Prolog
Les Issambres Juli 2001
Das Geräusch des aufheulenden Motors erinnerte sie an das Kreischen eines verzweifelten Kindes und hallte schmerzhaft in ihren Ohren nach.
Zitternd rieb sie sich die nackten Oberarme, auf denen eine Gänsehaut nicht weichen wollte, obwohl das Thermometer längst auf über dreißig Grad geklettert war.
Ihre Augen begannen zu brennen. Zu lange schon richtete sie den Blick starr auf den sandigen Zufahrtsweg. In der unsinnigen Hoffnung, er würde es sich anders überlegen und zurückkommen.
Der aufgewirbelte Staub legte sich jetzt langsam, nur vereinzelte Partikel flirrten noch in der heißen Luft.
Sie hätte sich wehren können. Die Wahrheit hätte gereicht, um nicht mehr Zielscheibe seines Zorns zu sein. Aber das hatte sie nicht tun können. Zu groß war die Gefahr, dass die Wahrheit ihn zerstören würde. Das konnte sie nicht zulassen. Niemals.
Egal, wie hoch der Preis sein mochte. Sie würde ihn bezahlen.
1.
Wann genau hatten sie aufgehört, ein Liebespaar zu sein? Seit wie vielen Jahren lebten sie nur noch als Bruder und Schwester zusammen? In tiefer Freundschaft, vermutlich sogar Liebe verbunden, aber ohne jedes Kribbeln. Zwei Jahre? Drei? Warum tat es so schrecklich weh, obwohl Trennung die einzig richtige Lösung zu sein schien? Vielleicht hätten sie mehr kämpfen müssen. Oder die Schwerpunkte anders setzen.
Bis in die frühen Morgenstunden hatte Nila die immer gleichen Fragen im Kopf gedreht, gewendet und zum Teufel geschickt. Es machte keinen Sinn, in Endlosschleife weiter zu denken. Aufhören konnte sie trotzdem nicht. Nila und Niklas, das Traumpaar. Seit zwölf Jahren. Komme, was wolle, sie gehörten zusammen.
Sie war sechzehn und er achtzehn, als sie sich verliebten. Stürmisch, und schon bald mit der Gewissheit, nie wieder auseinanderzugehen. Schließlich fand sich ihr Name sogar in seinem wieder. Wenn das kein gutes Omen war. Sie passten perfekt zusammen. Womöglich zu perfekt. Auch dieser Gedanke tauchte wieder und wieder auf, ließ sie hochschrecken, wenn sie fast eingeschlafen war. Konnte Liebe an Perfektion scheitern? Nila wusste es nicht. Sie wusste gar nichts mehr. Ihr Kopf schmerzte und ihre Augen fühlten sich geschwollen und wund an. Mühsam setzte sie sich im Bett auf und zog ihr Handy, das auf dem Nachttisch lag, zu sich heran. Zehn Uhr. Ein paar Stunden hatte sie tatsächlich geschlafen.
Nun lag das Pfingstfest hinter ihr, und bis zum Ende der Woche hatte sie noch Urlaub. Ein Umstand, von dem sie noch nicht zu sagen vermochte, ob er angesichts ihres desolaten Zustands ein Geschenk des Himmels war oder nur weitere vertane Zeit beinhaltete, die sie mit nutzlosen Grübeleien verbringen würde. Als sie den Urlaub eingereicht hatte, war sie noch davon ausgegangen, dass Niklas und sie spontan verreisen würden. Vielleicht eine Städtereise nach London oder Venedig. Oder ein paar Tage ans Meer … dann vermutlich mit Frankreich als Ziel, ihrer beider Lieblingsland. Nilas Hals wurde eng. Schnell schob sie den Gedanken daran zur Seite. Frankreich tat zu weh. Keine gute Idee, dem Raum zu geben. Würde es vielleicht nie mehr sein. Nila seufzte. Ihr Mund war trocken, sie griff zur Wasserflasche neben ihrem Bett, öffnete sie und trank einen großen Schluck. Was sollte sie mit dem heutigen Dienstag anfangen? Sie könnte sich endlich um die vielen Dinge kümmern, die seit dem Einzug in die neue Wohnung bislang vergeblich darauf gewartet hatten, erledigt zu werden. Aber sie war so unendlich müde, und alleine der Gedanke daran überforderte sie. Außerdem machte er ihr Angst. Unweigerlich würde sie auf Sachen stoßen, die Niklas gehörten … Als er letzte Woche gegangen war, hatte er nur das Nötigste mitgenommen. Seitdem wohnte er im Gästezimmer von Marie und Jonas. Dort konnte er seinen gesamten Hausstand schwerlich unterbringen. Die Suche nach einer eigenen Wohnung war vermutlich noch nicht von Erfolg gekrönt, sonst hätte er sich gemeldet. Sowohl die Kammer als auch die letzten unausgepackten Kartons mussten weiter warten. Immerhin war der größte Teil der 80-Quadratmeter-Wohnung bereits in einem wohnlichen Zustand. Nila würde sich auch heute wieder durch den Tag treiben lassen. Wahrscheinlich musste sie sich diese Zeit des Nichtstun einfach gönnen. Zur Tagesordnung übergehen und die letzten zwölf Jahre mit einem Schulterzucken abtun, würde nicht funktionieren. Ob Niklas es konnte? Tränen schossen in ihre Augen. Wütend wischte sie sie weg. Die ewige Heulerei half auch nicht.
Sie zog geräuschvoll die Nase hoch und schwang die Beine entschlossen über die Bettkante. Ihre nackten Füße berührten das warme Eichenparkett, als sie aufstand und auf wackligen Beinen zum Fenster stakste. Sie zog die Gardine zur Seite, öffnete das Fenster und blickte hinaus in einen sonnenhellen Frühsommertag. Die Läden im urbanen Eppendorf waren längst geöffnet, ebenso hatten die Cafébetreiber ihre Tische und Stühle auf den Bürgersteigen hergerichtet. Erste Gäste ließen sich bereits ihr Frühstück schmecken. Ein verführerischer Duft nach Kaffee und frischen Croissants wehte zu Nila in den zweiten Stock. Mit einem Knurren meldete sich ihr vernachlässigter Magen. Er hatte allen Grund dazu – die letzte Mahlzeit verdiente kaum diesen Namen – Nilas Abendessen hatte aus einem Stück Käse und zwei Gläsern Rotwein bestanden.
Appetit verspürte sie immer noch wenig, aber die Aussicht auf den besten Karamell-Macchiato der Stadt, den es nur bei Antonia gab, bewog sie schließlich, das Fenster auf Kipp zu stellen und sich in Richtung Badezimmer zu bewegen. Dort versuchte sie, den Blick nicht auf die gläserne Ablage zu richten, auf der ein einsamer Zahnputzbecher stand. Den letzten schweren Heulkrampf letzte Nacht hatte sie genau diesem Blick zu verdanken gehabt. Aus den Augenwinkeln nahm sie es natürlich doch wahr. Sie biss sich auf die Lippen, zog ihr T-Shirt aus, pfefferte es in den Wäschekorb und stellte sich unter die bodentiefe Regendusche. Die nächste Erinnerung: Niklas wollte unbedingt so eine haben. Nila schloss die Augen und ließ das Wasser auf ihr Gesicht prasseln. Ihre verspannten Schultern lockerten sich unter dem warmen Wasserstrahl. Minutenlang stand sie einfach nur da, bis sie sich schließlich gründlich mit Duschgel einschäumte und die Haare wusch.
Zum Abschluss drehte sie das warme Wasser ab und ertrug für einen Moment die eisige Kälte auf ihrer Haut. Nach Luft japsend stieg sie schließlich aus der Dusche und griff zu einem flauschigen Handtuch. Ihr morgendliches Ritual hatte zumindest die Müdigkeit vertrieben. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, stand sie vor dem Spiegel und entwirrte ihre langen, roten Locken. Vielleicht sollte sie sich die Haare abschneiden lassen. Taten Frauen das nicht gewohnheitsmäßig, wenn ein neuer Lebensabschnitt anfing? Nila verwarf die Idee jedoch gleich wieder. Ihre widerspenstige Haarpracht würde in kurzer Form vermutlich noch schwerer zu bändigen sein und sie könnte Pumuckl ähneln. Sie zog eine Grimasse und putzte sich die Zähne. Dabei nahm sie ihr Gesicht näher unter die Lupe. Die Augen waren nicht mehr ganz so geschwollen, aber die Ringe darunter verrieten dem aufmerksamen Betrachter, dass sie in den letzten Nächten viel zu wenig Schlaf bekommen hatte. Ihr Gesicht war noch blasser als sonst, selbst die Sommersprossen auf der Nase wirken heller. Und ihre tiefblauen Augen besaßen noch immer diesen erschreckten Ausdruck, der sich hartnäckig seit jenem Moment hielt, als die folgenschweren Worte ausgesprochen worden waren. Es ist besser wir trennen uns. Seltsamerweise wusste Nila nicht mehr, ob Niklas oder sie den Satz gesagt hatte, sie hatte es gleich wieder vergessen. Wahrscheinlich, weil es keine Rolle spielte und sie sich einig waren, dass es die Wahrheit war. Jetzt müsste nur noch der verdammte Schmerz nachlassen, dann könnte das Leben weitergehen. Ein bitteres Lächeln erschien auf ihren Lippen, während sie Tagescreme und Make-up auftrug, um der Welt da draußen gleich vorzugaukeln, dass eine Trennung nicht das Ende des Lebens war. Flüchtig tuschte Nila noch die Wimpern und benutzte ihren nudefarbenen Lieblings-Lippenstift, bevor sie entschied, dass es mit der Tarnung reichte. Es interessierte sowieso niemanden, ob sie Liebeskummer hatte oder nicht.
Sie tappte zurück ins Schlafzimmer, öffnete den Kleiderschrank und zog ein lindgrünes Sommerkleid vom Bügel, das sie liebte. Der weiche Stoff trug sich angenehm leicht und war das perfekte Outfit für einen warmen Tag. Dann fiel ihr ein, dass das Kleid ein Geschenk von Niklas war. Während sie nachdenklich Slip und BH anzog, hatte sie sich schon fast entschieden, doch lieber zu Jeans und T-Shirt zu greifen. Aber in dem Moment wallte etwas wie Trotz in ihr auf. Verdammt, ihr Leben musste weitergehen! Und irgendwie musste sie es schaffen, ihr altes Leben ins neue zu integrieren. Wenn sie bei jeder Erinnerung innerlich zusammenbrach, konnte sie gleich einpacken. Wie hatte Mona so schön gesagt? Niemand sagt, dass es leicht werden wird. Aber du wirst es schaffen, da verwette ich mein Moped drauf! Nila musste lächeln. Der Gedanke an ihre beste Freundin machte ihr Herz etwas leichter. Mona mit ihrem unerschütterlichen Frohsinn war es zu verdanken, dass die schweren ersten Stunden und Tage nach Niklas Auszug ein wenig von ihrem Schrecken verloren hatten. Wenn Mona sogar ihr Baby verwettete, musste sie sehr sicher sein. Entschlossen zog Nila das Kleid über den Kopf. Praktische Sneaker vervollständigten ihre Garderobe. Sie ignorierte das ungemachte Bett, das mit dem einzelnen Kopfkissen viel zu riesig wirkte und stapfte in den Flur. Gerade wollte sie ihre Handtasche schnappen, als der melodische Klang der Türklingel sie innehalten ließ. Sie erwartete niemanden. Zögernd betätigte sie die Gegensprechanlage.
„Moin, die Post. Ein Einschreiben für Nila Roonstein.“
Überrascht betätigte sie den Summer. Kurz darauf übergab der junge Briefträger ihr einen Umschlag aus dickem, goldumrandeten Papier. Sie erkannte sofort das teure Briefpapier ihres Arbeitgebers. Alles bei Villa & more, der Maklerfirma für besondere Immobilien, war edel und auffallend, da wurde natürlich auch beim Postversand nicht gespart. Geld spielte keine Rolle, und bei dem Wenigen, das heutzutage nicht elektronisch versandt wurde, erst recht nicht. Nila zog eine Augenbraue hoch, bedankte sich bei dem Postboten, der die Treppe wieder herunterstürmte, nachdem sie den Empfang quittiert hatte, und betrachtete skeptisch den Brief. Etwas krampfte bei dem Anblick ihren Magen zusammen. Sie hatte Urlaub, Gehaltsbescheinigungen wurden per Mail versandt und sollte eine Rückfrage zu einem ihrer Objekte bestehen, hätte man sie angerufen. Nila schluckte und stopfte den Umschlag in ihre Handtasche. Vielleicht rebellierte ihr Magen auch nur vor lauter Hunger. Es würde jedenfalls reichen, wenn sie das Kuvert nach dem Frühstück öffnete.
2.
Nila hatte sich einen Schattenplatz vor Tonys Café gesucht.
Die Tische, die auf dem Bürgersteig standen, waren ungefähr zur Hälfte besetzt. Neben jungen Müttern mit ihren Kindern genossen Geschäftsleute, Rentner und Studenten das besondere Flair von Eppendorf, während sie sich von Tony mit ihren liebevoll zubereiteten Frühstücken verwöhnen ließen. Nila war verliebt in diesen Stadtteil, der mit seinen vielen kleinen Straßencafés, Restaurants und winzigen Läden an das Savoir-vivre erinnerte. Wenn sie schon nicht in Frankreich lebte, dann wenigstens an einem Ort, der dem nahekam.
Sie stützte die Ellbogen auf den weiß lackierten Bistrotisch und verschränkte die Hände unter dem Kinn. Passanten schlenderten vorbei, und normalerweise würde Nila jetzt längst das typische Urlaubsgefühl verspüren, das Besuche bei Tony sonst zuverlässig begleitete. Heute war sie weit davon entfernt. Leere und Verzweiflung trieben ihr schon wieder die Tränen in die Augen, die sie sicherheitshalber hinter einer großen Sonnenbrille verborgen hatte. Sie presste die Fingerspitzen vor den Mund und befahl sich, tief Luft zu holen. Ein Heulkrampf im Café war so ziemlich das Letzte, was sie gebrauchen konnte. Alles wird wieder gut, betete sie sich still vor. Ja, im Moment war es hart, ein Leben ohne Niklas, aber sie würde sich dran gewöhnen. Sie war jung, beruflich erfolgreich, hatte ihre Familie und einen netten Freundeskreis. Sie schluckte. Nun ja, sie beide hatten eine tolle Clique. Wahrscheinlich würde die sich aber aufteilen. Team Nila und Team Niklas … Bevor sie den Gedanken vertiefen konnte, erschien Tony mit einem Tablett an ihrem Tisch.
„Karamell-Macchiato und ein Croissant, meine Süße.“ Tonys dunkle Augen blitzten fröhlich, während sie Tasse und Teller vor Nila hinstellte. „Lass es dir schmecken.“
„Danke.“ Nila versuchte sich an einem Lächeln.
„Was ist los, Schatz?“ Eine senkrechte Falte erschien zwischen Tonys Augenbrauen. Ihre schokoladenbraunen Augen musterten Nila besorgt.
„Dir entgeht auch nichts.“ Ihr Lächeln hatte den Zweck offenbar nicht erfüllt. Tonys sechster Sinn ließ sich weder durch Sonnenbrille noch durch misslungenes Lächeln täuschen.
„Ärger im Job?“
„Nein.“ Nila schüttelte den Kopf. Obwohl … ihr fiel der Brief ein. „Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.“ Sie überlegte einen Moment. Irgendwann müsste sie Tony sowieso in die Änderung einweihen, denn es würde nicht lange dauern, bis ihrer Lieblingswirtin auffiele, dass sie nicht mehr zusammen auftauchten. Am besten, sie brachte es gleich hinter. „Niklas und ich haben uns getrennt.“ Der leise Satz ging beinahe unter in dem Stimmengemurmel und den Verkehrsgeräuschen um sie herum.
„Wie bitte?“ Tony riss die Augen auf. „Sag, dass das nicht wahr ist!“ Sie presste das Tablett in ihrer Hand vor die Brust und starrte Nila an. Ihr Entsetzen verwandelte Nilas Magen in einen schweren Klumpen. Sie hatte es ja geahnt. Niemand würde verstehen, warum sich das Traumpaar getrennt hatte. Die meiste Zeit verstand sie es ja nicht mal selbst.
„Wir sind im Guten auseinandergegangen, werden weiter Freunde bleiben.“ Nila verstummte, ihre Worte klangen in den eigenen Ohren wie sinnloses Geplapper. Sie starrte auf ihre Fingernägel, an denen der Nagellack zur Hälfte abgeplatzt war. In den letzten Tagen war ihr das nicht mal aufgefallen. Eigentlich hasste sie ungepflegte Fingernägel, aber jetzt hatte es jede Bedeutung verloren.
„Es tut mir so leid.“ Tony drückte ihren Arm. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“ Sie hob hilflos die Schultern.
Nila schluckte an dem Kloß in ihrem Hals vorbei und presste die Lippen zusammen. Tonys rührende Anteilnahme machte ihr wieder bewusst, wie weh es tat.
„Ich würde mich gerne zu dir setzen, aber …“ Die Cafébesitzerin deutete entschuldigend auf die neuen Gäste, die gerade an zwei Nebentischen Platz nahmen.
Nila winkte ab. „Schon gut, ich komme klar! Ein Frühstück bei dir und die Welt ist wieder in Ordnung.“ Sie deutete ein Nicken an und griff zu ihrem Macchiato-Glas.
Tony runzelte die Stirn und nickte zögernd. „Okay, wenn du etwas brauchst, sag Bescheid. Ich bin in der Nähe.“
Als Nila wieder alleine war, nippte sie an dem Glas. Der süße Karamell-Geschmack milderte das Bittere in ihrem Mund und der Macchiato floss warm ihre Kehle hinab. Der Klumpen in ihrem Magen wurde kleiner.
Seufzend zog sie den Teller mit dem Croissant zu sich heran. Appetit hatte sie kaum, aber ihre Finger zerteilten pflichtschuldig das Gebäck. Langsam begann sie zu kauen.
Wie oft hatte sie hier schon mit Niklas gefrühstückt? Unzählige Male … Tonys Café war schon lange vor ihrem Umzug nach Eppendorf eine beliebte Anlaufstelle für sie gewesen. In Altona, wo sie vorher acht Jahre lang in einer winzigen Zweizimmer-Wohnung gewohnt hatten, gab es zwar ebenfalls eine vielfältige Gastronomieauswahl, aber es hatte sie beide immer schon nach Eppendorf gezogen. Sie liebten diesen Stadtteil, der hipp und teuer war, aber gleichzeitig etwas Bodenständiges und Lässiges ausstrahlte. Viele Jahre war es nur ein Traum gewesen, hier zu leben. Dann war er wahr geworden. Und dennoch läutete er das Ende ihrer Beziehung ein. Nila schluckte den pappigen Rest ihres Croissants runter, trank einen weiteren Schluck Macchiato und schob den Teller weg. Der Klumpen in ihrem Magen kehrte zurück. Ihr wurde klar, dass weder Essen noch Trinken daran Schuld hatte, sondern schlicht die Tatsache, dass Niklas aus ihrem Leben verschwunden war. Ihr bester Freund, Seelenverwandter, Mann an ihrer Seite. Aber schon lange nicht mehr ihr Geliebter, seit einem Jahr hatten sie keinen Sex mehr gehabt. Auf Dauer konnten sie es beide nicht verdrängen, dass sie keine wirkliche Beziehung mehr führten. Sie waren eindeutig zu jung, um so zu leben. Außerdem wollten sowohl Nila als auch Niklas auf jeden Fall irgendwann Kinder haben. Wie sollten sie entstehen? Nila spürte das Verlangen, gleichzeitig zu lachen und zu weinen. Stattdessen legte sie die Hände um das abgekühlte Glas. Ihr Blick schweifte über die Passanten, die vorbeischlenderten. Die wenigsten hatten es eilig. Das Tempo hier war anders als in vielen anderen Hamburger Stadtteilen. Ein weiterer Grund, warum Nila sich in Eppendorf so wohl fühlte. Sie seufzte leise. Ihr fiel der Brief wieder ein, der in ihrer Handtasche darauf wartete, dass sie endlich den Mut fand, ihn zu öffnen. Etwas Kaltes schloss sich um ihr Herz. Vielleicht war sein Inhalt vollkommen belanglos. Vielleicht aber auch nicht. Schön, dachte Nila, langsam wird es zur Gewohnheit, mich in unnützen Gedankenschleifen zu verlieren. Schluss damit! Sie zog die Handtasche mit einem Ruck von der Stuhllehne, öffnete sie und fischte den Brief heraus. Für einen Moment hielt sie das Papier unschlüssig in der Hand. Tony rauschte mit einem vollbeladenen Tablett vorbei, schenkte ihr im Vorbeigehen ein aufmunterndes Lächeln. Nila erwiderte es flüchtig. Dann holte sie tief Luft und riss den Umschlag auf.
Sehr geehrte Frau Roonstein,
da wir unsere Hamburger Dependance schließen, sehen wir uns leider gezwungen, Ihnen fristgerecht zum ersten August zu kündigen. Wir danken für die vertrauensvolle Zusammenarbeit und wünschen Ihnen alles Gute für die Zukunft. Aufgrund der bereits begonnen Firmenabwicklung stellen wir Sie mit sofortiger Wirkung unter Zahlung voller Gehaltsbezüge von der Arbeit frei. Das Arbeitszeugnis wird Ihnen in den nächsten Tagen zugehen.
Mit besten Grüßen,
Kai Winterfeldt
Geschäftsführer Villa & more, Immobilienagentur
Die Geräusche um sie herum klangen plötzlich, als seien sie durch Watte gedämpft. Das Blut rauschte in Nilas Ohren, während ihr Herzschlag raste. Ihre Hand, die den Brief hielt, zitterte unkontrolliert. Irgendwann legte sie das Schreiben auf den Bistrotisch vor sich, konnte aber den Blick nicht davon abwenden. Die Erkenntnis sickerte tröpfchenweise in ihr Bewusstsein. Sie war nicht nur frisch getrennt, nun war sie auch noch arbeitslos. Mit einem kürzlich unterschriebenen Hypothekenvertrag, dessen Höhe nicht nur ihrem eigenen ansehnlichen Gehalt entsprach, sondern mit dem Wissen abgeschlossen worden war, dass auch Niklas auf der ärztlichen Karriereleiter am Hamburger Universitätsklinikum stetig nach oben klettern würde.
Nila war auf sich alleine gestellt. Trotz der Wärme des Frühsommertages fühlte sie eine eisige Kälte in sich aufsteigen.
3.
Der Fahrtwind wirbelte ihre Locken in alle Richtungen. Nila fuhr mit offenem Verdeck in ihrem kirschroten Fiat 500 und gab mehr Gas, als die Ampel Ecke Hoheluftchaussee vor ihr auf Gelb umsprang. Ihre Hände hatten sich ums Lenkrad gekrallt und ihr Blick war starr auf die Straße gerichtet. Ob es eine gute Idee war, in dem Zustand, in dem sie sich befand, Auto zu fahren, wusste sie nicht. Normalerweise lief sie die zwei Kilometer zu ihrer Arbeitsstelle fast immer zu Fuß, aber das schien ihr mit Beinen, die sich weich wie Gelee anfühlten, unmöglich. Also hatte sie sich kurzerhand entschlossen, ausnahmsweise das Auto zu nehmen. Inzwischen bebte sie zwar nur noch innerlich, aber das Gefühl, keinen Boden mehr unter den Füßen zu spüren, hielt sich ebenso hartnäckig wie das innere Zittern. Vor Wut, aber auch vor Angst. Mit dem Kündigungsschreiben war soeben die zweite Säule ihres Lebens weggebrochen. Die Gedanken rasten durch ihren Kopf. Kai Winterfeldt, Geschäftsführer bei Villa & more und somit ihr Chef, musste es letzte Woche bereits gewusst haben, dass Nila in ihrem Urlaub die Kündigung bekommen würde. Er hatte nicht mal den Mumm gehabt, sie persönlich davon in Kenntnis zu setzen. Sie sah sein stark gebräuntes Gesicht und die nach hinten gegelten Haare vor sich. Sah das Lächeln, das wie üblich die Augen nicht erreichte, als er ihr schöne freie Tage wünschte. Sein Lächeln wirkte nie freundlich, aber im Nachhinein bekam der Augenblick an ihrem letzten Arbeitstag eine ganz andere Bedeutung. Du verdammter Mistkerl!, dachte Nila und schlug mit der Hand aufs Armaturenbrett. Sie ahnte, was hinter dieser letzten Machtdemonstration steckte. Winterfeldt hatte vor einem Jahr den Geschäftsführerposten angetreten, und es hatte nicht lange gedauert, bis er anfing Nila anzubaggern. Erst noch verhalten, bald aber immer offensiver. Sie hatte klar und souverän reagiert, immer wieder eingestreut, dass sie verlobt sei und demnächst heiraten werde. Ihren Chef hatte das allerdings nicht dazu gebracht, seine Avancen bleiben zu lassen. Im Gegenteil, sein Verhalten wurde immer aufdringlicher, die Bemerkungen gingen beim besten Willen nicht mehr als harmlose Flirtversuche durch. Bis Nila schließlich der Kragen geplatzt war und sie sehr deutlich darauf hingewiesen hatte, dass sein Verhalten an sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz grenze. Sie forderte ihn unmissverständlich auf, sein Verhalten sofort zu ändern. Andernfalls sehe sie sich gezwungen, einen Anwalt einzuschalten. Danach hatte er sich tatsächlich zurückgehalten. Mit den gelegentlichen abwertenden Kommentaren, die er sich bei passenden Gelegenheiten nicht verkniff, konnte Nila umgehen. Sie sah ihn ohnehin nur selten, und ihre Abschlüsse hielten jeder Kritik stand. Ihr Verhältnis zu den beiden Senior-Chefs und Gesellschaftern war von Beginn an herzlich, nicht zuletzt deshalb fühlte sie sich sicher in der Agentur. Aber die Brüder Max und Georg Zander hatten sich mehr und mehr aus den Geschäften zurückgezogen. Nun sogar so weit, dass die Hamburger Dependance aufgelöst wurde. Zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Nila holte tief Luft, als sie den Blinker setzte und ins Jungfrauenthal einbog, wo Villa & more stilvoll residierte. Direkt vor der schmiedeeisernen Pforte der mehrstöckigen Jugendstilvilla war ein Parkplatz unter einer riesigen, alten Kastanie frei. Nila scherte ein und schaltete den Motor aus. Wut und Angst hatten sie hergetrieben. Jetzt spürte sie, dass die Wut Oberhand bekam. So einfach sollte Winterfeldt nicht davonkommen. Zumindest wollte sie ihm ein einziges Mal sagen, was sie von ihm hielt. Sie sprang aus dem Wagen und stürmte durch die Pforte. Vor der drei Meter hohen Eingangstür fiel ihr ein, dass sie ihren Schlüssel nicht dabei hatte. Ihr Zeigefinger bohrte sich in den Klingelknopf. Gleich darauf erklang nach einem kurzen Rauschen die Stimme von Elly, der Kollegin am Empfang. „Ja, bitte?“
„Ich bin es, Nila!“ Sie straffte die Schultern.
„Oh, hey.“ Der Summer ertönte prompt.
Nila drückte die Tür auf und marschierte ins Treppenhaus, das ihr anfangs nicht nur Respekt, sondern fast schon Angst eingeflößt hatte mit seinem Marmorboden und der kunstvoll verzierten Treppe mit den dunklen, gebohnerten Holzstufen. Inzwischen schüchterte sie der offensichtliche Luxus längst nicht mehr ein. Sie hatte in den letzten fünf Jahren so viele Villen und Luxus-Appartements gesehen und verkauft, dass es für sie zum Alltag gehörte. Zwei Stufen auf einmal nehmend – den Sneakers sei Dank – erreichte sie den ersten Stock. Vor der Eingangstür der Immobilienagentur zögerte sie für einen Moment. Vielleicht sollte sie doch noch mal in Ruhe nachdenken, was sie Winterfeldt genau sagen wollte. Oder mit Mona sprechen. Ihr wurde bewusst, dass gerade Angst und Unsicherheit dabei waren, die Wut abzulösen. Nein! Sie musste jetzt dort rein. Und sei es nur, um ihre persönlichen Sachen abzuholen. Mit einem Ruck stieß sie die Tür auf und betrat den großzügigen Vorraum von Villa & more.