Leseprobe Der Tote im Hyde Park

Kapitel 1

Der Graf von Wrexford hielt inne und betrachtete die Umgebung. Es war kurz nach Mitternacht und der milde Abend begann, seine Zähne zu zeigen. Eine Windböe wirbelte durch die Dunkelheit und ließ die Blätter der nahen Bäume rascheln. Die Luft war kühl geworden und ihre Schwere drohte Regen an.

Wrexford seufzte und schlug den Kragen seines Mantels hoch. Er hätte es sich viel lieber in seinem Arbeitszimmer mit einem Buch und einem Brandy in der Hand gemütlich gemacht, doch er und seine drei Gefährten hatten soeben den Hyde Park durch das Stanhope Gate betreten und waren nun auf dem Fußweg in Richtung des Serpentine unterwegs.

„Wrex! Wrex!“ Der Ruf ertönte von irgendwo ganz in der Nähe.

Kurz darauf löste sich Hawk, der jüngere der beiden Jungen, die ihn begleiteten, aus dem Nebel und stolperte beinahe, als er versuchte, mit einem eisengrauen Hund Schritt zu halten, dessen Größe und furchterregendes Gebiss viele Leute dazu veranlasste, ihn mit einem Wolf zu verwechseln. „Darf ich Harper jetzt von der Leine lassen?“

In die Dunkelheit blinzelnd, warf Wrexford einen letzten Blick auf die weiten Wiesen und die dichten Haine.

„Ja, Junge“, antwortete er. „Aber denk an das, was ich gesagt habe ich erwarte von dir und deinem Bruder, dass ihr die Bestie davon abhaltet, Unheil anzurichten, sonst wird es keine weiteren nächtlichen Streifzüge geben.“

In Wahrheit bestand zu dieser Stunde kaum die Gefahr, dass sie auf Schwierigkeiten stoßen würden. Er hatte jedoch gespürt, dass die Jungen das Gefühl haben wollten, ein risikoreiches Abenteuer zu erleben.

Sie waren es gewohnt, sich in der Stadt frei bewegen zu können, wie es ihnen beliebte. Ihr Leben hatte jedoch vor kurzem eine bedeutsame Veränderung erfahren.

Ebenso wie meines …

Ein fröhliches Wuff lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf den Moment, als Hawk das Lederstück von Harpers Halsband löste. Der Jagdhund tanzte ein paar Kreise um den Jungen und trottete dann in den nahe gelegenen Ulmenhain.

„Ihm nach!“, rief der Graf. Nur wenige Menschen wagten sich nach Einbruch der Dunkelheit in den Park  und die, die es taten, zogen es für gewöhnlich vor, ungesehen zu bleiben. Dennoch wollte er kein Risiko eingehen.

Raven, Hawks älterer Bruder, tauchte wie aus dem Nichts auf und gab ein Kichern von sich, als er begann, mit dem Grafen im Gleichschritt zu gehen. „Ha! Als wenn es einen Grund zur Beunruhigung gäbe.“

„Bei euch zwei Wieseln gibt es immer Grund, Chaos zu erwarten“, erwiderte Wrexford. Bei seiner ersten Begegnung mit den Brüdern hatte Raven ihm ein Messer ins Bein gestoßen und Hawk hatte ihn mit einer zerbrochenen Flasche geschlagen … Alles in guter Absicht, wie er einräumte, da sie angenommen hatten, er würde Charlotte Sloane bedrohen.

Der Graf verzog das Gesicht, als der Fußweg in die Bäume führte. Die Reise des Lebens war voller seltsamer Irrungen und Wirrungen. Diese anfängliche feindselige Konfrontation hatte sich zur Überraschung aller in Freundschaft verwandelt. Und dann …

Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Das unerwartete Bündnis hatte sich auf eine Weise vertieft, die sich nicht in Worte fassen ließ. Er und Charlotte hatten kürzlich geheiratet und Raven und Hawk, die beiden verwilderten Waisenkinder, die sie unter ihre Fittiche genommen hatte, waren seine gesetzlichen Mündel geworden.

Sie alle waren jetzt eine Familie  eine unkonventionelle, um genau zu sein. Doch möglicherweise machte das ihr Band nur noch stärker.

„Ich habe die Gegend bereits abgesucht“, fuhr Raven fort. „Es ist niemand in der Nähe.“ Eine Pause. „Und Sie wissen ebenso gut wie wir, dass Harper nicht einmal einem Floh etwas zuleide tun würde.“

„Das liegt daran, dass das Biest so verwöhnt und faul ist wie der Schoßhund einer Witwe“, erwiderte der Graf. „Mir wäre es jedoch lieber, wenn er niemanden zu Tode erschreckt.“

„Wissen Sie“, der Junge fixierte ihn mit einem frechen Grinsen, „Sie sollten Harper etwas mehr Respekt entgegenbringen. Immerhin hat er Ihnen kürzlich das Leben gerettet.“

„Und du solltest ein bisschen mehr Respekt vor mir haben“, sagte Wrexford. „Es gilt als sehr gefährlich, mich zu verärgern.“

Der Junge gab einen unhöflichen Laut von sich. „Ebenso wie Harpers ist Ihr Bellen schlimmer als Ihr Biss.“

„Du wirst unverschämt, Wiesel“, knurrte er, was Raven lediglich ein Lachen entlockte. Der Graf hatte die Jungen während des ersten Angriffs „Wiesel“ genannt, und der Spitzname war, sehr zu ihrem Vergnügen, bestehen geblieben.

Wrexford runzelte die Stirn, wenngleich seine Mundwinkel ein amüsiertes Zucken verrieten.

Von Jenseits der Bäume ertönte ein Bellen.

„Du solltest besser gehen und deinen Bruder und Harper davon abhalten, sich tatsächlich in Schwierigkeiten zu begeben“, sagte er. „Auf dieser Seite des Parks ist der Serpentine ziemlich tief und ich habe keine Lust, einen der beiden aus dem Wasser zu fischen.“

Der Junge nickte und huschte davon, ein schnelles, verschwommenes Etwas, das kurz darauf von den Schatten verschluckt wurde.

Blätter raschelten, als erneut eine Brise vorbeizog. Irgendwo in den Bäumen erklang das Zwitschern einer Nachtigall. Wrexford ging in gemächlichem Tempo weiter, während sich seine Gedanken wieder einmal um die Familie drehten. Als ein Mann, dessen Denken von den Prinzipien der Vernunft und der wissenschaftlichen Logik beherrscht wurde, hatte er sich immer für immun gegen die Unwägbarkeiten der Liebe gehalten. Und doch hatte Charlotte Sloane sein Herz auf eine Weise erobert, die er nicht zu definieren vermochte.

Ein Glucksen grollte tief in seiner Kehle. So viel zur Logik.

Er konnte sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen.

Tatsächlich hatte ihre kürzliche Heirat bewiesen …

„Harper!“ Hawks Schrei zerriss die Stille. „Neeeiiin!“

Verflucht. Wrexford beschleunigte seinen Schritt …

Als er ein lautes Platschen hörte, begann er zu rennen. Soweit er wusste, konnten die Jungen nicht schwimmen.

Als er zwischen den Bäumen hervorpreschte, erhaschte er einen Blick auf den mondbeschienenen Serpentine vor sich, doch die huschenden Schatten am Rande des Sees machten es unmöglich zu erkennen, was vor sich ging.

Wo waren sie?

„Raven!“, rief er und hatte das Gefühl, sein Herz würde ihm jeden Moment in die Kehle springen. „Hawk!“
„Hier, Sir!“ Eine gedämpfte Antwort drang von dem terrassenförmigen steinernen Damm herüber, der das Ende des Sees säumte.

Als der Graf über das unwegsame Gelände zu den Jungen kletterte, entdeckte er den großen Hund, der durch das trübe Wasser schwamm und dunkle Wellen hinter sich zog.

„Was zum Teufel …“

„Irgendetwas hat Harper erschreckt“, erklärte Hawk. „Seine Nackenhaare haben sich gesträubt und dann, bevor ich ihn packen konnte, hat er gebellt und ist in den See gesprungen. Ich …“

„Teufel noch eins  da draußen treibt etwas“, sagte Raven mit bebender Stimme. „Es sieht aus wie …“

Wrexford sah es auch. „Tretet zurück, Wiesel“, befahl er. „Ich will, dass ihr euch schön vom Ufer fernhaltet.“

Der Hauch von Beunruhigung in seiner Stimme musste sie genug verunsichert haben, um nicht zu widersprechen. Raven nahm die Hand seines Bruders und führte ihn schnell zum grasbewachsenen Grünstreifen.

Als er zu Harper zurückblickte, sah Wrexford, dass der Hund die dunkle Gestalt mit seinen Zähnen festhielt und sie mühsam zurück ans Ufer zog. Der Graf blickte sich um. Zu seiner Linken endete die steinerne Böschung und wich einer Bank aus Erde, Steinen und Gras.

„Harper, Harper!“ Mit den Armen wedelnd, bahnte er sich seinen Weg zu einem sanft abfallenden Stück des Ufers.

Als der Hund näher gepaddelt kam, bestätigten sich Wrexfords schlimmste Befürchtungen.

Ein Mensch. Und den Verletzungen am Kopf der armen Seele nach zu urteilen, bestand kaum eine Chance, dass er noch am Leben war.

„Gut gemacht, Harper.“ Er wuschelte mit den Fingern durch das durchnässte Fell des hechelnden Hundes, bevor er die Leiche an den Schultern packte und sie zum Fußweg am Ufer des Long Water zog.

Hockend drehte Wrexford den Mann um und schnaufte überrascht …

Man begegnete nicht häufig einem Menschen afrikanischer Abstammung in der exklusiven Gegend Mayfairs.

Er runzelte nachdenklich die Stirn, während er mit einem Finger über das feine Leinen des Hemds und der Krawatte des Mannes fuhr. Erst recht keinem, der wie ein Gentleman gekleidet war. Er verdrängte schnell seinen anfänglichen Schock. Was auch immer diesen armen Kerl zu dieser Stunde hierher verschleppt hatte, es hatte ihn sein Leben gekostet.

Nach dem Puls zu fühlen, war nicht notwendig. Die Kopfverletzung war zu grausam. Wrexford vermutete, dass das Herz des Mannes bereits aufgehört hatte zu schlagen, bevor er ins Wasser gefallen war. Was ihm, sinnierte der Graf, einen womöglich noch schrecklicheren Tod erspart hatte.

Und doch …

Der Graf lehnte sich zurück. Er ließ seinen Blick über den See und die Steinerne Böschung wandern. Dann sah er in das leblose Gesicht hinunter und runzelte die Stirn.

„Wie zum Teufel du es geschafft hast, herunterzufallen, ist mir ein Rätsel.“ Ebenso wie die Stelle, an der er gelandet war. Die Grundgesetze der Physik schienen darauf hinzuweisen, dass der tote Mann mit voller Geschwindigkeit gerannt war.

„Ja, ein Rätsel“, wiederholte er leise. Jedoch eines, dessen Lösung Aufgabe der Behörden war. Seine einzige Verantwortung war es, einen der Nachtwächter zu holen, die im Park patrouillierten, und ihn über den Unfall zu informieren.

„Wiesel!“, rief er, als er plötzlich bemerkte, dass sie nirgends zu sehen waren. Harper, der sich neben der Leiche ausgestreckt hatte, hob seinen zotteligen Kopf und spitzte die Ohren.

Keine Antwort.

Ein kalter Schauer wie der eisige Finger des Sensenmannes lief dem Grafen über den Rücken. Wrexford erhob sich abrupt und rief erneut.

Der Hund war ebenfalls im Nu auf den Beinen, ein Knurren grollte in seiner Kehle.

„Aye, Aye!“ Ravens Antwort wurde von dem dichten Geäst der Bäume gedämpft. Der Graf hielt den Atem an und starrte in die Dunkelheit, unsicher, warum er derartig nervös war. Zugegeben, der Tod war stets beunruhigend, eine unwillkommene Erinnerung daran, dass die Existenz endlich war. Das Uhrwerk des Universums tickte für alle Lebewesen, ob groß oder klein, nach dem gleichen elementaren Zyklus. Und dennoch schien dies Unbehagen zu wecken …

Die Jungen materialisierten sich aus der Dunkelheit und ein Schimmer des Mondlichts verriet, dass Raven etwas in seinen Armen hielt.

„Ich habe das hier bei der Steinmauer gefunden“, verkündete der Junge und überreichte eilig einen altmodischen Dreispitzhut.

Er war abgenutzt, doch ebenso wie das Hemd und der Mantel des toten Mannes war er aus hochwertigem Material gefertigt. Bei näherer Betrachtung war auf dem Innenband ein Herstellerkennzeichen zu erkennen. Wrexford kannte den Namen nicht.

„Da sind auch Fußspuren gewesen“, sagte Hawk. „Eine Spur ist aus Richtung Knightsbridge gekommen, während zwei andere von demselben Fußweg gekommen sind, den wir benutzt haben. Sie haben sich direkt am Ende des Long Water getroffen. Und dann …“

„Und dann hat es so ausgesehen, als hätten sie eine Konfrontation gehabt“, warf Raven ein. Da sie den größten Teil ihrer Kindheit in den Elendsvierteln Londons verbracht hatten, waren beide Wiesel weitaus klüger und aufmerksamer als andere Jungen in ihrem Alter. Ihre Fähigkeiten waren auch dadurch geschärft worden, dass sie bei früheren Mordermittlungen mitgewirkt hatten  sehr zu Charlottes Missfallen.

„Angesichts der Abstände zwischen den Schritten“, fuhr Raven fort, „sind die Knightsbridge-Spuren im Laufschritt entstanden.“

„Möglicherweise ein versuchter Raubüberfall“, überlegte Wrexford. Wenngleich Straßendiebe üblicherweise schlau genug waren, sich ein wohlhabend aussehendes Opfer zu suchen. Nachdem er wieder in die Hocke gegangen war, durchsuchte er die Manteltaschen des Toten und fand einen Geldbeutel. „Sie wären enttäuscht gewesen“, fügte er hinzu, nachdem er ihn geschüttelt hatte.

„Vielleicht sind sie Komplizen gewesen und in einen Streit geraten“, warf Raven ein.

„Eine naheliegende Vermutung“, erwiderte Wrexford. „Doch es ist sinnlos, darüber zu spekulieren.“ Seiner Meinung nach würde der genaue Grund für den Tod  sei es ein unglücklicher Unfall oder eine ruchlose Ursache  wahrscheinlich nie bekannt werden.

„Es gibt hier nichts weiter für uns zu tun. Wir müssen den Wachmann holen und diese bedauerliche Angelegenheit hinter uns lassen. Ihr zwei bleibt hier …“ Doch als seine Hand über eine Ausbuchtung im Mantel des toten Mannes streifte, zögerte der Graf. Wenn der Mann wegen irgendetwas gejagt worden war, das er bei sich getragen hatte, dann könnten die Täter noch immer in der Nähe lauern, in der Hoffnung, die Leiche in die Hände zu bekommen.

„Wenn ich es mir recht überlege“, sagte Wrexford, „möchte ich, dass ihr beide zum Pulvermagazin bei der Steinbrücke lauft.“ Ein Wachmann würde dort Wache stehen. „Erklärt ihm, dass wir eine Leiche aus dem Serpentine gefischt haben, und bringt ihn hierher.“

„Sollen wir Harper mitnehmen?“, fragte Hawk.

Der Jagdhund wedelte mit dem Schwanz.

„Das halte ich für unklug, Junge“, antwortete er. „Der Anblick von Harper könnte den Wachmann einschüchtern und ihn davon abhalten, eurer Bitte nachzukommen.“ An Raven gerichtet fügte er hinzu: „Bewegt euch schnell und wachsam.“

„Erwarten Sie Ärger, Sir?“

„Nein.“ Leider jedoch schien der Ärger ein verderbliches Vergnügen daran zu haben, sich in ihr Leben zu schleichen, wenn sie es am wenigsten erwarteten. „Ich bevorzuge es jedoch, Vorsicht walten zu lassen.“ Wrexford machte eine scheuchende Geste. „Fort mit euch.“

Harper stieß ein Seufzen aus und legte den Kopf zwischen die Pfoten.

„Sieh mich nicht so an“, murrte Wrexford. „Es gibt Zeiten, in denen dein grimmiges Gesicht nicht zu unserem Vorteil ist.“

Als Antwort drehte sich der Hund auf die Seite und fiel in einen schnarchenden Schlaf.

Wrexford wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Leichnam zu und untersuchte die Ausbuchtung unter der nassen Wolle. Sie fühlte sich an wie ein rechteckiges Gehäuse aus Metall. Vielleicht eine silberne Schachtel für Stumpen  wenngleich sie sich ein wenig zu groß anfühlt, dachte er, als er das Objekt aus der Innentasche befreite und es in das schwache Mondlicht hielt, das es zwischen den überhängenden Blättern hindurchschaffte.

Die Messingecken des Gehäuses schimmerten golden. Der Rest war aus fein gemasertem dunklem Holz gefertigt. Ebenholz oder Palisander, vermutete er, während er es zwischen seinen Fingern drehte und die Verarbeitung bewunderte. In der Mitte des Deckels befand sich eine dekorative Einlage, bei der es sich scheinbar um verschnörkelte Initialen aus Elfenbein handelte.

Wrexford klappte den Riegel auf und sah hinein.

Auf einem Bett aus schwarzem Samt lag ein Satz von Präzisionszeichengeräten. Zirkel, Winkelmesser und ein kleines Lineal …

Irgendwie gaben sie dem toten Mann eine Individualität  er war nicht länger nur ein namenloses Opfer der Umstände, sondern eine Person mit Interessen aus Fleisch und Blut …

Wrexford klappte den Deckel weiter auf und suchte nach einem Namen, doch auch die Innenseite des Deckels war mit Samt überzogen …

Eine weiße Silhouette, die sich von der Schwärze abhob, fiel ihm ins Auge. Dort war, so erkannte er, eine Tasche in den Stoff eingenäht. Er griff vorsichtig nach dem gefalteten Papier und zog es heraus. Die exquisite Handwerkskunst der Kiste hatte das meiste Wasser aus dem See herausgehalten  es war feucht, doch intakt, und als Wrexford es glättete, sah er, dass die Bleistiftlinien noch nicht bis zur Unkenntlichkeit verwischt waren.

Es war eine Skizze …

„Teufel noch eins.“ Er holte tief Luft und sah mit suchendem Blick auf das in Schatten gehüllte Gesicht des toten Mannes. „Wer bist du?“

Kapitel 2

Charlotte beobachtete bestürzt, wie ein Paar Lakaien zwei weitere Reisekoffer in den Gepäckwagen verfrachteten. „Herr im Himmel, man könnte meinen, wir transportieren ein Husarenregiment zu den Schlachtfeldern Amerikas“, murmelte sie leise. In der nicht allzu fernen Vergangenheit hätte sie all ihre Besitztümer in ramponierte Kisten und Segeltuchkoffer stopfen müssen.

Doch das Leben hat sich geändert. Sie war jetzt die Gräfin von Wrexford  was eine gewisse Ironie darstellte, war sie doch in ihrer rebellischen Jugend nach Italien geflohen, um dem Leben im goldenen Käfig der englischen Aristokratie zu entkommen.

Doch dann hatte sie Wrexford kennengelernt …

Ein jähzorniger, sarkastischer Graf mit einem scharfen Verstand, der ihn zu einem der führenden Köpfe der britischen Wissenschaft machte. Ihre Lippen zuckten. Als brillanter Chemiker würde er zweifellos eine rationale Erklärung dafür haben, warum ihnen diese explosive Kombination nicht um die Ohren geflogen war.

Doch entgegen aller Logik …

Charlotte eilte durch den großen Marmoreingang ihres prächtigen Stadthauses am Berkeley Square und gesellte sich zu ihrem Mann, der sich inmitten des Trubels der Vorbereitungen für ihren Besuch in Kent befand.

„Wrex, hör auf, Tyler anzuknurren“, murmelte sie, nachdem sie dem Kammerdiener des Grafen ein entschuldigendes Lächeln geschenkt hatte. „Es ist allein meine Schuld, dass ich die Einladung meines Bruders zu einer großen Geburtstagsfeier seitens der Familie seiner Frau angenommen habe.“ Wrexford verabscheute frivole gesellschaftliche Anlässe ebenso wie sie selbst. „Aber Hartley ist so erpicht darauf gewesen, dass wir seine Schwägerin und ihre Familie kennenlernen, dass ich es nicht übers Herz gebracht habe, nein zu sagen. Ich verspreche jedoch, dass ich derartigen Ablenkungen in Zukunft nicht immer zusagen werde.“

Ein Seufzen. In Wahrheit überdachte sie ihre Entscheidung bereits.

So sehr sie auch die jüngste Versöhnung mit ihrem lange entfremdeten Bruder schätzte  dem jetzigen Graf von Wolcott, nachdem ihr Vater und ihr ältester Bruder ihre sterblichen Hüllen abgelegt hatten , so hatte sie dennoch nie zugelassen, dass persönliche Belange sie dazu veranlassten, ihre Prinzipien beiseite zu schieben. Es bedurfte nur eines kleinen  und unschuldigen  Schrittes, um einen Abhang hinunterzustürzen, der nur allzu schnell teuflisch rutschig werden konnte. „Ich habe ebenso wie du weitaus interessantere Dinge mit meiner Zeit anzufangen.“

Trotz seiner besorgten Miene erlaubte sich Wrexford ein schroffes Lachen. „Wie Prinny zu verhöhnen?“

Tyler verkniff sich ein Glucksen.

Zu Charlottes vielen Geheimnissen gehörte ihre Identität als der berüchtigte A.J. Quill, einer der berühmtesten Satiriker Londons. Sie benutzte ihre Feder, um Korruption und Skandale in den höchsten Kreisen der Gesellschaft und der Regierung aufzudecken und die Eitelkeiten von aufgeblasenen Wichtigtuern mit einem Stich ihrer Spitze platzen zu lassen.

„Aber natürlich.“ Charlotte verzog das Gesicht und erinnerte sich daran, dass sie nur für zwei Tage die Stadt verlassen würde. „Angesichts der großen Friedensfeierlichkeiten, die bald zu Ehren des Sieges der Alliierten über Napoleon in London stattfinden werden  ganz zu schweigen von den bevorstehenden Feierlichkeiten im August anlässlich der Hundertjahrfeier des über Britannien herrschenden Hauses Hannover  fürchte ich, es wird in den nächsten Wochen mehr als genug Futter für Spott geben.“

Napoleons kürzliche Niederlage im Kampf gegen die Alliierten, angeführt von Britannien, Russland, Österreich und Preußen, und seine Verbannung auf die Insel Elba, hatten Europa endlich Frieden gebracht. Und zur Feier dieses bedeutsamen Moments hatte der Prinzregent die anderen alliierten Staatoberhäupter zu einer einmonatigen Reihe von üppigen Bällen, Konzerten, Vergnügungen und Feuerwerken eingeladen. Der Zar von Russland, der König von Preußen, der Kaiser von Österreich sowie die führenden alliierten Generäle und eine Vielzahl wichtiger internationaler Würdenträger … Es versprach ein in der Geschichte Londons nie dagewesenes Spektakel zu werden. Einige Angehörige königlicher Familien kleinerer Länder waren bereits eingetroffen und die Feierlichkeiten hatten begonnen.

„Die alliierten Führer sollten nicht allzu ausgelassen feiern, und der Herzog von Wellington wäre gut beraten, einen allzeit geschärften Säbel bei sich zu tragen“, murrte Wrexford. „Ich denke, es ist ein Fehler gewesen, Napoleon auf einer winzigen Insel nur einen Steinwurf von der Küste Frankreichs entfernt auszusetzen.“

„Sei nicht so pessimistisch“, tadelte ihn Charlotte. „Nach über einem Jahrzehnt des Krieges hat die Welt sicher genug von Konflikten und Gemetzel. Du glaubst doch nicht etwa, dass die Franzosen ihn zurück auf dem Thron sehen wollen?“

„Wie du weißt, neige ich dazu, das Schlimmste von Menschen zu denken“, antwortete der Graf. „Auf diese Weise werde ich selten enttäuscht.“

Charlotte zog es vor, die Bemerkung zu ignorieren, und lenkte die Konversation zurück auf die bevorstehenden Feierlichkeiten. „Prinny ist rasend vor Wut, weil Zar Alexander bei den Londonern beliebter zu sein scheint als er.“

„Alexander soll einen jungenhaften Charme besitzen, der seine vielen Charakterschwächen ausgleicht“, sagte Wrexford trocken. „Ich wage jedoch zu behaupten, dass wir Gelegenheit haben werden, das selbst beurteilen zu können.“

Natürlich hatten sie eine Einladung zu jeder der begehrtesten Veranstaltungen erhalten, sinnierte sie. Was zweifellos reichlich Gelegenheit bieten würde, die Fehltritte der Schönen und Reichen zu beobachten.

„Ja“, antwortete Charlotte, „und ich erwarte, dass wir neben all den Feuerwerken, die entlang des Serpentine für die Feierlichkeiten geplant sind, auch in den Ballsälen eine Menge Funken und Explosionen erleben werden.“

Wieder lächelte Wrexford, doch Schatten erfüllten die Tiefen seiner Augen.

„Tyler, könnten Sie das Verladen des Gepäcks beaufsichtigen, während ich ein privates Gespräch mit Seiner Lordschaft führe?“

„Aber natürlich, Mylady.“

Charlotte nahm Wrexfords Arm und zog ihn auf den Kiesweg, der zu den hinteren Gärten führte. „Beschäftigen dich die Ereignisse der letzten Nacht noch immer?“ Keinem von ihnen war der unnatürliche Tod fremd, doch sie spürte, dass ihn etwas an dem Fund der Leiche beunruhigte.

Er zögerte, bevor er antwortete: „Du hast den Wachmann angewiesen, die Skizze und die Zeichengeräte zu Griffin zu bringen …“ Der Bow Street Läufer hatte bei der Aufklärung einer Reihe früherer Verbrechen mit ihnen zusammengearbeitet.

Und während ihn manche Leute aufgrund seiner schwerfälligen Bewegungen und seiner schweigsamen Art für stumpfsinnig hielten, wussten sie und Wrexford es besser. „Wenn es einen Grund gibt, ein Verbrechen zu vermuten, dann wird er ihn finden.“

Ein Hauch von Erheiterung blitzte unter seinen Wimpern auf. „Vielleicht ist es das, wovor ich Angst habe. Ich habe gehofft, dass wir ein Intermezzo der Ruhe und des Friedens haben würden, um unser Eheleben zu beginnen.“

„Ruhe und Frieden?“ Sie zog die Augenbrauen hoch. „Gib es zu, Wrexford  du würdest dich darüber beschweren, dass du dich zu Tode langweilst!“

„Apropos beschweren“, murmelte er.

„Ich weiß, ich weiß.“ Charlotte schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln. „Ich befürchte ebenfalls, dass der bevorstehende Besuch äußerst ermüdend sein wird. Doch glücklicherweise wird er auch kurz sein und …“

„Und verflucht langweilig.“

„Bring deine Bücher über Priestleys Experimente mit Sauerstoff mit“, beschwichtigte sie ihn, während sie gegen denselben Gedanken ankämpfte. „Ich werde dafür sorgen, dass du genügend Zeit zum Lesen haben wirst.“

Ein plötzlicher Schrei kam jeglicher Antwort zuvor.

„Mylady, Mylady!“ Einen Augenblick später schlitterte Hawk um die Ecke des Stadthauses, gefolgt von seinem Bruder. Ihre Beziehung hatte sich stark verändert, seit die Jungen sie zum ersten Mal mit diesem Namen angesprochen hatten, doch sie alle fühlten sich damit wohl.

Die beiden Jungen waren ein weiteres ihrer Geheimnisse. Wrexford hatte offizielle Dokumente arrangiert  sie hatte nie hinterfragt, wie , die ihre Abstammung bescheinigten, zusammen mit allen notwendigen Papieren, die sie zu ihrem gesetzlichen Vormund machten. Doch in Wahrheit waren sie Waisenkinder aus der Gosse, die sie und ihr verstorbener erster Mann vor ihrem Haus gefunden und unter ihre Fittiche genommen hatten.

Ihr Herz machte einen Sprung, als Hawk ein lückenreiches Grinsen aufsetzte. Die Liebe hatte viele Gesichter … Sie warf einen Blick auf Wrexford und dann zurück zu den Jungen. Möglicherweise waren die unerwarteten Gesichter die wertvollsten.

„Wir haben uns gefragt … darf Harper mit uns aufs Land kommen?“, fragte Hawk mit hoffnungsvoller Stimme.

„Ich fürchte nein, Liebling“, antwortete Charlotte. „Es wäre unhöflich von uns, einen Hund mitzunehmen.“ Tatsächlich war es selten, dass eine Einladung zu einer Landhausfeier Kinder einschloss, doch ihre Gastgeber hatten darauf bestanden, dass das morgige Picknick eine festliche Angelegenheit für Familie und Freunde jeden Alters sein sollte. „Auf jeden Fall haben unsere Gastgeber einen Jungen in deinem Alter und es werden auch andere Kind … ähm, ich meinte natürlich junge Leute da sein, mit denen ihr morgen beim Picknick spielen könnt.“

Ein Anflug von Enttäuschung beschattete sein Gesicht.

„Und vergiss nicht, dass dein Onkel Hartley erwähnt hat, dass die Gärten des Belmont-Anwesens sehr groß sind“, fügte sie schnell hinzu. Hawk war ein angehender Künstler mit einer Leidenschaft für die Botanik. „Es wird viel zu erforschen und zu zeichnen für dich geben, also nimm unbedingt dein Skizzenbuch und deine Farben mit.“

„Aber beeil dich, Junge“, riet Wrexford. „Wenn wir pünktlich kommen wollen, müssen wir bald aufbrechen.“

Raven verweilte, während sein Bruder losstürmte. „Das hört sich nicht gerade nach einem interessanten Ausflug an“, sagte er, ohne ihren Blick zu kreuzen. „Ich würde lieber nicht gehen. Lady Cordelia hat gesagt, dass sie und Lord Woodbridge sich freuen würden, wenn ich bei ihnen bliebe, während Sie weg sind.“

Lady Cordelia und ihr Bruder gehörten zu ihrem und Wrexfords engsten Freundeskreis. Sie alle hatten sich bei einer Morduntersuchung kennengelernt, bei der Cordelia für kurze Zeit die Hauptverdächtige gewesen war, und sie hatten sich als wertvolle Verbündete bei der Lösung jüngerer Rätsel erwiesen. Als brillante Mathematikerin unterrichtete Cordelia auch Raven auf diesem Gebiet.

Nichtsdestominder kam die Frage für Charlotte überraschend. „Ich habe gedacht, du würdest gerne einen anderen Jungen aus unserem erweiterten Familienkreis kennenlernen und mit seinen Freunden eine Feier besuchen.“

„Ich habe die schicken Aristokraten gesehen, die bei Gunters Eis essen gehen“, murmelte Raven, „und sie kommen mir vor wie aufgeplusterte Papageien. Warum sollte ich Zeit mit ihnen verbringen wollen? Wir haben nichts gemeinsam.“

Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass er sich darum sorgen könnte, nicht dazuzugehören. Zugegeben, die anderen Jungen und Mädchen, die an der Veranstaltung teilnahmen, waren in einer Welt voller Privilegien und Überfluss aufgewachsen, doch das bedeutete nicht, dass sie alle eingebildete Hohlköpfe waren. „Es ist ungerecht, derart vorschnell zu urteilen“, sagte Charlotte.

„Auch wenn es wahrscheinlich wahr ist?“, fragte Raven.

„Du weißt selbst, dass die Welt selten nur schwarz und weiß ist“, schimpfte Charlotte. Dann versuchte sie es mit einem anderen Ansatz  in der Hoffnung, den finsteren Blick des Jungen aufzuhellen. „Es ist nur für zwei Nächte.“

Wrexford war in seiner Antwort weitaus unverblümter. „Teil einer Familie zu sein, verlangt zuweilen von uns, Dinge zu tun, die wir vielleicht nicht tun wollen. Mylady möchte ihren Bruder glücklich machen und bittet uns um unsere Unterstützung.“ Seine hochgezogenen Augenbrauen betonten seinen Blick. „Du wirst doch nicht etwa so unhöflich sein, abzulehnen?“

„Ich …“ Raven biss sich auf die Lippe. „Dürfte ich mir Ihr Buch von Leonhard Euler über seine Methode zur Bestimmung gekrümmter Linien ausleihen, Sir?“ Der Junge hatte eine besondere Begabung für Mathematik und nahm bei Lady Cordelia Unterricht auf fortgeschrittenem Niveau. „Ich würde es gerne mit auf die Reise nehmen.“

„Lass es uns holen“, antwortete der Graf. „Und da auch ich gerne Lesestoff mitnehmen würde, kannst du mir helfen, zu suchen …“

Charlotte warf ihm einen dankbaren Blick zu, als sich die beiden entfernten. Trotz seines Rufs, launisch und aufbrausend zu sein, war Wrexford erstaunlich geduldig im Umgang mit den Wieseln. Raven, der schon immer einen Hang zur Unabhängigkeit hatte, kam in das schwierige Alter, in dem Jungen sich gezwungen fühlten, Autoritäten herauszufordern. Sie versuchte noch immer herauszufinden, wie man mit derartigen Konfrontationen umzugehen vermochte, doch der Graf schien intuitiv zu wissen, wann er die Zügel lockern und wann er sie anziehen musste.

Noch besorgniserregender war jedoch die Tatsache, dass sich Raven mit zunehmendem Alter in der Beau Monde fehl am Platz fühlen könnte …

„Mylady?“ McClellan, die gefürchtete Schottin, die in Charlottes früherem Haushalt als Tausendsassa fungiert hatte, räusperte sich lautstark. „Nach unserem Zeitplan müssen die Kutschen in einer Viertelstunde abfahren.“ Wenngleich ihr derzeitiger offizieller Titel „Zofe der Gräfin von Wrexford“ lautete, wusste jeder im Stadthaus am Berkeley Square, dass sie und der langjährige Kammerdiener des Grafen gemeinsam das Haus leiteten. „Wir sollten also schnell nach oben gehen und Ihren Schal und Ihren Pompadour holen.“

„Verzeihen Sie“, entschuldigte sich Charlotte. „Meine Gedanken sind gewandert.“

„Hmmmpf. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, müssen sie durch einen äußerst stinkenden Sumpf gewandert sein.“

„Raven hat die unerwartete Bitte geäußert, sich von dem Besuch entschuldigen zu dürfen. In letzter Zeit hat er so viele Veränderungen in seinem Leben durchlaufen, dass ich ihn nicht drängen wollte, wenngleich mein Bruder enttäuscht gewesen wäre. Glücklicherweise hat Wrexford sich der Situation jedoch mit mehr Geschick angenommen, als ich es hätte tun können.“

„Das liegt daran, dass er weiß, dass Jungs nun einmal Jungs sind und natürlich versuchen, die Grenzen des Benehmens auszureizen.“ McClellan wackelte mit den Augenbrauen. „Wenn sie nicht abgewiesen werden, wissen sie, dass sie nicht weit genug gegangen sind.“

Plötzlich fühlten sich all die Komplexitäten und Herausforderungen ihres neuen Lebens ein wenig überwältigend an.

„Machen Sie sich keine Sorgen um die Zukunft, Mylady.“ McClellans harte Gesichtszüge erweichten für einen Augenblick. „Ich bin noch nie jemandem begegnet, der so stark und einfühlsam ist wie Sie. Welche Herausforderungen auch immer vor uns liegen, Sie werden sie sicher bezwingen.“

„Beginnen wir mit der, die nächsten Tage ohne Missgeschicke zu überstehen“, murmelte Charlotte.

„Apropos, Ihr Schal und Ihr Pompadour liegen bereit“, erinnerte McClellan sie.

„Gehen Sie nur.“ Sie spürte das Bedürfnis nach einem Moment der Einsamkeit, in dem sie ihre Gedanken ordnen konnte, bevor die Reise losging. „Ich komme gleich nach.“

Die Schritte des Hausmädchens wurden leiser, bis Charlotte nur noch das Rascheln des Efeus hörte.

War Ravens kleine Rebellion ein Zeichen dafür, dass er mit seinem neuen Leben unzufrieden wurde? Es stimmte, die höfliche Gesellschaft strotzte mit kleingeistiger Oberflächlichkeit. Und doch gab es auch Gleichgesinnte Seelen, die sich dem konventionellen Denken widersetzten. Man musste lediglich …

„Verzeihung, Mylady“, rief der Kammerdiener des Grafen und holte sie in die Gegenwart zurück, als er die hintere Terrassentreppe hinuntereilte. „Bitte entschuldigen Sie die Störung, aber soeben ist eine Nachricht von Madame Franchot eingetroffen und ich habe gedacht, Sie würden sie ohne Umschweife sehen wollen.“

Madame Franchot war die exklusivste Modistin Londons. Sie war außerdem ein Teil von Charlottes Netzwerk von Augen und Ohren in allen Kreisen der Gesellschaft eine Armee, vor der kein Geheimnis oder Skandal sicher war.

„Danke, Riche.“ Charlotte unterdrückte einen Seufzer und nahm das Schreiben entgegen, in der Hoffnung, dass es sich lediglich um eine Nachricht über die neueste Mode handelte. Doch das glatte Briefpapier weckte ein Brennen der Vorahnung auf ihrer Haut, als sie es entfaltete. Und tatsächlich …

***

„Wrex …“ Christopher Sheffield, der engste Freund des Grafen seit ihrer gemeinsamen Zeit in Oxford, blieb in der Tür von Wrexfords Arbeitszimmer stehen und runzelte konsterniert die Stirn. „Was zum Teufel geht hier vor?“, fragte er und betrachtete den Bücherstapel auf dem Schreibtisch und die halb gefüllte Reisetasche daneben. „Warum werden die Kutschen beladen?“

„Wir machen eine Reise“, antwortete Raven mit einem gequälten Seufzen. „Nach Kent“, fügte er hinzu, während er die restlichen Bücher in die Tasche steckte.

„Es ist ja nicht so, als würde man dich in die Strafkolonien auf den Antipoden transportieren, Junge“, rief Wrexford aus den Tiefen seiner Kammer. Er stellte die Suche in einem der überfüllten Schränke ein und ging zum nächsten. „Zum Teufel.“ Das Gemurmel galt ihm selbst. „Wo hat Tyler die alten Ausgaben der Zeitschrift der Royal Society hingelegt?“

„Nach Kent?“, wiederholte Sheffield. „Aber warum?“

„Um unsere Pflicht zu erfüllen“, erwiderte Raven.

Wrexford verbiss sich einen Tadel. Wenngleich er nicht länger versuchte, sich von dem Ausflug zu entschuldigen, hatte der Junge seine Unzufriedenheit darüber offensichtlich noch nicht abgeschüttelt. Doch so ärgerlich die Situation auch war, der Graf rief sich ins Gedächtnis, wie er in Ravens Alter oft mit seinem Vater aneinandergeraten war …

Und den verstorbenen Grafen aller Wahrscheinlichkeit nach zur Verzweiflung gebracht hatte.

Wrexford entdeckte ein noch ungeöffnetes Paket von Hatchards Buchhandlung zwischen den anderen Lieferungen der letzten Zeit, die darauf warteten, sortiert zu werden, und entfernte das Geschenkpapier. „Ah, ich sehe, das neue Mathematikbuch von Rochambert ist eingetroffen“, verkündete er in der Hoffnung, das Gemüt des Jungen aufzuheitern. „Möchtest du es zusammen mit dem Buch von Euler einpacken?“

„Oh ja!“, antwortete Raven begeistert. „Vielen Dank, Sir! Ich habe schon viel über seine Arbeit gehört.“ An Sheffield gewandt, fügte er hinzu: „Lady Cordelia ist ganz begeistert, dass Rochambert zu den Friedensfeierlichkeiten als Teil der Delegation des französischen Königs kommt.“

Wrexford trat aus der Nische und reichte Raven das Buch, der ehrfürchtig mit der Hand über den goldgeprägten Ledereinband fuhr.

„Er ist ein brillanter Mathematiker“, fuhr der Junge fort, „und berühmt für …“

„Ja“, unterbrach Sheffield. „Ich weiß, wer er ist.“

Wrexford war von dem scharfen Ton seines Freundes überrascht. Cordelia und Sheffield waren nicht nur Partner in einem sehr profitablen Schifffahrts- und Produktionsunternehmen, sondern ihre Freundschaft schien in letzter Zeit eine ernstere Wendung zu nehmen.

Allerdings folgte eine Romanze  wenn es denn eine war  nur selten einem geradlinigen Pfad. Seit kurzem hatte er das Gefühl, dass es einige Unebenheiten auf ihrem Weg gab …

Doch er schob derartige Gedanken rasch beiseite. „Wir haben leider keine Zeit für Plaudereien, Junge. Pack das Buch in deine Tasche und bring sie raus zu Tyler“, wies ihn Wrexford an. „Wir werden zu einem Familienessen in Kent erwartet, wir können uns also keine weitere Verzögerung erlauben.“

Mit einem Schnaufen hob Raven die schwere Tasche auf.

„Und sei so freundlich, dein mürrisches Gesicht hier zu lassen“, fügte Wrexford hinzu.
Sheffield trat zur Seite, um den Jungen passieren zu lassen.

Der Graf ging zu seinem Schreibtisch und begann, die Papierstapel zu sortieren.

„Verflucht“, brummte er und hielt inne, um eine Einladung der Royal Institution, eine der führenden wissenschaftlichen Gesellschaften Britanniens, zu studieren. „Ich habe vergessen, dass Wageren heute Abend seinen Vortrag über Nitrate hält.“

„Ich verstehe noch immer nicht. Welche Pflicht verlangt von Ihnen, nach Kent zu gehen?“, drängte Sheffield.

In der Hoffnung, sein Freund würde von weiteren Fragen absehen, antwortete Wrexford nicht.

„Das sieht Charlotte ganz und gar nicht ähnlich“, fügte Sheffield hinzu. „Mit all den hochnäsigen Würdenträgern, die zu den Friedensfeierlichkeiten in London eintreffen, hätte ich gedacht, sie würde dafür sorgen, dass kein Skandal und keine geheime Intrige unbemerkt, geschweige denn unveröffentlicht bleibt.“

Ihre Freundschaft zwang ihn zu einer Antwort. „In diesem Fall hat sie beschlossen, dass eine familiäre Verpflichtung Vorrang vor allem anderen haben muss.“

Sheffields Gesichtsausdruck verriet seine Überraschung. „Aber ich habe gedacht …“

Ebenso wie ich.

Wrexford war ein wenig besorgt darüber, dass Charlotte zugelassen hatte, dass Schuldgefühle ihre Entscheidung, Hartleys Einladung anzunehmen, beeinflusst hatten und dass ihr Gewissen sie jetzt deswegen plagte.

„Vergessen Sie Charlotte und unsere bevorstehende Reise nach Kent“, erwiderte er. „Was führt Sie zu dieser Stunde hierher?“ Eine Pause. „Abgesehen von der Hoffnung, dass meine Köchin noch Frühstück serviert.“

„Es ist schon eine Weile her, dass ich Ihre Großzügigkeit ausgereizt habe“, bemerkte sein Freund etwas steif.

Wrexford schnaufte zufrieden, als er endlich die Fachzeitschriften fand, die er gesucht hatte. „Das ist wahr. Die Rechnung meines Weinhändlers lässt mich in letzter Zeit nicht mehr in Ohnmacht fallen.“

Er blickte auf und bedauerte seinen Sarkasmus sofort. Sheffield konnte seinen Blick nicht schnell genug abwenden, um das gezwungene Lächeln zu verbergen, das im starken Kontrast zu den tiefen Schatten unter seinen Augen stand.

„Verzeihung, Kit. Unser gesamter Haushalt scheint heute Morgen in Aufruhr zu sein.“ Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Ich denke, die Leiche, über die die Jungen und ich gestern Abend im Park gestolpert sind, könnte etwas damit zu tun haben. Der arme Kerl ist im Serpentine herumgetrieben.“

„Wie …“

„Es war Harper, der ihn herausgefischt hat.“

Mord?“, fragte Sheffield.

„Es steht außer Frage, dass der Mann gefallen ist und sich den Kopf an den Felsen angeschlagen hat. Es handelt sich also höchstwahrscheinlich um ein unglückliches Missgeschick“, antwortete er. „Jedoch haben bestimmte Indizien am Tatort genügend Fragen aufgeworfen, um den Nachtwächter anzuweisen, Griffin herbeizurufen, um den Tatort zu inspizieren.“

„Welche Indizien?“ Sheffield hatte sich während der letzten Mordermittlung mehr und mehr in die Ermittlungen eingebracht und sich als äußerst gut darin erwiesen.

„Das ist nicht wichtig. Wie ich bereits gesagt habe, bezweifle ich, dass sich der Vorfall als etwas Ruchloses herausstellen wird.“ Wrexford betrachtete einen Augenblick lang das Gesicht seines Freundes und sah, dass er andere subtile Anzeichen der Beunruhigung übersehen hatte. „Was beschäftigt Sie?“

„Ich … ich habe lediglich gehofft, dass ich …“ Sein Freund zögerte.

„Mylord!“ McClellans schallender Ruf hallte durch den Korridor. „Die Kutschen sind beladen!“

„Verflucht“, murmelte der Graf im Bedauern über die Unterbrechung. „Fahren Sie fort, Kit. Die Kutscher werden es schon verkraften, ein paar Minuten zu warten.“

„Schon gut.“ Sheffields Blick wurde unruhig. „Es kann warten, bis Sie zurückkehren.“

Freundschaft, beschloss Wrexford, war ebenso wichtig wie Familie. „Nein, das kann es nicht.“ Er ging zur Tür, um sie zu schließen …

Und fand sich plötzlich Nase an Nase mit Charlotte wieder, die ins Zimmer geeilt war.

„Lies das“, sagte sie ohne Vorrede. „Es ist soeben von Madame Franchot gekommen. Sie hat zufällig gehört, wie die Frau des Außenministers mit einer Freundin über die Leiche im Serpentine geplaudert hat. Der Tote ist von den Behörden identifiziert worden. Sein Name ist Jeremiah Willis.“

Wrexford entfaltete das Papier und als er den Inhalt überflog, runzelte er verwundert die Stirn. „Warum kommt mir der Name bekannt vor?“

„Weil“, antwortete Charlotte, „unsere Erfahrung mit Professor Sudler mich vor sechs Monaten zu einer Serie von Drucken über mechanische Innovationen angeregt hat und ich ihn erwähnt habe. Willis ist ein genialer Ingenieur, der für seinen Einfallsreichtum bei der Erfindung neuer Technologien bewundert wird.“ Sie hielt inne. „Offenbar liegt das in der Familie, denn sein Vater hat ein Vermögen mit der Entwicklung einer revolutionären Maschine zur Verarbeitung von Zuckerrohr gemacht.“

„Ah, ja. Jetzt erinnere ich mich. Die Tatsache, dass er afrikanischer Abstammung war, sorgte für böse Gerüchte innerhalb der Royal Institution.“ Der Graf runzelte die Stirn. „Meiner Meinung nach muss er außerordentlich begabt gewesen sein, um die Vorurteile gegen Schwarze zu überwinden und sich den Respekt zu verschaffen, den er verdient.“

„Eigentlich glaube ich, dass Willis ein Mulatte ist“, sagte Sheffield, „da sein Vater eine weiße Engländerin heiratete.“

„Richtig“, bestätigte Charlotte. „Willis Senior war ein versklavter Plantagenarbeiter aus Virginia, der floh, um während der amerikanischen Revolution einem britischen Offizier zu dienen. Unsere Regierung bot allen Schwarzen Freiheit an, wenn sie ihre Ketten abwarfen und sich uns anschlossen.“

„Und wie gut es denen erging, die uns beim Wort nahmen“, erwiderte Wrexford. „Wir überließen die meisten von ihnen ihrem Schicksal, als wir die Niederlage eingestehen und nach Hause segeln mussten.“

„Wie dem auch sei, Willis Senior war einer der Glücklichen. Der Offizier war beeindruckt von den Fähigkeiten seines neuen Dieners, mechanische Gegenstände zu reparieren“, fuhr Charlotte fort. „Er sorgte dafür, dass Willis mit ihm nach England zurückkehrte, und vermittelte ihm eine Lehrstelle bei der Dampfmaschinenfirma von Watt und Boulton. Danach zog Willis zum weiteren Studium nach Schottland und kehrte dann in die Neue Welt zurück, wo er sich in Barbados niederließ.“

„Ich nehme an, dass er dort seine Maschinenkonstruktionen an alle Pflanzer der Karibik verkaufte, die Zuckerrohr anbauten, und dadurch sehr reich wurde“, sinnierte der Graf.

„Ja.“

Das Getrappel eiliger Schritte auf dem Korridor erhob sich über die kurzweilige Stille.

„Wenn der junge Willis also das Ingenieurgenie seines Vaters erbte, woran genau hat er dann gearbeitet?“, fragte Wrexford.

„Das ist es ja gerade.“ Charlotte holte beunruhigt Luft. „Ich habe die Antwort nie erfahren.“

„Aber warum …“, begann Sheffield.

„Weil man mir gesagt hat, es sei ein Regierungsgeheimnis.“