1
Die beiden Schwestern sahen durch das Fenster hinter dem Mädchen her, das in dem kahlen, winterlichen Garten umherging. Der war ziemlich klein, obwohl das Stadthaus großzügig gebaut und in einer feinen Londoner Gegend gelegen war. Keines der Anwesen im Viertel hatte genug Grundfläche, um einen modischen „Country Look“ zu pflegen.
Anders als die meisten ihrer Nachbarn, deren Gärten gerade einmal aus einem Stück bestanden, hatte ihre Gastgeberin, Lady Mary Reid, ihre Parzelle in ein kleines Schmuckstück verwandelt. Und natürlich hatte ihre Nichte Sabrina, die sich zu jeder Jahreszeit gerne im Freien aufhielt, dieses grüne Fleckchen sofort zu ihrem Lieblingsplatz erkoren.
Die beiden Frauen beobachteten das Mädchen nachdenklich und schweigend. Alice Lambert hatte die Stirn in Falten gelegt und ihre um ein Jahr ältere Schwester Hilary wirkte geradezu niedergeschlagen.
„Ich glaube, so nervös war ich in meinem ganzen Leben noch nie, Hilary“, flüsterte Alice ihrer Schwester zu.
„Ich auch nicht, ehrlich gesagt“, antwortete Hilary mit einem gedehnten Seufzer.
Wenn man sie sah, hätte man sie kaum für Schwestern gehalten. Hilary glich ihrem Vater, war groß und schlank, ja beinahe hager, hatte unauffälliges braunes Haar und hellblaue Augen. Alice dagegen galt als nahezu vollkommenes Ebenbild ihrer Mutter, klein und ziemlich rundlich, mit vollem, dunkelbraun glänzendem Haar und tiefblauen Augen, die manchmal einen eigenartig violetten Schimmer annehmen konnten.
Doch die Schwestern vertrugen sich nicht besonders gut. Sie stritten sich immer wieder mit Hingabe um Nichtigkeiten. Jetzt aber waren sie sich ausnahmsweise einmal einig. Ihre geliebte Nichte, die sie gemeinsam aufgezogen hatten, sollte am Abend ihr Debüt in der Londoner Gesellschaft haben. Diesem bevorstehenden großen Ereignis sahen die Lambert-Schwestern nun mit Sorge entgegen. Und leider hatten sie auch Grund für ihre Besorgnis.
Das Problem war nicht etwa Sabrinas äußere Erscheinung. Sie mochte vielleicht keine so auffallende Schönheit wie Lady Marys Tochter Ophelia sein, die in dieser Saison ebenfalls debütierte, doch auch Sabrina konnte sich sehen lassen. Nicht einmal an ihrer Herkunft gab es etwas auszusetzen. Sabrinas Großvater trug den Titel eines Grafen, ja ihr Urgroßvater war sogar ein Herzog gewesen. Sie selbst war zwar nur von niederem Adel, doch auf einen vornehmen Adelstitel oder große Reichtümer richteten sich die Hoffnungen der Tanten für Sabrina ohnehin nicht. Jeder Gentleman von Stand war den Lambert-Schwestern als zukünftiger Ehemann für ihre Nichte willkommen.
Alice und Hilary fürchteten auch keine der Schwierigkeiten, die normalerweise zu erwarten waren, wenn ein Mädchen aus dem Landadel in die bessere Londoner Gesellschaft einheiraten sollte. Nein, ihre Ängste hatten einen viel ernsteren Hintergrund. Hier lag auch die Erklärung dafür, warum die Schwestern selbst niemals geheiratet hatten. Beide fürchteten, dass der alte Skandal, der ihre Familie schon seit drei Generationen nicht mehr zur Ruhe kommen ließ, nun nach all den Jahren wieder zum Gespräch werden könnte.
Indes sprach keine der Frauen aus, dass die finsteren Ereignisse in ihrer Familiengeschichte sie so nervös machten. Einem ungeschriebenen Gesetz folgend, bewahrten sie über die lange zurückliegende Tragödie eisernes Stillschweigen.
„Glaubst du, dass ihr Wollmantel warm genug ist?“, fragte Alice. Noch immer lag ihre Stirn in sorgenvollen Falten.
„Meinst du, dass sie daran auch nur den winzigsten Gedanken verschwendet?“
„Aber der Wind wird ihre Wangen röten. Sie wird aussehen wie ein Bauernmädchen, wenn sie heute Abend zu ihrem ersten Ball geht!“
In diesem Augenblick beobachteten die beiden Frauen, wie ein welkes Blatt, das Lady Marys Gärtner wohl übersehen haben musste, einem verspäteten Schmetterling gleich vor die Füße ihrer Nichte schaukelte. Sofort nahm das Mädchen Fechthaltung ein, und ganz als hätte sie einen echten Degen in der Hand, führte sie einen Stoß nach dem Blatt. Gleich darauf lachte sie fröhlich über ihre Spielerei und warf das Blatt hoch in die Luft, wo der scharfe Winterwind es erfasste und davontrug.
„Sie denkt überhaupt nicht ernsthaft ans Heiraten“, bemerkte Hilary jetzt.
Sabrina hätte mindestens so nervös sein sollen wie ihre Tanten, wenn vielleicht auch aus anderen Gründen. Doch sie gab sich völlig unbeschwert.
„Wie soll sie denn ernsthaft daran denken, wo wir auch nicht geheiratet haben? Sie kann schließlich ständig mit eigenen Augen sehen, dass uns das nicht geschadet hat.“
„Ich fürchte, wir haben bei ihr einen ganz falschen Eindruck erweckt. Immerhin hatten wir in ihrem Alter durchaus den Wunsch oder die Hoffnung, uns zu vermählen. Nur sind wir inzwischen doch recht froh, dass wir es nicht getan haben.“
Das war beileibe nicht nur so dahingesagt. Keine der beiden Frauen bedauerte es wirklich, ohne Ehegatte zu sein. Vielleicht schmerzte es sie in ihrem Inneren, selbst keine eigenen Kinder in die Welt gesetzt zu haben. Doch Sabrina war bereits im Alter von knapp drei Jahren ihrer Obhut anvertraut worden. Auf diese Weise hatten sie all ihre Muttergefühle ausleben können, hatten ihre ganze Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit diesem hilflosen kleinen Mädchen geschenkt. Manch einer mochte die Lambert-Schwestern als sauertöpfische, verbitterte alte Jungfern bezeichnen, doch das entsprach eigentlich nicht der Wahrheit. Schon als kleine Mädchen hatten sie oft gestritten und gezankt. Dieses Verhalten schien ihnen schlichtweg in die Wiege gelegt worden zu sein.
Als hätte Hilary jetzt erst gemerkt, dass sie sich in stillem Einvernehmen auf eine Art Waffenstillstand mit ihrer Schwester eingelassen hatte, sagte sie streng: „Ruf sie herein. Es ist Zeit, dass wir sie zurechtmachen.“
„Jetzt schon?“, fragte Alice verwundert. „Wir haben doch noch stundenlang Zeit, bis —“
„So lange wird es auch dauern, bis wir sie angekleidet und frisiert haben“, fiel Hilary ihr ins Wort.
„Ach papperlapapp, vielleicht würdest du so lange brauchen, aber —“
„Also, was weißt du denn schon von solchen Dingen? Ich kann mich nicht erinnern, dass du jemals selbst in die Gesellschaft eingeführt wurdest“, unterbrach Hilary erneut.
„Ach, aber du vielleicht?“, konterte Alice.
„Das tut nichts zur Sache. Lady Mary hat in ihren Briefen nur allzu oft geschrieben, dass sie gleich nach dem Aufstehen mit der Toilette beginnt.“
„Sie wird ja auch den ganzen Tag brauchen, bis sie sich in ihr Korsett gezwängt hat.“
Hilary errötete. Das konnte sie nicht bestreiten. Ihre Jugendfreundin, die sie liebenswürdigerweise für die Dauer der Ballsaison bei sich aufgenommen hatte, weil sie selbst kein Stadthaus in London besaßen, war tatsächlich mit den Jahren etwas füllig geworden. Hilary selbst hatte sie kaum wieder erkannt, als sie gestern in London angekommen waren.
Also gab sie zurück: „Sogar ihre Tochter beginnt stets schon zur Mittagszeit damit, sich herzurichten.“
„Das wundert mich nicht. Diese Ophelia scheint geradezu in ihr Spiegelbild verliebt zu sein“, schnaubte Alice.
„Damit du es nur weißt …“
Heftig zankend verließen die Schwestern das Zimmer. Damit war zwischen ihnen wieder alles beim Alten. Es hätte ohnehin kein Mensch seinen Augen getraut, wäre er zufällig Zeuge ihrer geflüsterten Unterhaltung und ihrer minutenlangen Eintracht geworden, am allerwenigsten ihre Nichte.
2
Sabrina Lambert war von Nervosität ergriffen. Fast glaubte sie, ein kleiner, flatternder Vogel habe sich in ihrer Magengrube eingenistet. Ihren Tanten zuliebe verbarg sie ihre Gefühle. Ein ganzes Jahr lang war ihr Debüt nun vorbereitet worden. Sie hatte mehrere Male nach Manchester fahren müssen, um ihre neue Garderobe anzuprobieren, und sie wusste, dass ihre Tanten große Hoffnungen in sie setzten. Darum war sie auch so aufgeregt. Nach all der Mühe, die sich die beiden gegeben hatten, wollte sie sie nicht enttäuschen.
Im Gegensatz zu ihnen betrachtete sie ihre Lage sehr realistisch. Sie erwartete nicht, bei ihrem Aufenthalt in London einen Ehemann zu finden. Hier gaben sich alle Leute ungeheuer vornehm und geziert. Wer scherte sich da um ein unscheinbares Mädchen vom Lande? Bei ihr zu Hause sprach man vor allem über die Ernte, die Pachtbauern und das Wetter. In London dagegen gehörten Klatsch, ja selbst übelste Gerüchte - vor allem über zufällig gerade Abwesende - zum guten Ton. Überdies gab es Dutzende anderer hoffnungsvoller junger Damen, die genau wie sie für die Dauer der Saison in London einfielen. Schließlich galt diese Stadt als idealer Ort, um einen Mann fürs Leben zu finden.
Im Laufe des Abends löste Sabrinas Anspannung sich nach und nach. Sie war froh, die überaus beliebte Ophelia an ihrer Seite zu haben. Ophelia war in London geboren und aufgewachsen. Sie kannte einfach jeden und wusste, was der jeweiligen Mode entsprechend zu tun und zu lassen war, worüber man sprach, sich ereiferte oder amüsierte. Sie half auch nach Kräften dabei mit, den neuesten Klatsch zu verbreiten - selbst wenn die Gerüchte sie selbst betrafen. Als waschechte Londonerin war sie dabei ganz in ihrem Element. Bereits vor drei Wochen, ganz am Anfang der Ballsaison, hatte sie ihren ersten, aufsehenerregenden Auftritt gehabt.
Sabrina wusste, dass sie bisher kaum etwas verpasst hatte. Die Entdeckung der Saison war und blieb nun einmal Ophelia in all ihrer Schönheit und Anmut. Seltsamerweise musste sich Ophelia gar nicht nach dem Mann fürs Leben umtun, wartete doch bereits ein Bräutigam auf sie, wenn sie ihn auch noch nie gesehen hatte. Ihr gesellschaftliches Debüt fand nur noch statt, weil sich das in London so schickte. Das hatte Sabrina zumindest so lange geglaubt, bis sie erfahren hatte, dass Ophelia über die Wahl, die ihre Eltern für sie getroffen hatten, nicht gerade beglückt war. Sie schien fest entschlossen zu sein, eine bessere Partie zu machen.
Im Augenblick übte die junge Londonerin sich allerdings vor allem darin, ihren Bräutigam bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu verspotten und zu verleumden. Jeder, der es hören wollte, bekam über diesen jungen Mann die schaurigsten Geschichten erzählt. Sabrina fand das ganz und gar geschmacklos. Aber das war wohl die in London übliche Art, einen unerwünschten Heiratskandidaten loszuwerden.
Der ahnungslose Bräutigam tat Sabrina schon fast leid. Offensichtlich hielt er sich im Augenblick nicht einmal in England auf und konnte sich deshalb auch nicht gegen die Gerüchte, die Ophelia über ihn in Umlauf brachte, wehren. Aber es stand Sabrina nicht zu, für ihn zu sprechen. Vielleicht stimmten ja all die schrecklichen Dinge, die man sich über ihn zuraunte? Schließlich kannte sie ihn überhaupt nicht.
Außerdem war Ophelias Mutter ihre großzügige Gastgeberin und eine gute Freundin von Sabrinas Tante Hilary. Bestimmt hätte Lady Mary gerne gewusst, was ihre Tochter im Schilde führte, damit sie notfalls eingreifen konnte. Doch Ophelias Mutter einzuweihen, brachte Sabrina nicht über sich. Immerhin kümmerte sich Ophelia um sie und stellte sie all ihren Bekannten vor - wie konnte sie ihr da in den Rücken fallen? Ganz abgesehen davon mochten selbst Sabrinas Tanten den Großvater von Ophelias ungeliebtem Bräutigam nicht …
Das kam Sabrina merkwürdig vor. Bei so viel Abneigung gegen ihn und seine Verwandtschaft musste einem der junge Mann ja leidtun. Eigentlich war er, oder vielmehr sein Großvater, der Nachbar der Lamberts. Einen „komischen Kauz“ oder „den Einsiedler“ nannten ihn ihre Tanten. Und wenn sie glaubten, ihre Nichte höre es nicht, auch den „alten Mistkerl“. Sabrina war dem geheimnisvollen Alten nie selbst begegnet. Er musste wohl tatsächlich ein Einsiedler sein, der kaum jemals sein Anwesen verließ. Dass er einen Enkelsohn hatte, war für alle eine Überraschung. Ihre Tanten hatten sich sogar darüber lustig gemacht, als sie erfahren hatten, dass Ophelia die Braut dieses bislang unbekannten Nachkommen werden sollte. Der alte Thackeray und ein leibhaftiger Enkel? Nie hatten sie ihn zu Gesicht bekommen oder auch nur von ihm gehört.
Lady Mary behauptete jedoch, der sonst so verschlossene Marquis selbst habe sich an ihren Gatten gewandt und für seinen Erben um Ophelias Hand angehalten. Natürlich hatten die Reids diese großartige Gelegenheit, für ihre Tochter einen so wohltönenden Adelstitel zu ergattern, beherzt beim Schopfe gepackt. Schließlich würde der Enkelsohn auch den Adelstitel einmal erben. Dass der Marquis recht wohlhabend war und dieser Reichtum auf seinen Nachkommen übergehen würde, ließ Lord und Lady Reid ebenfalls heimlich frohlocken. Eigentlich war nur Ophelia mit diesem Arrangement nicht glücklich. Sie nicht und noch viel weniger ihre glühenden Verehrer.
Davon hatte sie gleich ganze Heerscharen. Die jungen Männer umschwärmten sie, hingerissen von ihrer Schönheit.
Bei jedem Ball und auf jedem Empfang stand Ophelia sofort im Mittelpunkt. Wie sollte es auch anders sein? Sie war blond und blauäugig. Schicker ging es nicht. Zudem hatte sie wunderbar anmutige Züge und war - im Gegensatz zu ihrer Mutter — gertenschlank.
Sabrina dagegen konnte keine dieser attraktiven Eigenschaften vorweisen. Sie war etwas kurz geraten, was an sich noch nicht schlimm gewesen wäre, wenn sie dazu nicht auch noch einen vollen Busen und vielleicht etwas zu kräftig geschwungene Hüften gehabt hätte. All diese Rundungen wurden durch ihre schmale Taille auch noch betont.
Zu allem Überfluss entsprachen auch ihre natürlichen Farben nicht im Geringsten den Vorstellungen der derzeitigen Mode. Ja, ganz im Gegenteil. Ihr Haar würde jedenfalls keine bewundernden Blicke auf sich ziehen. Nicht einmal mit einer schimmernden dunkelbraunen Lockenpracht konnte sie aufwarten; ihr hellbrauner Schopf war eher unscheinbar. Ihre Augen, die sie immer für ihr größtes Kapital gehalten hatte, erinnerten in der Farbe an prächtigen lilafarbenen Flieder, der jedes Jahr den Frühling verkündete, mit einem äußeren Ring von noch dunklerem Violett. Von zartem, modischem Himmelblau waren Sabrinas Augen also weit entfernt. Dennoch schienen sie jedem gleich aufzufallen.
Wie auffallend sie tatsächlich waren, merkte Sabrina nur allzu schnell. Jeder, dem sie vorgestellt wurde, egal ob Mann oder Frau, starrte ihr peinlich lange in die Augen. Niemand schien glauben zu können, dass es diese Augenfarbe wirklich gab. Und als wäre das alles nicht genug, konnte man ihre Gesichtszüge weder hübsch noch hässlich nennen. „Unscheinbar“ war wohl wie bei ihrem Haar auch hier das richtige Wort.
Eigentlich war Sabrina mit ihrem Aussehen ganz zufrieden gewesen - bis sie Ophelia begegnet war. Seither wusste sie, wie eine wahre Schönheit aussah. Man konnte sie beide so wenig vergleichen wie Tag und Nacht. Diese Tatsache trug anscheinend dazu bei, dass Sabrinas Anspannung schon bald nach ihrer Ankunft auf ihrem ersten Ball von ihr abfiel. Verflogen war all ihre Nervosität. Sie wusste, dass sie mit Ophelia unmöglich um die Aufmerksamkeit der jungen Männer konkurrieren konnte. Also unternahm sie erst gar keinen Versuch in dieser Richtung. Sie gab sich einfach ganz natürlich und ungekünstelt. Schon nach kurzer Zeit war sie wieder ganz sie selbst und nicht die verschüchterte graue Maus, als die sie sich in den ersten Minuten des Abends gefühlt hatte.
Sabrina hatte ein fröhliches Naturell und brachte andere auch gern zum Lachen. Sie konnte sehr freimütig sein, war aber ebenso darauf aus, andere zu necken. Damit gelang es ihr mühelos, ursprünglich missgelaunte Menschen aufzuheitern. Das hatte sie schließlich jahrelang an ihren beiden misslaunigen, zänkischen Tanten üben können. Sie konnte deren belanglose Streitereien inzwischen jederzeit mit einem kleinen Scherz oder einer schelmischen Bemerkung beenden.
Die Herren, die Sabrina an diesem Abend zum Tanzen aufforderten, hatten dies anfangs wohl nur getan, um sie über Ophelia und deren Bräutigam ausfragen zu können. Doch da sie Ophelia noch nicht sehr gut und deren sagenumwobenen Bräutigam überhaupt nicht kannte, war es Sabrina unmöglich, die erhofften Auskünfte zu geben. Dafür brachte sie ihre Tänzer zum Lachen. Einige baten sie sogar allein aus diesem Grund um einen weiteren Tanz. Sie war einfach amüsant und lustig. Einmal wollten sie sogar drei junge Männer gleichzeitig auffordern und lieferten sich einen scherzhaften Streit um ihre Gunst.
Das blieb auch Ophelia nicht verborgen …
3
Ophelia stand mit drei ihrer engsten Freundinnen auf der anderen Seite des Ballsaals. In Wirklichkeit mochten nur zwei der Mädchen Ophelia tatsächlich, wogegen die dritte sie eigentlich nicht leiden konnte, sich aber dennoch gerne im Glanz ihrer Beliebtheit sonnte. Jede der jungen Damen war auf ihre Art hübsch, wenn es auch keine wirklich mit Ophelia aufnehmen konnte. Auch ihr Stand reichte nicht an Ophelias heran. Sie allein hatte einen Anspruch darauf, mit Lady angesprochen zu werden, weil ihr Vater ein Earl war. Die Väter der anderen Mädchen hingegen waren von weniger hoch angesehenem Rang. Ophelia zeigte sich gerne im Kreise dieser Freundinnen, denn nichts war ihr mehr zuwider, als wenn eine andere junge Dame in ihrem Umfeld sie in Rang oder Schönheit übertraf.
Von Mavis Newbolts Abneigung gegen sie wusste Ophelia nichts. Zwar fielen ihr Mavis' spitze und gelegentlich sogar abfällige Bemerkungen manchmal auf, doch wäre sie nie auf die Idee gekommen, dass das Mädchen sie nicht ausstehen könnte. So beliebt, wie sie war, erschien es ihr einfach undenkbar, jemand könnte sich ihrem Charme entziehen.
An ihrer faszinierenden Wirkung auf andere hatte Ophelia nie den geringsten Zweifel gehabt. Von Anfang an war sie davon überzeugt gewesen, dass sie allein die Königin der Saison werden würde. Jeder heiratsfähige Junggeselle nah und fern lag ihr zu Füßen. Sie hatte die Wahl. Die jungen Männer beteten sie an. Ihre Freude darüber war allerdings getrübt. Wie hatten sich ihre Eltern nur durch den Marquis von Birmingdale mit seinem vermaledeiten Adelstitel blenden lassen können?
Sie hasste den alten Neville Thackeray dafür, dass er ihr verfallen war. Warum wollte er für seinen Enkel gerade sie haben? Nur weil ihre Mutter einmal in seiner Nähe gelebt hatte und er sich einbildete, sie persönlich zu kennen? Hätte er sich nicht für die unansehnliche Sabrina entscheiden können, die schließlich gleich in seiner Nachbarschaft lebte? Natürlich wusste Ophelia, warum Sabrina für den zukünftigen Marquis von Birmingdale auf keinen Fall infrage kam.
Sie kannte die dunkle Familiengeschichte der Lamberts aus den Erzählungen ihrer Mutter. Wahrscheinlich hatte in Yorkshire jeder schon einmal davon gehört, doch der Skandal lag inzwischen lange zurück und war dadurch wohl etwas in Vergessenheit geraten.
Wie einfältig ihre Eltern doch waren. Ophelia hätte sich mühelos einen Herzog angeln können, denn eine Schönheit wie die ihre sah man selbst in London selten genug. Ihre Eltern indes waren schon mit einem armseligen Marquis mehr als zufrieden. Nun, da hatten sie sich verrechnet! Es würde keine Heirat zwischen ihr und dem Birmingdale-Erben geben. Du lieber Himmel, er war noch nicht einmal Engländer! Zumindest kein richtiger. Kein Wunder, dass der Marquis selbst auf Brautschau für ihn gehen musste. Und das zu einer Zeit, in der arrangierte Ehen längst aus der Mode gekommen waren. Sein Enkelsohn, so hieß es, sei im hohen Norden des Landes unter Wilden aufgewachsen!
Ophelia erschauerte bei diesem Gedanken. Wenn es nicht ausreichte, dass sie ihn schlecht machte, und wenn er sich selbst gegen ihre tiefe Verachtung als immun erweisen sollte, musste sie sich eben etwas anderes einfallen lassen, um ihn loszuwerden. Und bis zum Ende der Saison würde sie einen neuen Bräutigam vorweisen können. Einen, den sie sich selbst ausgesucht hatte. Sie hegte nicht den geringsten Zweifel daran, dass ihr das gelingen würde.
Bei diesen Überlegungen fiel Ophelias Blick auf das Mädchen vom Lande, das in ihrem Hause Gastfreundschaft genoss. Einen Moment lang war sie überrascht und irritiert, denn eine ganze Gruppe junger Männer, die sich eigentlich um sie hätten bemühen sollen, scharte sich um Sabrina. Da zufällig gerade alle männlichen Wesen außer Hörweite waren, konnte sie ihren Gedanken Luft machen, ohne darüber nachdenken zu müssen, welchen Eindruck sie damit hinterließ. Sie konnte und wollte sich eine bissige Bemerkung nicht verkneifen.
„Nun schaut euch das an!“ Ophelia lenkte die Aufmerksamkeit der anderen Mädchen auf Sabrina und die drei jungen Männer, die gerade angeregt mit ihr sprachen. „Was sie ihnen wohl erzählt, um sie so in ihren Bann zu ziehen?“
„Sie ist euer Hausgast, Ophelia“, gab Edith Ward in besänftigendem Ton zu bedenken. Sie wusste, wie unangenehm Ophelia werden konnte, wenn sie eifersüchtig wurde, und bemühte sich nach Kräften, sie zu beruhigen. Alle ihre Freundinnen hatten mit Ophelias jäh aufwallender, meist unbegründeter Eifersucht gelegentlich schon schmerzliche Erfahrungen gemacht. „Wahrscheinlich wollen sie nur mit ihr über dich reden.“
Ophelia ließ sich durch diese Bemerkung etwas besänftigen, bis Mavis mit gespielter Unschuld einwarf: „Mir scheint, Sabrina hat tatsächlich ein paar Verehrer gefunden. Das überrascht mich allerdings überhaupt nicht, denn ihre Augen sind wirklich auffallend schön.“
„Diese angeblich besonderen Augen können wohl kaum ein Ausgleich für ihre ansonsten so armselige Erscheinung sein“, erwiderte Ophelia gereizt. Sofort bereute sie ihren giftigen Ton. Man hätte ja annehmen können, sie sei eifersüchtig!
Schnell fügte sie mit einem Seufzen, das teilnahmsvoll klingen sollte, hinzu: „Im Grunde tut mir das arme Kind herzlich leid.“
„Warum denn? Etwa nur, weil sie nicht besonders hübsch ist?“
„Ach, das allein wäre ja noch nicht einmal so schlimm“, raunte Ophelia verschwörerisch. „Aber in ihren Adern fließt schlechtes Blut.“ Dann rief sie scheinbar erschreckt aus: „Oh, mein Gott, das hätte ich nicht sagen sollen! Das muss unbedingt unter uns bleiben. Meine Mutter würde sicher einen Schwächeanfall erleiden, wenn ihr zu Ohren käme, dass ich mich verplappert habe. Schließlich ist Lady Hilary Lambert eine alte Freundin meiner Frau Mama.“
Weil alle Mädchen nur allzu gut wussten, dass Ophelia im Moment auf ihre Mutter gar nicht gut zu sprechen war, konnte man ihre letzten Sätze getrost als ungesagt betrachten. Das Befinden ihrer Mutter war Ophelia derzeit herzlich gleichgültig. Und die Ermahnung, dass ihre Freundinnen mit niemandem über das Gehörte reden sollten, war genauso überflüssig. Schließlich genossen Edith und Jane genau wie ihre Mütter den Tratsch und kosteten jede Möglichkeit dazu weidlich aus. Ganz sicher würden sie zu Hause jede kleinste Einzelheit genauestens berichten. Mavis verurteilte solchen Klatsch zwar im Grunde ihres Herzens, musste sich aber ebenfalls den Gepflogenheiten der Londoner Gesellschaft beugen, um nicht unversehens selbst ins Abseits zu geraten.
„Was heißt denn schlechtes Blut?“, fragte Jane Sanderson auch sofort mit wohligem Entsetzen. „Du sprichst doch nicht etwa von Blutschande?“
Ophelia tat, als müsse sie nachdenken. Der Skandal schien allerdings andere Wurzeln zu haben, denn sie antwortete scheinbar zögernd: „Nein, es ist eher noch schlimmer.“
Die Mädchen machten große Augen.
„Was kann denn noch schlimmer sein?“
„Bitte, wirklich. Ich habe schon viel zu viel gesagt“, protestierte Ophelia lahm.
„Ach, liebste Ophelia!“, rief Edith, die Älteste der vier, ungeduldig. „Wie kannst du uns nur so auf die Folter spannen?“
„Also schön. Wenn ihr nun partout darauf besteht“, seufzte Ophelia. Sie gab sich den Anschein, als würde sie sich nur widerwillig dem Drängen der anderen beugen. In Wirklichkeit jedoch hätte sie sich durch nichts in der Welt mehr davon abbringen lassen, ihnen alles, was sie wusste, oder vorgab zu wissen, haarklein zu erzählen. „Was ich euch jetzt sage, kann ich euch nur unter dem Siegel äußerster Verschwiegenheit anvertrauen und weil ihr meine besten Freundinnen seid und ich sicher weiß, dass ihr nichts davon weitererzählen werdet.“
Im Flüsterton weihte sie ihre Kameradinnen in die schauerlichen Einzelheiten von Sabrinas schlechtem Blut ein. Die beiden Mädchen, die sich wirklich ihre Freundinnen nennen konnten, lauschten mit offenen Mündern. Mavis, die ihre eigene Meinung über Ophelia hatte, war nicht sicher, ob sie ihr glauben sollte. Sie wusste, dass Ophelia auch vor Lügen nicht zurückschreckte, wenn sie daraus irgendwelche Vorteile für sich zu ziehen hoffte. Und im Augenblick schien es ihr vorrangiges Ziel zu sein, Sabrina zu schaden. Kam deren Familiengeschichte nämlich irgendwie ans Tageslicht, dann würde das Mädchen in London niemals einen Ehemann finden.
So nahm an diesem Abend der Ruf von gleich zwei Menschen durch Ophelias boshaften Klatsch großen Schaden. Mavis taten beide ehrlich leid, deren einziges Vergehen darin bestand, dass Ophelia nicht gut auf sie zu sprechen war. Der Birmingdale-Erbe würde den Sturm wahrscheinlich überstehen. Vielleicht machte Ophelias Geschichte ihn für eine Weile zum Gespött der Gesellschaft. Ganz sicher würde diese Peinlichkeit dazu führen, dass Ophelias Eltern die Verlobung, um die sie sich so sehr bemüht hatten, schnellstens wieder auflösten. Doch mit einem überaus begehrten Adelstitel und dem riesigen Landsitz, den er einmal sein Eigen nennen würde, ausgestattet, fand der zukünftige Marquis nach einer gewissen Wartezeit sicher eine andere Braut.
Ganz anders verhielt es sich da schon mit der kleinen Lambert. Schlechtes Blut war eine ernst zu nehmende Sache, denn es konnte doch an die Nachkommen weitergegeben werden. Und welcher vernünftige Mann wollte bei einer Heirat schon wissentlich ein solches Risiko eingehen? Es war wirklich zu traurig. Mavis hatte gerade begonnen, das Mädchen aus Yorkshire sympathisch zu finden. Es war liebenswert, natürlich und offen. Diese Qualitäten hatten in London Seltenheitswert. Zudem konnte Sabrina sehr lustig sein, wenn man sie erst etwas näher kannte. Und zu guter Letzt fühlte sich Mavis für ihre unglückliche Lage auch ein klein wenig mitverantwortlich. Hatte nicht ihre Bemerkung über Sabrinas schöne Augen Ophelias Eifersucht gegen Sabrina erst richtig angestachelt?
In Gedanken schüttelte Mavis angewidert den Kopf. Sie musste sich unbedingt nach anderen Freundinnen umtun. Ophelia Reids Gesellschaft verursachte ihr in letzter Zeit schon beinahe so etwas wie Übelkeit. Welch eine gemeine, eitle Hexe sie doch war! Mavis hoffte inständig, dass Ophelia am Ende doch den Birmingdale-Erben würde heiraten müssen. Es geschah ihr ganz recht, wenn sie dann einen Mann am Hals hatte, den sie selbst aus lauter Bosheit vor der ganzen Londoner Gesellschaft verhöhnt hatte.
4
Die stürmische Nacht lud nicht gerade zu einem Aufenthalt im Freien ein. Wahrscheinlich war es sogar die schlimmste Nacht des ganzen Jahres. Der Wind trieb die wild tanzenden Schneeflocken erbarmungslos vor sich her. Nicht einmal die hochgehaltene Laterne verbesserte die Sicht. Und es war kalt, bitterkalt. Noch nie in seinem Leben hatte Sir Henry Myron eine so durchdringende Kälte verspürt.
In England wäre ein solches Wetter längst nicht so bedrohlich gewesen. Wenn es dort einmal schneite, war das kaum der Rede wert. Aber hier, weit nördlich im schottischen Hochland, bestand die Gefahr, in einer derart sturmgepeitschten Nacht sogar ohne jedes Schneetreiben zu erfrieren. Wie man nur in einer Gegend mit einem so menschenfeindlichen Wetter leben konnte, war Sir Henry ein Rätsel. Es sollte sogar einige seltsame Menschen geben, die das Hochland liebten. Er selbst wäre allerdings ohne Auftrag nie freiwillig hierher gekommen.
Er konnte nur hoffen, dass sein Führer recht hatte und der schlimmste Teil des Weges tatsächlich hinter ihm lag. Nur ein schmaler, kaum sichtbarer Pfad führte über einen flachen Bergrücken. Berg war aber eigentlich die falsche Bezeichnung für diese Erhebung. Sir Henry hatte eher das Gefühl, auf einem gewaltigen Felsen, der sich unversehens durch den Erdboden gebohrt hatte, zu stehen. Es gab hier keine Bäume, ja noch nicht einmal das kleinste Fleckchen Gras, so wenig Leben spendendes Erdreich hielt sich hier. Das felsige Gebilde glich vielmehr einer Barriere aus reinem Granit, die man wohl oder übel übersteigen musste - sei es zu Fuß oder zu Pferd.
Seine Kutsche hatte Sir Henry bei einer nahe gelegenen Kirche zurücklassen müssen. Doch das war ihm von seinem Führer dringend angeraten worden. Also hatte er für den letzten Teil der Strecke ein Pferd gemietet, das den schmalen Pfaden eher gewachsen war.
Jetzt wusste er, dass es besser gewesen wäre, in der kleinen Ansammlung von Häusern, die man kaum als Dorf bezeichnen konnte, zu übernachten. Der Kirchenvorsteher des Örtchens hatte ihnen Schlafplätze an seinem bescheidenen Herdfeuer angeboten, doch Henry hatte ungeduldig zum Aufbruch gedrängt. Eine Stunde vor dem Ziel bestand er auf der Weiterreise. Allerdings schneite es da noch nicht. Wie hätte er auch ahnen sollen, dass sie plötzlich Schnee überraschen würde? Er war von der anderen Seite des riesigen Felsens oder des flachen Berges her aufgekommen und peitschte, seit sie die Anhöhe erklommen hatten, gnadenlos auf sie ein. Wie eisige Nadeln stachen die Schneeflocken Sir Henry und seinem Führer ins Gesicht.
Langsam machte der Engländer sich Sorgen, dass sie sich verlaufen und in dieser frostigen Wildnis erfrieren könnten. Dann würde der Schnee zu ihrem eisigen Leichentuch werden und man würde die elend Erfrorenen in dieser bedrohlichen Einsamkeit erst nach der Schneeschmelze entdecken. Kein normaler Mensch konnte in diesem Schneesturm die Hand vor Augen sehen, doch Sir Henrys schottischer Führer ging weiter, als läge der Pfad, der inzwischen völlig vom Schnee verdeckt war, deutlich vor ihm. Er schien seinen Weg genau zu kennen. Und so war es tatsächlich …
Das große steinerne Herrenhaus erhob sich so plötzlich aus den weißen Schneewirbeln, dass Sir Henry erst kurz vor der Haustür merkte, dass sie am Ziel ihrer Reise angelangt waren. Er hörte kaum, wie sein Führer an diese Tür hämmerte, so laut heulte der Wind in seinen Ohren. Die Tür öffnete sich und dann strömte den beiden durchgefrorenen Männern endlich die ersehnte Leben spendende Wärme entgegen. Sofort führte man sie an ein großes, knisterndes Feuer.
Sir Henry war wie betäubt. Nach und nach schien sein eissteifer Körper aufzutauen und er begann zu zittern. Eine Frau kümmerte sich um sie und murmelte dabei kopfschüttelnd nur halb verständliche Sätze vor sich hin. Für die unsägliche Dummheit der beiden Reisenden, sich in einen solchen Sturm hinauszuwagen, hatte sie wohl keinerlei Verständnis. Zumindest glaubte Henry, das aus ihren Worten herauszuhören. Ganz sicher konnte er sich dessen allerdings nicht sein. Ihr schottischer Akzent war für seine Ohren einfach zu ungewohnt. Als die Frau dann schwere Wolldecken um seine Schultern und seine kältesteifen Finger um einen Becher mit heißem Whisky schloss, erschien sie ihm fast wie ein lieblicher Engel und nicht wie eine stämmige, knurrende Weibsperson. Sie bestand darauf, dass er den Whisky bis zum letzten Tropfen austrank. Unter den gegebenen Umständen brauchte Henry dazu keine weitere Aufforderung.
Nach einiger Zeit hielt er es für möglich, dass er samt seinen armen, vor Kälte gefühllosen Zehen diese Nacht doch noch überleben würde. Schmerzvoll kehrte das Gefühl in seine Zehen zurück. Sir Henry erfuhr den bohrenden Schmerz mit Erleichterung. Nun endlich begann er, seine Umgebung genauer anzusehen.
Was er sah, versetzte ihn in Erstaunen. Henry wusste selbst nicht so recht, wie er sich das Heim eines wohlhabenden Hochland-Lords vorgestellt hatte. Noch dazu, wenn es so abgelegen war wie dieses hier. Er musste zugeben, dass er an etwas Mittelalterliches gedacht hatte. An eine alte, halb verfallene Burg vielleicht. Oder an ein besseres Gehöft. Schließlich waren die MacTavishs erfolgreiche Schafzüchter. Zumindest hatte man ihm das erzählt.
Das Haus, in dem er sich befand, entsprach keiner seiner Erwartungen. Es ähnelte den Herrenhäusern, die er in den Grafschaften Englands gesehen hatte, unterschied sich aber gleichzeitig auch gehörig von ihnen. Wie englische Landsitze auch war das Haus ganz aus Stein gebaut - Schottland war ja nicht gerade bekannt für seinen Holzreichtum. Bei diesem urenglischen Baustil erwartete man dann auch eine Innenausstattung nach demselben Vorbild. Doch was ein großer Salon hätte sein können, glich eher einem mittelalterlichen Festsaal.
Das Haus mochte von der Bauweise her recht modern wirken, seine Bewohner waren das aber offensichtlich nicht. Es schien, als wäre der Erbauer des Hauses auf einer alten Burg aufgewachsen und an den Lebensstil dort so gewöhnt, dass er ihn auch in einem viel zeitgemäßeren Gebäude unbedingt weiter pflegen wollte.
Lange Tafeln, wie man sie sonst fast nirgendwo mehr kannte, und Holzbänke standen an den mit blumigen Teppichen bedeckten Wänden. Sicher wurde das Mobiliar zu den Mahlzeiten in den Raum hinein gerückt, damit - wie in längst vergangenen alten Zeiten - alle Mitglieder des Hausstandes gleichzeitig daran zur Mahlzeit Platz finden konnten. Und vor den Fenstern hingen keine Stoffe, sondern - Sir Henry blieb der Mund offen stehen - Schaffelle. Zugegeben, sie hielten die Kälte wahrscheinlich besser ab, als es selbst dicke Stoffe vermocht hätten. Aber Schaffelle? Wo hatte man so etwas je gesehen? Ein Sofa oder auch nur ein bequemer Lehnstuhl fehlten gänzlich. Lediglich in der Nähe des Feuers standen noch ein paar harte Bänke. Und auf dem Boden lag eine Schicht Stroh.
Sir Henry gingen fast die Augen über. Schließlich schüttelte er ungläubig den Kopf. All seine heimlichen Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Der Hochland-Clan der MacTavishs lebte noch wie im Mittelalter.
Nur war ihm bislang noch kein MacTavish begegnet. Überhaupt wunderte es ihn, dass sich so früh am Abend niemand in dem großen Raum aufhielt. Die Frau, die gerade mit zwei frisch gefüllten Bechern voll dampfend heißem Whisky zurückkehrte, war die einzige Hausbewohnerin, die er bisher gesehen hatte. Dieses Mal brachte sie noch jemanden mit. Ein großer, junger Mann war ihr gefolgt und blieb nun unter der Tür stehen. Forschend betrachtete er Sir Henry und seinen Begleiter. Die beiden Schotten kannten einander anscheinend, sie tauschten einen kurzen Gruß aus. Dann richtete der Mann seine bohrenden Blicke wieder auf Sir Henry.
So wie der Salon des Hauses, der eigentlich gar keiner war, aussah, hätte es Henry nicht weiter überrascht, wenn die Hausbewohner Bärenfelle oder vielleicht eher noch Schaffelle getragen hätten. Aber nein, der Schotte war mit langen Hosen und einem Gehrock bekleidet, in dem er auch im modebewussten London eine gute Figur abgegeben hätte. Nur durch seine ungewöhnliche Größe wäre er vielleicht aufgefallen, denn von den Schultern abwärts maß er bestimmt sechs Fuß.
Schweigend musterte der Schotte den Neuankömmling. Besonders erfreut schien er über den unverhofften Besucher nicht zu sein. Vielleicht - so versuchte Sir Henry sich einzureden - lag ja sein unfreundlicher Gesichtsausdruck auch einfach in seiner schottischen Natur.
Henry fühlte sich nicht besonders wohl in seiner Haut. Obwohl er bestimmt doppelt so alt war wie dieser junge Mann, schüchterte dessen Erscheinung ihn ein … Kein Wunder. Hochlandschotten waren nun einmal anders als die umgänglichen und geselligen schottischen Tieflandbewohner weiter im Süden, mit denen die Engländer schon seit Jahrhunderten Handel trieben. Der soziale Fortschritt kam in diesem abgelegenen Winkel im hohen Norden des Landes nicht recht voran. Dafür war die Gegend hier viel zu abgeschieden und zu rau, das Wetter viel zu menschenfeindlich. Viele der nordschottischen Clans lebten noch so wie in den alten Zeiten in Kargheit und strenger Bindung an das Oberhaupt ihres Clans.
Lord Archibald MacTavish war zwar keines dieser mächtigen Oberhäupter, doch er galt immerhin als Anführer eines kleinen Seitenzweiges seines Clans. Auf jeden Fall aber war er das Oberhaupt seiner Familie. So recht konnte er sich daran jedoch nicht erfreuen, denn obwohl er anscheinend zahllose Verwandte hatte, die seinen Namen trugen, fehlte ihm ein direkter Nachkomme. Er hatte alle seine vier Söhne überlebt. Henry wusste, dass sich gerade deshalb hier niemand besonders über seinen Besuch freuen würde. Er konnte sich schon glücklich schätzen, wenn man ihn, nachdem er sein Anliegen vorgebracht hatte, nicht sofort wieder in den Sturm hinausjagte.
Der junge Hüne an der Tür hatte sicher keine Ahnung, warum Henry die weite Reise unternommen hatte. Sein abweisendes Verhalten war wohl einfach einer der landestypischen Charakterzüge. Vielleicht reservierte er diese finstere Miene aber auch speziell für Engländer. Dass Henry Engländer war, wusste der junge Mann inzwischen bestimmt. Sicher hatte die Frau, die ihn herbeigeholt hatte, ihm das berichtet.
Dann trat der Riese urplötzlich in die Mitte des Raumes. Das Feuer und die beiden Fackeln, die links und rechts des Kamins unruhig flackerten, die einzigen Lichtquellen weit und breit, erhellten sein Gesicht. Jetzt sah Henry, dass der junge Schotte doch etwas älter war, als er zunächst geglaubt hatte. Er musste Mitte zwanzig sein und wirkte nur aus der Ferne deutlich jünger.
„Wenn der Junge hier nicht bei Ihnen gewesen wäre, Mann“ - dabei nickte der Schotte zu Henrys Führer hinüber „hätten Sie in diesem Sturm wahrscheinlich Ihr Leben gelassen. Also, was will ein Engländer von Archie MacTavish?“
Schnell stellte Henry sich vor und formulierte dann die Antwort auf diese Frage in einem dem Zweck seines Besuches angemessenen ernsten Ton. „Ich bin in einer eiligen und überaus wichtigen Sache als Anwalt von Lord Neville Thackeray hier. Er ist der -“
„Ich weiß, wer Thackeray ist“, unterbrach der junge Mann ihn ungeduldig. „Der Alte lebt also noch?“
„Nun ja, zumindest als ich England verlassen habe, war das noch der Fall. Aber niemand kann sagen, wie lange das noch sein wird. Er ist nicht gerade bei bester Gesundheit.
Und in seinem hohen Alter weiß man nie, wann man mit dem Schlimmsten rechnen muss.“
Der junge Schotte nickte kurz und sagte dann in seinem eigenartig melodiösen Akzent: „Kommen Sie in mein Arbeitszimmer. Dort ist es wärmer und nicht so verdammt zugig wie hier.“
„Ihr Arbeitszimmer?“
Henrys Stimme war die Überraschung deutlich anzuhören. Der Schotte hob auf seine Frage hin verwundert die Augenbrauen, um gleich darauf plötzlich in schallendes Gelächter auszubrechen. „Sie sind tatsächlich auf Archies alte Spinnerei hereingefallen!“
Etwas steif - schließlich war er es nicht gewohnt, dass auf seine Kosten Witze gemacht wurden - wagte Henry eine weitere Frage. „Und was darf man sich unter dieser, nun, ähm, Spinnerei vorstellen?“
„Diesen Saal hier, natürlich“, antwortete der Mann noch immer grinsend. „Er hat angeordnet, dass alle fremden Besucher anstatt in den eigentlichen Wohnbereich des Hauses zuerst hier hereingeführt werden. Es bereitet ihm eine diebische Freude, sich auszumalen, was die Leute dann über ihn denken.“
Henry errötete bis unter die Haarwurzeln. In seinem Fall war MacTavishs Verwirrspiel überaus erfolgreich gewesen. „Dann benutzen Sie diesen Raum wohl nur, wenn Besucher kommen“, bemerkte er, um seine Verlegenheit zu überspielen.
„O nein. Wir brauchen den Saal recht häufig. Wenn die Lämmer zur Welt kommen und es schneit, haben wir im Schafstall oft nicht genug Platz für alle. Und später im Jahr, wenn die MacTavishs aus der ganzen Gegend bei der Schafschur mithelfen, ist ein so großer Raum, in dem alle miteinander essen können, schon recht brauchbar.“
Henry war sich nicht sicher, ob er das, was er gerade gehört hatte, nun glauben sollte oder nicht. Im Grunde war es auch einerlei. Die Aussicht, den zugigen, dunklen Saal mit einem warmen, gemütlichen Arbeitszimmer vertauschen zu können, klang verlockend. Also folgte er bereitwillig dem jungen Schotten, der ihm den Weg wies.
Der andere Teil des Hauses war tatsächlich komfortabel und herrschaftlich eingerichtet. Bei seiner Ankunft hatte Harry es viel zu eilig gehabt, ans warme Feuer zu kommen, um sich in dem nur schummrig beleuchteten Eingangsbereich richtig umzusehen. Sonst wäre ihm das schon aufgefallen, bevor man ihn in den seltsamen Salon oder Stall gebracht hatte. Inzwischen brannte eine Lampe auf dem Tisch in der Empfangshalle. Ihr Licht erlaubte dem verdutzten Engländer einen Blick auf die Durchgänge zu den anderen Räumen und auf Teile des feinen Mobiliars, mit dem sie ausgestattet waren.
Das Arbeitszimmer, in das er nun trat, war nicht besonders groß, aber klar und übersichtlich. In einer Ecke strahlte ein Kohlenbecken behagliche Wärme aus, was bedeuten musste, dass der junge Mann schon vor Sir Henrys Ankunft hier gesessen hatte. Henry nahm an, dass der Schotte Archibalds Verwalter oder Sekretär war, doch er hatte für diesen Abend schon mehr als genug falsche Vermutungen angestellt. Daher fragte er, nachdem er es sich auf einem dick gepolsterten, mit Leder bezogenen Stuhl gegenüber dem Schreibtisch bequem gemacht hatte, lieber gleich, in welcher Eigenschaft ihn der Hochländer hier im Hause begrüßte.
Die Antwort: „natürlich als ein MacTavish“ brachte Sir Henry nicht viel weiter. Wahrscheinlich trug hier in der Gegend jeder auf dem Besitz diesen Namen. Doch seine Reise und vor allem Wind und Wetter hatten ihn so ermüdet, dass er nicht die Kraft hatte, seinem Gegenüber noch weitere Erklärungen abzuringen.
Stattdessen fragte er: „Weiß denn Lord Archibald, dass ich hier bin?“
„Der alte Mann hat sich schon zur Ruhe gelegt, denn er steht immer mit den Hühnern auf“, antwortete ihm der junge MacTavish. „Aber Sie können mir genauso gut sagen, was Sie von ihm wollen.“
Ob nun Verwalter oder Sekretär, anscheinend erledigte der Mann tatsächlich Archibalds Geschäfte. Er hatte ja sogar ein Arbeitszimmer in seinem Haus. Also konnte Henry ihm auch erklären, worum es ging. „Ich bin gekommen, um Lord Nevilles Enkelsohn abzuholen.“
Eigenartigerweise schien diese Auskunft den Mann aus dem MacTavish-Clan zu amüsieren. Seine Mundwinkel bewegten sich jedenfalls fast unmerklich nach oben. Seine Stimme verriet seine Belustigung noch deutlicher.
„Ach, tatsächlich?“, entgegnete er langsam. „Und was ist, wenn dieser Enkelsohn gar nicht abgeholt werden möchte?“
Henry konnte in Gedanken ein Seufzen nicht unterdrücken. Er hätte sich denken können, dass es zwecklos war, mit irgendwelchen Angestellten zu verhandeln.
„Das würde ich eigentlich gerne mit Lord Archibald persönlich besprechen“, erwiderte er.
„Ach, tatsächlich? Wenn nun aber der Enkel durchaus alt genug ist, um seine eigenen Entscheidungen zu treffen?“
Henry war nun wirklich müde und wurde ärgerlich. „Da gibt es gar nichts zu entscheiden, junger Mann“, antwortete er gereizt. „Lord Neville verlangt, dass ein Versprechen eingelöst wird.“
Bei diesen Worten beugte der junge Mann sich plötzlich gespannt nach vorne. Die Falten, die sich auf seiner Stirn gebildet hatten, beunruhigten Sir Henry. „Welches Versprechen denn?“
„Lord Archibald weiß, worum es geht, und er weiß auch, dass jetzt die Zeit gekommen ist -“
„Welches … verdammte … Versprechen? Ich bin der Enkelsohn von Archibald und leider auch von Neville und ich werde selbst entscheiden, ob irgendein Versprechen erfüllt werden muss, das mich betrifft.“
„Sie sind Duncan MacTavish?“
„Ganz recht, und Sie werden mir jetzt erklären, was es mit diesem vermaledeiten Versprechen auf sich hat.“