Die Prophezeiung
Wer eine Fraser zur Braut zu nehmen gedenkt, den diese Regeln einschränkt.
Friedvoll doch mächtig muss er sein, gewitzt doch sanft von vornherein.
Die letzte Regel, doch nicht das letzte Wort, muss sein von der gütigen und geliebten Sort’.
Wenn eine Fraser zum Weibe er nehme, vergesse es nicht, so lange er lebe.
Denn der Reck der vergisst diese Regeln, freilich, wird sein Leben verlieren zeitig.
Kapitel 1
Schottland
Im Jahre des Herren, 1534
„Wir sind fast da. Es gibt keinen Grund zur Sorge, Pearl“, flüsterte Anora und lenkte ihre Stute tiefer in den Wald hinein.
Im abendlichen Dämmerlicht schwollen Nebelwogen wie tanzende Wellen aus gespenstischem Silber auf. Kein Geräusch störte die Stille, nichts, außer dem sanften Zischen von hinabrutschendem Tau auf dem Farnendickicht. Weit oben am Himmel jagten zerfledderte Wolken am geschwollenen roten Mond vorüber und von irgendwoher drang der Unheil verkündende Schrei einer Eule.
Anora der Frasers hatte jedoch weder Zeit für jahrhundertealten Aberglauben noch für Furcht.
„Vor einiger Zeit sah ich einen Turm hinter dem höchsten Hügel. Dort wird uns geholfen werden, ich bin mir sicher. Wenn der Lord dort von Munros Absichten erfährt, wird er sich unserer Sache anschließen und …“
Hinter ihnen erklang ein kratzendes Geräusch. Anora zuckte in ihrem Sattel mit der hohen Rückenlehne herum, doch obwohl sie mehrere Sekunden lang nach der Quelle des Lautes suchte, sie sah nichts Beunruhigendes.
„Wahrlich, Pearl“, sagte sie, als sie sich wieder umdrehte, „Manchmal bist du so ein nervöses Ding. Ich sagte es dir doch bereits, uns ist niemand gefolgt.“
Das Pferd flatterte mit einem elfenbeinfarbenen Ohr, als es die bebende Stimme seiner Herrin vernahm.
Wieder erklang das Rascheln, dieses Mal näher. Anora wirbelte mit donnerndem Herzen herum.
„Wer ist da?“, forderte sie zu erfahren, doch die einzige Antwort war das Flüstern der Erlen.
Lange Sekunden zogen an ihr vorbei, ehe Anora sich wieder umdrehte und Pearl leicht anstieß.
„Wie ich es sagte, wir sind alleine“, flüsterte sie und ließ ihren Blick seitwärts rutschen, um den dunklen Wald weiter abzusuchen. „Mutterseelenallein. Und deswegen …“ Rechts von ihr huschte plötzlich ein Streifenhörnchen am knochigen Überrest einer alten Eiche empor. Anoras Magen drehte sich auf den Kopf und richtete sich dann wieder. „Sind wir sicher“, endete sie, doch in genau jenem Moment wieherte ein Pferd.
Pearl blieb von sich aus stehen, den Kopf gedreht, die Ohren nach vorne gerichtet und jeden einzelnen Muskel ihres Körpers gespannt.
„Wer ist da?“, rief Anora erneut.
Für einen Moment regte sich nichts, und dann, wie ein fürchterlicher Albtraum, trat ein Streitross aus den Schatten. Es war schwarz wie die Nacht und auf seinem Rücken saß ein bewaffneter Krieger. Ein schwarzes Kettenhemd bedeckte seine Brust und ein dunkler Helm hielt sein Gesicht verborgen.
In der gedrückten Stille konnte Anora ihren eigenen rauen Atem hören.
„Wer seid Ihr?“
Der schattige Krieger sagte nichts. Stattdessen zog er mit offensichtlicher Bedächtigkeit sein Schwert aus der Scheide. Der gedämpfte Mondschein berührte die abgerundete Klinge sachte und ließ sie von der Spitze bis zum Heft aufblitzen. Für einen Moment blieb Anora regungslos, hypnotisiert vom tänzelnden Licht. Dann beugte das Streitross seinen mächtigen Nacken und stöckelte näher. Der Reiter hob den Arm und brachte die glimmernde Reflexion des Lichtes auf dem Schwert dazu, blutrot zu werden.
Anora riss sich aus ihrer Starre, flüsterte heiser ein Gebet und gab ihrem elfenbeinfarbenen Pferd die Sporen. Als wäre sich die Stute der Gefahr bewusst, sprang Pearl in einen Galopp. Sie jagten an Bäume vorbei, deren geisterhafte Schemen wie Wächter aussahen. Sie griffen nach Anora und verfingen sich in ihren Haaren, als sie sich über den Hals ihres hetzenden Pferdes beugte. War der Krieger noch da? Folgte er ihnen?
Sie krallte sich in der Mähne der Stute fest und wandte sich um, um in die Dunkelheit hinter ihnen zu spähen.
Nichts. Sie waren sicher, oder?
Nein! Dort war er wieder und jagte durch das Unterholz. Silberner Dampf bauschte aus den Nüstern des Schlachtrosses, wie Rauch aus dem Schlund eines Drachens. Das Mondlicht glänzte mit bösartiger Gier auf der entblößten Klinge.
Ein entsetzlicher Schauder ging durch Anoras Wirbelsäule. Sie beugte sich wieder nach vorne, doch als sie das tat, griffen Hände nach ihr. Sie schrie auf und zuckte weg. Pearl warf sich und ihre Herrin mit dem Zug der Zügel zur Seite. Die krallenartigen Hände erwiesen sich als nichts anderes als kahle Äste, doch Pearls ruckartige Bewegung hatte ihre Reiterin aus dem Gleichgewicht gebracht. Anora bohrte ihre Knie in das Pferd und riss erneut an den Zügeln, denn sie suchte nach Kontrolle, doch die verängstigte Stute sprang um einen Baum herum und machte einen unvorhergesehenen Satz über einen gefallen Baumstamm.
Für einen Moment segelte Anora durch das Nichts. Unter ihr war nur Luft, dann landete sie schräg im Sattel, aber dennoch darauf. Die Zügel waren aus ihrem Griff gerutscht, doch ihre Finger gruben sich erneut in die Mähne. Sie hielt sich verzweifelt daran fest. In welche Richtung sie ritten war ihr unklar, aber sie preschten in halsbrecherischem Tempo einen Hang hinunter. Äste rissen an ihrem Gesicht und Steine brachten das Pferd immer wieder zum Stolpern. Ein Gebet brannte durch ihre Seele, doch sie hatte keine Zeit, das hastige Flehen zu beenden. Ihr Knie prallte gegen einen Baum. Sie keuchte vor Schmerzen auf, klammerte sich aber fest. Nun lehnte sie sich zurück, um die Geschwindigkeit ihres Abstiegs auszugleichen, und hoffte nur, dass sie überleben würde, während die Welt in einem Nebel aus Furcht und Dunkelheit an ihr vorbei peitschte.
Der Wind rauschte in ihren Ohren, rauschte laut, doch es war nicht der Wind. Es war Wasser. Sie waren fast am Ende ihres Abstiegs. Wenn sie nur erst im Wasser waren, dann würde sie die Kontrolle zurückerlangen, würde flussaufwärts reiten, ihren Verfolger abhängen, und …
Doch in diesem Moment der Hoffnung sah Anora den Baumstamm vor sich. Normalerweise wäre es keine große Sache, mit Pearl darüber zu springen, doch der Wald war dunkel. Die Stute hatte es immer noch mit der Angst zu tun und sprang zu spät ab. Trotz allem segelte sie wacker durch die Luft.
Anora hielt den Atem an und für einen Augenblick schien es ihr so, als würde die Zeit stillstehen. Ein Dutzend Erinnerungen hetzten wie windgejagte Wolken durch ihre Gedanken: Die schwindelerregenden Höhen von Evermyst, Isobels sanftes Lachen, Mearas barsche Stimme – und dann kam die Welt blitzartig wieder in Bewegung.
Pearls Hufe schlugen auf Holz und sie stürzten gemeinsam. Die Erde kam wild drehend auf sie zu. Anora hörte ihren eigenen ängstlichen Schrei, spürte, wie ihr Kopf aufschlug und dann, wie ein seltsamer, verzerrter Traum, legte sich die Dunkelheit auf sie.
***
Ramsay MacGowan wurde des Jammerns seiner jüngeren Brüder müde.
„Es regnet“, sagte Lachlan bedrückt.
„Und das ist auch meine Schuld, nehme ich an?“
Wenn Gilmours Stimmung mit dem Wetter schlechter wurde, konnte Ramsay es anhand seiner heiteren Stimme nicht erkennen. Es war eines der Dinge, das ihn am meisten an seinem jüngeren Bruder irritierte. Er war immer glücklich.
„Aye, es ist deine Schuld“, grummelte Lachlan und hob die breiten Schultern, um sich vor dem Regen zu schützen. Er war nur wenig älter als Gilmour, aber sie hätten kaum verschiedener sein können. Lachlans verdrießliches Verhalten war eins mit dem Wetter und passte viel eher zu Ramsays eigener, weitaus weniger heiteren Laune.
„Es war nicht meine Idee, irgendwelchen mythischen Munros nachzujagen“, argumentierte Gilmour. „Wenn ich mich recht erinnere, warst du es, Bruder, der so erpicht darauf war, Ärger zu suchen, wo es keinen gab.“
„Wenn Munros auf MacGowan Land herumschleichen, will ich es wissen“, sagte Lachlan.
„Wir suchen schon eine Woche und einen Tag nach ihnen und haben nichts außer Blasen auf dem Arsch für unsere Mühe. Es ist dein Glück, dass ich Freunde bei Beauly Manor habe.“
„Hättest du nicht mit …“
„Nicht schon wieder die schöne Agnes“, beteuerte Gilmour, „Wahrlich, Bruder, es ist nicht meine Schuld, dass sie mich dir vor…“
„Dich mir vorzieht!“, knurrte Lachlan, der sich umdrehte, um an seiner triefender Mütze vorbei zu starren. „Sie zieht dich mir wohl kaum vor. Sie ist dich einfach nicht losgeworden! ‚Ah, meine liebste Agnes …’“, ahmte er Gilmour nach, indem er den letzten Abend nachspielte. „‚Deine Augen leuchten wie die hellsten Sterne. Deine …’“
„Augen!“, prustete Ramsay und beugte sich tiefer in den hohen, baumwollenen Kragen seines Umhangs. Der Älteste der drei wusste es üblicherweise besser als sich in die törichten Streitereien seiner Brüder einzumischen.
Doch Gilmour hatte schon sein blendendstes Lächeln in seine Richtung gewandt.
„Was sagst du da, Ram?“
„Nichts“, entgegnete er. Regen tröpfelte rhythmisch von seinen schmalen Zöpfchen auf seine Schultern hinab.
„Ich dachte, du hättest ‚Augen’ gesagt.“
„Es wäre nicht das erste Mal, dass dein Gehör dich trügt“, grollte Ramsay. Die unablässigen Regentropfen rannen ihm irritierend den Nacken hinab.
„Hmpf“, machte Gilmour. „Dabei war ich mir sicher, dass du etwas gesagt hast. Hast du ihn nicht auch reden gehört, Lachlan?“
„In der Tat, ich hörte ihn. Er sagte ‚Augen’.“
Gilmour nickte. „Genau wie ich vermutet habe. Und hat er es auch mit einer gewissen … Abwertung gesagt?“
„Aye, das tat er“, stimmte ihm Lachlan ernst zu.
„Du weißt aber schon, warum, oder, Bruder?“
„Ich weiß es. Er ist ruiniert.“
Gilmour nickte. „Aye. Ruiniert. Und du weißt sicherlich auch, warum.“
„Auch das tue ich, in der Tat. Es ist wegen einer ganz bestimmten Maid.“
„Mit dem Namen Lorna.“
„Sie brach sein Herz, weißt du“, seufzte Lachlan.
„Dabei gab es eine Zeit, in der sie kein Unrecht tun konnte.“
„Es stimmt.“ Lachlan starrte vor sich hin, sein Blick launisch auf den entgegenkommenden Regen gerichtet. „Ich erinnere mich gut daran, als unser weltgewandter Bruder keine Schande darin sah, mit beredsamen Worten über die Schönheit der Augen einer Frau zu sinnen.“
„Es war eine Zeit, in der auch er die Gesellschaft einer holden Maid genießen konnte.“
„Als er sich nicht über die Unschuldigen lustig machte.“
„Als er …“
„Unschuldig, am Arsch!“, knurrte Ramsay.
„Was sagst du da?“, fragte Gilmour mit großen Augen. Sein Kopf war ungeschützt vor dem strömenden Regen, doch es schien ihn nicht zu stören.
„Bestreitest du die Unschuld meiner Agnes?“, fragte Lachlan.
„Allem Anschein nach tut er das“, stellte Gilmour fest. Obwohl Ungläubigkeit in seiner Stimme lag, funkelten seine Augen schelmisch. Selbst sein goldfarbenes Pferd schien amüsiert dreinzuschauen.
„Schweigt, alle beide“, sagte Ramsay und sah direkt zwischen Gryfons schwarzen Ohrenspitzen hindurch. Sie waren unterschiedlich lang und in schlechter werdender Laune angelegt.
Für einen einzelnen, gesegneten Herzschlag herrschte Stille, ehe Gilmour wieder sprach: „Was weiß er schon von Unschuld, wo er doch selbst, dank seiner Fehleinschätzung des schöneren Geschlechts, so quälende Erfahrungen gemacht hat?“
„Meine Agnes ist unschuldig“, sagte Lachlan.
„Mit Sicherheit ist sie das.“
„Wahrlich?“, sagte Ramsay, der entgegen seines besseren Wissens sprach. „Dann bitte, Mour, sag mir, mit wem sie die Nacht verbrachte?“
Gilmours Lippen zuckten, doch er spreizte seine Finger in einer Zurschaustellung erbärmlicher Unschuld über seiner Brust. „Woher sollte ich das denn wissen, Bruder? Du warst es, der nicht aufhören konnte, ihre stattlichen Brüste zu begaffen!“
„Ihre stattlichen …“, begann Lachlan mit Empörung in der Stimme.
„Aye“, nickte Gilmour überschwänglich, sodass dicke Regentropfen aus seinen goldenen Haaren fielen. „Obwohl ich für meinen Teil nicht verstehen kann, wie er den Blick von ihrem süßen Lächeln, ihren wunderschönen Augen, ihren unschuldigen …“
„Dieses Weib“, sagte Ramsay, „ist etwa so unschuldig wie meine Lanze.“
Lachlan knurrte, woraufhin Gilmour grinste.
„Warum glaubst du denn, dass sie ein so freizügiges Kleid wählte? Etwa weil ihr in diesen feuchtkalten Herbsttagen zu warm war? Glaubst du womöglich, dass sie nicht realisiert hat, dass ihre Brüste dadurch wie zwei himmlisch wiegende Hügeln bis zu ihrem Kinn hochgepresst wurden?“ Ramsay funkelte seine Brüder an. „Ist es das, was ihr denkt, Brüder?“
„Also ich für meinen Teil habe es kaum wahrgenommen“, sagte Gilmour mit einer unverfänglichen Geste. „Doch ich schätze, es ist die Mode. Nichts Weiteres.“
„Verführung!“, zischte Lachlan.
„Wirst du jetzt ernsthaft zulassen, dass er deine Agnes derart …“, begann Gilmour, doch in dem Augenblick fing etwas anderes Ramsays Aufmerksamkeit ein.
Es war nur ein Schatten unter anderen Schatten, doch er bemerkte es mit einem Prickeln des Unbehagens.
„Ruhe“, befahl er leise und die anderen verstummten sofort. „Dreht euch noch nicht um, aber ich glaube, wir sind nicht alleine.“
„Erkläre“, sagte Gilmour, seine Stimme so leise wie Ramsays.
„Wo?“, fragte Lachlan.
„Zu unserer Linken und etwas weiter vorne.“ Ramsay hielt inne und erlaubte Gryfon nicht, seinen haarigen Kopf in die Richtung zu wenden, falls er den Reiter damit warnte, dass er bemerkt worden war. „Siehst du ihn?“
„Aye. Ein Krieger“, erwiderte Lachlan. „Von stattlicher Gestalt. Schwarzes Kettenhemd und Visier auf einem dunklen Ross. Ein Hengst, glaube ich. Möglicherweise fünf Sommer alt …“
„Himmelherrgott“, stöhnte Gilmour. „Wir müssen nicht den Namen des Tieres wissen. Ist er alleine?“
Es gab eine kleine Verzögerung aber nicht die kleinste Bewegung von Lachlans Kopf. „Ich sehe keinen anderen.“
„Bist du sicher?“
Das erste Mal in mehreren Stunden spaltete ein Grinsen Lachlans Gesicht. „Das werden wir wohl erst erfahren, wenn wir ihn konfrontieren.“
„Ihn konfrontieren!“, spottete Gilmour. „Du weißt, was das bedeutet, nicht, Ram?“
„Aye“, sagte Ramsay und rollte die Schultern, um das angenehme Gewicht seines Claymore-Schwertes auf seinem Rücken zu spüren. „Es bedeutet, dass unser kleiner Bruder auf Krawall gebürstet ist.“
„Und du weißt, wie ungehalten er wird, wenn er nicht das bekommt, was er will“, sagte Gilmour, der immer noch den Weg beobachtete.
„Es gibt nichts Schlimmeres als einen ungehaltenen Bruder“, sagte Ramsay - und damit wirbelte Gilmour nach links. Hätte Lachlan nicht genau dasselbe getan, wären sie ineinander geprallt. Stattdessen ritten sie alle drei als Einheit zwischen die Bäume.
Für einen donnernden Herzschlag lang blieb der Schatten dort, wo er war, dann drehte er sich rasend schnell und sprang davon. Sie jagten ihm wie Treibhunde nach, doch nach wenigen Minuten wussten sie, dass sie versagt hatten.
„Wo zum Teufel ist er hin?“, knurrte Ramsay.
Lachlan starrte finster in die Ferne. „Das gefällt mir ganz und gar nicht.“
„Mir gefällt es auch nur bedingt, wenn sich Menschen in Nichts auflösen“, stimmte Gilmour zu, während er sein Pferd beruhigte.
„Wenn er uns gegenüber keinen Groll hegte, warum hat er sich uns nicht gestellt?“, wunderte sich Lachlan.
„Vielleicht ist ihm mein Geschick mit dem Schwert bekannt“, sagte Gilmour.
„Oder vielleicht verfolgt er jemanden“, gab Ramsay zurück und lenkte sein kastanienfarbenes Ross nach links. Gryfon knirschte mit den Zähnen und warf seinen Schweif umher, als er gedreht wurde.
Die beiden anderen Brüder führten ihre größeren Pferde neben ihn.
„Spuren“, sagte Gilmour. „Zwei Verschiedene. Die Reiter waren hier im halsbrecherischen Tempo unterwegs.“
„Aye, und der zweite Satz ist von dem Krieger.“
„Bist du sicher?“, fragte Gilmour, doch Lachlan ließ sich nicht zu einer Antwort herab. „Also verfolgte er tatsächlich jemanden. Aber war er Freund oder Feind?“
„Feind“, antwortete Ramsay und warf sein grünes Plaid zur Seite, um einen Dolch aus seinem Bullenhautstiefel zu ziehen. „Aber er hat seine Beute verloren. Deswegen kehrte er hierher zurück, um die Spur wiederaufzunehmen.“
Lachlan stieg aus dem Sattel und drehte sich zum Hang. „Dann ist es nur recht, wenn wir ihm zuvorkommen.“
Der Regen gestaltete die Spurensuche schwer, doch die Brüder waren in ihrem Element. Lachlan hockte tief über der unsicheren Spur, während Ramsay zu seiner Linken und Gilmour zu seiner Rechten ritten. Ein MacGowan schaffte es nicht, zum Mann heranzuwachsen, ohne zu lernen, wie er sich und seine Sippe beschützte.
Ihre Augen ruhten nicht, während sie sich durch den nebligen Regen schlängelten, nur um immer wieder kehrtmachen und von Neuem beginnen zu müssen.
Ein Baumstamm lag schließlich in ihrem Weg und sie gingen drumherum, sich wohl bewusst, dass das Rauschen des Wassers unter ihnen alles andere übertönte. Bald aber waren sie am Ufer des Flusses und stellten fest, dass die Spur dort endete.
Gilmour blickte kurz zur Seite, um sicherzugehen, dass ihnen niemand gefolgt war oder sie beobachtete. „Was nun?“
„Wir raten welche Richtung. Rechts oder Links“, sagte Lachlan, der über das grollende Wasser hinwegsah, doch Ramsay wendete sein Ross bereits flussabwärts.
„Links“, sagte er. „Dort kam der Reiter her.“
„Ein guter Gedanke.“
„Aye, er ist beachtlich weise“, stimmte Gilmour zu. „Welch ein Jammer, dass ihn Lorna so zunichtegemacht hat, als sie …“
„Fang nicht wieder an …“, begann Ramsay, hielt jedoch sofort inne. Er hatte grünen Samt entdeckt, der kaum sichtbar unter den zerstreuten Blättern und Zweigen emporlugte.
„Was ist?“, fragte Gilmour, als Lachlan seinen Dolch zog.
„Die Beute“, sagte Ramsay und nickte in Richtung der Person, die fast versteckt neben einem gefallenen Baum im dichten Unterholz lag. „Sieht so aus, als hätten wir sie gefunden.“
Gilmour riss sein Pferd herum und eilte zu dem Körper. Lachlan folgte, doch Ramsay blieb, wo er war, und beobachtete den Wald auf jegliche Gefahrenzeichen. Als er keine vernahm, gab auch er seinem schlecht gelaunten Pferd die Sporen und ritt den Berg wieder hinauf. Er hielt grade an, als seine Brüder sich beim gefallenen Reiter niederknieten. Stille füllte den Wald. Ramsay spannte sich innerlich beinahe schmerzhaft an.
„Sagt es mir“, sagte er schließlich, nicht in der Lage, die Situation einzuschätzen. „Ist er tot?“
Lachlan war ruhig, als er nach einem Puls tastete, doch schließlich brach seine Stimme das Schweigen. „Nein. Der Junge lebt noch. Er hat eine Beule am Hinterkopf, aber kein Blut, das ich sehen kann. Und …“
„Der Junge.“ Gilmours Tonfall war ungläubig, als er den Körper sanft drehte. „Himmel, kein Wunder, dass Agnes dir keine Aufmerksamkeit schenkt. Du bist so langsam wie ein Bratspieß!“
„Was ist?“, fragte Ramsay.
Gilmour sah mit einem Grinsen zu seinem älteren Bruder hoch. „Entweder ich täusche mich, und das tue ich nie, oder er ist eine sie.“
Ramsay sprang sofort vom Pferd und war blitzschnell bei seinen Brüdern.
„Nein. Er …“, stritt Lachlan ab und strich die Plaidmütze, welche über den Kopf des Gefallenen gerutscht war, zur Seite. Ein verknoteter, weizenfarbener Haarschopf kam zum Vorschein und kullerte über den Arm seines Bruders. „Eine Frau!“, zischte er.
„Aye“, sagte Ramsay, „Und so schön wie der Sommer.“
„Eine Frau!“, wiederholte Lachlan.
„Mit einem Krieger auf ihren Fersen“, sagte Gilmour.
„Der Krieger!“ Lachlan kam langsam auf die Füße, seine Schultern wie die eines wütenden Stieres nach vorne gerichtet. „Er hat ihr das angetan!“
„Aber warum?“ Gilmour erhob sich hinter ihm, um in den Wald hinein zu spähen.
„Und wo ist er jetzt?“
„Fort. Und wir sollten auch gehen.“
„Aye.“ Lachlan ballte die Fäuste und sah zur Bewusstlosen hinab. „Bring mir mein Pferd, Mour, und reich sie mir hoch wenn ich im Sattel sitze.“
„Du?“, spottete Gilmour. „Wenn sie ein Stück Hammel wäre, würde ich es in Erwägung ziehen, dich sie heimtragen zu lassen. Aber sie ist eine Frau und ich bin unweigerlich der Richtige für diese Aufgabe.“
„Du machst wohl Witze“, sagte Lachlan.
„Du dachtest, sie wäre ein Junge, Bruder.“
„Das hat ja wohl nichts mit meiner Fähigkeit zu tun, sie zu tragen.“
„Was ist, wenn du sie für einen Stein oder einen Zweig oder einen Apfelbutzen hältst und sie auf dem Weg wegschmeißt?“
„Du wirst deine wandernden Hände bei dir behalten, Gilmour, oder ich werde, bei allen Heiligen …“
„Beim Allmächtigen!“, sagte Ramsay und stieß seine Brüder ungeduldig zur Seite, hob das Mädchen in die Arme und ging mit großen Schritten auf sein eigenes Pferd zu.
Kapitel 2
„Der Krieger war er ein Munro?“, fragte Flanna.
Die Brüder waren im Solar, dem Privatgemach, mit ihren Eltern, dem berüchtigten Lord und Lady von Dun Ard.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Lachlan. „Wir machten, ohne zu zögern, Jagd auf ihn.“ Ramsay beobachtete über den gewobenen Teppich hinweg, wie er begann, auf und ab zu laufen. „Aber er entkam uns.“
„Entkam euch wie?“, fragte ihr Vater, getauft Roderic und von seinen Freunden ‚der Rogue’ genannt.
Lachlan hob seine schweren Schultern ein einziges Mal. Er hatte die hünenhafte Statur seines Großvaters geerbt, während Ramsay … was? Womöglich die vorsichtige Skepsis seiner Mutter vererbt bekommen hatte. Er sah sie an und lächelte fast. Sie war als die Flamme der MacGowans bekannt - und sie war die einzige Frau, die den Rogue an der kurzen Leine halten konnte.
„Ich weiß es nicht“, wiederholte Lachlan. „In dem einen Moment war er da und im nächsten …“ Er atmete heftig aus. „Fort.“
„Fort?“, sagten Lord und Lady wie aus einem Munde.
„Ich weiß, ihr glaubt wahrscheinlich, dass unser Lachlan seinen Verstand verloren hat“, sagte Gilmour, der mit der Hüfte gegen eine große Truhe lehnte. „Und im Angesicht der Tatsache, dass er jene schlafende Schönheit nicht als Frau erkannte, nun …“ Er schüttelte den Kopf und seine weizenfarbenen Haare fingen das Kerzenlicht ein. „Ich kann das gut verstehen, aber der Krieger schien sich tatsächlich in Nichts aufzu…“
„Ohne mich hättest du Dun Ard gar nicht erst verlassen und das Mädchen würde immer noch allein und ungeschützt in der Wildnis herumliegen.“
„Und ohne mich würdest du sie Angus nennen und sie zum Ringen herausfordern …“
„Wir sollten schleunigst herausfinden, wo sie hingehört“, unterbrach Flanna, „bevor es zu spät ist.“
Das Unausgesprochene rief eine schwere Stille im Raum hervor.
„Sie wird zu sich kommen“, sagte Lachlan schließlich, „Sicher wird sie das.“
„Ich bete, dass du recht hast“, sagte Flanna. „Aber bis dahin sollten wir ihren Clan darüber informieren, wo sie ist.“
„Und wie finden wir ihren Clan?“
„Sicherlich wird sie vermisst“, sagte Roderic. „Sie ist ein hübsches Ding …“ Seine Stimme brach ab und er sah zur Flamme. „Zumindest eurem Bericht zufolge.“
Seine Braut von fast dreißig Jahren hob eine einzelne Braue. „Und dir selbst ist es noch nicht aufgefallen?“
„Natürlich nicht, meine Liebste“, sagte er und grinste, als er ihre Hand nahm. „Es war Gilmour, der mir darüber Bericht erstattet hat.“
„Ich verstehe. Also ist sie eine Schönheit, Mour?“, fragte Flanna.
„Aye.“ Sein Grinsen war dem seines Vaters identisch. „Aber nicht halb so schön wie du, Mutter.“
Sie lachte leise, als hätte sie bereits hunderte ähnlicher Lügen gehört und nicht einer einzigen Glauben geschenkt.
„Aber fast so schön wie Gilmour“, sagte Lachlan.
Flanna lachte laut auf und obwohl Gilmour seinem älteren Bruder einen vernichtenden Blick zuwarf, leuchteten seine Augen vor Heiterkeit.
„Und was ist mit dir, Ramsay?“, fragte Roderic. „Du bist uncharakteristisch leise. Findest du nicht, dass sie eine Schönheit ist?“
Ramsay zuckte mit den Schultern. Er hörte lieber den anderen beim Necken zu, als sich selbst daran zu beteiligen. Seit er vor einigen Monaten aus Edinburgh zurückgekehrt war, hatte er das Gefühl, dass Dun Ard sich verändert hatte. Dabei wusste er, dass sich rein gar nichts verändert hatte. Es war nur seine Wahrnehmung, die anders war. Seine Eltern waren schon immer ergebene und treue Anführer des MacGowan Clans gewesen. Seine Brüder hatten sich schon immer miteinander gezankt. Die Flamme hatte den Rogue schon immer über alles geliebt und hatte diese Liebe hundertfach zurückbekommen. Aber vielleicht war Ramsay zuvor nicht bewusst gewesen, vielleicht hatte er damals noch nicht verstanden, was es für eine seltene und wertvolle Sache war, die seine Eltern miteinander teilten. Nicht bis Lorna, dachte er, und lenkte seine Gedanken in eine andere Richtung, ehe sie von seiner Mimik Besitz ergreifen konnten.
„Ich vermute, sie ist hübsch genug“, sagte er.
„Hübsch genug?“, schnaufte Lachlan.
„Ihr Gesicht ist engelsgleich“, argumentierte Gilmour. „Meine Mary ist wahrlich die Verkörperung von Reinheit und Grazie, es ist nur, dass Ram …“
„Mary?“, fragten drei Stimmen gleichzeitig.
Gilmour schenkte ihnen ein Grinsen. „Das Mädchen braucht doch einen Namen. Ich bin dazu übergegangen, sie Mary zu nennen.“
„Warum in aller Welt, würdest du …“, begann Lachlan, aber Ramsay unterbrach.
„Wie die heilige Mutter Gottes“, sagte er und kam entnervt auf die Beine.
Im Zimmer wurde es ruhig.
„Ärgert dich etwas, Ramsay?“, fragte Flanna.
Er warf ihr einen Blick zu. Sie hatten eine Verbindung, seine Mutter und er, und er hatte kein Verlangen danach, sie anzulügen. Aber, wenn er ehrlich war, ärgert ihn tatsächlich etwas, auch wenn er nicht ganz sicher war, was es war.
„Nein, nichts ärgert mich, Mutter“, sagte er. „Es ist nur, dass …“ Er begann auf und ab zu laufen, genau wie Lachlan zuvor, vorbei an der selten benutzten Laute und der Guittara Latina. Während die Flamme der MacGowans mehr als geschickt mit dem Bogen und fast schon teuflisch mit einem Dolch war, war sie kaum durchschnittlich in den weiblichen Künsten. Vielleicht war das dem kompletten Fehlen einer kokettierenden Art geschuldet. Ramsay hatte erwartet, diese Qualitäten auch in anderen Frauen zu entdecken, aber bislang war er enttäuscht worden.
„Nur was?“, fragte seine Mutter.
„Wir wissen nichts über diese Frau“, sagte er, „Wahrlich, vielleicht ist sie so keusch und selig wie meine Brüder vermuten, doch vielleicht ist sie das Gegenteil.“
„Du hast sie doch nicht mehr alle!“, sagte Lachlan.
„Er hat sie nicht mehr alle“, stimmte Gilmour ruhig zu.
„Und was, bei aller Liebe, hat euch dazu verleitet, das zu glauben, Brüder?“, fragte Ramsay, darauf bedacht, seinen Tonfall gemäßigt zu halten. „Die Tatsache, das ich verstehe, dass ein hübsches Gesicht ein böses Herz verstecken kann? Was ist, wenn sie alt und launisch wäre, mit einer Warze und einem halbkahlen Kopf? Dann wäre sie sicher des Bösen?“
„Sicherlich“, sagte Gilmour.
„Natürlich“, stimmte Lachlan zu.
Ramsay sah finster drein, auch wenn er versuchte, es nicht zu tun. „Mutter, rede mit ihnen.“
Doch sie lächelte und der Rogue gluckste vor sich hin. „Meiner Meinung nach ist es ein wenig früh, um zu entscheiden, ob sie Heilige oder Sünderin ist“, sagte Flanna. „Vielleicht sollten wir warten, zumindest bis sie wach wird. Gebt ihr mir nicht recht, meine Söhne?“
„Aye“, sagte Lachlan.
„Ich bin bereit, alle Ewigkeit darauf zu warten, dass sie wach wird“, antwortete Gilmour.
„Und du?“, fragte Flanna, den Blick auf Ramsay gerichtet.
Seine Emotionen wieder ordentlich unter Kontrolle zuckte er mit den Schultern. „Mir ist es egal, als was sich ihr Temperament beweist. Ich hoffe nur, dass sie keine Spionin ist.“
„Eine Spionin!“
Für einen Moment dachte er, dass Lachlan sich tatsächlich von der anderen Seite des Zimmers auf ihn stürzen würde. Sein Bruder war nämlich für seine plötzlichen Wutausbrüche bekannt. Er blieb jedoch, wo er war, auch wenn seine eckigen Hände zu Fäusten geballt waren.
„Deine Zeit am Hof hat deinem Gehirn geschadet. Das Mädchen könnte nicht weniger eine Spionin, als ich eine … Eine faulende Rübe sein könnte.“
„Über die Ähnlichkeit habe ich mir oft Gedanken gemacht“, murmelte Gilmour, der sich aufrecht hinstellte.
„Und warum nicht?“, fuhr Ramsay weiter und ignorierte ihn. „Jetzt, da sich die Stimmung jeden Tag weiter gegen die Franzosen wendet, kann jegliche Art von Ärger im Anmarsch sein. Vergesst nicht, Brüder, normannisches Blut fließt durch eure Adern.“
„Sie ist keine Spionin“, sagte Lachlan und Ramsay zuckte mit den Schultern.
„Dann ist sie vielleicht eine …“
„Genug!“ Flannas Stimme hallte von den steinernen Wänden wider und ihre Augen leuchteten fast so hell, wie ihre kastanienbraunen Haare im Licht der nahen Kerzen. „Es ist nicht an uns, zu entscheiden, was sie ist. Nicht bis wir wissen, wer sie ist.“
„Sie ist keine …“, begann Lachlan, doch Flanna hob ihre Hand und Stille kehrte ein.
„Gilmour, ich habe eine Aufgabe für dich. Du wirst nach Braeburn reisen und fragen, ob sie vielleicht ein blondes Mädchen vermissen.“
„Aye, Mutter, obwohl ich ungern gehe, wenn der Fuchs auf den Hühnerstall aufpasst.“
Sie sah ihn einen Moment lang fragend an und drehte sich dann zu ihrem Ehemann. „Er ist dein Sohn“, sagte sie, mit der Aufforderung nach einer Erklärung.
„Ich glaube, er meint, Lachlan sei der Fuchs“, sagte Roderic.
„Ah.“ Sie drehte sich mit gehobener Braue zurück zu ihrem Drittgeborenen. „Noch nie habe ich für mein Stammhaus die Bezeichnung Hühnerstall gehört, Mour. Doch sei versichert, ich habe auch eine Aufgabe für deinen Bruder. Lachlan, du wirst versuchen den Krieger …“, begann sie, doch Roderic schüttelte den Kopf und sie drehte sich zu ihm. „Nein?“
„Unseren Lachlan gegen den Mann ausschicken, der unserer heiligen Mary schaden wollte?“ Er zuckte mit den Schultern, ein Lachen in seinen Augen. „Ich glaube, es wäre besser, wenn jener Krieger die Fähigkeit zu sprechen behält, ehe er in unsere Burg gebracht wird.“
Sie nickte. „Lachlan, du wirst nach Braeburn reiten, um nach der Maid zu fragen. Gilmour, du suchst den Krieger. Und Ramsay …“ Sie wandte sich ihm zu, ihre Augen leicht verengt, als sie ihn musterte. „Was ist mit dir, mein Sohn?“
Er kämpfte gegen den Drang an, sich unter ihrem Blick zu winden. Es schien ein ganzes Zeitalter zu vergehen, während sie ihn anstarrte, doch schließlich sprach sie.
„Du wirst das Pferd des Mädchens suchen.“
„Wie du wünschst, Mutter“, sagte er mit Erleichterung, als sie fortsah.
Sie lächelte. „Gut. Mit Gottes Gnaden werden wir bis morgen Abend die wahre Identität dieser Maid wissen.“
„Sie ist keine Spionin“, murmelte Lachlan, Ramsay beäugend.
Er zuckte mit den Schultern. „Dann eine Ketzerin. Oder eine Mörderin, oder …“
„Eine Ketzerin!“, keuchte Lachlan.
„Eine …“, begann Gilmour, doch Flanna erhob sich.
„Ruhe!“
„Eine Mörderin“, schnaufte Gilmour.
Roderic erhob sich neben seiner Frau. „Jungs“,sagte er, seine Stimme tief. „Eure werte Mutter hat um Ruhe gebeten. Ihr wollt sie sicher nicht verärgern. Sie könnte … in Ohnmacht fallen.“
„Aye“, sagte Gilmour schelmisch. „Und ich könnte mit einem Mal in hunderte kleine Teilen zerspringen, wie ein gebrochener Tonbecher, aber ich zweifel daran.“
„Sagst du, deine Mutter ist weniger als die absolute Verkörperung zärtlichster Weiblichkeit?“, fragte Roderic.
Ruhe breitete sich im Raum aus wie ein umgekipptes Tintenfass. Die Brüder tauschten nervöse Blicke miteinander aus und sahen dann fort.
„Nun, Vater“, sagte Gilmour schließlich. „Malcom von Ryland hat immerhin noch diese Narbe.“
„Aye“, fügte Lachlan hinzu „Und ich glaube, Hayday, der Falke, hätte sich auch ohne Mutters Hilfe verteidigen können.“
„Narben“, sagte Roderic, als wäre ein so unwichtiges Thema unter seiner Würde. „Wie könnt ihr in der Anwesenheit meiner holden Braut über solches sprechen? Seht sie euch an. Ist sie nicht so zärtlich wie eine Frühlingsblüte?“
Flanna senkte den Blick und legte sich eine Hand auf die Brust.
Etwas Augengezwinker und man würde meinen, dass sie fabelhaft in das Gefolge der Königin passen würde, genau wie ein Nagel ins Holz, doch keine Seele schien gewillt, den Unterschied zwischen ihrem Erscheinen und ihrem Gemüt erwähnen zu wollen.
„Keine Kommentare?“, fragte Roderic schließlich. „Gut, dann weiter. Was habt ihr gelernt, Burschen?“
„Nicht auf Mutters unschuldige Blicke zu setzen?“, murmelte Gilmour. Lachlan grinste und hüstelte leise, als er wegsah.
„Was sagst du, Mour?“
„Nichts, nichts.“
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass du etwas gesagt hast, also bitte, nur zu, verkünde, welche Weisheit du heute lerntest.“
Gilmour legte die Hände auf den Rücken und sprach wie ein gescholtenes Kind. „Dass die Wahrheit nicht immer mit dem Schein übereinstimmt?“
„Gut gesagt.“ Roderic grinste, als er die Hand seiner Frau küsste und diese anschließend auf seinen Arm legte. „Versucht, euch daran zu erinnern, wenn ihr durch die Welt schreitet.“
„Aye, Vater“, versprach Gilmour.
„Ich werde mich erinnern“, stimmte Lachlan zu.
Sie schafften es nicht.
Vierundzwanzig Stunden später stand Ramsay im Türrahmen des Hospitals und hörte seinen Brüdern mit einer Mischung aus Resignation und Belustigung zu.
„Ihre Augen sind wie Saphire“, sagte Gilmour.
„Du weißt nicht, welche Farbe ihre Augen haben“, bestritt Lachlan. „Genauso wenig wie du ihren Namen kennst.“
„Vielleicht irre ich mich. Aber ich irre mich nie …“ Gilmour lächelte verträumt, als er sanft die Hand der schlafenden Frau drückte, die auf dem Bett zwischen ihnen lag. „Ihre Augen sind so blau wie der Himmel, der sie zu mir schickte.“
„Zu dir“, spöttelte Lachlan.
„Natürlich zu mir. Zu wem sonst …“
Ramsay ließ die Worte ins Nichts verschwinden, als er dem Mädchen beim Schlafen zusah. Nur nach ihrem Schweigen zu urteilen, war sie schlauer als seine beiden Brüder.
Ihr Gesicht war fast rund und ihr kleines, spitzes Kinn war es, das es davon abhielt, kindlich auszusehen. Gegen ihre elfenbeinblassen Wangen schienen ihre daunenartigen Wimpern fast schon dunkel, doch sie waren nicht viel dunkler als ihre Haare, welches die satte Farbe von sommerlichen Gerstenfeldern hatte. Sie waren so lang wie sein Arm und so leuchtend wie die Morgensonne. Es war wahrscheinlich kein Wunder, dass seine Brüder bei ihrem Anblick die Besinnung verloren. Es war eine schwere Lektion das Aussehen einer Frau von ihrem Charakter getrennt zu halten, und wenn man ihr Gesicht betrachtete, nun, dann kam einem tatsächlich das Wort ‚Heilige’ in den Sinn. Aber seltsamerweise waren es ihre Hände, die ihn faszinierten. Sie waren so schmal, so blass und zerbrechlich. Sie lagen zusammengelegt auf der Decke, so, als würde sie beten - und in einem Moment zuckten sie etwas, als wären sie von ihrem eigenen Bitten gerührt.
Aye, sie schien engelsgleich, perfekt, ein kleines Stückchen Himmel, welches in weiblicher Form auf die Erde geschickt worden war. Aber er hatte zuvor schon Perfektion gekannt und hatte viele schlaflose Nächte damit verbracht, darauf zu warten, diese noch einmal erfahren zu dürfen. Um so eine Frau zu halten, um sie noch um einen letzten Kuss anzuflehen, wohl wissend, dass er es nicht sollte, dass sie zu vollkommen war, zu gut für ihn. Nur um herauszufinden, dass …
„Ich werde nicht dulden, dass du solche Sachen über das Mädchen sagst“, sagte Lachlan. Seine Stimme war tief, herausfordernd. Alles Wohlige war aus seinem Tonfall gewichen, auch wenn Gilmour sich nie um eine solche Warnung geschert hatte.
„Nur weil sie ein Engel ist, heißt es nicht, dass sie nicht dieselben Wünsche und Bedürfnisse hat wie andere Frauen. Es heißt nicht, dass sie mich nicht haben wollen wird“, sagte Mour und strich mit seinen Knöcheln über ihre Wange. „Aber du hast recht. Eine Unschuldige sollte solche Worte nicht hören. Ich werde meine Gedanken für mich behalten.“
„Und deine Hände auch“, sagte Lachlan und stieß seinen Arm zur Seite. „Oder ich werde zusehen, dass du mit dem Hintern voraus aus dem Hospital fliegst.“
Gilmour lachte, als wäre er wahrlich überrascht. „Bitte sag mir nicht, dass du glaubst, dass sie dir gehören wird, Bruder.“
Lachlans Augen verengten sich. „Und warum nicht?“
„Weil du, nun … du …“ Gilmour wedelte mit der Hand, um das gesamte Sein seines Bruders zu erfassen. „Ein Engel gehört ja wohl nicht zu einem Troll.“
„Und sie gehört genau so wenig zu einem Teufel.“
„Wahrlich, Lachlan, ich glaube, sie ist viel zu fein für jemanden wie dich. Schau doch wie zärtlich ihre Züge sind“, sagte Gilmour und strich erneut mit seinen Fingern über ihre Wange. „Schau doch, wie …“
Doch in dem Moment erwachte der Engel. Ihre Augen flogen auf. „Lasst bloß die Finger von mir“, knurrte sie.
„Ihr seid ja wach!“ Gilmours Augen weiteten sich.
„Gott sei gepriesen!“
Sie zuckte nach rechts, als sie Lachlans Stimme hörte. „Wenn mich einer von euch anrührt, ich schwöre es beim Allmächtigen, werde ich zusehen, dass ihr gehängt und gevierteilt werdet, ehe die Sonne aufgeht.“