Leseprobe Die beste Freundin

1.

Das Telefon klingelte, doch es war nicht das süßliche Säuseln von Bruce Springsteens I’m on fire, das Nico weckte. Es war der Vibrationsalarm, der ihm durch Mark und Bein ging, so wie er durch das Holz des Nachttischs ging, auf dem das Mobiltelefon bei jedem Brummen eine Viertelumdrehung beschrieb.

Er griff hastig danach, vermutete das Klingeln des Weckers hinter dem plötzlichen Erwachen. Zeit aufzustehen und den Tag zu beginnen, auch wenn es sich noch gar nicht danach anfühlte. Zu seiner Überraschung zeigte das Display allerdings nicht die eingestellte Weckzeit an, sondern einen eingehenden Anruf.

Unbekannt verkündete es, anstatt einer Rufnummer. Nico warf einen flüchtigen Blick auf die Uhrzeit, die klein oben links in der Ecke angezeigt wurde. Es war kurz nach drei Uhr nachts. Kein Wunder, dass er das Gefühl hatte, noch nicht ausgeschlafen zu sein. Er war erst vor zwei Stunden ins Bett gegangen und der Wecker würde erst in fünf klingeln.

Nico gehörte zu den Menschen, die unbekannte Rufnummern gerne mal ignorierten. Allein die Uhrzeit ließ ihn dieses Mal hadern. Es waren die sorgenvollen Stunden zwischen elf Uhr am Abend und sechs Uhr am nächsten Morgen, in denen Anrufe meistens nichts Gutes verhießen. Wenn man erfuhr, dass geliebte Menschen Unfälle gehabt hatten oder im Krankenhaus lagen. Und es machte durchaus Sinn für ihn, dass die Nummern von Krankenhäusern oder Polizei nicht angezeigt wurden.

Ein ungutes Gefühl beschlich Nico und gewann schließlich die Oberhand über das bloße Genervtsein durch die nächtliche Störung. Alles in ihm verkrampfte sich schlagartig, während das kleine Ding in seiner Hand weiterhin brummte.

Er nahm den Anruf entgegen, hielt das Handy ans Ohr und hauchte ein fast geflüstertes: „Hallo?“

Für einen Moment blieb es still in der Leitung. Er war sich nicht sicher, ob es der Moment war, in dem eine automatische Sprachnachricht ansprang, um ihm zu offenbaren, dass er eine dubiose Verlosung gewonnen hatte, an der er nie teilgenommen hatte oder ob er überhaupt eine Verbindung hatte. Zu allumfassend klang die Stille, die ihm aus dem Telefon entgegenschlug. Schwarz und leer wie das All. Bereit jedes Geräusch zu ersticken.

Er wollte das Smartphone vom Ohr nehmen, um mit einem Blick auf das Display zu überprüfen, ob die Verbindung weiterhin bestand oder ob der Anrufer aufgelegt hatte, kurz bevor er den Anruf entgegengenommen hatte.

„Heute ist mein Geburtstag.“

Die Frauenstimme, die an sein Ohr drang, erkannte er sofort, obwohl auch sie kaum lauter als ein Flüstern war und er sie seit einer kleinen Ewigkeit nicht mehr gehört hatte. Sein Herz machte einen Hüpfer und setzte dann einen Schlag aus. Als es wieder einen Rhythmus gefunden hatte, war dieser deutlich beschleunigt.

Es war Laura!

Und genau das ließ ihn plötzlich daran zweifeln, dass er wirklich wach und dieser Anruf real war, denn er hatte ihre Stimme seit zehn Jahren nicht mehr gehört.

Er wollte ihren Namen sagen, fragen, ob sie es tatsächlich war, aber er hatte Angst den fragilen Traum damit zu vertreiben.

„Weißt du, wie alt ich geworden bin?“, fragte die Stimme aus der schwarzen Leere der Leitung und schien mit jedem einzelnen Wort wieder und wieder zu schreien Ja, ich bin Laura!

Real oder nicht, sie war es tatsächlich!

Ihm fiel selbst auf, wie absurd dieser Gedanke war, trotzdem fühlte er sich für ihn richtig an, und jedes weitere Wort schob ihn für Nico ein Stück weiter über die Realitätsgrenze.

„So alt wie ich“, antwortete er. „Vierzig.“

Viereinhalb Monate war er ihr voraus.

„Ein ganz besonderer Geburtstag“, sagte sie. „Weißt du, was das bedeutet?“

Er antwortete nicht … konnte es nicht.

Ja verdammt, er wusste genau, was das bedeutete. Umso fassungsloser machte es ihn, jetzt plötzlich ihre Stimme zu hören.

„Was willst du?“, fragte er, bekam die Worte aber kaum heraus. Ein dicker Kloß steckte in seinem Hals.

„Wenn wir mit vierzig noch beide Single sind, wollten wir heiraten“, erwiderte sie, was sie auch getan hätte, wenn er seine ruppige Zwischenfrage nicht gestellt hätte.

Nicos Unterlippe bebte. Er spürte, wie seine Augen feucht wurden.

„Das war, bevor du einfach von einem Tag auf den anderen verschwunden bist“, stieß er weiter erstickte Worte hervor, während sich eine erste Träne auf den Weg seine Wange herab machte. „Wo zur Hölle steckst du?“

Sie schwieg. Nur die endlose, rauschfreie Leere drang in sein Ohr.

„Ich …“ die Antwort kam mit Verzögerung, als müsste sie sich erst um sich herum umsehen. „Ich weiß es nicht.“

„Warum rufst du an, wenn du nur weiter Spielchen spielen willst?“, fragte er vorwurfsvoll und verletzt.

„Ich weiß es wirklich nicht“, beharrte sie und in der Leere, in der der Satz ertönte, klang sie tatsächlich irgendwie verloren. „Bitte … finde mich.“

„Ich muss Schluss machen“, sagte er, auch wenn es ihm das Herz brach. „Wir wecken sonst meine Freundin auf.“ Er schwieg einen Moment und würgte den Kloß in seinem Hals herunter, um seinen Worten mehr Kraft zu verleihen, als er sagte: „Unsere Abmachung hat sich also eh erledigt.“

Er beendete das Gespräch, ohne ihr die Chance zu geben, noch etwas zu erwidern, dann starrte er ungläubig auf das Smartphone in seiner zitternden Hand. Er rief die Liste der letzten Anrufe auf und fand den Eintrag Unbekannte Nummer im Speicher.

Er hasste sich dafür, dass er einfach aufgelegt hatte, und er hasste sie dafür, dass sie angerufen hatte.

Er sah nach links. Dorthin, wo seine Ausrede hätte liegen sollen. Tat sie aber nicht. Die andere Hälfte des Bettes war leer. Die Decke seiner Freundin lag als zerwühltes längliches Knäuel neben ihm, sodass er es aus dem Augenwinkel für selbstverständlich gehalten hatte, dass sie neben ihm lag.

Bestimmt ist sie auf der Toilette, dachte er und sah zur Schlafzimmertür, die einen Spalt weit offenstand. Er wartete darauf, dass irgendetwas passierte. Dass er ein fernes Wasserrauschen aus dem Flur vernahm, sich die Tür öffnete oder das Handy, das er noch immer umklammerte, wieder zu vibrieren begann. Stattdessen geschah gar nichts.

Nachdem er drei Minuten darauf gewartet hatte, dass seine Welt sich irgendwie weiterdrehte, schwang Nico die Füße aus dem Bett und machte sich auf die Suche nach seiner Freundin.

Der Flur im ersten Stock war dunkel. Die Badezimmertür am anderen Ende stand offen, das Licht dahinter war jedoch ausgeschaltet.

„Baby?“, rief er in das dunkle Haus hinein.

Doch es blieb dunkel und still. Wo zur Hölle war sie?

Nico machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zurück ins Schlafzimmer. Er würde sich etwas anziehen und dann weitersuchen. Erst unten, dann draußen und wenn nötig, überall.

Er betrat das Schlafzimmer und streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus, als plötzlich die kleine Stehlampe auf dem Nachttisch seiner Freundin anging.

„Wo warst du?“, fragte sie verschlafen und wischte sich eine Strähne ihres langen blonden Haares aus dem Gesicht.

Nico schüttelte ruckartig den Kopf und kniff die Augen zu.

Hatte er seine Freundin wirklich mit einem Deckenknäuel verwechselt? Als er die Augen wieder öffnete, sah sie ihn noch immer fragend an.

„Hab dich gesucht“, antwortete er. „Wo warst du?“

Ihr Blick sah aus, als ob sie an seinem Verstand zweifelte. Verschlafen, wirr … und eindeutig zu überfordert, um all das zu verstehen.

„Komm wieder ins Bett“, sagte sie mit zarter Stimme und schlug die Decke für ihn zurück.

Nico war durcheinander. Wahrscheinlich mehr als sie. Der Anruf war anscheinend nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Er versuchte, sich an die wichtigen Dinge zu klammern: Seine Freundin war da und es ging ihr gut.

Er schlüpfte zu ihr unter die Decke und sie kuschelte sich an ihn. Er genoss ihre Wärme und den Duft ihres Haars. Er küsste ihren Kopf. Sie quittierte es mit einem wohligen Stöhnen. Innerhalb einer Minute wurde ihre Atmung tief und gleichmäßig und sie sank in einen scheinbar ruhigen Schlaf. Nico hingegen war hellwach. Er drehte den Kopf zur Seite und sah zu dem Smartphone auf seinem Nachttisch.

Von den fünf Stunden Schlaf, die er noch vor sich gewähnt hatte, würde nicht mehr viel übrig bleiben, fürchtete er.

2.

Er sollte recht behalten. Er hatte die restliche Nacht kaum ein Auge zubekommen, und wenn doch, war er in einen unruhigen Dämmerzustand abgedriftet. Eine wässrige Suppe aus Träumen und bewussten Erinnerungen, die sich bei allem Umrühren in dieser Nacht einfach nicht zu Traum und Schlaf verdichten wollte.

Er hatte den Wecker schließlich zehn Minuten vor dem Klingeln ausgeschaltet.

Nadine wachte auf, als er sich gerade aus dem Bett stehlen wollte. Sie drehte sich zu ihm um und legte ihren Kopf auf seine Brust.

„Musst du etwa schon aufstehen?“, fragte sie und schob ihre Hand in seine Shorts.

Er spürte, wie sich ihre zierlichen Finger um ihn schlossen und begannen, ihn mit einer fordernden Auf- und Ab-Bewegung zu massieren. Sie ließ ihn in ihrer Hand wachsen und beendete seine Bettflucht mit geübten Bewegungen. Dabei entlockte sie ihm ein inniges Stöhnen.

„Ein bisschen Zeit hast du doch sicher noch, oder?“

Die hatte er. Daher lehnte er sich zurück und genoss erst ihre Hand, dann ihren Mund und schließlich die feuchte Hitze ihres Schoßes, als sie ein Bein über ihn schwang und sich auf seine Härte setzte.

Nadines Hingabe und der Orgasmus, in den sie ihn trieb, ließen all die Sorgen und Gedanken verblassen, die ihn die letzten Stunden über um den Schlaf gebracht hatten.

Vielleicht hätte er sie schon früher wecken sollen.

Als sie von ihm runter stieg, tropfte ihre beider Lust auf seinen Bauch und auf das, was darunter nun langsam und befriedigt erschlaffte. Sie ließ ihn ein weiteres Mal in ihrem Mund verschwinden. Nicos ganzer Körper verkrampfte sich, als sie alles ableckte, was noch an ihm klebte. Sie liebte es, ihren Sex danach zu schmecken.

Danach ließ sie von ihm ab und sprang aus dem Bett. Ihr verführerischer Blick wich einem Lächeln, als sie sich eines von seinen Hemden aus dem Kleiderschrank nahm und hineinschlüpfte. Sie machte sich nicht die Mühe es zuzuknöpfen, sondern ließ es verspielt offen und präsentierte ihm ihre nackte Haut darunter.

„Ich mach uns Frühstück“, verkündete sie.

Er sah von ihrer üppigen 75c runter zu dem schmalen Streifen schwarzen Schamhaars, das zwischen ihren Schenkel entlang lief.

„So?“, fragte er.

Sie nickte lächelnd und war schon auf dem Weg zur Tür hinaus.

„Du bist die perfekte Frau“, rief Nico ihr in den Flur nach.

Als ob sie das nicht ganz genau weiß, dachte er.

Dann schwang auch er sich aus dem Bett. Er stand auf wackligen Beinen da, die immer noch kribbelten. Das linke schmerzte leicht, als er es belastete.

Als Nico aus der Dusche kam, roch das ganze Haus nach Frühstück. Nadine hatte groß aufgetischt. Rührei, gebratener Speck und eine Käseplatte. Einen Berg Pancakes verfrachtete sie gerade aus einer Pfanne auf einen Teller und schob ihn in einer fließenden Bewegung in die Mitte des Tischs. Und das alles, während sie ihm zwischen den beiden offenen Hälften seines Hemds noch immer ihre nackten Filetstücke präsentierte.

„Siehst du irgendwas, das dir gefällt?“

Er lächelte angetan.

Oh ja! Die perfekte Frau!

3.

Überhaupt gab es in diesem Leben nicht viel, worüber Nico sich hätte beschweren können. Wenn er seine perfekte Frau zu Hause zurückließ, dann nur für seinen Traumjob. Und so war er eine Stunde später befriedigt und wohlgenährt auf dem Weg ins Filmstudio.

Sein Studium der Filmwissenschaften hatte er vor zwölf Jahren abgebrochen und die Theorie hinter sich gelassen, um sich der Praxis zuzuwenden. Er hatte die unterschiedlichsten Jobs an verschiedenen Filmsets angenommen. Hatte für vierhundert Euro im Monat als Set-Runner begonnen, unbezahlte Praktika absolviert und war schließlich von Robert Engel, einem alternden Kameramann unter die Fittiche genommen worden, der von seinem Enthusiasmus begeistert gewesen war.

„Wenn ich sowieso den halben Tag damit beschäftigt bin, deine Fragen zu beantworten“, hatte der Mann mit dem gemütlichen Bierbauch gesagt, „dann solltest du auch was für mich tun, finde ich.“

Noch am selben Abend hatte er Rücksprache mit der Produktionsleitung gehalten und am nächsten Tag war Nico offiziell ihm und seinem Assistenten, einem unausstehlichen Stinkstiefel namens Andreas Puhl unterstellt gewesen … der letzte junge Mann, der Engels Interesse geweckt hatte. Puhl hatte den Neuen so richtig leiden lassen.

Lehrjahre seien nun mal keine Herrenjahre, hatte er dabei süffisant angemerkt, was seinem Lebensalter durchaus angemessen war.

Nico hatte sich nicht beschwert. Er hatte getan, was ihm aufgetragen wurde, hatte Ausdauer und Geduld bewiesen, vor allem aber Talent. Als Puhl schließlich immer größere Töne gespuckt hatte, war auch Engel sein widerlicher Charakter nicht länger verborgen geblieben. Die beiden gerieten häufiger in Streit, jetzt wo der arrogante Assistent mehr Zeit hatte, um am Set negativ aufzufallen, und eines Morgens trennten sich ihre Wege noch vor der ersten Klappe des Tages vor aller Augen. Nico wusste nicht, was der Anstoß des Streits gewesen war, aber er hatte Engel zuvor noch nie schreien gehört. Der sympathische Endfünfziger war vor aller Augen explodiert und hatte Puhl fünf Minuten vor Drehstart gefeuert.

Fast noch beunruhigender als sein plötzlicher Ausbruch, war die Geschwindigkeit gewesen, in der er sich wieder beruhigt hatte. Er benötigte eine halbe Drehung um die eigene Achse, bis Nico in sein Blickfeld geriet, um zu erkennen, dass er gerade unprofessionell gewesen und den Dreh gefährdet hatte.

Mit sanfter Stimme fragte er seinen Materialassistenten: „Glaubst du, du kannst heute die Schärfe ziehen?“

Es war Nicos Aufstieg zum Kameraassistenten – nach gerade einmal zwei Monaten.

Vier Jahre später hatte er seinen ersten Film als Kameramann gedreht. Inzwischen war er einer der besten seines Fachs in Deutschland. Er drehte gute Filme, verdiente gutes Geld und schulterte seine Kamera zwischen den Takes schon mal selbst, um seine Assistenten zu entlasten.

Auch heute hatte er sie als Erster in der Hand. Nach den doppelten Freuden des Morgens strotzte er nur so vor Energie. Nur sein linkes Bein protestierte, als er noch zusätzlich das schwere Stativ schulterte. Es war ein stechender Schmerz von erlesener Qualität, der sein Knie einsacken ließ und Nico einen zischenden Laut entlockte. Er balancierte bemüht auf seinem zweiten, stabilen Bein und versuchte vor allem die fragile, teure Kamera zu schützen.

Innerhalb von Sekunden waren seine beiden Assistenten bei ihm. Kameraassistentin Julia nahm ihm die Kamera aus der Hand, während Materialassistent Ben seinen Chef stützte und ihm gleichzeitig die Last des Stativs von der Schulter hievte.

„Alles in Ordnung?“, fragte er besorgt. „Bist du umgeknickt?“

„Nein, ich …“ Nico zögerte. Ja, was eigentlich?

Als das Gewicht des Stativs nicht mehr zusätzlich auf ihm lag, befreite sich Nico dankbar aus Bens stützendem Griff. Er belastete vorsichtig das linke Bein. Der Schmerz war noch da, auch wenn er durch die schnelle Hilfe seiner beiden Assistenten nachgelassen hatte. Er saß tief in Muskeln, Sehnen und Knochen.

„Ich weiß auch nicht“, versuchte er das Problem erneut zu beschreiben. „Ich bin heute Morgen aufgewacht und der Schmerz war da.“

„Ich besorg dir ne Tablette“, bot Julia an. „Und du hältst dich heute mal ein bisschen zurück.“

„Du bist doch nur scharf auf meinen Job“, scherzte Nico.

„Ich will deinen Job gar nicht“, frotzelte sie zurück. „Reicht mir völlig, wenn du mich ausnahmsweise mal meinen machen lässt.“

Nico streckte beide Hände in die Höhe und kapitulierte.

„Dann sei eben mein Lastenmuli“, gab er sich augenzwinkernd geschlagen.

Er war kein Gefangener alter Rollen- und Geschlechterklischees. Er wusste, dass Julia schleppen konnte und dass sie dem Job auch ohne seine Hilfe mehr als gewachsen war. Sogar mehr als das. Dass sie hinter seinem Job her sei, war zwar ein Scherz gewesen, aber Nico war überzeugt davon, dass sie eines nicht allzu fernen Tages eine großartige Kamerafrau abgeben würde. Und er war sich sicher, dass auch sie sich nur ungern ihre Kamera abnehmen lassen würde. Er würde stolz auf sie sein – bis sie ihm die ersten Jobs vor der Nase wegschnappte.

Sie kehrte mit einer Schmerztablette und einer kleinen Flasche Wasser zu ihm zurück und fragte: „Ist das schon das Alter?“

Drauf geschissen, dachte Nico. Er würde sie auch dann noch mögen, wenn sie ihm den Platz an der Spitze streitig machte.

Er spülte die Tablette mit einem Schluck Wasser herunter und gab die Flasche an Julia zurück.

„Die ist ziemlich schwer“, kommentierte er und wies auf sein Bein.

„Schlimmster Chef der Welt“, zog sie ihn auf, schulterte die Kamera und die Wasserflasche und marschierte in Richtung Set. „Ich sag schon mal Bescheid, dass es bei dir ein bisschen länger dauert.“

„Du bist meine Lieblings-Praktikantin“, rief Nico ihr hinterher.

Julia zeigte ihm über die freie Schulter hinweg den Mittelfinger. Er lachte.

Er liebte seinen Job.

***

Die Hilfe seiner Kollegen und die regelmäßige Versorgung mit Schmerzmitteln verschafften Nicos Bein Linderung, doch tief im Fleisch pochte es weiter. Immer wieder nutzte er die Umbaupausen zwischen zwei Kameraeinstellungen, um seinen Oberschenkel zu massieren, doch nichts verschaffte ihm vollends Linderung. Er war froh, als der Aufnahmeleiter den Drehschluss ausrief und er den beruflichen Teil des Tages geschafft hatte.

4.

Zum Abendessen war er mit Nadine und einer gemeinsamen Freundin verabredet. Er hätte auch nichts dagegen gehabt, die Verabredung abzusagen und den Tag stattdessen auf dem Sofa ausklingen zu lassen, aber sie hatten Jessica ewig nicht gesehen. Außerdem stand er nun mal auf Burger und im BeeFunky in der Südstadt machten sie einen der besten BBQ-Burger, die er je gegessen hatte.

Essen bedeutete zugleich sitzen, und auch wenn der Schmerz blieb, war es für Nico die Hauptsache, das Bein nach dem anstrengenden Tag ein wenig entlasten zu können. Abgesehen von dem zusätzlichen Gewicht, das ihm der riesige Burger auf die Rippen zaubern würde, in den er seine Zähne gerade das erste Mal vergrub.

Das ist es wert, schrie die Geschmacksexplosion in seinem Mund.

Er streckte die Hand nach dem riesigen Berg Süßkartoffelfritten aus, der auf einem separaten Teller in der Tischmitte stand, und den sie sich zu dritt teilten.

Die beiden Frauen hatten offenbar gerade genau den gleichen Gedanken. Nico lächelte, als er die beiden zierlichen Hände streifte.

Er fragte sich, ob das auch für den aktuellen Gedanken galt, dass Pommes frites nicht das Einzige waren, was man zu dritt teilen könnte.

Ein Gedanke, den er nicht zum ersten Mal hatte – aber sich auch nicht zum ersten Mal über die Lippen zu bringen wagte.

Jessica war eine äußerst attraktive Frau. Eine Schauspielerin, genau wie Nadine. Etwas kleiner und zierlicher, mit kurzem blonden Haar und süßen Grübchen, die sich in ihren Wangen bildeten, als sie Nicos Lächeln erwiderte.

Er fühlte sich unwillkürlich ertappt. War sein Blick so eindeutig gewesen? Oder dachte sie vielleicht wirklich das gleiche?

Er schnappte sich eine Handvoll Pommes vom Berg und zog sich zurück, bevor er sich auch noch von seiner Freundin ertappt fühlte. Verstohlen spähte er zu ihr hinüber, spürte aber keinen Vorwurf in ihrem Blick. Warum sollte sie auch plötzlich prüde sein? Es war ja nichts passiert.

Trotzdem wollte Nico nichts kaputtmachen. Weder die Beziehung mit Nadine noch die Freundschaft zu Jessica, denn gute Freundinnen fand man selten. Die letzte war …

Er musste an Laura denken und an den nächtlichen Anruf.

Finde mich!, hatte sie gesagt.

Sie hatte verloren geklungen.

Die Erinnerung an sie verdrängte sogar den Berg aus schwitzenden Leibern aus Nicos Kopf, zu dem der Berg aus Pommes und Fingern ihn in Gedanken geführt hatten.

Hatte er Lauras Verhalten fälschlicherweise als Spielchen abgetan? Hatte er zu früh aufgegeben, nach ihr zu suchen?

Nach ihrem Verschwinden hatte er Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Er hatte versucht sie zu erreichen. Erst über ihre eigenen Telefonnummern, und als diese plötzlich abgemeldet waren per E-Mail. Dann über Freunde. Er hatte das Internet auf den Kopf gestellt. Ihren Namen in jede Suchmaschine des World Wide Web gehämmert und doch niemals Informationen gefunden, die nicht aus der Zeit vor ihrem Verschwinden stammten. Es gab nur ihr verwaistes Facebook-Profil oder einen Online-Bericht über das letzte Volleyballspiel, das sie mit ihrer Mannschaft gewonnen hatte. Keinen Hinweis darauf, dass sie in einer anderen Stadt aufgetaucht war, einen neuen Job angenommen, geheiratet hatte oder gestorben war. Sie war spurlos verschwunden. Vom Erdboden verschluckt. Zumindest für ihn.

„Nico?“, drang Nadines Stimme aus weiter Ferne an sein Ohr und holte ihn aus der Vergangenheit zurück.

Die beiden Frauen sahen ihn erwartungsvoll an.

Nico blickte auf das BBQ-Bacon-Kunstwerk in seiner Hand. Seit dem ersten Bissen hatte sich nicht viel getan, außer dass der Burger langsam abkühlte. Was für eine Verschwendung! Nico nahm einen zweiten großen Bissen.