, nicht immer sicher zu wissen, wo sie war, denn sie hatte nicht vor, im Pfarrhaus wieder als Selbstverständlichkeit angesehen zu werden.
Nachdem sie sich mit dem Butler über das Verladen ihrer Taschen und Kisten abgesprochen hatte, zog sie sich ihre stabilsten Stiefel an, setzte die alte Haube auf, die zu ihrer blauen Lieblingspelisse passte, schritt die Stufen hinunter und hinaus in den Park. Bei ihrem Spaziergang atmete sie tief durch und genoss die saubere Landluft. Sie war viel belebender als der rußige Gestank, der in den Straßen Londons hing. Sie kürzte über eine Ecke des Parks auf die Landstraße ab und folgte ihr nach rechts.
Sie war froh, wieder zu Hause zu sein. Unglücklicherweise hatte Major Kurland recht behalten – sie war tatsächlich nicht in der Lage, in London zu überleben. Sie stapfte die Straße hinunter und erinnerte sich daran, dass er allerdings nicht mit allen Vorhersagen richtiggelegen hatte. Sie war nicht wegen ihrer Unfähigkeit, einen passenden Ehemann zu finden, zurück nach Kurland St. Mary gekommen, sondern wegen des Mangels an Freiheit in der Stadt und aus purer Langeweile.
Hinter sich hörte sie Pferdehufe. Sie wich in Richtung der Hecke aus und warf einen Blick über die Schulter zurück, um zu erkennen, wer sie da passierte.
„Miss Harrington.“ Major Kurland war es gewohnt, auch auf den Schlachtfeldern noch gehört werden zu müssen, sodass seine Stimme schwer zu ignorieren war. „Miss Harrington.“
Lucy blieb stehen und wartete, bis der Einspänner neben ihr haltgemacht hatte.
„Guten Tag, Miss Harrington. Dürfte ich Sie ein Stück mitnehmen?“
Sie hielt den Blick stur nach vorn gerichtet. „Das ist nicht nötig, Major Kurland. Es ist nicht mehr weit ins Dorf.“
„Aber ich vermute, dass es gleich regnen wird. Ich kann Sie nicht hier zurücklassen und schutzlos einem Sturm ausliefern.“
Lucy kannte den unerbittlichen Tonfall des Majors nur zu gut.
Sie seufzte. „Vielen Dank.“
Er lehnte sich hinüber und öffnete ihr die Tür. Sie raffte ihre Röcke, erklomm die Stufe in die Kabine und setzte sich auf den Platz ihm gegenüber. Ihren Blick hielt sie beharrlich auf ihre Knie gerichtet.
Mit einem Ruck setzte sich das Gefährt in Bewegung. Der Wiesenkerbel, der auf beiden Seiten des Weges im Straßengraben wuchs, streifte immer wieder die Außenkanten des Wagens.
„Sie wissen, dass Sie sich albern verhalten, oder, Miss Harrington?“
„Das war mir bisher nicht klar, Major, aber ich wüsste auch nicht, warum Ihre Meinung über mich auch nur im Geringsten bedeutsam wäre.“
Er hielt den Griff seines Gehstocks fest umklammert. „Ich nehme an, Sie erwarten erneut eine Entschuldigung von mir.“
„So wie Sie annahmen, dass ich von Ihnen erwartete, mir einen Antrag zu machen?“ Lucy keuchte erschrocken auf und schlug sich die Hand vor den Mund. „Verzeihen Sie bitte. Das war ausgesprochen unangemessen.“
„In Gottes Namen, entschuldigen Sie sich doch nicht für Ihre erste ehrliche Antwort seit Wochen.“
Lucy sah bestürzt in Richtung des Kutschers, der mit dem Rücken zu ihnen saß.
„Machen Sie sich keine Gedanken wegen des alten Reg. Er ist taub wie ein Holzklotz.“ Major Kurland lehnte sich leicht nach vorn. „Lassen Sie mich deutlicher werden. Ich entschuldige mich vorbehaltlos für meinen Antrag. Ich wünschte, ich hätte nie etwas gesagt, und ich möchte unsere Freundschaft fortsetzen. Ich möchte die bevorstehende Hochzeit nicht verderben, bei der wir schließlich beide eine wichtige Rolle spielen werden.“
„So geht es mir auch.“
„Dann sollten wir vielleicht einen Waffenstillstand beschließen. Ich werde Sie nicht mit weiteren Anträgen in Verlegenheit bringen und Sie könnten aufhören, mich wie einen Aussätzigen zu behandeln.“
„Ich war nicht verlegen.“
Er seufzte. „Dann eben wütend. Aber werden Sie wenigstens zustimmen, die Vergangenheit ruhen zu lassen?“
Sie blickte eine Weile nachdenklich auf seine glänzenden Stiefel. Es schien ihm nicht bewusst zu sein, dass sein Antrag ihre Gefühle verletzt haben könnte. Hatte er das? Hatte sie ernsthaft geglaubt, dass er sie doch als geeignete Ehefrau sehen könnte? Sie hätte ihm den Antrag vermutlich genauso wenig abgenommen, wenn er auf die Knie gegangen wäre und ihr ewige Liebe geschworen hätte. Sie war sich durchaus darüber im Klaren, dass eigensinnige Frauen wie sie nur selten derartige Leidenschaft bei einem Gentleman hervorriefen. In diesen Kreisen bevorzugte man Frauen, die ihre Männer wie Halbgötter verehrten.
Sie hob den Blick und sah in seine mürrisch dreinblickenden dunkelblauen Augen. „Um Sophias und Mr Stanfords willen bin ich bereit, die Vergangenheit ruhen zu lassen.“
„Gott sei Dank.” Major Kurland lehnte sich zurück. „Lassen Sie uns jetzt über wichtigere Angelegenheiten sprechen. Ich möchte Kurland Hall als Ausrichtungsort für das Frühstück und die abendliche Feier nach der Hochzeit zur Verfügung stellen. Das Anwesen ist weitaus größer als Hathaway House und kann alle geladenen Gäste unterbringen.“
„Ich denke, Mrs Hathaway würde sich sehr über Ihr großzügiges Angebot freuen. Sie und Sophia hatten sich bereits gefragt, wie sie eine solche Menschenmenge bewältigen sollten.”
„Dann werde ich mich mit ihr besprechen, wenn sie nach Hause zurückkehrt. Außerdem möchte ich …”
Major Kurland redete weiter, während Lucy an den richtigen Stellen nickte und insgeheim darüber staunte, was für eine Veränderung er durchlaufen hatte. Noch vor einem Jahr war er bettlägerig gewesen und hatte alle Welt dafür bestrafen wollen. Inzwischen war er zu einem kompetenten Organisator und Ortsvorsteher geworden – gute Nachrichten für alle, die für ihren Lebensunterhalt auf das Kurland-Anwesen angewiesen waren. Sie war sich allerdings nicht sicher, was sie davon halten sollte, wie leicht er über den gescheiterten Heiratsantrag hinweggekommen war.
„Hören Sie mir zu, Miss Harrington?“
„Natürlich, Major.“
Er runzelte die Stirn. „Aber Sie haben mich nicht unterbrochen.“
„Das liegt daran, dass ich keinerlei zusätzliche Anmerkungen habe. Sie scheinen alles gut im Griff zu haben.“
Er sah ein wenig verlegen aus. „Das liegt an meinem neuen Verwalter Thomas Fairfax. Er hält mich auf Trab.“
„Ich kann kaum erwarten, diesen vorbildlichen Herrn kennzulernen.“
„Er wird Ihnen gefallen. Er ist intelligent, arbeitet hart und ist äußerst gut darin, mich auf den richtigen Weg zu lenken.“ Er schenkte ihr ein Lächeln, wie es nur selten vorkam. „Tatsächlich ist er Ihnen recht ähnlich.“ Sein Blick wanderte zum Dorf, das bereits in Sichtweite lag, und er hob die Stimme. „Reg, halten Sie bitte am Pfarrhaus, um Miss Harrington aussteigen zu lassen!“ An Lucy gewandt fuhr er fort: „Werden Sie von Ihrem Vater erwartet?“
„Ich sagte ihm, dass ich heute zurückkehren würde.“ Lucy raffte ihre Röcke und nahm ihr Retikül. Reg stieg vom Kutschbock, um ihr die Tür zu öffnen. Major Kurland stieg zuerst aus und reichte ihr die Hand.
„Sie müssen nicht mit hineinkommen, Major Kurland.“
„Doch, das muss ich. Ich habe Anweisungen von Andrew bezüglich der Hochzeit, die ich Ihrem Vater überbringen soll. Hat Mrs Giffin Ihnen nicht gesagt, dass dies einer der Gründe war, warum ich nach Ihnen fragte, als ich eben zu Besuch war? Ich hatte die ganze Zeit die Absicht, Ihnen anzubieten, Sie nach Hause zu begleiten.“
„Sophia hat nichts dergleichen erwähnt.“
Lucy nahm seine Hand und stieg aus der Kutsche. Tatsächlich wäre es vielleicht sogar zu ihrem Vorteil, den Major bei ihrer Rückkehr zum Pfarrhaus dabeizuhaben. Möglicherweise würde es ihren Vater davon abbringen, sie zu ihrer plötzlichen Abreise aus London auszufragen.
Obwohl sie sich große Mühe gab, ihren Begleiter im Haus schnell abzuhängen, wurden sie unverzüglich ins Arbeitszimmer des Pfarrers gebeten, in dem sie nun saßen, während der Major seinen Auftrag erläuterte und den Brief von Mr Stanford übergab. Lucy wusste, dass ihr Vater es hasste, Trauungen zu vollziehen, und fragte sich, wie er es wohl aufnehmen würde, auch noch Anweisungen des Bräutigams zu erhalten. Allerdings schien er recht freudig gestimmt und Lucy entspannte sich langsam.
„Mr Stanford und Mrs Giffin haben mich außerdem darum gebeten, zu fragen, ob Sie dazu bereit wären, einige Hochzeitsgäste zu beherbergen, falls Hathaway House und Kurland Hall voll belegt sein sollten.“
Der Pfarrer wandte sich an Lucy. „Haben wir genug Platz für Gäste, meine Liebe?“
Lucy überlegte kurz. „Wir haben mindestens vier leer stehende Schlafzimmer, bis meine Geschwister wieder nach Hause kommen.“ Sie vermisste die Zwillinge, ihre Schwester Anna und ihren Bruder Anthony entsetzlich. Es wäre angenehm, wieder Leben im Pfarrhaus zu haben, wenn auch nur für eine Woche.
Der Pfarrer rieb sich die Hände und lächelte. „Dann freuen wir uns darauf, unsere neuen Gäste willkommen zu heißen und uns mit ihnen bekannt zu machen. Es kann hier recht eintönig werden, ohne ab und zu etwas neue Gesellschaft zu haben. Nicht jeder von uns kann es sich erlauben, umherzuziehen und London zu besuchen, wann immer es ihm beliebt, nicht wahr, Major?“ Sein Blick fixierte Lucy. „Und dann zurückzukehren, wenn man bemerkt, dass die Vorhersagen des Vaters über die geringe Aussicht auf Erfolg korrekt waren.“ Er gluckste. „Ich bin mir sicher, dass Lucy sich nur zu gern wieder der Aufgaben annehmen wird, die der Herrgott offensichtlich für sie vorgesehen hat. Heim und Familie müssen an erster Stelle kommen.“
Lucy setzte bereits zum Widerspruch an, aber Major Kurland war schneller. „Soweit ich es aus meiner kurzen Zeit, die ich selbst in London verbracht habe, beurteilen kann, Sir, war Ihre älteste Tochter von vielen Seiten bewundert und begehrt. Ich vermute, dass sie mehr als nur ein Herz gebrochen hat, als sie sich dazu entschied, zurückzukehren, um Mrs Giffin bei der Planung ihrer Hochzeit zu unterstützen.“
„Ich verstehe.“ Die Miene ihres Vaters wurde ernst. „Lucy, meine Liebe, könntest du vielleicht nachsehen, wo die versprochene Kanne Tee bleibt?“
Nachdem Miss Harrington widerwillig das Zimmer verlassen hatte, sah der Pfarrer hinunter auf einen Brief auf seinem Schreibtisch. „Mein Bruder sagte mir, dass beide meiner Töchter Erfolg damit hatten, das Interesse heiratswürdiger Männer zu erregen. Er erwähnte Ihre ungewöhnliche Zuwendung Lucy gegenüber, Major.“
„Das hat er geschrieben?“ Robert versuchte, überrascht auszusehen. „Ich habe natürlich die Anwesenheit von Miss Harrington genossen. Wir sind alte Freunde.“
„Mein Bruder war der Überzeugung, dass mehr dahintersteckte, aber er ist auch eher den archaischen Regeln der Gesellschaft verhaftet.“ Der Pfarrer setzte die Brille ab und sah ihn nachdenklich an. „Gibt es etwas, das Sie mich fragen wollen?“
Einen Moment lang hing Stille im Raum, bis sie vom Schlag der Uhr auf dem Kaminsims zur Viertelstunde durchbrochen wurde. Robert zwang sich, dem Pfarrer direkt in die Augen zu blicken.
„Wenn sich etwas zwischen mir und Miss Harrington entwickeln sollte, Sir, werden Sie als Erster davon erfahren.“
„Das freut mich zu hören, Major. Der Ruf einer Frau ist wertvoll und zerbrechlich.“ Er faltete den Brief zusammen. „Obwohl der Gedanke, dass ein Mann Ihres Standes meine Lucy umwerben könnte, doch recht unwahrscheinlich scheint.“
„Das sehe ich auch so, Sir.“ Robert stützte sich beim Aufstehen auf dem Gehstock ab. „Ich könnte niemals an sie heranreichen. Ich muss mich wieder auf den Weg machen. Die Kinder von Mr Stanford treffen heute ein und ich habe versprochen, dort zu sein und sie in Empfang zu nehmen.“
„Wie wunderbar.“ Der Pfarrer erhob sich ebenfalls, kam hinter seinem Schreibtisch hervor und schüttelte Roberts Hand. „Was für ein fröhlicher Anlass für unser Dorf, nicht wahr? Eine pompöse High-Society-Hochzeit.“
„Und eine Menge zusätzlicher Arbeit und Sorge für uns alle.“ Robert gelang es nicht, die Bemerkung für sich zu behalten. Er war immer unglücklich darüber, dass sein friedliches Leben gestört wurde, besonders hier auf dem Land, wo es nur allzu offensichtlich sein würde, dass er nicht in der Lage war, den üblichen Freizeitbeschäftigungen eines Gentlemans nachzugehen.
„Ich glaube, ein Großteil der Arbeit und der Aufregung wird Sache unserer Damen sein, Major Kurland, womit uns mehr Zeit zum Jagen und Fischen bleibt. Alles, woran Sie und Mr Stanford denken müssen, ist, zum richtigen Zeitpunkt in der Kirche zu erscheinen.“ Der Pfarrer gluckste über den eigenen Scherz und hielt Robert die Tür auf, bis er hinausgetreten war. „Guten Tag, Major.“
Als Robert wieder in seine Kutsche stieg und Reg das Gefährt Richtung Kurland Hall in Bewegung setzte, fing es schließlich doch noch an zu regnen. Er blickte hinauf zum bleiernen Himmel und verzog die Miene. Die Entwässerungskanäle für seine Ländereien gab es bisher nur auf dem Papier. Wenn es also den Rest des Monats weiterregnete, würden seine Weiden in den tieferen Lagen wieder überschwemmt werden.
Als er zu Hause ankam, ging er auf direktem Weg in sein Arbeitszimmer und bat Foley darum, Thomas Fairfax umgehend zu ihm zu schicken. Durch den Regen schmerzte sein linkes Bein entsetzlich, weshalb er während der Wartezeit nahe am Feuer stehen blieb.
„Sie wollten mich sprechen, Major?“
Er drehte sich zur Tür, um seinen Landverwalter zu begrüßen. „Ah, Thomas, wir müssen das Vieh von den –“
„Ich habe die Anweisung schon ans Gehöft weitergegeben, Sir.“ Thomas lächelte. „Mir war klar, dass Sie sich wegen des Zustands der Böden Sorgen machen würden.“
„Vielen Dank.“ Robert humpelte zu seinem Schreibtisch und setzte sich.
„Major …“ Thomas zögerte, bevor er ein gefaltetes Stück Pergament aus seiner Manteltasche hervorholte. „Es widerstrebt mir, Sie mit einer solch privaten Angelegenheit zu belästigen, aber ich habe heute einen Brief von der Frau meines Vaters erhalten.“
„Ihrer Stiefmutter?“
„Ich bin unehelich geboren, Sir, daher sind wir rechtlich nicht verwandt. Aber ich kenne sie recht gut, weil sie mich vor dem Tod meines Vaters gelegentlich wegen des Anwesens konsultiert hat.“
Robert verzog das Gesicht. „Hat Mrs Fairfax es sich anders überlegt? Ist ihr klar geworden, was ihr mit Ihnen für ein Rohdiamant entgangen ist? Ich nehme an, sie möchte, dass Sie zurückkehren und für die Zukunft ihres Sohnes vorsorgen und ihren Witwennachlass verwalten. Ich will es nicht hoffen. Ich würde Sie nur ungern verlieren, wo wir doch gerade erst mit unseren Plänen für das Anwesen begonnen haben.“
Thomas sah hinunter auf den entfalteten Brief. „Ich bin mir nicht ganz sicher, was sie im Schilde führt, Major. Sie hat mitteilen lassen, dass sie aus London anreist, um mich zu sehen.“
„Dann teilen Sie ihr bitte mit, dass sie gern hier im Herrenhaus unterkommen kann.“
Thomas runzelte die Stirn. „Sind Sie sich sicher, Sir? Ihr Besuch könnte genau in den Zeitraum der Hochzeit von Mrs Giffin und Mr Stanford fallen.“
„Dann hat sie umso mehr Grund, zu erscheinen. Ich werde zu beschäftigt damit sein, Mr Stanford zu unterstützen, als mich groß um das Anwesen zu kümmern. Somit hätten Sie ausreichend Zeit, Ihre persönlichen Angelegenheiten zu regeln.“
„Das ist sehr freundlich von Ihnen, Sir.“ Thomas faltete den Brief zusammen und zögerte einen Moment. „Sind Sie sicher, dass wir sie unterbringen können?“ Er nahm die Gästeliste, die auf Roberts Schreibtisch lag, und ließ seinen Blick darüber wandern. „Wenn Mrs Fairfax tatsächlich hier übernachtet, müssen wir die Zimmerverteilung der anderen Gäste ändern. Hat der Pfarrer ebenfalls Räume zur Verfügung gestellt?“
„Das hat er, es besteht also nicht die Gefahr, dass jemand in den Ställen schlafen muss“, sagte Robert. Die Uhr schlug zweimal und er blickte aus dem schmalen Fenster „Mr Stanford wird bald zurück sein und seine Kinder sollen heute Nachmittag eintreffen. Vielleicht sollten wir unsere Arbeit bis dahin abgeschlossen haben?“
„Ja, natürlich, Major. Wo wir gerade von den Ställen sprechen: Ich hatte gehofft, mit Ihnen den derzeitigen Verwaltungsplan besprechen zu können.“
Kapitel 2
„Ah, Lucy, da bist du ja.“
„Guten Tag, Vater.“ Lucy betrat die Eingangshalle des Pfarrhauses und legte Haube und Mantel ab.
„Wir haben Gäste im Gesellschaftszimmer.“ Er winkte sie gebieterisch herbei. „Sie kamen in Begleitung von Mr Thomas Fairfax.“
„Das müssen die Hochzeitsgäste sein, die uns bereits angekündigt worden sind.“
Lucy strich ihre Röcke glatt und folgte ihrem Vater in das Gesellschaftszimmer. Ein ihr unbekannter Mann verneigte sich vor ihr, allerdings schenkte sie ihm kaum Beachtung. Denn auf dem Sofa saß Miss Penelope Chingford zusammen mit ihrer Mutter und einer ihrer jüngeren Schwestern.
Lucys Vater lächelte. „Mrs Chingford und ihre Töchter werden während der Hochzeitsfeierlichkeiten bei uns wohnen. Lucy, ich glaube, du hast bereits in London ihre Bekanntschaft gemacht.“ Er verbeugte sich leicht vor Mrs Chingford. „Selbstverständlich kannte ich die Dame bereits als wunderschöne, junge Debütantin, als sie noch Miss Flood hieß.“
„Aber Mr Harrington, Sie bringen mich in Verlegenheit!“, sagte Mrs Chingford, wobei sie die Hand auf ihre Wange legte und angetan zwinkerte. „Ich bin überrascht, dass Sie sich überhaupt an mich erinnern.“
„Wie könnte ich solch Anmut und Charme vergessen?“
Lucy gelang es, ihr Lächeln aufrechtzuerhalten, während sie einen Blick auf Miss Chingford wagte, die vom Benehmen ihrer Mutter ebenso wenig angetan schien wie Lucy. Schließlich schweifte ihre Aufmerksamkeit zu dem jungen Mann, der ein kleines Stück hinter dem Sofa stand und die dick aufgetragenen Schmeicheleien des Pfarrers und Mrs Chingfords entzückte Antworten mit einer Miene verfolgte, die von unterdrückter Belustigung herzurühren schien. Sein Gesicht war unscheinbar und die Augen hatten den gleichen haselnussbraunen Ton wie sein Haar. Er war gut, aber modisch zurückhaltend gekleidet, wie es sich für einen Landverwalter gehörte.
„Mr Fairfax?“
Er trat vor und nahm ihre Hand zur Begrüßung. „Miss Harrington. Welch Freude, Sie endlich persönlich kennenzulernen. Wie ich hörte, habe ich es zu einem großen Teil Ihnen zu verdanken, dass Major Kurland auf mich aufmerksam wurde.“
„So würde ich es nicht formulieren, Mr Fairfax. Ich habe nur Ihre ausgezeichneten Referenzen an den Major weitergeleitet.“
„Wie dem auch sei, ich möchte mich dafür bedanken. Mir gefällt die Arbeit hier sehr.“
„Das freut mich zu hören. Nicht viele Männer können es mit der recht forschen Art des Majors aufnehmen.“
Er lächelte, was sie ihre Einschätzung seiner Attraktivität überdenken ließ. „Der Major sagte, dass ihn die Zusammenarbeit mit mir an den Umgang mit Ihnen erinnert, was, wie er betonte, ein großes Kompliment sei.“
Sie erwiderte das Lächeln und hörte ein energisches Husten zu ihrer Rechten, das sie so gut wie möglich ignorierte.
„Miss Harrington!“
Widerwillig wandte Lucy sich von Mr Fairfax ab und Miss Chingford zu. In ihrer malvenfarbenen Pelisse und der dazu passenden federgeschmückten Haube sah sie ausgesprochen gut aus.
„Miss Chingford, mir war nicht klar, dass Ihre lose Bekanntschaft mit Mrs Giffin ausreichend sein würde, um zu ihrer Hochzeit eingeladen zu werden.“
„Ich kenne Mrs Giffin tatsächlich kaum. Meine Mutter ist entfernt mit Mr Stanford verwandt.“ Miss Chingford senkte die Stimme. „Eigentlich sollten wir in Kurland Hall untergebracht werden.“
„Ich bin sicher, wir können Ihnen und Ihrer Familie hier eine gemütlichere Unterkunft bieten. Die Schlafzimmer von Kurland Hall sind oft recht zugig.“
„Darüber bin ich mir durchaus im Klaren. Im Gegensatz zu Ihnen habe ich dort bereits einige Zeit gelebt.“
Lucy schenkte ihr ein zuckersüßes Lächeln. „Ich muss mich entschuldigen. Ich hatte nicht daran gedacht, dass Sie einmal mit Major Kurland verlobt waren und Kurland Hall als Ihr zukünftiges Zuhause betrachtet haben.“ Sie legte eine Kunstpause ein, bevor sie weitersprach. „Vielleicht fürchtete Major Kurland, dass es eine zu schmerzliche Erfahrung für Sie sein könnte, wieder unter seinem Dach zu wohnen.“
„Er hat keinerlei derartigen Gedanken an meine Gefühle verschwendet“, stieß Miss Chingford abschätzig aus. „Meine Mutter hat selbst angeboten, hier unterzukommen. Sie sagte, dass sie schon lange die Bekanntschaft mit Ihrem Vater wieder aufleben lassen wollte.“
Sie blickten beide in Richtung ihrer jeweiligen Elternteile, die sich gerade ausgelassen über ihr erstes Treffen auf einem Londoner Ball austauschten. Die jüngere Miss Chingford unterdrückte ein Gähnen und sah sehnsüchtig zur Tür, während der Pfarrer sich vorbeugte, um etwas ins Ohr ihrer Mutter zu flüstern.
„Möchten Sie und Dorothea Ihr Zimmer sehen?“, fragte Lucy mit gehobener Stimme. „Wir haben Ihnen ein Zimmer direkt neben dem Ihrer Mutter vorbereitet.“
Ihr Vater bedeutete ihr seine Zustimmung mit einem Winken, ohne das Gespräch mit Mrs Chingford zu unterbrechen. Lucy bedankte sich bei Mr Fairfax dafür, dass er die Chingfords vom Gutshaus hierher begleitet hatte. Kurz darauf verabschiedete er sich und sie führte die beiden Gäste die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer.
„Wir werden um sechs Uhr zu Abend essen. Wenn Sie irgendetwas brauchen, läuten Sie einfach die Glocke.“ Lucy zog die Vorhänge im Gästezimmer auf, um das Sonnenlicht hereinzulassen. „Da Ihr Gepäck bereits hochgebracht worden ist, werde ich Sie jetzt allein lassen, damit Sie sich eingewöhnen können.“
„Vielen Dank.“ Miss Chingford begutachtete das Zimmer mit dem Blick einer Gefangenen, die gerade in den Schuldturm geworfen worden war. „Ich bin sicher, wir … werden uns hier sehr wohl fühlen.“
Lucy ging zurück zur Tür. „Ich werde Betty sofort herschicken, damit sie beim Auspacken helfen kann.“
Fluchtartig machte Lucy sich auf den Weg die Treppe hinunter in die Küche, wo sie Betty und die Köchin beim Teetrinken am Tisch antraf. Mit einem Seufzen setzte sie sich zu ihnen und schenkte sich ebenfalls eine Tasse ein.
„Unsere Gäste sind eingetroffen. Betty, gehen Sie bitte hoch und helfen beim Auspacken? Und Mrs Fielding, wir haben heute zum Abendessen drei zusätzliche Gäste.“
„Der Herr Pfarrer hat mich bereits darüber in Kenntnis gesetzt, Miss Harrington.“ Der mürrische Ton der Antwort überraschte sie nicht. Mrs Fielding hielt selten etwas von dem, was Lucy ihr zu sagen hatte, und erhielt ihre Anweisungen lieber direkt vom Pfarrer, bevor sie auch nur in Erwägung zog, sie zu befolgen.
Lucy nahm zur Stärkung einen weiteren Schluck des starken Tees. „Ich werde mich wieder auf den Weg machen und nachfragen, ob Mrs Chingford ebenfalls bereit ist, auf ihr Zimmer gebracht zu werden. Mein Vater läuft sonst noch Gefahr, sie komplett zu vereinnahmen.“
„Tatsächlich?“
In der Stimme der Köchin lag eine unheilvolle Note, die Lucy entgegen besseren Wissens ausgesprochen genoss.
„Ja. Offenbar sind die beiden alte Freunde. Er scheint von ihr sehr angetan zu sein.“
Mrs Fielding schnaubte abschätzig, widmete sich dem Herd und hantierte lautstark mit ihren Töpfen und Pfannen. Wenn Mrs Chingford nicht vorsichtig war, könnte die eifersüchtige Köchin, die den Pfarrer als ihren persönlichen Besitz ansah, sich dazu bewegt sehen, ihre Konkurrenz durch eine Prise Gift aus dem Weg zu räumen. Der Gedanke an Gift erinnerte Lucy an ihren kürzlichen Aufenthalt in London und ließ sie erschaudern.
Es war zwar ausgesprochen uncharakteristisch für ihren Vater, aber als Lucy das Gesellschaftszimmer betrat, hatte er es sich neben Mrs Chingford gemütlich gemacht.
„Ihre Töchter haben ihr Zimmer bezogen, Mrs Chingford. Und Vater, George wartet in deinem Arbeitszimmer auf dich. Er lässt daran erinnern, dass du noch die Sonntagspredigt mit ihm durchgehen sollst.“
Ihr Vater seufzte und verbeugte sich dann, um Mrs Chingfords Hand wie ein echter Kavalier zu küssen. „Die Pflicht ruft. Ich freue mich bereits, Sie beim Abendessen wiederzusehen, Madam.“
Mrs Chingford strahlte förmlich. „Ich freue mich ebenfalls, Sir.“
Lucy wartete, bis ihr Vater in seinem Arbeitszimmer verschwunden war, um sich mit seinem Vikar zu besprechen, bevor sie sich an Mrs Chingford wandte, deren Lächeln inzwischen verflogen war. Trotz ihres Alters war sie noch immer eine gut aussehende Frau, mit den gleichen zierlichen Gesichtszügen, die ihre Tochter geerbt hatte. Sie hatte sich erhoben und schien das Porzellan auf dem Kaminsims näher zu betrachten.
„Ist dies ein Porträt Ihrer verstorbenen Mutter, Miss Harrington?“
„Ja, das ist es.“ Lucy hielt inne, um das erhabene Lächeln ihrer Mutter zu bewundern. „Es wurde angefertigt, kurz bevor sie die Zwillinge bekam.“
Mrs Chingford neigte den Kopf zur Seite und schnalzte mit der Zunge. „Sie sieht zerbrechlich aus. Es überrascht mich nicht, dass sie die Geburt nicht überlebt hat.“
„Meine Mutter war nie eine Invalidin, Mrs Chingford. Ihr Tod war sehr unerwartet.“ Lucy versuchte ruhig zu klingen.
„Wie alt sind die Zwillinge jetzt?“
„Acht. Sie sind schon in der Schule.“
„Wo sie auch sein sollten.“ Mrs Chingford erschauderte gekünstelt. „Ich bin so froh, dass ich nur Mädchen bekommen habe. Sie sind viel folgsamer.“
„Da bin ich mir sicher. Soll ich Sie auf Ihr Zimmer begleiten?“ Lucy ging ein paar Schritte, um Mrs Chingford dazu zu bewegen, vom Porträt abzulassen. „Die Zwillinge sind manchmal recht stürmisch, aber …“
„Sie haben die beiden erzogen?“
„Selbstverständlich.“ Lucy ging unbeirrt weiter die Treppe hinauf und sprach über die Schulter zu Mrs Chingford. „Als älteste Tochter der Familie erwartete mein Vater von mir, meiner Verpflichtung nachzukommen. Und ich habe es nicht ab Belastung empfunden. Die beiden sind ausgesprochen lieb.“ Was nicht stimmte, aber es lag etwas in Mrs Chingfords Tonfall, das Lucy langsam erzürnte. Sie öffnete die Tür zum besten Schlafzimmer und ließ Mrs Chingford eintreten. Diese strich mit den Fingern über die Gardinen und Bettvorhänge und inspizierte die bestickten Kissen, die auf der Liege am Fenster lagen.
„Das ist ein schönes Zimmer.“
„Es gehörte meiner Mutter.“ Lucy machte einen Knicks. „Ich werde Sie jetzt allein lassen, damit Sie auspacken können. Ich schicke Ihnen Alice nach oben, um Ihnen zur Hand zu gehen.“
Mrs Chingford wirbelte zu Lucy herum. „Es gibt keinen Grund für diesen abweisenden Tonfall, jedes Mal, wenn ich Ihnen eine Frage stelle, meine Liebe.“
„Ich verstehe nicht ganz.“
„Niemand möchte andeuten, dass Sie all die Jahre bei der Erziehung Ihrer Geschwister und der Unterstützung Ihres Vaters keine gute Arbeit geleistet haben.“
„Soweit ich weiß, hat niemand je etwas Derartiges gesagt.“ Lucy hob eine Augenbraue. „Möchten Sie mir etwas Bestimmtes mitteilen, Mrs Chingford?“
„Wie meinen Sie das?“ Mrs Chingford weitete ihre blauen Augen und sprach mit süßlicher Stimme. „Es bleibt nur zu hoffen, dass Sie nicht einer dieser alten Jungfern werden, die ihre verwitweten Väter als ihr persönliches Eigentum ansehen. Das ist immer sehr traurig, nicht wahr?“
„Glauben Sie mir, Madam, wenn mein Vater eine neue Frau finden würde, wäre ich hocherfreut, all meine Aufgaben an sie abzutreten.“ Lucy überlegte einen Moment. „Aber bei allem gebührenden Respekt, er liebte meine Mutter so sehr, dass er seither nie Augen für eine andere Frau hatte.“ Sie machte erneut einen Knicks. „Guten Tag, Mrs Chingford.“
Während sie die Treppen wieder nach unten stieg, überlegte sie, was an dieser Frau ihr so widerstrebte. Wie sollte sie mit jemandem umgehen, der die unverschämtesten Fragen mit einem Lächeln auf dem Gesicht stellte? Sie konnte nur beten, dass ihr Vater nicht zu sehr von dem schönen Äußeren geblendet werden würde und dabei den hässlichen Kern übersah. Allerdings schienen Männer oft unfähig zu sein, überhaupt etwas zu erkennen …
„Und wie ich meinem guten Freund, dem Pfarrer, sagte …“
Lucy stand von ihrem Sessel auf und ging zur anderen Seite der Galerie, wo Mrs Chingfords Stimme hoffentlich weniger deutlich zu hören sein würde. Sie waren in Kurland Hall, um dem Major und den anderen Hochzeitsgästen einen Besuch abzustatten. Mrs Chingford sprach bereits seit mindestens einer Viertelstunde ohne Unterbrechung. Dem Gesichtsausdruck einiger der anderen Damen nach zu urteilen, war Lucy nicht die Einzige, der die recht spitzzüngige Gesprächsführerin unangenehm war.
Sie hatte Mrs Chingford nun zwei Tage lang im Pfarrhaus ertragen und ihrem Vater dabei zusehen müssen, wie dieser von all der Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde, strahlte und herumstolzierte wie ein Pfau. Lucy war froh, zur Abwechslung mal außer Haus zu sein. Unglücklicherweise war ihr dies nicht ohne die Chingfords vergönnt. Sie sah hinaus auf den Knotengarten, der hinter dem Tudor-Flügel des Gutshauses lag. Major Kurland ließ ihn derzeit wieder instand setzen und die symmetrischen Muster der ordentlich geschnittenen Hecken beruhigten sie ein wenig.
„Versuchen Sie Mrs Chingford zu meiden?“ Die Stimme neben ihr versetzte ihr einen kurzen Schreck. „Sie ist wirklich unausstehlich, nicht wahr?“
Lucy wandte sich um und sah sich einer von Mr Stanfords Tanten gegenüber, die ausgesprochen empört wirkte.
„Ich kenne sie kaum, Mrs Green.“
Ihr Gegenüber schnaubte. „Es fühlt sich an, als würde man einen Igel auf den Arm nehmen. Tausende winzige Stacheln, die nur darauf warten, die Haut zu durchstechen. Und während man damit beschäftigt ist, diese abzuwehren, bohrt sich ein langer Dorn zielsicher ins Herz.“ Mrs Green senkte die Stimme. „Nur deswegen ist sie zu dieser Hochzeit an diesem abgeschiedenen Ort erschienen: Sie hat bei ihren verzweifelten Bemühungen, ihre verkommenen Töchter zu verheiraten, viel zu viele einflussreiche Persönlichkeiten der Gesellschaft verärgert.“ Sie warf einen giftigen Blick in Richtung von Mrs Chingford. „Ich habe auch gehört, dass sie verschuldet sei und einen neuen Ehemann suche.“ Lucy dachte sofort an ihren Vater, entspannte sich aber schnell wieder. Er bezog ein großzügiges Einkommen aus dem Nachlass seines Vaters, aber da sein Bruder einen Sohn hatte, war der Pfarrer nicht länger der Erbe des Earl-Titels. Damit war er in den Augen von Mrs Chingford vermutlich ein Niemand.
Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, stupste Mrs Green Lucy mit ihrem Fächer an. „Sie passen besser auf Ihren gut aussehenden Vater auf, meine Liebe. Er scheint ihr geradezu verfallen zu sein.“
„Wem verfallen?“ Major Kurland erschien an Lucys Seite und verbeugte sich vor ihr und Mrs Green. Er nahm immer noch seinen Gehstock zur Hilfe. Sein schwarzes Haar war ein wenig zerzaust und seine Wangen vom Wind gerötet. „Ich muss mich entschuldigen, dass ich bei Ihrer Ankunft noch nicht hier war, Miss Harrington. Ich war unten beim Gehöft.“
Mrs Green machte einen Knicks. „Ich überlasse die Erklärung Miss Harrington. Ich habe genug davon, Maria Chingford dabei zuzusehen, wie sie Hof hält!“
Major Kurland runzelte die Stirn, als Mrs Green den Raum verließ. „Was ist denn in sie gefahren? Sie hat ja beinahe gequalmt vor Wut.“
„Sie hat eine Abneigung gegen Mrs Chingford und mich eindringlich dazu aufgefordert, meinen Vater vor ihr zu schützen.“
„Sie glaubt also, dass Mrs Chingford es auf den Pfarrer abgesehen hat?“
Lucy zuckte mit den Schultern. „Damit könnte sie recht haben.“
„Das sind großartige Neuigkeiten.“ Von seiner Miene war Erleichterung abzulesen. „Wenn sie Ihnen die Verantwortung für Ihren Vater abnimmt, werden Sie frei sein.“
„Und obdachlos. Ich wäre nicht dazu in der Lage, mir für mehr als zwei Wochen ein Haus mit Miss Chingford und ihr zu teilen.“
Er verzog das Gesicht und kratzte sich peinlich berührt am Hals. „Das tut mir leid. Ich wollte nicht, dass die Chingfords bei Ihnen untergebracht werden, aber irgendwie wurden die entsprechenden Vorkehrungen ohne mein Wissen getroffen. Thomas wusste leider nichts von meiner früheren Beziehung mit Miss Chingford.“
„Es ist schon in Ordnung. Miss Chingford sagte, dass ihre Mutter sehr darauf erpicht gewesen sei, im Pfarrhaus unterzukommen, um die Bekanntschaft mit meinem Vater zu vertiefen.“
Major Kurland wandte sich ein wenig von der Gruppe um Mrs Chingford ab, bevor er sprach. „Sie mögen sie nicht sonderlich, oder?“
„Sie ist nicht gerade freundlich.“ Lucy wünschte, sie könnte mehr sagen, aber ihre Gefühle gegenüber Mrs Chingford waren zu kompliziert, um sie in Worte zu fassen. „Sie … verdreht alles, was man sagt, zu ihren eigenen Gunsten.“
„Das ist mir bisher noch nicht aufgefallen.“
„Das liegt daran, dass ihr Ihre positive Meinung über sie wichtig ist. Daher ist sie sehr darauf bedacht, Sie nicht zu beleidigen.“
„Und vielleicht sieht sie in Ihnen eine Konkurrentin um die Liebe Ihres Vaters?“ Major Kurland tätschelte ihre Hand und legte sie auf seinen Arm. „Vielleicht ist sie eifersüchtig auf Sie?“
„Ich nehme an, das könnte stimmen, aber …“ Lucy hielt inne, als der Major sie zu einer Gruppe führte, die um das Kaminfeuer versammelt stand. Einige laute Stimmen waren zu hören und es schien eine Art Streit zwischen der unschuldig lächelnden Mrs Chingford und Mr Stanfords Schwester im Gange zu sein.
„Das ist nicht wahr, Mrs Chingford.“ Miss Stanford sprang auf. „Derartige Gerüchte sollten nicht weiterverbreitet werden – besonders jetzt, da mein Bruder kurz vor einer erneuten Hochzeit steht.“
„Ich muss mich entschuldigen, meine Liebe.“ Mrs Chingford fächerte sich Luft zu. „Mir war nicht klar, dass diese alberne Bemerkung von mir Sie dermaßen aus der Fassung bringen würde.“ Sie blickte zur finster dreinschauenden Sophia. „Und auch bei Ihnen, Mrs Giffin, möchte ich mich entschuldigen. Ich hatte angenommen, Mr Stanford hätte Ihnen von den Gerüchten um das vorzeitige Ableben seiner Frau erzählt.“
Major Kurland räusperte sich. „Ich bin mir sicher, dass alle Anwesenden Ihnen verzeihen werden, Mrs Chingford. Sollen wir den sonnigen Tag heute vielleicht für eine Führung durch meinen neuen Garten nutzen?“
Während die anderen Damen der Einladung des Majors umgehend nachkamen und sich wie ein Schwarm Vögel auf den Weg nach draußen machten, löste sich Lucy von Major Kurlands Arm und ging hinüber zu Sophia, die am Feuer sitzen geblieben war. Ihre Hände hielt sie verkrampft auf ihrem Schoß verschränkt. Lucy setzte sich neben sie und senkte die Stimme.
„Hör nicht auf Mrs Chingford, Sophia. Sie muss sich einfach in alles einmischen. Ich bin mir sicher, dass kein Fünkchen Wahrheit in dem steckt, was sie gesagt hat.“
Sophia lächelte zögerlich. „Ich muss zugeben, dass sie recht überzeugend klang.“
„Dann frag Mr Stanford. Ich bin mir sicher, dass er dir alles sagen kann, was du wissen willst. Wo ist er?“
„Ich glaube, er macht es seinen Kindern gerade in ihrer Stube wohnlich. Vielleicht sollte ich hochgehen und … mit ihm reden.“
Lucy drückte Sophias Hand. „Ich würde das an deiner Stelle tun. Ich bin überzeugt, dass es nichts gibt, worüber du dir Sorgen machen müsstest.“
„Wieso sollte denn sonst jemand solche bösartigen Gerüchte verbreiten?“
„Sophia, manche Leute können einfach nicht widerstehen, in der Gerüchteküche vor sich hin zu brauen wie die Hexen aus Macbeth. Mrs Chingford scheint so jemand zu sein. Geh und suche Mr Stanford.“
Sophia stand auf, nickte entschlossen und verschwand in Richtung der Haupttreppe. Lucy folgte ihr mit etwas Abstand aus dem Zimmer, nahm aber den Weg durch den Gang für die Bediensteten, der direkt an der Seite des Hauses in den Garten führte. Der gepflasterte und mit Holzbrettern verkleidete Korridor war Teil des ursprünglichen Anwesens aus der Tudor-Zeit und stellenweise recht dunkel. Vor sich hörte Lucy Stimmen, wodurch sie instinktiv langsamer ging.
„Sei keine Närrin.“
Lucy wurde noch langsamer, als sie die Stimme von Mrs Chingford erkannte.
„Ich hasse dich, Mutter. Ich hasse es, wie du die Leute behandelst, und ich wünschte, du wärst tot.“
War das Penelope, die da sprach? Lucy runzelte die Stirn. Nein, es war Dorothea Chingford, die jüngere Tochter.
„Du albernes kleines Gör mit deiner albernen Schwärmerei für Mr Stanford. Glaubst du ernsthaft, du hättest je eine Chance bei ihm gehabt? Er hat nicht einmal bemerkt, dass du existierst! Du solltest dankbar sein, dass ich ihn als den Mörder entlarvt habe, der er sicherlich ist.“
„Das ist frei erfunden, Mutter. Er ist …“ Ein Klatschen hallte durch den Gang und Dorothea unterdrückte einen Aufschrei.
„Er ist nicht an dir interessiert. Hör also auf, ihn zu verteidigen. Dadurch wirkst du nur noch armseliger als ohnehin schon.“ Mrs Chingfords Stimme war schroff. „Und jetzt weiter mit dir. Wir müssen uns den anderen im Garten anschließen.“
Lucy wartete noch einen Moment, bis Mutter und Tochter das Ende des Gangs erreicht hatten und durch die Tür nach draußen verschwunden waren. Was für eine wahrhaftig verabscheuungswürdige Frau. Zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte Lucy Mitleid für die Chingford-Schwestern. Es schien, als würde ihre Mutter es genießen, Gerüchte und Andeutungen zu verbreiten wie ein Fleisch gewordenes Skandalblatt. Lucy hob das Kinn und folgte ihnen hinaus in den Garten. Sie würde dafür sorgen müssen, dass ihr Vater nicht den Reizen von Mrs Chingford erlag.
Robert ließ den Blick über seine Gäste wandern, die in dem frisch restaurierten Kräutergarten umherstreiften, und gab sein Bestes, alle etwaigen Fragen höflich zu beantworten. Die arme Mrs Chingford schien ein Händchen dafür zu haben, immer das Falsche zu sagen. Gerade hatte sie sich bei ihm eingehakt und spazierte an seiner Seite umher.
„Ich wusste, Sie würden meinen Standpunkt verstehen, Major. Sie sind selbst ein recht direkter Mann, nicht wahr?“ Sie seufzte. „Frauen ist es nicht gestattet, ehrlich zu sein. Sie werden dann als kaltherzig und gefühllos gegenüber dem eigenen Geschlecht gesehen. Die Behandlung, die ich deswegen erfahre, ist entsetzlich.“
„Wenn Sie das sagen, Madam.“ Robert sah verzweifelt zurück in Richtung des Hauses, aber es gab keine Spur von Thomas oder Miss Harrington, die ihn hätten retten können. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, sich einen Moment zu setzen und die Aussicht zu genießen? Das Panorama hier ist recht eindrucksvoll.“
Zu seiner Erleichterung erblickte er Thomas, der zusammen mit einer schmalen, völlig in Schwarz gekleideten Frau auf ihn zukam. Robert hob die Hand und winkte seinen Landverwalter herbei.
„Da sind Sie ja, Thomas.“
„Major Kurland. Darf ich Ihnen Mrs Emily Fairfax vorstellen?“
Robert nahm die Hand der Frau und verneigte sich darüber „Es ist mir eine Freude, Mrs Fairfax. Ich hoffe, Sie genießen Ihren Aufenthalt.“
Die Witwe hob ihren schwarzen Schleier und gab die Sicht auf ein weitaus jüngeres und hübscheres Gesicht preis, als er erwartet hatte. Sie sah nicht viel älter aus als er selbst. Ihm fiel ein, dass es sich bei ihr um die zweite Ehefrau von Thomas’ Vater handelte.
„Major Kurland, es ist ausgesprochen liebenswürdig von Ihnen, mich hier zu empfangen. Thomas sagte mir, dass Sie gerade mitten in den Vorbereitungen für eine Hochzeit stecken. Ich möchte Ihnen versichern, dass ich Ihnen dabei nicht im Weg stehen werde.“ Ihre Stimme war kaum stärker als ein Windhauch und nur schwer zu verstehen.
„Nehmen Sie darauf bitte keine Rücksicht, Mrs Fairfax. Sind Sie mit diesem Teil des Landes vertraut? Wenn Ihnen der Sinn danach steht, gibt es in der Umgebung einige malerische Städte und Dörfer, die Sie erkunden könnten.“
„Ich kenne die Gegend sehr gut, Major. Ich bin im benachbarten Essex aufgewachsen, bevor ich in den Norden zog, um meinen geliebten Mr Fairfax zu ehelichen.“ Ihre Lippe bebte.
Robert verneigte sich. „Mein Beileid zu Ihrem Verlust, Madam.“
„Vielen Dank.“ In ihren Augen sammelten sich Tränen. „Ich habe meinen Mann sehr geliebt.“
Mrs Chingford, die neben ihm stand, schnaubte verächtlich. „Nach allem, was man so hört, Mrs Fairfax, hat Ihr Mann zu viel getrunken. Es ist eine Schande, dass Sie ihn nicht genug geliebt haben, um dies zu verhindern.“
Mrs Fairfax keuchte auf und hielt sich ein schwarzes Spitzentaschentuch vor den Mund. Thomas trat zwischen sie und Mrs Chingford und nahm die Hand seiner Stiefmutter in seine Armbeuge. „Ich werde Mrs Fairfax ihr Zimmer zeigen, Major“, sagte er.
„Vielen Dank.“ Robert wartete, bis die beiden außer Sichtweite waren, bevor er sich an Mrs Chingford wandte, die ihnen mit gespanntem Blick nachschaute. „Kann ich Ihnen bei etwas helfen, Madam?“
Schließlich riss sie ihren Blick von den beiden los und sah Robert an. „Das Mädchen kommt mir bekannt vor.“
„Meinen Sie Mrs Fairfax?“
Mrs Chingford rümpfte die Nase. „Ich muss versuchen, mich zu erinnern, wo ich sie schon mal gesehen habe.“ Ihr Lächeln kehrte zurück und sie blickte zu ihm auf. „Aber genug davon, Major. Ich bin so froh, dass wir die Gelegenheit hatten, uns nach der bedauerlichen Entscheidung meiner Tochter, die Verlobung mit Ihnen aufzulösen, noch einmal wiederzusehen. Sir, ich muss Ihnen sagen, dass ich danach sehr enttäuscht von ihr war.“
Robert neigte leicht den Kopf nach vorn. „Es war zum Besten aller, Mrs Chingford, und es war eine einvernehmliche Entscheidung. Wir beide haben uns über die letzten fünf Jahre deutlich verändert. Wir passen nicht länger zusammen. Es war sehr mutig von Miss Chingford, zu dieser Einsicht zu gelangen.“
„Ich muss zugeben, dass es furchtbar für sie gewesen wäre, hätte sie einen Krüppel heiraten müssen, der versteckt auf dem Land lebt.“ Sie schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln und tätschelte seinen Arm. „Aber man bekommt nicht immer alles, was man sich im Leben wünscht, nicht wahr, Major?“
Er nahm die despektierliche Bemerkung auf, ohne mit der Wimper zu zucken. „In der Tat, Madam. Es wäre mir lieber, nicht verkrüppelt zu sein, aber ich habe gelernt, damit zu leben.“
Sie stupste ihn mit ihrem Fächer an. „Guter Gott, Major, das wollte ich damit natürlich nicht sagen. Ich habe das selbstverständlich metaphorisch gemeint.“
Robert verneigte sich. „Selbstverständlich.“ Er bemerkte Miss Harrington, die zielgerichtet auf ihn zukam. „Würden Sie mich entschuldigen?“
Er entfernte sich, bevor Mrs Chingford ihre Einwilligung gegeben hatte, jedoch machte sie keine Anstalten, ihm zu folgen. Offenbar lag Miss Harrington richtig. Mrs Chingford glaubte eindeutig, dass es angemessenes Verhalten war, mit einem Lächeln auf dem Gesicht und höflichen Worten auf den Lippen Dolchstöße auszuteilen. Soweit er gehört hatte, war es ihr bei diesem ihrem ersten Besuch in seinem Haus gelungen, mindestens drei seiner Gäste zu beleidigen, wenn nicht sogar mehr.
Er verbeugte sich, nahm entschlossen Miss Harringtons Ellbogen und führte sie ein Stück von den anderen Gästen weg.
„Mrs Chingford hat tatsächlich ein Talent, die Leute gegen sich aufzubringen, nicht wahr?“
Ihr Blick verdüsterte sich. „Was hat sie zu Ihnen gesagt?“
„Nichts, was es wert wäre, wiederholt zu werden, aber ich denke, Sie haben recht, ihr gegenüber misstrauisch zu sein.“
„Bei Sophia hat sie jedenfalls für einiges an Bestürzung gesorgt. Gab es wirklich Gerüchte, dass Mr Stanford etwas getan haben könnte, um den Tod seiner Frau herbeizuführen?“
Robert zögerte. „Damals gab es … Tratsch, aber ich kann Ihnen versichern, dass Andrew nichts verbrochen hat. Von der Geburt ihres zweiten Kindes hat sich der Verstand seiner Frau einfach nicht mehr erholt. Sie war sehr in sich gekehrt und kaum noch sie selbst. Andrew versuchte alles in seiner Macht Stehende, aber nichts schien zu funktionieren.“ Er senkte die Stimme. „Sie nahm sich das Leben. Das wissen nicht viele. Ich frage mich, von wem Mrs Chingford gehört haben könnte, welche Probleme es in der Ehe gab.“
„Sie ist die Art Frau, die von Geschwätz angezogen wird wie Bienen vom Honig.“ Miss Harrington erschauderte. „Und das Problem ist, dass ihre Gerüchte und Andeutungen immer auf einem Körnchen Wahrheit beruhen, sodass sie nur schwer zu widerlegen sind.“
„Ich werde Andrew sagen, dass er auf der Hut sein soll.“
Sie hob das Kinn, um ihm direkt in die Augen zu sehen. „Und raten Sie ihm, Sophia gegenüber ehrlich zu sein. Sie verdient es, die Wahrheit zu kennen.“
„Das sehe ich genauso.“ Er lächelte ihr zu und sie wandte ihren Blick sofort ab. „Kopf hoch, Miss Harrington. In ein paar Tagen wird die Hochzeit vorbei sein und wir alle können zu einem friedlicheren Leben zurückkehren.“
„Das hoffe ich inständig, Sir.“ Miss Harrington warf einen Blick über die Schulter zu Mrs Chingford. „Denn ich muss gestehen, dass sich mein Vorrat christlicher Nächstenliebe langsam dem Ende zuneigt.“