Kapitel 1
April 1818
Hertfordshire, England
Riverhill Manor
Das Schlimmste war vorbei.
In einem quälenden Hustenanfall verkrampfte sich Viscount Bathhursts ganzer Körper auf dem Bett, und Lady Olivia Henrietta Sherwood – Livvie für ihre Freunde und Verwandten – nahm einen Waschlappen und tupfte ihm den Speichel vom Mundwinkel. Ihr kamen die Tränen beim Anblick ihres Stiefvaters, der noch vor wenigen Monaten gesund und munter gewesen war. Doch nach einem Sturz vom Pferd und einem darauf folgenden Herzanfall war er nun dünn und schwach.
Livvie hatte sich große Mühe gegeben, sich ihre Angst, dass er sterben könnte, nicht anmerken zu lassen. Schon einmal hatte sie einen Vater verloren, über dessen Tod sie noch immer nicht hinweggekommen war. Alle, die Dienstboten eingeschlossen, hatten mit düsterer Miene auf das Ableben des Viscounts gewartet, doch er hatte sich wieder erholt und schien nun auf dem Weg der Besserung.
Mit Mühe setzte er sich auf, das erschöpfte, doch gut aussehende Gesicht zu einer schmerzhaften Grimasse verzerrt. „Meine liebe Livvie“, sagte er, „wir müssen uns über deine Zukunft unterhalten.“
„Bitte, Vater, vergeuden Sie nicht Ihre Kraft. Ich glaube, jetzt ist nicht der rechte Zeitpunkt für ein solches Gespräch.“
Er lächelte. „Unsinn. Die Ärzte haben sich günstig geäußert. Ich werde wieder gesund, ganz gesund, meine Liebe.“
Seine wunderbare Zuversicht gab ihr neue Hoffnung. „In den letzten Wochen habe ich jeden Abend für Sie eine Kerze angezündet und gebetet.“
Er blickte sie mit zärtlicher Miene an. „Ich glaube, Gott hat deine Gebete erhört, Livvie, denn seit kurzem geht es mir allmählich besser. Was würde ich nur ohne dich anfangen?“
Oh nein. Sie wusste, worauf er hinauswollte…
Nachdem er sich bequemer gegen den Berg von Kissen gelehnt hatte, ergriff er sanft ihre Hand und sagte: „Ich habe meiner Cousine, der Countess of Blade, geschrieben und sie gebeten, dich in die Gesellschaft einzuführen.“ Es war genau das, was sie befürchtet hatte.
„Vater, jetzt, wo es Ihnen wieder besser geht, hat das doch keine Eile.“ Sie hatte gehofft, es würde keine Rede mehr davon sein, dass sie sich den Grausamkeiten der Londoner Gesellschaft aussetzte. Nachdem man ihr vor drei Jahren so hart und abweisend begegnet war, hatte sie sich geschworen, nur noch der Stimme ihres Herzens zu folgen, und daran würde sie sich halten. Und ihr Herz war nicht geneigt, sich in die rauen Untiefen der High Society zu begeben, nur um einen Ehemann zu finden. Zumindest nicht, solange sie kein eigenes Vermögen besaß. Auf keinen Fall würde sie sich dazu überreden lassen, einen Mann zu wählen, nur weil er mehr als zehntausend Pfund im Jahr besaß.
„Du bist zweiundzwanzig, meine Liebe, und auf dem besten Weg, eine alte Jungfer zu werden.“
„Zweiundzwanzig ist ja noch nicht uralt“, sagte sie leise.
Er schüttelte den Kopf und blickte sie mitleidig an. „Weil du deinen Vater verloren hast und die Grausamkeiten der vornehmen Gesellschaft erdulden musstest, waren deine Mutter und ich zu nachsichtig mit dir. Wir hatten Verständnis dafür, dass du dich auf keinen Fall einer weiteren Saison und etwaigem Gerede über das… unglückselige Ableben deines Vaters aussetzen wolltest. Aber du musst lernen, es hinter dir zu lassen, Livvie.“
Unglückseliges Ableben. Eine Untertreibung, wenn man bedachte, welch herzzerreißendes Leid sie und ihre Mutter hatten erdulden müssen. Ein Anflug des vertrauten Kummers durchflutete sie.
„Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mir weiteren Schmerz ersparen möchten, aber ich verstecke mich ja nicht vor der Gesellschaft, sondern führe ein wirklich glückliches Leben.“
Er streichelte tröstend ihre Hand, presste jedoch entschlossen die Lippen zusammen. „Wir haben es gut gemeint, doch wir haben dir keinen Gefallen damit getan, dass wir dich hier in Riverhills verwildern ließen. Du durftest fischen, jederzeit im See baden und mit deinen Gemälden handeln, anstatt in London den letzten Schliff zu bekommen, der nötig ist, um dir einen betuchten Gentleman zu verschaffen.“
Einen betuchten Gentleman? „Vater…“
„Komm schon, Livvie, du willst doch bestimmt eines Tages heiraten, oder?“ Seine Stimme war sanft, doch sie spürte den unnachgiebigen Unterton.
„Irgendwann einmal… wenn ich jemanden finde, den ich gern habe.“
„Viele Leute sind angenehme und dauerhafte Beziehungen eingegangen, ohne sich von romantischen Gefühlen leiten zu lassen. Ich wünschte, ich könnte deinem Wunsch, ledig zu bleiben, entsprechen. Ich wünschte so sehr, ich könnte meinen Töchtern mehr hinterlassen, wenn ich einmal sterbe.“ Sein Blick verdunkelte sich. „Ich wünsche mir so vieles, meine Liebe.“
Sie wusste, was er sich wünschte. Dass es ihm laut Gesetz möglich wäre, seiner Frau, Lady Helena, mehr als fünfhundert Pfund im Jahr und seinen Töchter Livvie und ihrer jüngeren Schwester Ophelia nicht nur einhundert Pfund zu hinterlassen. Auf sein übriges Vermögen und seinen Landbesitz hatten sie kein Anrecht, denn das alles stand von Rechts wegen seinem Sohn und Erben William zu.
Lediglich ein bescheidenes Cottage in Derbyshire war von dieser Regelung ausgenommen, und dorthin sollten sie, ihre Mutter und ihre Schwester ziehen, wenn ihr Stiefvater starb. Wenn sie sparsam waren, würde das Einkommen der drei Frauen ausreichen, um ein sorgloses, wenn auch kein luxuriöses Leben zu führen. „Bitte, Vater, ich brauche keinen Ehemann. Ich…“
Er tätschelte ihr die Hand. „Schsch, sei jetzt still und lass den alten Mann sich nicht um dich sorgen, Livvie. Du hattest lange genug deine Freiheit, und es wird Zeit, dass du noch eine Saison mitmachst und dir einen Mann suchst.“
Ihr krampfte sich der Magen zusammen. Die Vorstellung, sich noch einmal dem boshaften Geschwätz auszusetzen, war unerträglich, zumal es da diesen schrecklichen Skandal in ihrem Leben gab. Die Tatsache, dass ihr leiblicher Vater, Lord Harcourt, sich das Leben genommen hatte, würden die Leute niemals vergessen, obwohl die Tragödie schon Jahre zurücklag.
Der anrüchige Lebenswandel ihres Vaters war auf Livvie zurückgefallen, als hätte sie die Spielschulden gehabt und die Mätresse, ohne die ihr Vater nicht leben konnte. Seine Verfehlungen galten als Zeichen für einen schwachen Charakter, den sie womöglich an ihre Söhne weitergeben würde.
„Sobald eine Frau heiratet, ist sie auf Gedeih und Verderb ihrem Mann ausgeliefert. Sie ist rechtlos, und ich… ich wäre auch rechtlos. Alles, woran ich Freude habe, wäre mir verwehrt. Gegen einen Ehemann, der mir meine Freiheit lässt, hätte ich nichts einzuwenden, aber ich glaube nicht, dass es so einen Mann gibt.“
Ihr Vater verzog das Gesicht. „Ich habe nicht gewusst, dass du so romantisch veranlagt bist, meine Liebe.“
„Ich möchte mich einfach nicht von einem Mann abhängig machen, ohne dass ich einen Vorteil davon hätte.“
Ihre Mutter hatte sich einem Berg von Schulden gegenübergesehen, den ihr Mann angehäuft hatte. Bis auf das Eigentum, das unter spezielles Erbrecht fiel, war ihr gesamter Besitz an die Gläubiger gegangen, und sie hatten praktisch die gesamte Einrichtung ihres Hauses verkaufen müssen, um Rechnungen zu begleichen. Livvie war sich nicht sicher, wie ihre Mutter das alles geschafft hätte, wenn der Viscount sich nicht so entgegenkommend gezeigt hätte.
Die Monate nach dem Tod ihres Vaters waren schwer gewesen. Innerhalb weniger Wochen hatten sie ihr Heim verlassen müssen, da der Erbe ihres Vaters es eingefordert hatte. Dank der Großzügigkeit ihrer Cousine Iphigenia konnten sie in ein kleines, aber gepflegtes Haus ziehen, doch von ihren Dienstboten hatten sie nur die Köchin und die Haushälterin behalten. Es gab Tage, da wussten sie kaum, woher sie das Essen nehmen sollten, und schließlich kündigte auch die Haushälterin, weil Livvies Mutter ihr den Lohn nicht mehr bezahlen konnte. Jener Winter war der kälteste in Livvies Leben, und damals hatte sie gelernt, Tränen zu hassen, denn sie und ihre Mutter hatten monatelang nur geweint.
Vor einigen Wochen hatte Livvie zu ihrem Schrecken festgestellt, dass ihre Mutter für den Fall, dass der Viscount starb, für Livvie nur den Rat hatte, sich einen Mann zu suchen. Livvie war wütend darüber, dass ihre Mutter gar nicht auf die Idee kam, sie könnten auch alleine zurechtkommen.
„Sind denn Häuser, Kutschen, Dienerschaft und Geld nicht auch von Vorteil, Livvie?“, fragte ihr Stiefvater und riss sie damit aus ihren Grübeleien.
„All das kann ich mir auch von dem Geld kaufen, das ich selbst verdiene. Ich habe sieben Gemälde verkauft und mir ein hübsches Sümmchen beiseitegelegt. Das einzige, was ich mir von einem Ehemann wünsche, sind die Dinge, die man nicht für Geld bekommt – Verständnis und Liebe“, war ihre unverblümte Antwort. Sie hatte sich damit abgefunden, dass dieser Traum vielleicht für sie unerreichbar blieb, wegen ihres angeblich so wilden, unabhängigen Wesens und dem Makel eines schwachen Charakters, der ihr anhing. Sie würde sich jedenfalls nicht in Sehnsucht nach irgendeinem Mann verzehren, der sie als tugendhaft und ehrbar betrachtete, wenn doch nichts an ihr auszusetzen war.
„Du bist ein kluges und schönes Mädchen. Bleib immer so, wie du bist, Livvie“, hatte ihr Vater mehr als einmal zu ihr gesagt, wenn sie bedauerte, dass sie nicht die Tochter war, die ihre Mutter sich wünschte. Sie hatte ihn von Herzen geliebt und war am Boden zerstört gewesen, als er sich das Leben nahm. Stets hatte sie die Ratschläge befolgt, die er ihr im Leben gegeben hatte, doch die letzte und wichtigste Lehre hatte sie aus seinem Tod gezogen.
„Ich möchte mich darauf konzentrieren, als Malerin so gut zu werden, wie ich nur kann. Einen Mann werde ich mir suchen, wenn ich so weit bin.“
„Du bist naiv, meine Liebe. Dafür möchte ich dich nicht allzu sehr tadeln, aber in der Welt, in die du hineingeboren wurdest, wird es dir nicht von Nutzen sein.“ Der Viscount stieß einen tiefen Seufzer aus. „Du wirst zu meiner Cousine gehen, und sie wird dir helfen, Eingang in die feine Gesellschaft zu finden.“
„Vater…“
„Nein, Livvie, meine Liebe. Folge mir in dieser Sache, denn ich werde keinen Kompromiss dulden. Innerhalb eines Jahres wirst du verheiratet sein. Zwinge mich nicht, die Wahl für dich zu treffen.“
Sie schluckte ihre Widerworte hinunter. Auf keinen Fall wollte sie ihn jetzt aufregen, da es ihm endlich besser ging. Das ganze Bett wackelte, als er erneut von einem Hustenanfall gepackt wurde. Sie murmelte ein paar tröstende Worte, streichelte seine Hand und wartete darauf, dass er wieder zu Atem kam.
„Verzeih mir, meine Liebe“, sagte er mit heiserer Stimme.
„Da gibt es nichts zu verzeihen“, antwortete sie lächelnd.
„Ich habe schon mit William gesprochen. Falls ich nicht wie erhofft gesund werde, bekommst du eine Saison in London und eine Mitgift.“
Sie drückte seine Hand, unfähig zu reden, weil ihr ein Kloß in der Kehle saß.
Ihr Stiefvater nickte erleichtert, dann fielen ihm die Augen zu. Sie stand auf und zog die Vorhänge auf, sodass ein wenig Licht ins Zimmer fiel. Sie lief rasch in ihr Zimmer und holte das Buch, in dem sie zuvor gelesen hatte. Dann kehrte sie in das Schlafzimmer ihres Stiefvaters zurück und ließ sich im Sessel neben seinem Bett nieder. Sie hoffte, die spannenden und ein wenig unheimlichen Geschichten in dem Band Im Dienste der Krone von Theodore Aikens würden eine beruhigende Wirkung auf ihn haben.
Sie schlug die zuletzt gelesene Seite auf, beugte sich ein wenig zu ihrem Stiefvater und begann zu lesen. „‚Gefahr lag in der Luft und ließ seine Haut wie unter einer scharfen Klinge erzittern. Wrotham fügte das lose Dielenbrett wieder an seinem Platz ein, bevor er sich mit einer geschmeidigen Bewegung zu dem Mann umdrehte, der ihn entdeckt hatte. Ein Gefühl der Bedrohung schoss warnend durch seine Adern, dann erkannte er Jasper, einen der mörderischsten Assassinen des sechsten Ordens. Eine Welle der Erregung durchflutete Wrotham, und ihm wurde klar, dass ihn angesichts der Gefahr das Jagdfieber gepackt hatte. Hier stand er einem Mann gegenüber, der womöglich noch gnadenloser war als er selbst. Behände zog er den Dolch aus seinem Ärmelaufschlag, dann verschmolz er mit den Schatten, erfüllt von eiskalter Entschlossenheit. Nur einer von ihnen beiden würde das Zusammentreffen überleben…“ Livvie unterbrach sich und warf einen Blick auf das friedliche Gesicht ihres Stiefvaters.
„Schlafen Sie, Vater?“, flüsterte sie.
Er lächelte leicht. „Wie könnte ich, bevor ich nicht weiß, wie sich Wrotham gegen den Assassinen des schrecklichen sechsten Ordens behauptet?“
Mit einem leisen Lachen begann sie wieder zu lesen. Im Augenblick schien es, als sei ihr Stiefvater auf dem Weg der Besserung, und es gelang ihr, das angstvolle Gefühl in ihrem Herzen zu unterdrücken. Gemeinsam würden sie in die fremdartige Mantel-und-Degen-Welt voller Gefahren und Spione eintauchen, die der Schriftsteller erschaffen hatte, und die Furcht hinter sich lassen… und sei es auch nur für eine Weile.
Eine Stunde später stieg Livvie mit ihrer Mutter die gewundene Treppe des eleganten Herrenhauses hinab, das seit elf Jahren ihr Hauptwohnsitz war. Ihre Mutter, Lady Helena, Viscountess Bathhurst, war einst eine außergewöhnliche Schönheit gewesen, und noch jetzt, im mittleren Alter, hatte sie sich Spuren ihrer zarten, blütengleichen Anmut bewahrt. Auch an diesem Tag war sie elegant gekleidet und schritt graziös dahin.
„Wie war dein Besuch bei deinem Vater?“, fragte sie Livvie mit einer vor Kummer stockenden Stimme.
„Vater wird nicht sterben“, stellte Livvie entschieden fest. „Dr. Greaves hat gesagt, er sei auf dem Weg der Besserung und wir müssten alles tun, um seine Stimmung zu heben.“
„Deine Zuversicht ist bewundernswert, mein Liebes, aber mein Gemahl hat seinen Erben aus London kommen lassen.“ Sie schluckte schwer. „Das kann nur bedeuten, dass er mit einem Rückfall rechnet.“
Sie erschraken, als im Salon ein lautes Krachen ertönte. Die Stimme von Lady Louisa, der Frau ihres Stiefbruders, drang durch die schwere Eichentür des Wohnraums. „Du willst also deine Familie berauben wegen dieser… dieser…“
Livvie zuckte zusammen. „Komm, Mutter, wir können in den Garten gehen und später Tee trinken.“
„Nein, wir müssen hören, was dort gesprochen wird.“
„Mutter, bitte…“
„Ich habe meinem Vater mein Ehrenwort gegeben, dass ich Livvie eine Mitgift und eine Saison finanziere, wenn er stirbt“, blaffte William. „Wie könnte ich guten Gewissens den Wunsch eines Kranken ignorieren?“
„Sie ist nicht deine richtige Schwester! Warum sollten wir unserem Sohn und den Töchtern einen Betrag von zweitausend Pfund vorenthalten wegen Leuten, die eigentlich nicht zur Familie gehören? So etwas Dummes habe ich noch nie gehört. Die Einzige, der wir in gewisser Weise verpflichtet sind, ist die liebe Ophelia, und es wird noch Jahre dauern, bis sie dem Schulzimmer entwachsen ist. Wenn es soweit ist, kannst du ihr die Saison bezahlen.“
Ein tiefer Seufzer war zu hören. „Louisa…“
„Nein, William, eine Mitgift und eine Saison wären an Livvie verschwendet. Einige würden sie sicher als schön bezeichnen, aber hast du denn den Makel vergessen, der auf ihrem Namen lastet? Ihr Vater hat sich umgebracht“, sagte Louisa wütend. „Seit Jahren müssen wir unter dieser unerfreulichen Verbindung leiden, nur weil dein Vater sich entschlossen hat, Lady Helena zu heiraten, die ihre… ihre anstößige und übel beleumundete Tochter mitgebracht hat. Unser Name wurde in den Schmutz gezogen, und ich bin sicher, mein Schatz, du wirst diese unglückselige Verbindung nicht weiter aufrechterhalten, sobald dein Vater dahingeschieden ist. Dann wird er nicht mehr wissen, ob seine Frau und Stieftochter in Derbyshire sind, wo sie hingehören, oder in London.“
Livvies Mutter schwankte leicht.
Anstößig und übel beleumundet? Wütend machte Livvie einen Schritt auf die Zimmertür zu, doch ihre Mutter legte ihr eine Hand auf den Arm. Die Qual auf ihren lieblichen Zügen fachte Livvies Zorn nur weiter an. Sie wäre am liebsten in den Salon gestürmt und hätte Lady Louisa ordentlich die Meinung gesagt. Wie konnte sie nur so herzlos sein!
„Lass mich mit Lady Louisa reden, Mutter. Ich werde auch meine Zunge hüten…“
„Nein, sie hat ja recht“, entgegnete ihre Mutter mit aschfahlen Lippen. „So schmerzlich es auch sein mag, aber William braucht den Wünschen seines Vaters nicht nachzukommen.“
„Aber gewiss muss er das. Wir sind…“
„Ich bin seit Jahren mit seinem Vater verheiratet, und du hast dich bemüht, ihm eine gute Schwester zu sein, aber tatsächlich gehörten wir nie wirklich dazu.“
Livvie verschränkte die Finger, unwillig sich einzugestehen, dass ihre Mutter recht hatte. Bei dem Gedanken daran, wie unsicher ihre Zukunft nun wieder war, wurde ihr ganz flau, doch sie würde dafür sorgen, dass ihre Familie es gemeinsam überstand. „Vater geht es besser, daher brauchen wir uns keine Sorgen zu machen“, sagte sie, bemüht, den Zweifel zu ignorieren, der in ihr aufkeimte.
Die Augen ihrer Mutter waren vor Sorge ganz dunkel. „Und wenn nicht?“
Der Gedanke war unerträglich, doch um ihrer Mutter willen musste sie stark sein. „Dann werden wir als Familie um ihn trauern und tun, was nötig ist. Ich würde sehr gerne mit dir und Ophelia nach Derbyshire gehen. Ich spreche drei Sprachen und kann recht gut malen, wie du weißt. Ich werde mir Arbeit suchen…“
„Still, Livvie! Es kommt gar nicht in Frage, dass du arbeitest. Du bist die Tochter eines Gentleman und einer Lady, und ich will nichts mehr davon hören, dass du dich unter deinen Stand begibst. Wir werden einen Ehemann für dich finden.“
„Es macht mir wirklich nichts aus zu arbeiten, Mama.“
Die goldfarbenen Augen ihrer Mutter blitzten entschlossen. „Kein Wort mehr davon! Du bist die Tochter eines Barons und wirst dich bis an dein Lebensende entsprechend verhalten. Deine Schwester muss einmal eine passende Verbindung eingehen.“
„Ophelia ist acht, Mama“, sagte Livvie entrüstet.
„Das mag ja sein, aber wir müssen jetzt schon die Grundlagen für sie schaffen, und das geht nicht, wenn wir von fünfhundert Pfund Witwengeld im Jahr in einer Hütte leben“, sagte sie und ging langsam zur Seitentür, die in den Garten führte.
„Wir müssen selbst für unsere Zukunft vorsorgen und dürfen uns nicht auf das Wohlwollen anderer verlassen. In Derbyshire…“
„Ich werde nicht zulassen, dass wir in derart armseligen Umständen leben, Livvie. Du brauchst einen Mann.“
„Ich brauche keinen Mann, um behaglich zu leben“, fauchte sie, bereute jedoch sogleich ihren scharfen Ton. „Verzeih mir, Mama, aber wenn ich heirate und mein Mann stirbt, sind wir wieder da, wo wir angefangen haben.“
„Nicht, wenn du einen reichen adligen Mann heiratest. Bei seinem Tod erhältst du eine gute Witwenpension, mit der wir auskömmlich leben können.“
„Mutter…“
„Es ist deine Pflicht gegenüber der Familie, dich zu verheiraten, und zwar gut. Von Unabhängigkeit will ich nichts mehr hören. Das geht einfach nicht. Lass uns jetzt ein Gebet für deinen Vater sprechen, und dann ziehen wir uns zum Dinner um.“
Wenn ihre Mutter diesen Ton anschlug, war es sinnlos, weiter mit ihr zu diskutieren. Doch Livvie musste es irgendwie schaffen, ihre Mutter und ihren Stiefvater zu überzeugen. Es ging einfach nicht, dass sie ihre Freiheit einem Mann opferte und dann leiden musste, wie ihre Mutter nach dem Tod ihres Vaters gelitten hatte. Die Sorgenfalten im Gesicht ihrer Mutter waren ein Beweis dafür, wie sehr sie der Gedanke an den Tod ihres zweiten Mannes und die erneute Aussicht auf ein Leben als verarmte Adlige quälten. Livvie hätte sich dagegen lieber darauf konzentriert, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, ohne vom Wohlstand und der Sicherheit abhängig zu sein, die eine gute Partie ihr bot.
Doch sie biss die Zähne zusammen und schwieg. Erst an ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag würde sie volljährig werden. Bis dahin wäre sie längst unter der Haube, wenn es nach ihren Eltern ging.
Wie konnte sie diesem Elend nur entgehen?
Einige Stunden später hatte es sich Livvie unter ihrer warmen Bettdecke gemütlich gemacht und las den jüngsten Band der Spionageromane von Theodore Aikens. Seine Geschichten waren eindrucksvoll, anschaulich und in der Regel brillant geschrieben. In den vergangenen vier Jahren hatte es in der High Society viel Aufruhr um die Frage gegeben, wer Theodore Aikens war. Aufgrund der finsteren Leidenschaften, die in seinen Werken anklangen, vermuteten einige, der Name sei ein Pseudonym für Lord Byron. Doch der Dichter hatte mitgeteilt, dass er, sehr zu seinem Bedauern, diesen Ruhm nicht für sich beanspruchen könne.
Mit seinen bissigen, anzüglichen Bemerkungen bewegte sich Aikens‘ Held Wrotham in der Grauzone zur Unanständigkeit, doch sein kühner Wagemut, den er im Dienst der Krone an den Tag legte, war bewundernswert. Livvies Mutter hatte sie schon öfter dafür getadelt, dass sie derart skandalumwitterte Bücher las, doch Livvie war von den spannenden Geschichten derart gefesselt, dass sie sich nicht darum kümmerte.
Da klopfte es scharf an die Tür, und noch bevor sie Herein sagen konnte, drehte sich der Türknauf und ihr Bruder trat ins Zimmer. Erschrocken schlug sie das kleine ledergebundene Buch zu und ließ es auf die Matratze fallen, bevor sie mit unsicheren Bewegungen aus dem Bett aufstand. „Ist es Vater?“, fragte sie, während sie ihren Morgenmantel vom Haken nahm und überzog. „Geht es ihm schlechter?“
William runzelte die Stirn und schloss leise die Tür. „Nein, er befindet sich weiter auf dem Weg der Besserung.“
Sie presste eine Hand auf die Brust und atmete tief und gleichmäßig, um ihr wild klopfendes Herz zu beruhigen. „Warum bist du dann hergekommen?“
„Um mit dir über deine Zukunft zu reden.“
Natürlich, seine Frau hatte ihm ein Ultimatum gestellt, doch davon wollte Livvie heute Abend nichts hören. Sie wünschte sich eine ungestörte Nachtruhe, bevor sie sich morgen dem Ungewissen stellen musste.
„Hat das nicht Zeit bis morgen, William? Dass du in meinem Schlafzimmer bist, finde ich ein wenig… irritierend.“ Noch nie zuvor war ihr Bruder in ihr Zimmer gekommen, zumal seine Räume auf der anderen Seite des Hauses lagen.
Er hielt die Kerze höher, und für einen Augenblick ließen die Schatten sein Gesicht wie eine unheimliche Maske erscheinen. Sie erschrak, tadelte sich jedoch sogleich im Stillen für ihre ausufernde Fantasie.
„Nein, ich kann nicht warten“, erwiderte er. „Ich bin begierig darauf, unser… Verhältnis zu beginnen.“
Sie blinzelte. „Ist das Vaters Wunsch?“
„Da bin ich mir sicher“, sagte er und kam näher. „Obwohl wir vor ein paar Jahren knapp bei Kasse waren, hat Vater Geld für deine Saison zur Verfügung gestellt. Es war vergeudet. Jetzt, nachdem du dich drei Jahre auf dem Land vergraben hast, ist nicht damit zu rechnen, dass die Gesellschaft dich mit offenen Armen empfängt und man dich mit Heiratsanträgen überschüttet.“
Angesichts seiner verletzenden Worte zuckte sie zusammen. In dem dreisten Blick, mit dem er sie musterte, lag ein Ausdruck von Gier, sodass sie es für besser hielt, sich auf die Tür zuzubewegen. „William, ich…“
„Ich habe lange und eingehend über die Angelegenheit nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass du meine Mätresse werden musst.“
Mätresse?, dachte sie entsetzt. „Wie bitte?“
Er nickte entschlossen. „Seien wir doch ehrlich, meine Liebe. Dir eine Mitgift zu geben, wäre Verschwendung. Nach dem feigen Verhalten deines Vaters wird dich kein Mann haben wollen, und außerdem fehlt dir jeder Schliff. Aber du bist ein erfreulicher Anblick, und nach gründlicher Erwägung bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass du am besten in meinem Bett aufgehoben wärst, wo ich dich schon lange haben wollte. Ich werde dir die geplanten zweitausend Pfund aussetzen und ein Haus für dich mieten. Du wirst Dienerschaft und Kutschen haben und hin und wieder ein Schmuckstück als Geschenk.“
Vor Entsetzen wurden ihre Handflächen ganz feucht. Sie hatten sich nie so nahegestanden wie Geschwister, und sein Verhalten ihr gegenüber war in letzter Zeit etwas verstörend gewesen, doch sie hatte dem keine große Bedeutung beigemessen.
„Wie großzügig von dir“, sagte sie mit schwacher Stimme, während ihr Herz wie wild pochte.
Er kniff die Augen zusammen. „Ich könnte dafür sorgen, dass du bei Vaters Tod keinen Penny bekommst. Es wäre verführerisch, dich gleich hier in Besitz zu nehmen, aber ich will nicht, dass Louisa oder deine Mutter etwas merken.“ Er trat dicht an sie heran und ergriff mit zwei Fingern eine lose Strähne ihres Haares. „Ich werde großzügig dir gegenüber sein, Livvie, und ich werde mich bemühen, dir keinen Bastard anzuhängen.“
Bastard? Angeekelt fuhr sie zurück. „Ich bin deine Schwester!“
„Falsch!“, blaffte er. „Wir sind nicht blutsverwandt.“
„Was du da vorschlägst, ist schändlich.“ Wegen einer Mätresse hatte ihr Vater sich eine Pistole an die Schläfe gesetzt, ohne zu zögern abgedrückt und es ihr und ihrer Mutter überlassen, mit den Schulden und der gesellschaftlichen Ächtung fertigzuwerden. Und nun hatte William die Stirn, ihr die Rolle als seine Geliebte anzutragen. „Ich habe meine gute Meinung von dir und jedes bisschen Achtung, das ich für dich empfand, verloren“, flüsterte sie wutentbrannt, während sie gegen die Tränen ankämpfte, die ihr in den Augen brannten.
Er besaß tatsächlich die Frechheit, sie erstaunt anzusehen. „Aber du musst doch einsehen, dass du nie ein besseres Angebot bekommen wirst.“
„Nach Jahren der Freundschaft willst du mich entehren.“
„Ich biete dir ein Leben in Reichtum und Müßiggang an“, erwiderte er.
Plötzlich bekam sie Angst. „Wie kannst du dich so einfach über alle Wünsche unseres Vaters hinwegsetzen?“
„Mein Vater, Olivia, mein Haus, mein Geld… Und von alldem wirst du nur etwas abbekommen, wenn du das Bett mit mir teilst.“
„Verlasse sofort mein Schlafzimmer“, knurrte sie, „oder ich schreie so laut, dass das ganze Haus zusammenläuft.“
William zog sie an sich und presste seine Lippen so heftig auf ihren Mund, dass sie vor Schreck erstarrte. Sein Atem roch so stark nach Alkohol, dass sie beinahe würgen musste, und sie stemmte sich mit aller Kraft gegen seine große Gestalt, um sich aus seiner Umarmung zu befreien. Ekel und Schock raubten ihr fast die Sinne, und als er versuchte, ihr seine Zunge in den Mund zu schieben, biss sie kräftig zu.
Er stieß sie weg und taumelte zurück. „Du verdammtes Biest!“ Sein Gesicht war vor Wut verzerrt.
„Raus hier!“, schrie sie vor Angst zitternd.
„Denk über mein Angebot nach, Schwester. Ich bin sicher, es ist das einzige, was man dir machen wird. Ende der Woche erwarte ich deine Antwort.“ Mit eiligen Schritten verließ er das Zimmer.
Als wenn sie jemals einen so nichtswürdigen und abscheulichen Vorschlag annehmen würde. Mit schwankenden Schritten ging sie zu dem Sessel am Fenster, ließ sich hineinfallen und zog die Füße unter sich. Was dachte er sich bloß?
Eine Mätresse.
Sie fühlte sich zutiefst gedemütigt. William glich in nichts mehr dem Jungen, mit dem sie aufgewachsen war. Er sah noch immer gut aus mit seinem dunkelbraunen Haar und den hellblauen Augen, doch unter der freundlichen Oberfläche lauerte eine Lüsternheit, die sie erahnt, aber immer als Produkt ihrer allzu lebhaften Fantasie abgetan hatte. Wie sehr sie sich doch geirrt hatte.
Nachdem er sich so schändlich verhalten hatte, wusste sie nicht, was sie tun sollte. Es wäre grausam gewesen, ihren kranken Stiefvater damit zu behelligen, und ihre Mutter wäre einer so schlimmen Neuigkeit nicht gewachsen. Livvie seufzte. Sie musste sich also selbst um die Angelegenheit kümmern, und falls er ihr noch einmal zu nahe trat, würde sie den Rat ihres verstorbenen Vaters befolgen und William ihr Knie in seine empfindlichsten Körperteile rammen.
Immer noch zitternd kletterte Livvie ins Bett und zog sich die Decke bis zum Kinn. Nach Williams abscheulichen Annäherungsversuchen konnte sie unmöglich länger in Riverhill bleiben. Der Schuft würde sie nicht in Ruhe lassen, bis ihr Stiefvater wieder gesund war. Und das konnte noch Wochen dauern. Sie musste zur Countess of Blade gehen, wo sie den nötigen Schliff erhalten konnte, um einen betuchten Ehemann zu finden.
So etwas Blödes!
Kapitel 2
Grangeville Park, South Hampshire
Der Boden erbebte unter den Hufen des mächtigen Hengstes. Tobias Theodore Walcott, der Earl of Blade, trieb sein Pferd noch weiter an, das in halsbrecherischem Tempo querfeldein galoppierte. Der beißende Wind schnitt ihm ins Gesicht; dennoch genoss er die Freiheit auf seinem Ritt über die heimischen Wege. Donner grummelte, und kleine eiskalte Regentropfen prasselten auf seine Haut.
Tief sog er die kalte, frische Luft in seine Lungen, froh darüber, dem Schmutz, Ruß und Lärm der Hauptstadt entronnen zu sein. Ebenso froh war er darüber, dass er sich nicht länger mit den vernagelten Lords abgeben musste, die zu überzeugen er sich ebenso hartnäckig wie vergeblich bemüht hatte. England hatte seit dem Krieg sehr gelitten, und es blieb noch viel zu tun, um den Witwen und Waisen sowie den Tausenden von hungernden Veteranen zu helfen, die um eine Arbeit kämpften, von der sie leben konnten.
Der Prinzregent war zu sehr damit beschäftigt, ausschweifende Feste und Bälle zu geben, um sich um seine notleidenden Untertanen zu kümmern, und der Rest der vornehmen Gesellschaft tat es ihm nach. Tobias spornte sein Pferd noch weiter an und schob die Gedanken an die politischen Auseinandersetzungen, die ihm bevorstanden, beiseite. Plötzlich tat sein Herz einen Sprung; als er um eine Kurve bog, kam ihnen ein anderes Pferd entgegen. Das Tier stieg vor Schreck, sodass die Reiterin sich nur mit knapper Not im Sattel halten konnte. Indem er sein Pferd nach links lenkte, gelang es Tobias im letzten Moment, einen fatalen Zusammenstoß zu vermeiden.
Dennoch rutschte die fremde Reiterin aus dem Sattel und landete unsanft auf dem schlammigen Boden. Sie fluchte leise, wobei ihre sinnliche Stimme in auffälligem Gegensatz zu der handfesten Wortwahl stand.
„Blöder, rücksichtsloser Idiot“, schimpfte sie, während sie sich vergeblich bemühte, auf dem rutschigen Weg wieder auf die Beine zu kommen.
Meine Güte.
Endlich gelang es ihr, sich aufzurichten. „Sie hätten uns beide umbringen können!“, schrie sie, die Fäuste in die Seiten gestemmt. „Wie kann man nur so dämlich sein und in diesem Tempo um eine Kurve biegen? Was wäre geschehen, wenn ich nur ein bisschen schneller gewesen wäre? Was haben Sie sich dabei gedacht?“
Tobias fehlten die Worte. „Du lieber Himmel.“ Er rieb sich das Gesicht. „Was sind Sie denn?“
Das entzückendste hellgrüne Augenpaar, das er je gesehen hatte, funkelte ihn zornig an. „Wie bitte?“
„Sie haben schon richtig gehört“, antwortete er trocken. „Was sind Sie?“ Ihm war klar, wie beleidigend seine Worte klangen, aber das war ihm im Augenblick egal. Obwohl die frische Luft seine Gedanken geklärt hatte, war er noch immer unduldsam und verdrießlich, und es juckte ihn in den Fingern, sich eine Schreibfeder zu schnappen und den Missmut von der Seele zu schreiben.
Wenn ihm, wie jetzt gerade, menschliche Gesellschaft auf die Nerven ging, pflegte er sich für ein paar Stunden in die erfundene Welt voller Gefahren, Lust und Geheimnisse zu flüchten, die er selbst erschaffen hatte. Immer wenn er schrieb, kamen Frieden und eine Seelenruhe über ihn, die er sonst nie erlebt hatte. Das war so gewesen, seit er ein Knabe war, und mithilfe seiner Fantasie hatte er die dunklen Tage seiner Kindheit hinter sich gelassen.
Sie erstarrte. „Sie unerträglicher Flegel!“
Er zog eine Braue hoch. Ihre Sprache klang gebildet, doch mit Sicherheit war sie keine Lady. Zwar trug sie ein schlichtes dunkelblaues Reitkleid, doch der Saum war durchweicht, und ihr dunkelrotes Haar fiel ihr als wilde Mähne über die Schultern. Das Band, das es zusammengehalten hatte, hing ihr in die Stirn. Überall hatte sie Schlammspritzer, sogar am Kinn und an der Wange. Und wenn ihn nicht alles täuschte, trug sie Reithosen unter ihrem Kleid.
Mit einem unwilligen Knurren marschierte sie zu dem Pferd hinüber, das er aus seinem Stall kannte, ergriff die Zügel und schwang sich überraschend wendig und geschickt in den Sattel… rittlings. Ihre Haltung verriet Selbstvertrauen und kultivierte Eleganz.
Tobias‘ Mund wurde ganz trocken. Der Rock ihres Reitkleides war hochgerutscht und entblößte ein paar stramme nackte Waden über den schlammbedeckten Halbstiefeln. Um sie am Fortreiten zu hindern, lenkte er sein Pferd quer in den Weg.
„Wer sind Sie?“
Ihre Augen wurden schmal. „Das, Sir, geht Sie nichts an. Und wenn Sie mich jetzt durchlassen würden, mache ich mich auf den Weg.“
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass sie schön war. Die Erkenntnis verblüffte ihn so sehr, dass er verwirrt mit den Augen blinzelte. Was an ihrer skandalösen Erscheinung war denn auch nur einigermaßen hübsch? Doch in Wahrheit war es offensichtlich: Sie hatte ein solch zartes, herzförmiges Gesicht mit einer kecken Nase, eleganten Wangenknochen und sehr weichen, sinnlichen Lippen. Dichte Wimpern umgaben ihre außergewöhnlichen leicht mandelförmigen Augen.
Sie war atemberaubend.
Doch jeder, der keinen Wert auf Anstand legte und sich schockierend benahm, war in seinen Augen verachtenswert. Und wenn er sich nicht irrte, gehörte sie einer Klasse an, deren Mitglieder sich keine Gedanken um ihr Benehmen machen mussten. „Ich glaube nicht“, erwiderte er.
„Sie können mich nicht aufhalten, Sir.“
„Der Himmel hat sich verdunkelt, und es wird gleich Regen geben. Am besten reiten Sie zum Haupthaus zurück.“
Ihre Augen blitzten. Welch ein Anblick!
„Was ich tue oder lasse, ist nicht Ihre Angelegenheit.“
„Ich bin der Herr über diese Ländereien und Eigentümer des Pferdes, auf dem Sie sitzen; unter diesen Umständen geht mich wohl alles, was Sie tun, etwas an.“
Als sie sich aufrichtete, bemerkte er, wie sich ihre Jacke über der Brust spannte. Was zum Teufel war nur in ihn gefahren? Die bloße Vorstellung, dass er sich von einem solchen Wildfang angezogen fühlte, war ihm zuwider.
Ihre Augen weiteten sich, und eine zarte Röte stieg ihr in die Wangen. „Ich… Lord Blade?“
„Höchstpersönlich.“
„Oh! Man hat mir gesagt, Sie seien in der Stadt. Sonst hätte ich mir nie erlaubt, Ihr Pferd auszuleihen, ohne Sie zu fragen. Bitte verzeihen Sie mir.“ Ihr Gesicht war jetzt dunkelrot.
„Lügnerin“, entgegnete er in affektiertem Ton. Er hatte sie sofort durchschaut und erkannt, dass sie der Typ Frau war, vor der er sich seit Jahren in Acht nahm. Eine leichtsinnige, unanständige und anstößige Person.
„Es ist sehr unfreundlich und wenig gentlemanlike, eine Dame schlankweg als Lügnerin zu bezeichnen“, sagte sie mit frostiger Stimme.
„Mag sein, aber Sie sind keine Dame.“
Ihre Augen funkelten vor Zorn, doch sie zwang sich zu kühler Höflichkeit. „Wie arrogant und unausstehlich von Ihnen, jemanden nicht als Dame zu bezeichnen, nur weil diejenige anders ist.“
„Wie albern von Ihnen, Ihr leichtfertiges und schamloses Benehmen einfach als anders zu bezeichnen. Ihre wüste Erscheinung ist schon an sich skandalös“, entgegnete er schneidend.
Ein Ausdruck von Schmerz und noch etwas anderem, schwer zu Deutendem blitzte in ihren Augen auf, bevor sie die Lider senkte. Dann sagte sie mit vorgerecktem Kinn: „Aber natürlich. Ich habe ja Gerüchte gehört, der Earl of Blade sei außergewöhnlich abweisend und überkorrekt. Da muss es Sie ja schon schockieren, wenn eine Dame ganz für sich allein im Herrensitz über Land reitet. Was müssen Sie für ein ödes Leben führen.“ Erschrocken über ihre eigenen Worte blickte sie ihn an.
Da wurde Tobias klar, dass sie nicht beabsichtigt hatte, so offen zu sprechen. Daher war er weder beleidigt noch wütend, sondern fasziniert.
Warum zog sie ihn so an? Er verspürte den plötzlichen Drang, sie in die Arme zu nehmen und ihr empörtes Gesicht mit den Katzenaugen zu küssen. Dieser Wunsch sah ihm so wenig ähnlich, dass es ihm für einige Sekunden die Sprache verschlug. „Ich vermute, Sie sind Lady Olivia“, sagte er schließlich, ohne sich seine Gefühle anmerken zu lassen.
Sie blickte ihn skeptisch an. „Ja. Mir war nicht klar, dass Sie an meiner Anwesenheit in Grangeville Park interessiert sind, Mylord.“
„Meine Mutter hat mir vor einigen Wochen geschrieben, dass Sie eine gewisse Zeit in unserem Haus verbringen wollen. Unsere Begegnung heute hat mir gezeigt, dass Sie eine junge Dame sind, die dringend etwas gesellschaftlichen Schliff benötigt.“
Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, wurde geradezu mörderisch. Dann setzte sie ein verkniffenes Lächeln auf und sagte: „Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es mir ein Vergnügen war, Mylord. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, ich muss mich frisch machen, bevor Ihre Mutter von ihrem Besuch bei der Duchess of Wolverton zurückkehrt.“
Sie wendete ihr Pferd, wobei sie seinen riesigen Hengst ein wenig beiseite drängte, und ritt mit einer solchen Anmut und Grazie davon, dass er dem kleinen Wildfang wie gebannt nachblickte.
Großer Gott.
Hinter ihr ertönte Hufschlag, doch Livvie drehte sich bewusst nicht um, weil ihr das alles so peinlich war. Dieser schreckliche Mensch. Warum musste er auch einen Tag früher zurückkehren? Als dem Earl of Blade gehörte ihm natürlich das ansehnliche und schön gelegene Anwesen Grangeville Park, dennoch hätte der verflixte Mann den Dienstboten Bescheid geben können, bevor er aus London eintraf.
Wenn sie es gewusst hätte, wäre sie nie auf die Idee gekommen, sich einen seiner stärksten und feurigsten Hengste für einen Ausritt auszuleihen. Doch nach all den Wochen, in denen sie drinnen eingesperrt gewesen war und bis zum Überdruss Benimmunterricht genossen hatte, musste sie sich einfach ein paar Stunden Freiheit gönnen. Es gab so viele Regeln zu lernen und so viele Fehler, die man machen konnte. Eine Dame musste in der Kunst der höflichen Konversation bewandert sein, sich mit Eleganz und Anmut bewegen und ihren Tee unter Beachtung der äußeren Form zu sich nehmen. Selbst Lächeln war eine Kunst, die beherrscht sein wollte. Mehr als einmal hatte die Countess geringschätzig bemerkt, dass Livvie nicht alle Zähne zeigen sollte, wenn sie lächelte. Das gehörte sich einfach nicht.
Die verwitwete Countess war einst eine schöne Frau gewesen, doch sie war nicht gut gealtert. Ihre von Natur aus schlanke Gestalt war eckig geworden, anstatt mit zunehmendem Alter Rundungen zu entwickeln. Ihr eisengraues Haar ließ ihr Gesicht noch farbloser wirken, zumal sie sich weigerte, ihren Wangen mit Rouge ein wenig Farbe zu verleihen. Und die tiefen Falten, die sich in ihr Gesicht eingegraben hatten, zeugten von einer unglücklichen und streitsüchtigen Veranlagung.
Livvie hatte sich immer Sorgen gemacht, ob sie jemals den Ansprüchen ihrer Mutter und ihres Stiefvaters würde genügen können. Dabei war sie nicht einmal sicher, ob sie diese hochgesteckten Ziele überhaupt erreichen wollte. Doch die meisten, wenn auch nicht alle Männer der High Society würden Lord Blade ähnlich kritisch betrachten. Er war ausgesprochen unverschämt gewesen, während sie nichts getan hatte, womit sie seine Vorwürfe verdient hätte.
Ob er seiner Mutter wohl von ihrem Treffen erzählte? Wenn die Countess erfuhr, dass Livvie im Herrensitz geritten war, würde sie ihr ordentlich die Meinung sagen. An Livvies erstem Tag war die Countess beinahe in Ohnmacht gefallen, als sie hörte, dass die junge Frau angeln gegangen war. Livvie war ratlos gewesen, hatte jedoch rasch erkannt, dass sie sich an die üblichen Benimmregeln halten musste, um weitere Schwächeanfälle und hysterische Ausbrüche der Countess zu vermeiden. Es war alles sehr anstrengend, und sie freute sich schon auf ihre Zeit in der Stadt, und sei es auch nur, um den endlosen Belehrungen und Gängeleien zu entkommen.
„Bleib immer so, wie du bist, Livvie.“
„Das werde ich, Papa“, flüsterte sie und trieb den Hengst noch weiter an.
Der Earl überholte sie, und mit Bewunderung nahm sie die Mühelosigkeit seines Reitstils und die beherrschte Kraft seiner Bewegungen zur Kenntnis. Er brachte sein Pferd quer auf dem Weg zum Stehen und zwang sie so zum Anhalten.
„Ja?“, fragte sie mit einem leichten Zittern in der Stimme. Er durfte nicht merken, dass er sie aus der Fassung gebracht hatte.
Als sie sein leichtes Lächeln bemerkte, wandte sie den Blick ab. Der Earl trug ein weißes Hemd, eine dunkle Hose und dazu kniehohe Reitstiefel. Doch schockierenderweise hatte er auf ein Halstuch verzichtet, sodass sie am offenstehenden Kragen seinen kräftigen Hals sehen konnte. Sie musste zugeben, dass er ein sehr gut aussehender Mann war. Er besaß die leuchtend smaragdgrünen Augen, die offensichtlich allen männlichen Mitgliedern der Familie Blade zu eigen waren. Auf sämtlichen Bildern, die in der Gemäldegalerie des Herrenhauses hingen, konnte man Augen von genau dieser Färbung bewundern. Unter seinem Zylinderhut lugte ein schwarzer Haarschopf hervor, der im modischen Coup-de-vent-Stil frisiert war. Er besaß hohe Wangenknochen, eine markante, edle Nase und volle, sinnliche Lippen. Die Feststellung ließ sie erröten.
Der Earl war ganz offensichtlich groß und muskulös und dennoch geschmeidig in seinen Bewegungen… und so arrogant. Schade, dass er nicht freundlicher war. Noch immer dachte sie mit Empörung an seine Frage, was sie denn sei.
„Ich reite mit Ihnen zurück.“
Sie blinzelte. „Vielen Dank für Ihr Angebot, aber ich brauche keinen Aufpasser.“ Es wäre wohl nicht gut, wenn man sie zusammen sähe.
Er maß sie mit einem kalten Blick. „Sie werden sich wohl mit meiner Anwesenheit abfinden müssen.“
Seine Gegenwart war fast ein wenig einschüchternd. Sie hatte erst wenige Männer vom Schlage des Earls getroffen, hinter deren geschniegelter Eleganz sich enorme Macht verbarg.
„Ich habe mir Ihr Pferd ausgeborgt, weil ich eine Weile mit meinen Gedanken allein sein wollte. Und Ihre Gegenwart würde… diese ersehnte Einsamkeit stören.“
Der durchdringende Blick der strahlend grünen Augen ließ ihren Puls schneller gehen.
„Aha, das erklärt ja Ihren Leichtsinn“, murmelte er bissig.
Um dem Starren des Earls zu entgehen, blickte Livvie zur Seite. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch nie so unbehaglich gefühlt. „Ich vermute, Sie finden meine Erklärung nicht zufriedenstellend.“
„Sie vermuten richtig.“
Auf Haltung bedacht erwiderte Livvie in gleichmütigem Ton: „Ich wollte noch eine Runde reiten und dann zum Haus zurückkehren.“
Mit einem Brummen lenkte er sein Pferd neben das ihre. Während sie Seite an Seite dahinritten, überlegte Livvie, ob sie versuchen sollte, Konversation zu machen. Sie wünschte verzweifelt, dass ihre Frisur sich während des Rittes nicht aufgelöst hätte und sie nicht in den Matsch gefallen wäre. Wie entsetzlich undamenhaft und zerzaust sie wirken musste.
„In ihrem Brief bat mich meine Mutter nach Hause zu kommen und Ihnen bei Ihren Tanzstunden behilflich zu sein.“
„Wie bitte?“
„Anscheinend haben bereits zwei Tanzlehrer aufgegeben, weil Sie sich so furchtbar angestellt haben.“
Sie keuchte empört. „Ich habe mich nicht furchtbar angestellt“, murmelte sie zutiefst beschämt. „Es war nicht nett von der Countess, so etwas zu sagen.“ Sie ärgerte sich, weil ihr Tränen in die Augen stiegen. Worüber hatte sich die Countess sonst noch beklagt? Livvie war der Meinung gewesen, sie hätte ihre Sache gut gemacht. Noch nie zuvor hatte sie einen Tanzlehrer gehabt, und auf einem Mädchenpensionat war sie auch nicht gewesen, daher war sie auf dem Parkett nicht ganz so gewandt, wie sie hätte sein sollen. Die einzigen Gelegenheiten, bei denen sie sich anmutig und geschickt fühlte, waren beim Reiten oder Fechten.
„Habe ich Ihre Gefühle verletzt?“, fragte der Earl nur.
„Natürlich nicht.“
„Da bin ich aber erleichtert. Ihre Augen sind ein wenig gerötet, und ich könnte Ihre Tränen nicht ertragen“, erwiderte er spöttisch.
Sie biss die Zähne zusammen und wünschte, sie hätte sich seine gefühllose Kritik an ihren Fähigkeiten nicht so zu Herzen genommen.
„Sie beleidigen mich, wenn Sie andeuten, ich würde hysterisch, nur weil Sie wissen, dass ich eine schlechte Tänzerin bin“, bemerkte Livvie leichthin, ohne sich ihr Unbehagen anmerken zu lassen. Wegen des boshaften Geredes über ihren Vater hatte sie sich ein dickes Fell zugelegt, und sie würde niemals einen Mann, den sie gerade erst kennengelernt hatte, hinter ihren Schutzschild blicken lassen.
Er stieß ein kehliges Brummen aus. „Das ist ja etwas Rares, eine Dame, die ihre Gefühle im Griff hat. So etwas ist mir noch nie vorgekommen.“
Er ist unerträglich.
„Ach ja, ich bin also unerträglich?“, sagte er leise, und ihr wurde klar, dass sie laut gedacht hatte.
Ihre Wangen brannten. „Ich werde mich nicht entschuldigen, wenn Sie sich weiter so abscheulich benehmen.“
Zu ihrer Überraschung lächelte er. „Sollen wir noch eine Runde reiten?“, fragte er, als hätte er ihren Ausbruch nicht gehört.
Ihr krampfte sich der Magen zusammen. „Wollen Sie wirklich mit mir reiten, Mylord?“
„Ja.“
Er beugte sich zu ihr hinüber und strich ganz zart mit dem Daumen über ihre Wange.
Erschrocken zuckte sie zurück. „Mylord! Sie vergessen sich!“
Er schien selbst überrascht, dann wurde seine Miene wieder unnahbar. „Sie haben da einen Fleck auf Ihrer Wange… und am Kinn. Er ist blau.“
Oh, wie peinlich. „Das ist Farbe. Und fassen Sie mich bitte nicht an.“
Ein flüchtiges Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Selbstverständlich. Verzeihen Sie meinen Ausrutscher, Lady Olivia, es soll gewiss nicht wieder vorkommen.“
Sein Oberschenkel streifte ihren, als sie nebeneinanderher ritten. Die Berührung war ihr nur allzu bewusst, und in der aufsteigenden Hitze begannen ihre Brüste zu kribbeln. Die Reaktion ihres Körpers brachte sie völlig aus der Fassung. Noch nie hatte ein Mann solche Gefühle in ihr geweckt, und sie wusste nicht, wie ihr geschah.
Die Seelenruhe, die sich auf einem Ausritt normalerweise bei ihr einstellte, war dahin. Krampfhaft umklammerte sie die Zügel und wünschte sich weit fort. Unwillkürlich trieb sie ihr Pferd an, doch Lord Blade beugte sich herüber, griff in die Zügel und brachte ihr Pferd erneut zum Stehen. Dabei fuhr sein Daumen wie zufällig über die empfindliche Unterseite ihres Handgelenks. Es war nur ein gewagtes kleines Streicheln, doch ihr Herz machte einen befremdlichen Sprung.
Sofort zog er die Hand zurück, als hätte er sich an ihr verbrannt. Er starrte sie an, und seine Miene wurde so abweisend, dass ihr Mund plötzlich wie ausgetrocknet schien. Dann tippte er ganz leicht an seinen Hut. „Guten Tag, Lady Olivia. Ich werde Sie jetzt Ihren Ausritt ungestört genießen lassen.“
Als sie nickte, wendete er sein Pferd. „Lord Blade?“
Er verharrte. „Ja?“, fragte er, ohne sich umzuwenden.
„Würden Sie wohl unser Zusammentreffen vertraulich behandeln? Ihre Mutter wäre sehr ungehalten, wenn sie wüsste, dass ich Arius aus dem Stall geholt habe.“ Seine Mutter war eine aufbrausende Frau, und Livvie hielt es für das Beste, sie nicht zu reizen.
„Ein Geheimnis“, erwiderte er in übertriebenem Verschwörerton.
Sie runzelte die Stirn. „Also… ja, ein Geheimnis, wenn Sie so wollen.“
Er warf einen Blick über die Schulter und sah sie an. Mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln spornte er sein Pferd an und galoppierte ohne eine Antwort davon. Plötzlich fühlte sich Livvie sehr alleine und erkannte, dass von dem Mann eine überraschende Faszination ausging. Schön dumm, dachte sie, derartige Gefühle für einen Mann wie ihn zu hegen, der sich niemals für eine Dame wie sie interessieren würde. Und außerdem war ihr bestimmt nicht an der Gunst eines Mannes gelegen, der es lächerlich fand, dass sie sich einen Ausritt gönnte.
Seit ihrer Ankunft in Grangeville Park hatte sich ihre Abneigung gegen eine Ehe allmählich gelegt. Ihr war klar geworden, dass sie im Grunde Angst davor hatte, dass kein Mann sie um ihrer selbst willen begehren könnte… und dass man sie zu einem Leben zwingen würde, in dem sie ihre Persönlichkeit nicht würde ausdrücken können, ohne gesellschaftliche Ablehnung zu riskieren. Doch welche Art von Leben sie sich auch erträumte, ihr war durchaus bewusst, dass sie ihre Familie nicht durch Malen allein über Wasser halten konnte. Zumindest nicht auf einem Niveau, an das ihre Mutter und Schwester gewöhnt waren.
Andererseits konnte sie sich ein Leben ohne die wunderbare Freiheit, die sie jetzt genoss, kaum vorstellen. Doch es war ja keineswegs sicher, dass ein Ehemann ihre Freiheit zwangsläufig einschränken würde. Wenn sie schon heiraten musste, und tief im Herzen war sie von der Notwendigkeit überzeugt, dann sollte es unbedingt ein umgänglicher, charmanter Mann sein, der alles an ihr mochte und ein Einkommen von mindestens zehntausend Pfund im Jahr besaß. Das würde ihre Mutter zufriedenstellen.
Vor Livvies innerem Auge erschien wieder die hoffnungsvolle, gespannte Miene ihrer Mutter. Sie musste es – was immer es auch sein mochte – zumindest versuchen. Es war ihre Pflicht, dafür zu sorgen, dass ihre Mutter nie wieder in eine aussichtslose Lage geriet. Ihr selbst hatte das Dasein als verarmte Adlige nicht viel ausgemacht, doch ihre Mutter war zu zart und sensibel, um ein derartiges Dasein noch einmal zu ertragen.
Mit einer resignierten Grimasse gestand sich Livvie ein, dass sie wirklich eine gute Partie machen musste. Wenn ihr nur bei dem bloßen Gedanken an eine Heirat nicht so flau im Magen geworden wäre.