Leseprobe Die Agentur

1

Gerade zur Kriminalkommissarin befördert, kämpfte sie sich durch die Menschenmenge in Richtung des durchschimmernden gestreiften Polizeiabsperrbandes. Immer wieder wurde sie von stiernackigen Rambos angerempelt, die selbst sie mit ihrer stolzen Körpergröße von eins fünfundachtzig deutlich überragten. Wenn sie sich zu ihr umdrehten, wechselten deren Mienen umgehend von angewidert zu aggressiv. Manche zeigten den angeekelten Blick von Menschen, auf deren Arm sich eine Stechmücke niedergelassen hatte.

Amal hatte keine Angst vor diesem Gesocks. Sie wusste, wie man solche Typen umhaute. Aber ihren ersten Arbeitstag in Dresden wollte sie nicht mit einer Schlägerei starten.

Erster Arbeitstag war gut. Eigentlich begann ihr Dienst am nächsten Morgen. Der Polizeichef persönlich hatte sie angerufen und aufgefordert, an den Tatort zu eilen. Warum, hatte sie nicht verstanden. Bis eben. Jetzt dämmerte es ihr. Und machte sie wütend. Um sie herum flammten Blitzlichter auf, die sie blendeten. Alles doch nicht so schlimm in Dresden mit dem Fremdenhass, wenn schon eine langnasige Schwarzäugige mit olivfarbener Haut sich durch die geschlossenen Reihen der rechten Demonstranten wagen konnte, lautete die klare Botschaft, deren lebenden Beweis sie darstellte. Es kostete sie all ihre Kraft, nicht laut fluchend auszurasten. Wie kamen sie dazu, sie als Alibifrau auszunutzen? Sie hatte lange und hart daran gearbeitet, bei der Polizei aufgenommen zu werden. Härter, als jede Vier-Kochplatten-Blondine, von denen es so einige im Polizeidienst gab.

Sie drückte sich an Glatzköpfen und Journalisten vorbei. „Türkenfotze, Nafrischlampe“, waren die wenigen Worte, die sie aus dem Buhkonzert um sich herum heraushören konnte. „German Small Dicks“, zischte sie in die Menge zurück, was ihr einen harten Rempler in die Seite eintrug. Sie lachte nur verächtlich auf. Wenn das alles war.

Inzwischen konnte sie die ersten Uniformen hinter dem Absperrband erkennen. Ihre Anzahl war deutlich kleiner als die der Demonstranten, die sich geweigert hatten, den Platz zu räumen, nachdem bekannt geworden war, dass einer der ihren von einem der anderen abgestochen worden war. Hilflos stemmten sich die Uniformierten gegen den harten Kern der Protestler, die mit ihren kahl geschorenen Köpfen, den Springerstiefeln mit weißen Schnürsenkeln, den Lonsdale-Sweatshirts und hassverzerrtem Gesichtsausdruck eindeutig dem rechtsradikalen Milieu entstammten.

Endlich hatte Amal die Absperrung erreicht. Doch ihr Kollege hinter dem rot-weißen Band starrte sie nur verkniffen an und versuchte, sie an der Schulter zurückzuschieben. „Zurücktreten, das hier ist keine Peepshow. Gehen Sie weiter.“

Amal zückte ihren druckfrischen Kripoausweis und hielt ihn dem Polizisten direkt vor die Visage, so nah, dass der zurückwich. Seinem ersten Blick schien er nicht zu trauen, entriss ihr den Ausweis, um ihn einem Kollegen zu zeigen, der verblüfft zunächst auf das Dokument und dann auf sie starrte.

„Ist das Ihr Ernst? Oder ist das hier Versteckte Kamera?“

Genervt nahm Amal ihm das Dokument wieder ab und schlüpfte unter dem rot-weißen Band durch.

Vor sich sah sie eine schwarze Plane auf dem Boden, unter der sich ein menschlicher Körper abzeichnete. Darüber beugten sich drei Kriminaltechniker in weißen Schutzanzügen mit Kapuzen, Schuhüberziehern und Handschuhen. Einer, der sie an Körpergröße noch überragte, bewegte einen 3D-Laserscanner über die Leiche, von der zwei Kollegen gerade vorsichtig die Plane zogen und als Abschirmung gegen die Masse hochhielten. Was nicht gelang. Ein anderer Techniker fing mit einer Sphärenkamera, die 360°-Bilder erstellte, die Umgebung ein. Später würden sie mithilfe der Daten ein Modell des Tatortes am Rechner erstellen, der virtuell betreten werden konnte. Amal war fasziniert. So etwas hatte sie bisher nur in einem Informationsfilm an der Polizeihochschule gesehen.

Andere waren ebenfalls beeindruckt. Ein Blitzlichtgewitter aus bläulichen Handylichtern flammte auf. Herbeieilende Polizisten versuchten, die Sicht auf das Opfer als lebender Blickschutz zu verstellen. Es gelang ihnen nicht.

Hinter den Technikern warteten zwei zivil gekleidete Männer neben einem kleinen Schwarzen mit mandelförmigen Augen und schwarzem Haar. Sein weißer Schutzanzug trug die Aufschrift „Gerichtsmedizin“.

Sie ging auf die Gruppe zu und versuchte zu enträtseln, wer ihr zukünftiger Kollege Schmitt sein könnte, bei dem sie sich melden sollte. Ein älterer Mann mit vollem, silbergrauem Haar, das akkurat links gescheitelt und zurückgekämmt war, richtete sich auf und warf einen strengen Blick in die Runde. Der deutlich jüngere Mann neben ihm schaute verkniffen drein, was seine ansonsten hübschen Gesichtszüge hässlich verzerrte. Seine Kluft war äußerst retro. Unter einem sandfarbenen Jackett aus gecrashtem Leinenstoff brachte das hautenge schwarze T-Shirt die Brustmuskeln gekonnt zur Geltung. Abgerundet wurde das Ensemble durch eine eng geschnittene Jeans und Sneakers, die gekonnt nicht geschnürt waren. Irgendwie erinnerte sie der Typ an eine Fernsehserie aus den Achtzigern des letzten Jahrhunderts. Wie hieß die noch? Ach ja, Miami Vice. Nur seine streichholzkurzen Haare, die mittig zu einer Spitze hochgegelt waren, wichen von seinem Vorbild ab.

Der Asiate, auf dessen Stirn dank des Schutzanzuges und der Hitze Schweißperlen standen, entfernte sich gerade in Richtung eines grünen Transporters.

Sie wandte sich an den Miami-Vice-Verschnitt. „Herr Schmitt, ich bin Amal el Ahmar, Ihre neue Kollegin.“

Der zog empört die Nase hoch.

„Strömer, Erster Kriminalhauptkommissar Bernd Strömer. Ihr Vorgesetzter, nicht Kollege, klar? Herr Schmitt“, er warf einen herablassenden Blick auf den Grauhaarigen neben sich, „ist Ihr Kollege.“ Dabei schaute er genervt zu ihr hoch. Amal überragte ihn um gute fünfzehn Zentimeter.

„Und bevor Sie hier irgendwas machen, ziehen Sie sofort diese Mütze, oder was sonst das sein soll, aus“, herrschte Strömer sie an. „Haben wohl noch nie was von der Sächsischen Polizeidienstkleidungsverordnung gehört, oder was?“, nörgelte er hinterher.

Nun war es an Amal, genervt zu sein. Es widerstrebte ihr zutiefst, ihren Kopftuchkompromiss von den Haaren zu ziehen. Doch ein Blick in die aufgebrachte Menschenmasse bewies ihr, dass dies nicht der richtige Moment für Diskussionen über ihre Kopfbekleidung war. Widerstrebend zog sie ihre überdimensionale Light Beanie von ihren zum Pferdeschwanz zusammengebundenen, rabenschwarzen Haaren, die, einmal freigelassen, wasserfallähnlich bis zu ihrer Hüfte herabfielen.

„Wenn’s denn der Wahrheitsfindung dient …“

Strömer schaute sie verdutzt an, doch ihr neuer Kollege Schmitt mühte sich vergeblich, ein Grinsen zu unterdrücken.

„Dann legen Sie mal los, Sie Schlaumeierin. Mal sehen, was Sie außer dummen Sprüchen noch so draufhaben.“ Damit wandte sich Strömer von ihnen ab und marschierte auf einen gelben Audi TT zu.

Amal holte tief Luft. Das konnte ja heiter werden, wenn die Kollegen in der Dienststelle alle so waren.

Schmitt starrte sie an. „Was haben die sich denn bloß dabei gedacht“, murmelte er kopfschüttelnd.

„Haben Sie ein Problem mit mir?“, fauchte Amal. Sie hatte dermaßen die Nase davon voll, wegen ihres Aussehens angemacht zu werden, da kam ihr Schmitt gerade recht. Sie wusste, dass jeder in ihr sofort die Migrantin erkannte, die als Vorzeigeintegrierte nach Bedarf auf allen Kanälen vorgeführt wurde.

„Ich nicht, aber haben Sie sich mal umgesehen? Die haben nicht nur nichts auf dem Kopf, sondern wie ich fürchte, auch nichts darin“, erwiderte Schmitt und wies auf die grölende Masse außerhalb des Polizeibandes. „Und woher kennen Sie diesen uralten Spruch von Fritz Teufel?“

Wissen Sie was? Ich bin nicht nur die Quotenexotin bei der Kripo Dresden, ich lese sogar ab und an ein Buch oder schaue eine Dokumentation auf Arte. Kaum zu glauben, was? Da bekommt man so was mit – auch als muslimische Alibipolizistin. Offenbar braucht ihr hier eine wie mich dringend, um beweisen zu können, dass ihr gar nicht so schlimm seid, stimmt’s?“

„Hohoho, nun mal halblang“, sagte Schmitt im beschwichtigenden Tonfall. „Wer ist ihr? WIR, meine geschätzte Frau Kollegin, haben ein gemeinsames Problem.“ Er zeigte auf den Toten. „Das müssen wir gemeinsam lösen, jedenfalls soweit es in unseren Kompetenzbereich fällt, richtig?“

Amal nickte betreten. Oh Mann. Gleich mit ihrem ersten Auftritt hatte sie es sich mit ihrem neuen Vorgesetzten verscherzt und von ihrem Kollegen einen verdienten Einlauf verpasst bekommen. Herzlichen Glückwunsch zum gelungenen Einstand und willkommen in Dresden. Warum konnte sie nicht mal für fünf Minuten die Klappe halten?

„Wenn Sie sich etwas beruhigt haben, können WIR vielleicht gemeinsam anfangen, uns dem Fall zu widmen.“ Schmitt wies erneut auf die Leiche. Die KTU hatte ihre Arbeit beendet und den Leichnam wieder bedeckt. Vorsichtig zog er die Plane etwas zur Seite, sodass sie einen toten alten Mann mit schmerzverzerrtem Gesicht erkennen konnte. Sein vormals weißes Hemd war unter der Krawatte aufgeschnitten. Es war rot verfärbt von dem vielen Blut, das aus einer langen Wunde, die sich vom Bauchnabel bis zum Hals hochzog, geflossen sein musste. Kein Wunder, dass der Gesichtsausdruck so leidend aussah. Der Schnitt musste höllische Schmerzen verursacht und den Täter mächtig Kraft gekostet haben. So einfach war es nicht, einen Brustkorb aufzuschlitzen. Sie schüttelte den Kopf.

„Bei dem Opfer handelt es sich laut seinen Ausweispapieren um Hermann Finck.“

„Weiß man schon etwas über den Tatablauf?“, fragte Amal.

„Wir haben Zeugenaussagen, dass er wohl wegen einer leichten Gehbehinderung von der Spitze des Demonstrationszuges zurückgefallen sei. Plötzlich sei eine Gruppe vermummter Gegendemonstranten aufgetaucht. Eine Handvoll. Klein, groß, dick, dünn. Aber alle mit Sturmhauben. Finck sei plötzlich zusammengesackt, wie eine Zeugin berichtete. Einer von den Vermummten soll ihn nach ihrer Aussage aufgefangen haben, als er stürzte. Die Zeugin nahm an, der alte Mann habe einen Herzinfarkt erlitten. Der Vermummte soll Finck einen Moment gehalten, dann aber einfach fallen gelassen haben und weggerannt sein. Daraufhin hat sie sich zu Finck durchgearbeitet, um ihm zu helfen. Sie entdeckte auf dem weißen Hemd den Blutfleck und hat laut um Hilfe gerufen. Das ist alles, was wir bisher haben.“

„Der fängt ihn auf und sticht ihn dann ab? Merkwürdig.“

„Zwischen Himmel und Hölle lauern eine Menge Merkwürdigkeiten, gerade in unserem Berufsstand“, antwortete Schmitt.

Oh Mann, dachte Amal. Sprach der immer so gestelzt? „Mag sein. Das ist aber nicht der Punkt, auf den ich hinauswollte. Könnte es nicht genau andersherum gewesen sein? Der Vermummte bringt Finck vorsätzlich zu Fall, hilft ihm aber nur, um ihn packen und in Position bringen zu können, um ihn dann abzustechen?“

„Das finden Sie weniger merkwürdig?“, fragte Schmitt mit hochgezogenen Augenbrauen. „Bei dem von der Zeugin beobachteten Ablauf könnte man wenigstens noch die Idee entwickeln, dass sich der Vermummte, als Finck auf ihn stürzte, angegriffen fühlte und auf ihn in einer Art Notwehrexzess einstach. Bei Ihrer Variante handelt es sich um heimtückischen Mord.“

Schmitt ließ Amal keine Gelegenheit, zu antworten. Er drehte sich weg, um, wie es schien, die Gerichtsmediziner zu beobachten, die die Leiche auf eine Bahre hievten. Der Asiate, der inzwischen bei den Kriminaltechnikern stand, wies aufgeregt seine Mitarbeiter an, vorsichtig zu sein. Als ob der Tote etwas spüren könnte. Schmitt wandte sich ihr wieder zu.

„Vielleicht könnten Sie so freundlich sein, die Augenzeugen für morgen früh ins Präsidium einzubestellen.“ Ihr Kollege wies auf eine Gruppe von Männern und Frauen, die von drei uniformierten Polizeibeamten am Verlassen des Platzes gehindert wurden.

„Wieso? Ich meine, ich …“ Die Worte waren ihr entschlüpft, noch bevor sie sich bremsen konnte.

Schmitt starrte sie mit gerunzelter Stirn an. „Wieso nicht Sie?“

„Ich dachte …“

„Frau … Entschuldigung, wie war doch gleich Ihr Name?“

„Amal el Ahmar“

„Also, Frau Amal el Ahmar, unsere gute Aufklärungsquote resultiert nicht aus internen Zuständigkeitsdebatten, sondern funktionierender Teamarbeit.“

„Nein. Ich meine, ja. Ich dachte nur, wir nehmen die Zeugen gleich mit und befragen sie sofort.“

„Die Aufnahme der Personalien und Erstbefragung hat schon stattgefunden, gleich nachdem wir hier eingetroffen sind. Weicht unsere Vorgehensweise von der von Ihnen erlernten ab? Ich lerne gerne dazu.“

„Bin … bin schon unterwegs“, stammelte Amal betreten und setzte sich in Bewegung. Wieder ins Fettnäpfchen getreten. Sie brach gerade ihren persönlichen Rekord.

Die Zeugengruppe tobte bereits vor ihrer Ankunft. Vereinzelt brüllten sie gemeinsam mit ihren Mitstreitern außerhalb des abgegrenzten Bereiches „Polizeistaat, lasst uns hier raus“ und das unvermeidliche „Wir sind das Volk“. Ihr seid knapp fünf, dachte Amal, und nicht zweiundachtzig Millionen. Woher hatten die nur das Selbstbewusstsein, sich als Verkünder aller berufen zu fühlen?

Als Amal sich dem Volk näherte und ihren Notizblock zückte, war es gänzlich vorbei.

„Was will diese Terrorislamistin von uns? So weit ist es schon gekommen. Haben die schon die Macht übernommen?“, beschwerten sie sich bei den Polizisten, die ebenfalls baff den Kopf schüttelten.

Amal konnten sie damit nicht erschüttern. Dazu hatte sie in ihrem bisherigen Leben zu heftig einstecken müssen. So massiv, dass sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr heimlich Kampfsport trainiert hatte, bis ihre selbstgefälligen Brüder sich nicht mehr trauten, ihr etwas vorschreiben zu wollen. Und sie sich nicht mehr auf der Schultoilette verstecken musste, bis der Gong das Pausenende ankündigte. Jede von diesen zeternden Pfeifen könnte sie mit einem gezielten Mawashi geri flachlegen. Das gab ihr das erforderliche Selbstvertrauen, Ruhe zu bewahren. Auch wenn sie angepöbelt wurde. Gerade wenn sie angepöbelt wurde. Die harte Schule machte sich bezahlt.

Amal näherte sich mit einem scheinheiligen Lächeln einem mittelgroßen, besonders lauten Schreihals. So nah, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Dazu musste sie sich nach unten beugen, sonst hätte sich die Nase des Pöblers auf Höhe ihres Kinns befunden. Sie hörte ein Luftschnappen aus der Richtung der Polizisten. Als sie aus den Augenwinkeln sah, dass einer von ihnen einschreiten wollte, hielt sie ihn mit der ausgestreckten rechten Hand zurück.

„Haben Sie ein Problem mit mir?“, hauchte sie dem Pöbler zu, während sie so nahe an ihn heranrückte, dass höchstens noch das Titelblatt der Dresdner Morgenpost zwischen sie gepasst hätte.

Um sie herum wurde es ganz still. Ihr Gegenüber hielt die Nähe, wie erwartet, nur zehn Sekunden aus, bevor er einen großen Schritt zurückwich und den Kopf schüttelte.

„Dann ist ja gut“, setzte sie lauter hinzu, „Fangen wir gleich mit Ihnen an. Sie heißen?“

„Volker Krawczyk.“

„Aha, typischer deutscher Nachname, nicht?“, raunte Amal ihm zu. Noch bevor Krawczyk sich entrüsten konnte, fügte sie laut und deutlich hinzu: „Wir erwarten Sie morgen früh pünktlich um neun im Polizeipräsidium. Lassen Sie sich von meinen Kollegen die genaue Adresse geben, falls Sie nicht wissen sollten, wo die echten Ordnungshüter zu finden sind. So, und jetzt noch mal von vorne und ordentlich der Reihe nach …“

Nachdem sie sich alle Namen notiert und Termine, einem Halbstunden-Takt folgend, vergeben hatte, suchte sie Schmitt, der sich zu ihrer Verblüffung wenige Schritte hinter ihr befand.

„Machen Sie das immer so?“, fragte der mit bis unter seine Stirnhaare hochgezogenen Augenbrauen.

„Wenn’s denn der Terminvereinbarung dient …“

2

Die Hundstage im vorgerückten Sommer erforderten eine Meerschaumpfeife. Ihm war nach der Rattray White Goddess Billiard Smooth Silver. Den Zwischenring aus Sterlingsilber zwischen Kopf und Mundstück hatte er unlängst poliert. Überhaupt gab es Dinge, die gehörten sich nicht. Man ging nicht mit ungekämmtem Haar, Schmutzrändern unter den Fingernägeln und ungeputzten Schuhen aus dem Haus. Eine gereinigte Pfeife trug zur Abrundung eines gepflegten Gesamteindrucks unbedingt bei, auf den er Wert legte. Diese seine Mühe galt nicht den Mördern und Totschlägern, mit denen er es täglich zu tun hatte, sondern den Opfern und ihren Angehörigen. Schmitt hasste es, nachlässiges Äußeres mit dem Label Casual zu etikettieren. Auch dem Trend, die deutsche Sprache auf fünfhundert Wörter zu verknappen und das als Vereinfachung der Verständigung zu verkaufen, widersetzte er sich hartnäckig.

Ob es sich noch lohnte, die Pfeife zu stopfen? Nicht zu fest und nicht zu lose. Genauso führte Schmitt seine Ermittlungen. Und die konnten im aktuellen Fall heiter werden.

Er hatte gehofft, dass nach dem Querschläger, der die Planstelle für seine neue Kollegin außerplanmäßig hatte frei werden lassen, die persönlichen Katastrophen eine Pause einlegen würden. Weit gefehlt. Nun hatte er ein ungestümes Temperamentsbündel an seiner Seite, dessen Zuverlässigkeit vorsorglich zu bezweifeln womöglich lebensrettend sein konnte. Ein bewaffnetes, ungestümes Temperamentsbündel mit Kopftuch, um genau zu sein. Kopftuchersatz, um ganz genau zu sein. Und darunter ein Durcheinander.

Schmitt schloss die Augen und seufzte. Seine Erinnerung hatte das Bild des Irrwisches vor ihm aufgebaut: Amal el Sowienoch, zu groß, zu vorlaut, zu temperamentvoll. Von vielem zu viel und einigem zu wenig, wie Augenmaß und Erfahrung. Letzteres konnte er ihr nicht vorwerfen, aber sich bedauern, dass er in nächster Nähe stehen würde, wenn sie künftig Erfahrungen sammelte. Vermutlich sollte Amal el Wieauchimmer die Entschuldigung des weltoffenen Dresdens an den Globus für die selbst ernannten Retter des Abendlandes sein, die Schmitt so nötig fand wie Hundescheiße unter dem Schuh.

Ob aber Symbolpolitik half, dem Problem Herr zu werden? Er hatte seine Zweifel. Feuer bekämpfte man nicht, indem man Holz nachlegte. Die Besetzung der Stelle mit einer Deutschen mit Migrationshintergrund mochte ja an sich ein versöhnliches Zeichen dafür sein, dass der Freistaat nicht im Innersten faulte. Trotzdem hätte man bei der Auswahl etwas mehr Augenmerk auf die persönliche Eignung und Reife legen sollen. Wenn nun weder die eine noch die andere Seite hierüber verfügten, wie anders als unerfreulich sollte das Ergebnis einer Konfrontation aussehen?

Schmitt vermisste Jan van Kalkreuth, seinen im Dienst von dem Querschläger getroffenen und gefallenen Freund und Kollegen. Sagte man so auch bei Polizisten? Oder war der Kampf gegen das Verbrechen kein Feld der Ehre?

Er schaute auf seine Armbanduhr. Zehn vor sieben. Er hatte wieder die Zeit vertändelt. Es wurde knapp, wenn er die Tram erreichen wollte. Von seiner Altbauwohnung im Hechtviertel musste er mindestens zehn Minuten Fußweg bis zur Haltestelle einplanen. Also sputete Schmitt sich.

Pünktlich um 7:08 Uhr setzte sich die Tram in Bewegung und chauffierte ihn in acht Minuten über die Carolabrücke zur Neuen Synagoge am Altstadtufer der Elbe. Zu Fuß erreichte Schmitt schon bald das Polizeipräsidium in der Schießgasse.

Seine Pupillen weiteten sich, als er seine neue Kollegin am Portal erspähte. Überpünktlich und wieder mit Kopftuchersatz schien sie ihn zu erwarten, was das Stoppen ihres nervösen Trippelns verriet, als sie ihn entdeckte.

Schmitt verbuchte ihre Pünktlichkeit auf der Haben-Seite und rang sich ein Lächeln ab. „Guten Morgen, Frau Kollegin. Darf ich Sie zu Ihrem neuen Arbeitsplatz geleiten und mit den weiteren Kollegen bekannt machen?“

Sie nickte bloß.

„Ich glaube nicht, dass der Mörder aus der autonomen Szene stammt.“ Die Neue, deren Namen Schmitt beim besten Willen aus der Erinnerung nicht mehr zusammenpuzzeln konnte, sparte sich jede Form der Höflichkeit. Stattdessen überfiel sie ihn mit Glaubensbekenntnissen. Ihm schwante für die Zusammenarbeit nichts Gutes.

„Sie sind ja flink. Lassen Sie mich doch bitte an Ihrer Assoziationskette teilhaben, die Sie veranlasst, einen linksextremistischen Hintergrund bereits in diesem frühen Stadium der Ermittlungen auszuschließen.“ Schmitt gab sich Mühe, einen interessierten Gesichtsausdruck aufzusetzen, während er ihr die Tür aufhielt.

„Das Opfer passt nicht ins Schema. Die schnappen sich doch sonst nur Rechte, die irgendwie bekannt sind, weil sie entweder irgendeinen Posten in einer rechtsextremen Partei haben oder medienwirksam strammrechte Themen vertreten. Die Kleidung alleine ist doch kein Beweis.“

„Und wer hat das behauptet?“

 

Die Reaktionen der Kollegen auf den Neuzugang hätten unterschiedlicher nicht ausfallen können. Von überschwänglich kumpelhaft über reserviert freundlich bis hin zu abweisend förmlich war beinahe die ganze Bandbreite an menschlichen Gefühlsregungen zu verzeichnen. Nur gut, dass niemand in Tränen oder hysterisches Kreischen ausgebrochen war. Schmitt war nicht entgangen, dass dieser Amal nicht entgangen war, wie kontrovers sie im Team ankam.

Er setzte vorsichtig auf das erste Erfolgserlebnis bei der Aufklärung des neuen Falles. Erfolg war immer eine gute Weichenstellung auf dem Weg zur Akzeptanz. Dieser Absicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Wege stehen würde allerdings Strömer.

Den Ersten Kriminalhauptkommissar des Kommissariats 11, Dezernat 1 der Kriminalpolizeiinspektion Dresden, interessierte nur die Wahrung der internen Machtstrukturen, nicht etwa effiziente Arbeitsstrukturen. Der Typ war ein cholerisches, eitles Arschloch. Schmitt war wiederholt mit Strömer aneinandergeraten, was ihr angespanntes Verhältnis erklärte.

„Frau Kollegin, lassen Sie uns zur allmorgendlichen Lagebesprechung gehen. Anschließend wartet die Zeugenbefragung auf uns.“

Der Irrwisch blickte auf. Hinter van Kalkreuths Schreibtisch im gemeinsamen Büro wirkte sie wie ein Fremdkörper. Einer, der offenbar selbst fremdelte.

„Wollen Sie nicht Amal zu mir sagen? Dann komme ich mir nicht so …“, sie stockte, „so aschnawie vor.“

„Wie?“, fragte Schmitt reflexartig nach.

„أجنبي ist arabisch und heißt fremd.“

Ach so, ja. Klingt ja schon wie anderswie.“ Er lächelte bemüht.

Dann tippte er auf seine Armbanduhr. „Auf geht’s. Die Lagebesprechung mit unserem geschätzten Vorgesetzten, KHK Strömer, steht an. Pardon. Erster KHK Strömer.“

Die neue Kollegin zog die Augenbrauen hoch.

„Sie mögen ihn nicht?“

„Er ist ein Mensch. Ich achte seine Würde“, wich Schmitt aus, „Ich heiße übrigens vorne Harry.“

 

Strömer, heute mit zu engem Hemd über dem mit verbissenem Ehrgeiz gepflegten Sixpack, verkündete vor dem Team die Ermittlungsergebnisse. Er ging aufgrund der Zeugenaussagen von einer linksextremistischen Tat aus. Genau wie diese Amal Sowienoch prophezeit hatte. Erstaunlich.

Kommissaranwärter Rico Rieberwals und Kriminalkommissarin Bea Olschewsky nickten wie immer zustimmend, Rolf Schanze regte sich auf. „Gesindel, das ganze linke Pack. Machen nichts als Ärger.“

„Rolf, zur Sache! Du durchforstest die Kartei mit den gewaltbereiten Spinnern“, wies Strömer – gewohnt präzise, wie Schmitt fand – den von Jagdfieber erfassten Schanze an.

„Wieso legen wir uns so frühzeitig fest?“, murmelte Amal, die am hinteren Ende des Besprechungstischs neben ihm Platz genommen hatte.

„Haben Sie etwas gesagt, Frau el Ahmar?“, fragte Strömer.

„Ähm, ich, äh … Ach, nichts“, stammelte die Amal.

„Doch, doch. Reden Sie offen. Das darf man hier. Also, los“, forderte Strömer in jovialem Tonfall, der nicht zu seinem verärgerten Gesichtsausdruck passte.

„Ich meine, äh … Alleine die schwarzen T-Shirts mit der Aufschrift „REFUGEES WELCOME“ und die Sturmhauben sind doch kein Beweis dafür, dass es sich um Autonome handelt. Die kann jeder anziehen. Also, ich meine, vom Opfer zum Täter wäre ja auch ein Ansatz der Ermittlungen.“

„Sie glauben bei den Tatumständen an einen gezielten Anschlag auf unser Opfer? An Ihrem Instinkt müssen wir aber noch feilen.“

Rieberwals und Olschewsky grinsten. Schanze lachte, wie ein Schwein grunzt.

Amal rang um Beherrschung, verlor aber den Kampf. „Vielleicht ist ja nichts mit meinem Instinkt, sondern …“

Sofort und mit allen Mitteln im Keim ersticken, dachte Schmitt. „Wir sollten alle sachlich bleiben“, sagte er. „Was haben wir denn überhaupt an gesicherten Erkenntnissen bisher?“

„Der Harry macht mal wieder den Chef. Bist du aber nicht, schon vergessen? Ich sage euch …“

„Pass auf, Bernd. Ich erkenne hiermit feierlich vor allen an, dass du das am prächtigsten ausgestattete Alphamännchen der Abteilung bist. Würdest du jetzt bitte dein Wissen mit uns teilen?“

Schanze huschte ein Grinsen über das Gesicht.

„Das ist ja schön, dass du auf den Beweis verzichtest“, parierte Strömer. „Also gut. Was haben wir? Ein Opfer namens Herrmann Finck, geboren am 28.12.1942 in Dresden, Rentner, geschieden, eine Tochter namens Anuschka Carow, wohnhaft in Leipzig-Stötteritz, zweiundfünfzig Jahre alt, Hausfrau, verheiratet mit Karl-Hanns Carow. Ob die Ex unseres Opfers noch lebt und wo, wissen wir nicht. Finck wohnte bis zu seinem Tod allein in seiner Eigentumswohnung in der Königstraße 17c in der Inneren Neustadt.“ Strömer hielt inne, um in seiner Mappe zu blättern.

„Unser Finck war jedenfalls kein armer Rentner“, brachte sich Bea Olschewsky ein, vermutlich um die Pause zu füllen. „Eine Eigentumswohnung in der Inneren Neustadt. Und dann noch in der Königstraße. Kann ich gerne übernehmen, mich da umzusehen.“

Strömer blickte wieder auf. „Zur Aufgabenverteilung kommen wir gleich, Bea. Erst mal weiter im Text. Von den Kriminaltechnikern haben wir noch nicht viel. Die Tatwaffe wurde bisher nicht gefunden. Das Blut auf dem Asphalt stammt nur vom Opfer. Ansonsten gibt es Spuren wie Sand am Meer, die kaum zuzuordnen sein werden. Vielleicht findet sich Fremd-DNA an der Kleidung von Finck. Wir müssen abwarten. Es obduziert Professor Hoàng persönlich. Wer fährt hin?“

Amal starrte fragend in die Runde. Schanze beugte sich zu ihr rüber. „Herr Professor Dr. Tung Huỳnh Hoàng, Direktor vom Institut für Rechtsmedizin der Technischen Universität Dresden.“

„Ach so, der“, antwortete die Kollegin.

„Kennen Sie den etwa?“, fragte Schanze mit gerunzelter Stirn.

„Ist der Hauspathologe unseres Clans.“

„Dann können Sie, werte Kollegin, ja an der Obduktion teilnehmen. Ist doch immer von Vorteil, wenn man sich kennt“, sagte Strömer mit einem Grinsen, das zu einem Wolf gepasst hätte.

Bevor Amal reagieren konnte, flog die Tür zum Besprechungsraum auf. Leitender Oberstaatsanwalt Grandjean baute sich vor dem Team auf. Alles, was nun folgen würde, wäre wichtig. Ganz besonders wichtig. „Sie sitzen hier rum und debattieren, während sich draußen in den Onlineforen potenzielle Zeugen tummeln und zum Tathergang posten. Hier, sehen Sie!“ Er wedelte mit einem DIN-A4-Blatt herum. „Eine Zeugin schreibt, sie habe einen Schwarzen Angreifer gesehen. Sie behauptet im Chat, dass er keine Sturmhaube getragen habe. Der soll Finck niedergestochen haben. Eine andere Zeugin behauptet, der Täter habe ausgesehen wie ein Araber. Jetzt wird gemutmaßt, dass die Hamas oder der IS hinter dem Mord steckt. Islamistischer Terror in Dresden. Das können wir uns nicht leisten.“

„Scheißinternet“, zischte Strömer so leise, dass Grandjean es nicht hören konnte.

Zum ersten Mal an diesem Tag, nein, in den ganzen letzten Wochen, musste Schmitt ihm zustimmen. Mark Zuckerberg, der Züchter des Proll-Trolls und Chat-Rumpelstilzchens, zählte für ihn zu den Menschen, die er am liebsten wegen des Tatbestands der massenhaften Beihilfe zur Volksverhetzung in Tateinheit mit serieller Verleumdung, übler Nachrede und Beleidigung lebenslänglich mit anschließender Sicherheitsverwahrung in den Kerker geworfen hätte. Und die Algorithmen dazu. Die sozialen Medien waren für Schmitt das Pendant zur Atomkraft. Von hoher Spaltkraft und mit unbeherrschbarer Kettenreaktion, kurzum eine unverantwortliche Erfindung. Erkennbare Folgen waren die Zersetzung von Kommunikation und der Niedergang der Streitkultur. Hauptsache, die Gewinne sprudelten und der Börsenwert ihrer Unternehmen stieg in den Himmel, bis kein Platz mehr für Gott war. Egal, welcher. Auf den Plattformen von Zuckerberg, Musk & Co. wurde in einem fort gebesserwissert, gehänselt, gemobbt, gepöbelt, gestänkert, gekränkt, gehetzt, gelogen und noch mal gelogen. Und geschissen. Auf alles und jeden geschissen, vor allem auf die Würde des anderen. Würde war doch nur noch Konjunktiv II von werden. Schmitt hoffte, dass irgendein Salzhügel, Pfeffersack oder Mehlwurm demnächst eine Rückkopplung erfand, damit sich die ganze negative Energie blitzartig auf die Absender solcher Posts entlud und diese notorischen Rechthaberwichtel, Krawallzündler, Vorsatzwahrheitstotschläger und Hasssäer dematerialisierte. Und dieser Zuckerberg, den soll das Metaverse holen! Und das Metaverse in einem schwarzen Datenloch verschwinden!

„Sie rufen jetzt sofort eine SOKO ins Leben“, sagte Grandjean. „Noch lassen wir LKA und BKA außen vor. Schließlich wissen wir nicht, ob die Zeugenaussage nur Fake zur Meinungsmache ist. Ich sorge dafür, dass Sie personelle Unterstützung zur Auswertung der Foren bekommen. Und nun ran. Für fünfzehn Uhr habe ich eine Pressekonferenz anberaumt.“

Schmitt wusste, dass die Ermittlungen von nun an einem Griff in die Kloschüssel gleichen würden. Achtzig Prozent der Arbeitszeit würde verloren gehen, um der sogenannten kritischen Öffentlichkeit zu gefallen. Den Rest der Zeit würden sie wie Stockhandpuppen von den Usern von Splitter vorgeführt werden. Blieben wieder nur die Überstunden zur Lösung des Falles. Verdammte Scheiße! Manchmal reichten zwei der fünfhundert übrig gebliebenen Worte der deutschen Sprache.

3

„Herr Schulz, komm endlich.“ Entnervt ließ Rainer die schweißnasse Hand von Irene, seiner neuen Liebe, los. Wieso folgte der Hund nicht?

„Nun komm schon, Tölchen.“ Bei der Hitze machte es keinen Spaß, neben der Joggingstrecke, die sie heute erstmalig bis zu den Niederwarthaer Brücken ausgeweitet hatten, auch noch dem Border Collie hinterherzurennen. Rainer hatte ihn von der Leine gelassen, damit er sich in der Elbe abkühlen konnte. Dass er nicht auf seine Rufe reagierte, passte nicht zu ihm.

„Schulz, hierher.“ Wieder keine Reaktion. Nur das Bellen wurde lauter. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Hund zu holen. Verärgert spurtete Rainer durch das kniehohe Gras zum Ufer. Hinter sich hörte er Irenes Schnaufen, die nun ebenfalls nach Herrn Schulz rief. Keine Reaktion. Stattdessen verbellte er irgendwas im Unrat am Elbufer.

Gleichzeitig kamen Irene und er am Ufer an. Rainer versuchte, das Halsband von seinem Hund, der mit allen Pfoten im Wasser stand, zu fassen zu bekommen. Doch er erreichte ihn nicht. Fluchend beugte sich Rainer weiter vor, während Irene ihn an der Hand festhielt, damit er nicht ins Wasser fiel. Mit dem Oberkörper über dem Elbwasser balancierend, entdeckte er, was den Hund so aufregte. Mit einem Aufschrei warf er sich nach hinten ins Gras. Bloß nicht auf das Gesicht des Toten fallen, das ihn unter Plastikfetzen und Treibholz anstarrte.

***

Grandjean war eben erst zur Tür raus, da flog sie wieder auf. „Leichenfund“, brüllte Ludger Burgfried vom Kriminaldauerdienst. „Toter, männlich, Schwarz, angespült am linken Elbufer unterhalb der Straßenbrücke bei Niederwartha. Wer von euch fährt hin?“

„Können wir nicht brauchen“, fauchte Strömer.

„Kann niemand brauchen“, konterte Burgfried, „ist aber nun mal da. Macht das unter euch aus.“ Er zog wieder ab.

„Schmitt, el Ahmar, ihr fahrt zum Fundort der Leiche. Olschewsky, Schanze befragen die Zeugen in der Finck-Sache. Und Rico nimmt an der Obduktion teil. Die Verstärkung und ich kümmern uns um die Foren.“

„Was soll das?“, fragte Rieberwals. „Ich dachte, das soll die Neue übernehmen. Warum muss ich jetzt in die Gerichtsmedizin?“

Schmitt wusste, dass sein Kollege Probleme mit Obduktionen hatte und sie mied wie die Pest. Auch er wunderte sich über den Sinneswandel von Strömer. Nun ja, vielleicht hatte Rieberwals nicht laut genug gelacht, als es sein Vorgesetzter erwartet hatte. Nicht sein Problem. Er hatte genügend eigene.

4

22.08., sistacam.com, 19:05 Uhr

kikis_hood

Dear Hoodies, watch the video!

Eben in der Altstadt von Dresden. Wie krass ist das denn? ’n Prank, oder was? Nicht komisch. Der Typ sieht echt tot aus.

 

22.08., splitter.de (Yix.de), 22:18 Uhr

Doris Mustermann @wahrheitsschleuder

#DemoMordDresden

Schwarzer fka N***r hat weißen Rentner aufgeschlitzt, lt Zeugin. Kastratenpolizei weiß wieder von nix ???????????? Multi-kulti-Zensur von ganz oben!

 

23.08., dnr.de, 08:12 Uhr

Tödlicher Angriff bei Demo gegen Moschee in Dresden

Bei einer angemeldeten Demonstration der Partei „Fünf-vor-Zwölf für Deutschland“ gegen den geplanten Bau einer Moschee gab es einen Angriff auf den Demonstrationszug. Ein Demonstrant, Hermann F. (81), wurde getötet, als eine Gruppe schwarz gekleideter, maskierter Personen sich unter den Zug der Protestierenden mengte. „Da kam ein schwarzer Block aus dem Nichts“, berichtete die Mitdemonstrierende Gisela K. Es sei alles sehr schnell gegangen. Zeugenangaben zur Anzahl der Angreifer schwanken zwischen „eine Handvoll“ und „unter zehn“. Die Polizei erklärte, sofort eingegriffen zu haben, für Hermann F. sei jedoch jede Hilfe zu spät gekommen. Die Sprecherin des Fünf-vor-Zwölf-Landesverbandes erklärte, die Angreifer seien linksextreme Autonome gewesen, die mit Straßenterror die Meinungsfreiheit und das Demonstrationsrecht angegriffen hätten. Die Anhänger ihrer Partei sollten eingeschüchtert werden. Den Angehörigen des Opfers, ein Dresdner Rentner aus Innere Neustadt, sprach sie ihr Beileid aus. Ob die linksextreme Gruppe F. für den Angriff verantwortlich ist, konnte die Polizei bisher nicht bestätigen. „Wir kennen die Hintergründe der Tat und die Tatperson zur Stunde noch nicht.“

 

23.08., SCHILD > Regional > Dresden, 08:30 Uhr

 

81-Jähriger brutal abgeschlachtet – Überfiel die Spalthammer-Bande friedliche Demonstranten? Regiert linksextremistischer Mob die Straße?

 

23.08., Theo bloggt KLARTEXT, 12:08 Uhr

Theo Küllertz – querbeetgedanken

[…] Die Polizei kann friedlich demonstrierende Bürger nicht mehr schützen. Auf offener Straße ist man sich seines Lebens nicht mehr sicher, wenn man unbequeme Wahrheiten ausspricht und gegen die symbolische Vereinnahmung Dresdens durch den Islam demonstriert. So weit ist es schon gekommen. So weit heruntergekommen ist unser angeblicher Rechtsstaat […]

 

23.08., splitter.de (Yix.de), 15:02 Uhr

Christian Vert@chrisvert

#DemoMordDresden

Mord ist kein Mittel der politischen Auseinandersetzung. Auch politische Gegner sind zuallererst Menschen. Stoppt den Irrsinn!

***

„Können Sie fahren?“, fragte Schmitt. Ohne die Antwort abzuwarten, drückte er Amal den Autoschlüssel in die Hand und steuerte die Beifahrerseite an.

Fahrig versuchte sie, die Adresse des Fundorts in das Navigationssystem des BMW einzugeben. Mit finsterer Miene drehte sie an dem Knopf in der Mittelkonsole. Nur mühselig stellten sich die Buchstaben ein.

„Wie umständlich. Aus welchem Jahrtausend stammt diese Technik denn? Da habe ich ja schneller eine Schiefertafel beschriftet“, knurrte sie.

„Mit dem richtigen Keil ganz sicher“, antwortete Schmitt. „Lassen Sie mal das Gelumpe Gelumpe sein, Amal. Ich kenne den Weg.“

„Gelumpe? Sagt man das zu diesem antiquierten Kram?“

„Besser hätte ich es nicht formulieren können.“

Nachdem sich Amal mit dem 5er-BMW endlich durch den Verkehr und die Baustellen aus der Altstadt gequält hatte, erreichten sie die Niederwarthaer Elbbrücken in rasantem Tempo. Sie war überrascht gewesen, als Schmitt ihr die Autoschlüssel gereicht hatte. Während der Fahrt hatte er erzählt, dass er Autofahren hasste. Das traf sich bestens: Amal liebte es.

Schon von Weitem erkannte sie eine weiße Betonbrücke mit einzelnem Ständer, von dem aus Stahlseile die Elbe überspannten. Direkt daneben befand sich eine zweite Brücke, offenbar für den Zugverkehr.

Amal hatte die ganze Zeit darauf gewartet, dass Schmitt ihr wegen ihres großen Mundwerks in der Besprechung die Leviten lesen würde. Der summte jedoch leise ein Lied vor sich hin, das nur er zu kennen schien. Das verunsicherte sie völlig. Immer wieder hatte sie zu ihm herübergeschielt, doch er schaute nicht ein einziges Mal zurück. Stattdessen hatte er mit knappen Worten den Weg vorgegeben.

Was war das nur für ein Mann, von dem der süßliche Geruch von Pfeifentabak ausging und an dem alles perfekt saß? Als nonverbales Angebot für eine stressfreie Zusammenarbeit zog sie ihre Beanie vom Kopf und schüttelte die langen Haare aus, die sie wie immer zum Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Offen bekam sie die nicht unter die Mütze.

Wie anders mochte seine Geschichte sein als ihre. In Amals Familie wurde jung geheiratet, die Kinder kamen ruckzuck und zählten am Ende nicht selten ein halbes Dutzend. Es schüttelte sie, wenn sie daran dachte, dass sie nach dem Willen ihrer Brüder und Eltern längst drei Kinder hätte haben müssen.

Aber das war nur die Spitze des Eisberges, den sie in sich fühlte, wenn sie an ihre Familie dachte.

Sie kehrte aus ihren Gedanken zurück, als sie die ersten Blaulichter aufblitzen sah. Auf Schmitts Weisung waren sie hinter einem See rechter Hand vor den Brücken abgebogen und unter ihnen hindurch keine hundert Meter dahinter von uniformierten Kollegen, die die weitere Durchfahrt gesperrt hatten, angehalten worden. Die winkten sie, nachdem sie Schmitt erkannt hatten, mit einem Nicken an einem Parkplatz vorbei auf einen Fahrradweg. Dem folgten sie knappe fünfhundert Meter, bis sie dem Elbufer ganz nahe kamen.

Feuerwehrmänner in Gummilatzhosen wateten im Wasser. Ein Notarzt in weißer Hose und orangefarbener Jacke diskutierte mit zwei Tatortermittlern in weißen Schutzanzügen und lilafarbenen Gummihandschuhen.

Ein junges Paar, beide in Joggingkluft, wartete abseits, die Frau weinend in den Armen des Mannes. Vor ihnen saß ein schwarz-weißer Hund, der jaulte und an der Leine zerrte.

Die Kollegen, die zuerst am Fundort eingetroffen waren, standen nicht weniger betroffen an der Absperrung, die sie für die Spurensicherer immer wieder anhoben.

Amal spannte sich an. Das war der unangenehmste Teil ihres Jobs: wenn sie nicht wusste, was sie erwartete. Bei der Autopsie war das anders. Da war klar, wer auf der Bahre in welchem Zustand lag und was auf sie zukommen würde. Da konnten einem die Gesichtszüge nicht entgleisen. Aber hier? Offenbar wollte Strömer sie gleich durch die harte Schule der Kripoarbeit schicken. Vielleicht war das aber auch die Strafe für ihre – zugegebenermaßen – große Fresse gedacht.

Sie folgte Schmitt, der auf die Spurensicherer zuging. Im Vorbeigehen erkannte sie den Ermittler, der gestern den Tatort mit der 3D-Kamera gefilmt hatte. Schmitt grüßte in die Runde und ging weiter bis dicht an den Elbstrand. Amal folgte langsamer. Am plötzlichen Stocken ihres Kollegen merkte sie, dass das Unbekannte, das sie erwartete, heftig sein musste. Denn der Anblick schien selbst den Routinier Schmitt zu erschüttern. Seine Schultern zogen sich zusammen und er hob den Kopf ruckartig an, als wollte er Distanz aufbauen zu dem, was vor ihm lag. Reglos blieb er stehen, bis Amal neben ihn trat. Auch sie stockte, schnappte nach Luft und erstarrte. Vor ihr im seichten Wasser lag ein kleiner Junge. Ein ganz kleiner. Sie schätzte, dass er noch nicht im Schulalter war. Oder gerade eben. Seine ebenholzfarbene Haut hatte einen grauen Ton angenommen, der von Totenflecken an den Armen schattiert war. Tränen füllten ihre Augen. Sie kämpfte dagegen an.

Der tote Junge war nicht älter als ihr Neffe Kairat, den sie nur von Fotos kannte, die ihre Schwester Samira heimlich über WhatsApp gesandt hatte. Eigentlich war ihr das nicht erlaubt. Aber sie standen sich trotz allem nahe und fanden Wege, in Kontakt zu bleiben.

Amal schüttelte es. Unter angeschwemmten Zweigen, Papier- und Plastikfetzen erkannte sie, dass der Junge nackt war. Sein ebenmäßiges Gesicht sah trotz der Verheerungen, die das Wasser und der Tod angerichtet hatten, engelsgleich aus.

Automatisch wich sie einen Schritt zurück. Wollte Abstand gewinnen zu dem Elend, das da vor ihr zynisch vom seichten Wasser gewiegt wurde. Ertrug den Anblick nicht. Sie kam erst wieder zu sich, als sie Schmitts Blick auf sich spürte. Hastig trat sie vor und setzte ihr Amal-Gesicht auf, wie ihre Eltern immer schimpften, wenn sie ihnen nicht zeigen wollte, wie tief sie deren Kritik oder der Spott der Brüder traf. Es funktionierte, Schmitt drehte sich wieder weg.

„Was habt ihr für uns?“, fragte ihr Kollege den großen Spurensicherer.

„Noch nicht viel. Wir sind auch gerade erst eingetroffen. Was für eine Scheiße. Mit toten Kindern werde ich wohl nie klarkommen“, erwiderte er mit tiefer, vollmundiger Stimme, die traurig belegt klang. Verblüfft schaute Amal hoch in graugrüne Augen. Leicht errötend wandte sie sich ab.

„Gut, dann warten wir eure Ergebnisse ab. Übrigens, Mike, das ist unsere neue Kollegin, Amal el … Wie war noch dein Nachname?“

„El Ahmar“

„Wie dumm von mir. Also, das ist Mike Hoffmann“, sagte Schmitt auf den Ermittler weisend.

„Gut, nachdem das erledigt ist, nehmen wir uns die beiden Zeugen vor.“

Die beiden Studenten hatten nicht mehr zu berichten, als dass sie nie wieder an der Elbe joggen würden. Nie, nie wieder, im ganzen Leben nicht. Schmitt entließ sie, nachdem Amal ihre Aussage über das Auffinden und Namen und Adresse notiert hatte. Dabei hielt sie Sicherheitsabstand zu dem Hund, der ihr nicht geheuer war. Wollte auf keinen Fall mit seiner unreinen Schnauze in Berührung kommen.

Inzwischen waren die Feuerwehrmänner dabei, die Leiche aus dem Wasser und Unrat zu bergen. Vorsichtig legten sie den Jungen auf eine ausgebreitete Plastikfolie und winkten dem wartenden Notarzt. Amal hielt es nicht mehr aus und wandte sich ab, vermeintlich um ihre vergilbten Sneakers neu zu schnüren. Wieder spürte sie Schmitts Blick auf ihrem Rücken und sprang zu hastig auf. Fühlte sich ertappt. Das war nicht die Amal, die sie sein wollte: hart im Nehmen und Austeilen. Was deutlich schlimmer war als der Anblick des inzwischen auf einem Tuch liegenden Toten.

Also trat sie einen Schritt näher als Schmitt an die Plane heran. Ein Fehler, denn ein Würgereiz überkam sie, als sie registrierte, wie der Mediziner ihn auf äußere Verletzungen begutachtete, den kleinen Körper wendete und seine Beine leicht spreizte, um ihn rektal zu untersuchen. Als der Arzt sich endlich aufrichtete, atmete Amal erleichtert auf.

„Der Junge ist mindestens einen Tag tot. Wahrscheinlich aber nicht länger als zwei Tage, ohne meinen Kollegen von der Gerichtsmedizin ins Handwerk pfuschen zu wollen. Diesbezüglich werden die Ihnen mehr sagen können. Auch, was die Todesursache angeht. Mein Job hier ist erledigt“, sagte er leise, während er die Todesbescheinigung ausfüllte. Nachdem er sie Schmitt gereicht hatte, winkte er allen Anwesenden knapp zu und kehrte zusammen mit seinem Rettungsassistenten zu dem bereitstehenden Rettungswagen zurück.

Inzwischen war ein Leichenwagen eingetroffen und zwei schwarz gekleidete Bestatter näherten sich mit einem Metallsarg, der zu groß für den kleinen Jungen war. Amal konnte ihre Tränen nicht mehr unterdrücken und schniefte in ein Tempo, um sie vor den anderen zu verbergen.

Wenige Meter von der Fundstelle entfernt stocherten Feuerwehrleute mit langen Stöcken im Flusswasser herum, während der große Spurensicherer die Leiche erneut fotografierte, diesmal das Gesicht in Großformat, wohl als Porträtfoto für die Identifizierung. Der andere wühlte in dem Unrat, der mit dem Jungen aus dem Wasser befördert worden war. Mehr gab es für sie nicht zu tun.

„Haben wir irgendwelche Anhaltspunkte, wer der Kleine ist?“, fragte Schmitt Mike Hoffmann.

„Nein, wir haben bisher nichts gefunden. Auch keine Kleidung. Wir müssen schauen, ob wir noch molekulargenetisch auswertbares Spurenmaterial auf der Haut, in den Haaren oder im After finden. Wird schwierig. Für mich sieht es so aus, als wäre er speziell behandelt worden, um alle Spuren zu beseitigen.“

Amal schüttelte es, als sie sich vorstellte, was mit dem Opfer geschehen war.

„Hoffentlich vermisst jemand den Kleinen und hat sich bereits gemeldet, sonst wird es schwer werden, ihn zu identifizieren“, merkte Schmitt nachdenklich an. „Gut, lassen wir die Leiche zur Gerichtsmedizin bringen.“

Wie ein Trauerzug schritten Amal und ihr Kollege hinter dem Sarg mit dem toten Jungen her zu dem schwarzen, überlangen Bestattungswagen mit seinen vorhangverzierten Seitenfenstern.