Erstes Kapitel
Männer sind unzuverlässige, untreue Kreaturen, denen alles gleichgültig ist außer ihrem persönlichen Vergnügen und dem Fortbestand ihres Namens. Gwendolyn Townsend
Von einem Rechtsanwalt einbestellt zu werden, verhieß nie etwas Gutes. Gwendolyn Townsend setzte sich noch aufrechter hin, als es ohnehin ihre Gewohnheit war, und unterdrückte das Bedürfnis, an der abgeschabten Manschette ihres Umhangs zu zupfen. Sie war die Tochter eines Viscount und würde sich, selbst unter den derzeitigen Umständen, keinesfalls von einem einfachen Advokaten einschüchtern lassen. Ferner war sie überhaupt nicht davon angetan, dass man sie warten ließ. Dass sie trotz ihrer Herkunft derzeit nur eine Gouvernante war, und auch noch eine wenig erfolgreiche, ließ sie dabei großzügig außer Acht. Nicht so leicht war jedoch diese lang vergessene Warnung zu verscheuchen, die sich machtvoll in ihre Gedanken geschlichen hatte. Sie hallte in ihrem Kopf wider, seit der Brief des Vermögensverwalters ihres verstorbenen Vaters, Mr. Whiting, sie schließlich in New York erreicht hatte. Warum auch nicht? Sie hatte sie während der ersten sechzehn Jahre ihres Lebens oft genug von den Dienstboten in Madame Chaussans Akademie für Junge Damen gehört. Und hatte sie sich nicht jedes Mal als wahr erwiesen? Gwens letzter Kontakt mit einem Anwalt hatte vor fünf Jahren stattgefunden. Damals hatte Mr. Whitings Neffe, der in das Geschäft seines Onkels eingetreten war, ihr mitgeteilt, sie sei völlig mittellos. Sie erinnerte sich noch gut an diesen Augenblick – das Unbehagen des jungen Mannes, kaum älter als sie selbst, und das Mitgefühl in seinen braunen Augen.
„Miss Townsend, bitte verzeihen Sie, dass ich Sie warten ließ.“ Ein Gentleman von vornehmer Erscheinung trat in den Raum und kam auf sie zu. Gwen kannte seinen Namen, doch sie waren sich nie zuvor begegnet. Er streckte ihr die Hand hin und sie ergriff sie vorsichtig. „Ihr Erscheinen überrascht mich ein wenig. Ich hatte Sie erst in einigen Tagen erwartet.“
„Ich dachte, es sei das Beste, umgehend nach England zurückzukehren.“
„Selbstverständlich.“ Er entzog ihr seine Hand und blickte zur Tür. „Sie erinnern sich an meinen Neffen Albert?“ Jetzt erst bemerkte sie den jüngeren Mann, der mit erkennbar entschuldigender Miene im Türrahmen stand. Heute lag kein Mitgefühl in seinen Augen, aber sein Gesichtsausdruck war dennoch seltsam. „Natürlich.“ Sie lächelte höflich und wartete. Wenn es etwas gab, das sie in sieben aufeinander folgenden Anstellungen gelernt hatte, war es, sich den Anschein von Geduld zu geben. Mr. Whiting nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und nickte seinem Neffen herablassend zu. Albert ging zur Tür, blieb aber plötzlich stehen und wandte sich um. „Miss Townsend, ich bitte Sie, meine aufrichtige Entschuldigung anzunehmen.“ Plötzlich erkannte sie, dass in seinem Blick Schuldgefühl lag. Er trat näher heran. „Das alles ist ausschließlich meine Schuld und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ehrlich betrübt ich bin, seit der Fehler entdeckt wurde. Ich habe mir größte Sorgen um Ihr …“
„Das reicht jetzt, Albert“, sagte Whiting bestimmt. Fehler? Gwen blickte erstaunt von Albert zu seinem Onkel. „Welcher Fehler?“, fragte sie langsam. „Es war ein Irrtum.“ Albert schüttelte den Kopf. „Unentschuldbar und ich werde mir selbst nie verz…“ Irrtum? „Albert.“ Whitings Stimme klang schneidend. Albert beachtete ihn nicht. „Miss Townsend, bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich mich ab sofort als Ihr Diener betrachte. Sollten Sie irgendetwas benötigen, einschließlich der Vorteile, die nur eine Ehe bieten kann, würde ich mich geehrt fühlen, meine Dienste …“
„Albert“, bellte Whiting. „Ich kümmere mich darum. Du hast sicher andere Aufgaben zu erledigen.“ Albert zögerte, dann nickte er. „Natürlich, Onkel.“ Er straffte die Schultern und sah ihr in die Augen. „Noch einmal, Miss Townsend, ich bitte um Verzeihung.“ Er ging ohne ein weiteres Wort. Gwen sah ihm nach. Myriaden von Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf, aber keiner davon ergab einen Sinn. Whiting räusperte sich. „Miss Townsend, ich …“
„Was für ein Irrtum?“ Sie sah ihm direkt in die Augen. Whiting zögerte, als suchte er nach Worten. Er fühlte sich sichtlich unbehaglich und zum ersten Mal seit dem Tode ihres Vaters schimmerte in ihr wieder Hoffnung auf. Als sie Whitings Brief erhalten hatte, war sie selbstverständlich neugierig gewesen: Eine bezahlte Rückreise nach England lag bei. Ansonsten beinhaltete er nur die Nachricht, dass sie wegen einer dringenden Familienangelegenheit umgehend zurückkehren müsse. Sie hatte nur zu bereitwillig ihren Arbeitgebern und deren unerfreulichen Sprösslingen den Rücken gekehrt und das erste Schiff nach Hause genommen.
„Mr. Whiting?“ Sie hatte vermutet, dass Mr. Whitings Appell das Unterzeichnen von Papieren betraf, die das Anwesen ihres Vaters oder die Überschreibung seines Eigentums anbelangten. Angelegenheiten, die sie lang erledigt geglaubt hatte. Doch was immer der Anlass war, immerhin war er in Whitings Augen bedeutsam genug, um ihr die Rückkehr nach England zu ermöglichen. Und nur das zählte. Das Unbehagen des Anwalts und die demütige Entschuldigung sowie der merkwürdige Heiratsantrag seines Neffen zeigten Gwen, dass die „dringende Angelegenheit“ augenscheinlich viel bedeutsamer war.
„Miss Townsend.“ Whiting faltete die Hände auf dem Schreibtisch vor sich. „Mein Neffe hätte Sie niemals auf die Art und Weise über Ihre finanzielle Situation informieren dürfen, wie er es tat. Ebenso wenig hätte er Ihnen so bald nach dem Ableben Ihres Vaters überhaupt etwas sagen sollen.“ Gwens Mut sank. „Das war sehr gedankenlos von ihm und …“
„Mr. Whiting, so sehr ich Ihre aufrichtige, wenngleich längst überfällige Entschuldigung im Namen Ihres Neffen zu schätzen weiß, war es doch wohl kaum nötig, mich dafür quer über den Ozean fahren zu lassen. Ich bin Ihnen jedoch äußerst dankbar für die Heimreise. Ich gehe davon aus, dass Sie damit Ihr Gewissen erleichtern wollten, um die Bekanntgabe meiner finanziellen Situation am Tag nach meines Vaters Tod nicht so schroff erscheinen zu lassen. Sie können Albert ausrichten, dass ich seinen Heiratsantrag zu schätzen weiß. Gut.“ Sie stand auf. „Wenn das dann alles wäre …“ Whiting erhob sich. „Verzeihung, Miss Townsend, ich bitte um Nachsicht. Das ist noch lange nicht alles. Die Angelegenheit ist ausgesprochen delikat und äußerst schwierig. In vielerlei Hinsicht habe ich das Gefühl, dass mein Neffe und ich, nun ja, beinahe Ihr Leben ruiniert haben.“
„Mein Leben ruiniert? Das ist wohl kaum möglich.“ Sie blickte ihm direkt in die Augen. „Sie kennen die Lage meines Vaters besser als jeder andere. Sein Titel, das Herrenhaus und der Grundbesitz fielen der Erbfolge gehorchend an seinen einzigen noch lebenden männlichen Verwandten - einen entfernten Cousin, den ich nie kennenlernte. Da ich nicht als Mann geboren wurde“, sie schluckte die Welle von Bitterkeit hinunter, die bei diesen Worten in ihr hochstieg, „konnte ich sein Zuhause, mein Zuhause, nicht erben. Das ist eine Tatsache, Mr. Whiting. Eine, die mir immer bewusst war. Die Erklärung Ihres Neffen kam nicht überraschend, wenngleich der Zeitpunkt und die Ausdrucksweise nicht gerade sehr feinfühlig waren.“ Zum ersten Mal, seit sie das Büro betreten hatte, lächelte sie, wenn auch ein wenig verhalten. „Naturgegebene Umstände und die Gesetze der Männer haben mein Leben zerstört. Allerdings empfinde ich es nicht als vollkommen ruiniert. Ich habe immer noch meinen Namen und meinen Ruf und ich werde Mittel und Wege finden, für mein Auskommen zu sorgen.“
„Ja“, erwiderte Whiting beinahe unfreundlich, „das ist vielleicht nicht notwendig.“
„Nein?“
„Bitte.“ Er deutete auf den Stuhl und sie nahm wieder Platz. Whiting ließ sich wieder in seinem Sessel nieder und holte tief Luft. „Als mein Neffe Sie von Ihrer finanziellen Situation in Kenntnis setzte, hatte er in solchen Dingen noch nicht so viel Erfahrung wie heute.“ Sie winkte ab. „Eine weitere Entschuldigung ist nicht erforderlich.“
„Lassen Sie mich bitte fortfahren.“ Er schnaufte. „Was ich sagen möchte, ist, dass Albert aus Unerfahrenheit vor fünf Jahren falsche Schlüsse gezogen hatte, was die Angelegenheiten Ihres Vaters betrafen. Er hatte nicht ganz Unrecht, doch im Gegensatz zu mir wusste er nicht, dass Ihr Vater Vorkehrungen für Ihre Zukunft getroffen hatte.“
„Vorkehrungen?“ Sie hielt den Atem an. „Was für Vorkehrungen?“
„Er ließ Sie nicht mittellos zurück.“ Einen Augenblick lang verwirrten sie seine Worte. Sie sank in ihrem Stuhl zusammen wie ein Segel bei plötzlicher Flaute. „Geht es Ihnen nicht gut, Miss Townsend?“ Whiting sprang auf und stürzte auf sie zu. „Doch, doch.“ Sie schüttelte den Kopf, um wieder klar zu werden und winkte ab. „Fahren Sie fort.“
„Sehr wohl.“ Whiting betrachtete sie eindringlich, kehrte zu seinem Sessel zurück und widmete sich wieder den Papieren. „Bei der Geburt jeder seiner Töchter richtete Ihr Vater ein Konto ein. Das sollte ihnen ein Einkommen sichern, falls sie zum Zeitpunkt seines Todes noch unverheiratet sein sollten. Als Ihre Schwester sich gegen seinen Willen vermählte, löste er ihres auf.“
„Natürlich“, murmelte Gwen. Sie wusste gar nicht mehr, wann sie das letzte Mal an ihre Schwester gedacht hatte. Louisa war dreizehn Jahre älter als sie und hatte sich in einen verwegenen, forschen Abenteurer verliebt, als Gwen noch sehr jung war. Louisa hatte gegen den Willen des Vaters geheiratet und war ihrem Mann auf seine Reisen um die Welt gefolgt. Sie hatte alle Verbindungen zu ihrer Familie abgebrochen. Gwen dachte gelegentlich an ihre Schwester, an die sie sich kaum erinnern konnte, und fragte sich, ob sie ihre kleine Schwester vergessen hatte.
„Wie ich bereits sagte, das jährliche Einkommen ist nicht sehr umfangreich, aber es wird Ihnen ein bescheidenes Leben ermöglichen. Zudem beinhaltet sein Vermächtnis an Sie ein kleines Haus auf dem Land, nahe dem Dörfchen Pennington.“
„Ein Einkommen und ein Haus.“ Sie blickte ungläubig vor sich hin. „Ein Einkommen und ein Haus?“
„Das ist noch nicht alles. Soll ich fortfahren?“ Besorgnis zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. „Sind Sie sicher, dass Ihnen wohl ist?“
„Ich weiß es nicht so recht.“ Sie schüttelte den Kopf. Ein Einkommen und ein Haus! „Ich glaube nicht.“ Plötzlich wurde ihr das Ausmaß des Ganzen bewusst und sie musste lachen.
„Miss Townsend?“
„Ach, sehen Sie mich nicht so an, Mr. Whiting. Ich werde schon nicht wahnsinnig. Es ist nur …“
Sie presste die Finger an die Schläfen und versuchte, seine Worte zu begreifen. Diesem Fremden gegenüber konnte sie unmöglich ihre Erleichterung, nein, die unerwartete Freude darüber verständlich machen. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf und ihr Vergnügen verebbte. „Warum hat man mich nicht vorher darüber informiert?“
„Miss Townsend, wie bereits erwähnt, Albert …“
„Zum Teufel mit Albert.“ Grenzenlose Wut ließ sie aufspringen. „Sie sind der Mann, dem sich mein Vater anvertraute, nicht Ihr Neffe. Den Fehler, Mr. Whiting, haben Sie gemacht und nur Sie!“
„Sie haben recht. Und ich nehme ihn auf mich. Das ist genau der Grund, warum ich Ihre Überfahrt bezahlt habe.“ Er hatte sich ebenfalls erhoben. „Meine Fehlentscheidung lag darin, einen unerfahrenen Jungen zu schicken, um die Details Ihres väterlichen Besitzes zu klären. Seine Aufgabe bestand nicht darin, Sie von irgendetwas in Kenntnis zu setzen. Ich hatte ihn lediglich nach Townsend Park vorausgesandt, um schon einmal mit der Sichtung der Papiere Ihres Vaters zu beginnen. Ich stieß am nächsten Tag dazu, doch Sie, mein liebes Fräulein, waren da schon weg.“
„Was hatten Sie erwartet? All meine Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Mein Vater war tot.“ Sie lief vor dem Schreibtisch auf und ab, die Worte in gleichem Maß an sich selbst gerichtet wie an den Anwalt. „Gut, ich hatte Jahre meines Lebens fern von ihm im Internat verbracht und kannte ihn kaum. Aber dennoch hatte es ihn immer gegeben. Ich wusste stets, dass es ihn gab. Er behandelte mich freundlich, wenn auch ohne besondere Zärtlichkeit. Es gab keinen Anlass, an einer gewissen Zuneigung mir gegenüber zu zweifeln und er bedeutete mir ebenfalls etwas. Mir wurde erst bewusst, wie viel, als er nicht mehr da war. Außerdem wäre ich bald aus meinem Zuhause vertrieben worden. Ich war, mit den Worten Ihres Neffen, eine mittellose Waise ohne Zukunftsaussichten, die der Gnade und dem Großmut eines mir völlig unbekannten Cousins ausgeliefert war.“ Sie hielt inne und sah ihn an. „Mir war schon lange klar, dass man sich in dieser Welt nur auf sich selbst verlassen kann. Meine Eltern waren beide tot und meine Schwester verschwunden; nichts hielt mich mehr in Townsend Park. Sie können mir kaum verübeln, dass ich wegging.“ Sie trat näher. „Jeden Tag meines Lebens sagte ich mir, mein eigenes Leben zu führen, sollte mein Vater sterben und ich noch nicht verheiratet sein. Und genau das tat ich, Mr. Whiting.“
„Sie waren schwer zu finden“, brummte Mr. Whiting. „Ich habe es wirklich versucht. Es dauerte Monate, Ihre Spur von Townsend Park zum Haus dieser vermaledeiten Französin in London zu verfolgen …“ Seine Augen verengten sich. „Wie haben Sie das nur geschafft, als mittellose Waise, die Sie waren?“
„Ich hatte meine Quellen“, gab sie hochmütig zurück. Sie hatte jahrelang alles Geld gespart, was ihr in die Finger geraten war. Er schnaubte. „Zweifellos. Schließlich hatte ich die beiden Damen, Madame Freneau und Madame de Chabot, aufgespürt. Und eines Tages würde ich gerne wissen, woher Sie eine Dame von solch zweifelhaftem Ruf kennen …“
„Mr. Whiting, Madame de Chabot ist Madame Freneaus Schwägerin. Madame Freneau war meine Lehrerin und ist bis heute meine liebste Freundin. Und beide Damen waren überaus freundlich zu mir.“ Da Mr. Whiting Madame de Chabot offensichtlich missbilligte, sollte Gwen wohl besser nicht erwähnen, dass sie seit ihrer Ankunft in London vor zwei Tagen bei den beiden wohnte. Der Mann hatte trotz allem die Verfügungsgewalt über ihre Finanzen. Dennoch …
„Außerdem schulde ich niemandem eine Erklärung, Ihnen am allerwenigsten. Ich bin kein Schulmädchen mehr …“
„Aha!“ Er funkelte sie an. „Aber genau das waren Sie, als Ihr Vater starb. Sie waren gerade einmal sechzehn Jahre alt und ich wurde als Ihr Vormund und als sein Testamentsvollstrecker bestimmt. Und, das sollte ich noch erwähnen, als Ihr Vermögensverwalter bis zu einer etwaigen Vermählung.“
„Ich benötige jetzt keinen Vormund mehr. Ich bin mündig.“
„Ungeachtet dessen habe ich immer noch die Verfügungsgewalt über Ihr Einkommen und werde sie bis zu dem Tag behalten, an dem Sie heiraten oder ich sterbe.“ Er beugte sich drohend vor. „Setzen Sie sich, Miss Townsend.“ Sie wollte protestieren, überlegte es sich aber anders und setzte sich. „Als ich endlich Ihren Wohnsitz in London ausfindig gemacht hatte, waren Sie nach Amerika geflohen. Stellen Sie sich meine Überraschung vor, als ich erfuhr, dass ich nicht länger nach der sechzehnjährigen Tochter eines englischen Lords fahndete, sondern nach einer zwanzigjährigen Gouvernante. Eine Miss“ – er blickte kurz auf die Papiere vor sich – „nein – eine Mademoiselle … Fromage. Fromage?“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Käse?“
„Seien Sie nicht albern“, murmelte sie. „Es war Froumage.“
„Aha. Wie auch immer, es gelang Ihnen, meinen Nachforschungen stets einen Schritt voraus zu sein.“ Wieder blickte er auf die Papiere. „Ihre erste Anstellung in Philadelphia dauerte nur wenige Monate. Im Anschluss nahmen Sie eine Stelle in Boston an, wieder nur für kurze Zeit, wie auch die folgenden Posten in Baltimore, Trenton, wiederum Philadelphia. Bis zur jüngsten Anstellung in New York, wo Sie endlich lange genug blieben, damit meine Helfer Sie finden konnten.“ Er sah sie durchdringend an. „Es wäre leichter gewesen, wenn Sie nicht ständig Ihren Namen geändert hätten. Der letzte war … wie?“
„Picard“, murmelte sie. „Ich nehme an, das geschah, um schlechte Referenzen zu vermeiden?“ Sie seufzte gereizt und blickte unschuldig ins Leere, wobei sie sorgfältig den Blickkontakt mit ihm vermied. „Meine Persönlichkeit ist nicht sonderlich geeignet für den Beruf einer Gouvernante. Eine Unzulänglichkeit, die noch durch die Neigung der Amerikaner verstärkt wird, bemerkenswert ungezogenen und verwöhnten Nachwuchs zu produzieren.“ Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie niemals wieder in dieser Position sein müsste. Sie lenkte den Blick zurück auf Mr. Whiting und ein seltsamer Anflug von Ehrfurcht schlich sich in ihre Stimme. „Ich muss das doch niemals wieder tun, oder?“
„Wie ich schon sagte, Miss Townsend, das Einkommen ist sehr bescheiden, für Ihre Bedürfnisse als unverheiratete Frau ausreichend, aber mehr auch nicht. Sie werden nicht so leben können, wie Sie es von Townsend Park gewöhnt waren. Aber nein“ – er lächelte – „Sie werden sich keine Anstellung mehr suchen müssen.“ Gwen kostete den Klang dieser Worte lange aus. Sie hatte mit vielem gerechnet, als sie seinen Brief erhielt, aber damit nicht. Ihr Zorn war verflogen. Langsam begann sie einzusehen, dass die letzten fünf Jahre nicht nur Alberts Fehler waren, sondern auch ihrer eigenen Impulsivität angelastet werden konnten.
„Nun gut, Mr. Whiting“ – sie schenkte ihm ein herzliches Lächeln und erhob sich – „wo ist mein Geld?“ Er stand auf und sah sie amüsiert an. „Ich bin noch nicht fertig, Miss Townsend. Da ist noch mehr.“
„Mehr?“ Sie plumpste erstaunt zurück auf ihren Stuhl. „Mehr Geld?“ Whiting lachte und sie errötete. „Sie müssen mir verzeihen, wenn ich so … so geldgierig wirke, aber“ – sie beugte sich vor – „in einem so kurzen Zeitraum bin ich zu einem bescheidenen Einkommen gelangt. Und der Gedanke, noch mehr zu bekommen, ist … berauschend.“
„Ohne Zweifel.“ Whiting versuchte erfolglos, seine Erheiterung zu verbergen und nahm wieder Platz. „Allerdings geht es hierbei um eine mögliche Verbesserung Ihrer“ – er räusperte sich – „Finanzen, aber ich bin nicht sicher …“ Er hielt inne und sah sie prüfend an. „Momentan verfügen Sie über ein Einkommen, bis Sie heiraten. Sollten Sie sich vermählen, stehen im Falle meiner Einwilligung zu der Verbindung weitere Mittel zur Verfügung, die eine ansehnliche Mitgift wie auch eine beträchtliche Summe für Sie persönlich sicherstellen. Sie werden sich nie wieder um Geld sorgen müssen.“
„Nie wieder um Geld sorgen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ein verlockender Gedanke, wenn auch momentan etwas schwer zu begreifen. Allerdings“, sie wählte ihre Worte mit Bedacht, „müsste ich, um diese finanzielle Freiheit zu erlangen, meine persönliche Freiheit opfern.“
„Meine Liebe, wir sprechen hier von Heirat, nicht von Gefängnis.“
„Gibt es einen so deutlichen Unterschied, Mr. Whiting?“
„Aber gewiss doch“, sagte er mit ehrlicher Entrüstung über solche Zweifel an den Prinzipien der Krone, des Landes und anderer ehrbarer Institutionen. „Ach ja?“ Sie sah ihn nachdrücklich an. „Sind Sie verheiratet?“
„Das tut hier nichts zur Sache.“ Sie zog eine Braue hoch. Er seufzte. „Nein.“
„Waren Sie jemals verheiratet?“
„Nein. Dennoch.“ Er klang überzeugt. „Es ist ein durchaus wünschenswerter Zustand, ganz besonders für Frauen.“
„Nicht für diese Frau.“ Sie schüttelte entschieden den Kopf.
„Miss Townsend …“
„Die Sache ist doch ganz einfach, Mr. Whiting. Was ich bisher von der Ehe miterlebt habe, überzeugt mich nicht besonders.“ Sie sah ihm direkt in die Augen. „Für die oberen Klassen hat die Ehe kein anderes Ziel, als sich an Titel und Eigentum zu klammern. Meine Mutter starb, als ich noch sehr jung war, bei dem Versuch, meinem Vater einen männlichen Erben zu schenken – dem einzig wahren Zweck dieser Verbindung. Die Ehe meiner Schwester entfremdete sie von Familie und Freunden. Ich habe keine Ahnung, wo sie sich befindet, und sie hat auch nie den Versuch gemacht, in Kontakt mit mir zu treten.“ Ein gequälter Ausdruck trat in Whitings Gesicht. „Miss Townsend …“ Sie brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. „Mr. Whiting, bitte lassen Sie mich ausreden. Selbst wenn die Ereignisse in meiner eigenen Familie mich nicht vom heiligen Stand der Ehe abgebracht hätten, dann hätten das die Beobachtungen in den Häusern meiner Arbeitgeber sicherlich erreicht.“ Sie holte tief Luft. „Ich gebe gerne zu, dass ich keine übermäßig kompetente Gouvernante bin. Um ehrlich zu sein, hegten die Kinder in meiner Obhut, abgesehen von ein oder zwei Ausnahmen, keine große Sympathie für mich und ich muss gestehen, dass ich diese mangelnde Zuneigung erwiderte. Das war jedoch nicht der einzige Grund für mich, meine Anstellungen zu verlassen.“ Sie zögerte, unsicher, wie sie fortfahren sollte. Von Anfang an hatte sie das sonderbare Gefühl gehabt, dass alles auch ihre eigene Schuld gewesen war. Dass sie ihr dunkelrotes Haar nicht straff genug frisiert hatte. Dass ihre Kleidung nicht schlicht genug gewesen war, um ihre – zu ihrem eigenen Unbehagen allzu üppige – Figur zu verbergen. Oder dass sie nicht unterwürfig genug gewesen war, um die Aufmerksamkeit von Männern zu vermeiden, die eine unverheiratete Frau in ihrer Position als Freiwild für ihre lüsternen Triebe betrachteten.
„In meiner ersten Anstellung glaubte der Hausherr und Vater meiner Zöglinge, meine Pflichten schlössen über die Betreuung seiner Kinder hinaus auch die Betreuung seiner eigenen“ – sie zog eine Grimasse – „Bedürfnisse mit ein. Natürlich weigerte ich mich und kündigte auf der Stelle.“
„Wie schauderhaft“, murmelte Whiting. „Meinen zweiten Arbeitgeber suchte ich so sorgfältig aus wie er mich. Unglücklicherweise unterzog ich seine Bekannten nicht der gleichen strengen Prüfung. Es gab einen unschönen Vorfall eines späten Abends, bei dem ich die Avancen eines Gastes abwehren musste, der sich in meine Gemächer geschlichen hatte.“ Sie schauderte bei der Erinnerung an die Berührung gieriger Hände und fordernder Lippen, von der sie erwacht war. Und an die Furcht. „Ich konnte ihn mithilfe eines Nachttopfs überreden, von mir abzulassen.“
„Du lieber Himmel!“ Whiting war schockiert. „Waren Sie unversehrt?“
„Ich konnte meine Tugend bewahren; die Anstellung jedoch nicht.“ Sie zuckte die Schultern. „Es gab ähnliche Vorfälle in weiteren Anstellungen und jedes Mal war der betreffende Gentleman verheiratet, was ihn aber nicht von seinen lüsternen Annäherungsversuchen abhielt. Das Mindeste, was man von einem Gatten erwarten kann, sollte doch Treue sein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Doch dem Ehemann, der dieses Prinzip verstanden hat, bin ich noch nicht begegnet.“
„Es ist so, Miss Townsend“, sagte Whiting langsam. „Ihr Vater hat Vorkehrungen für einen ganz bestimmten Ehemann getroffen.“
„Tatsächlich?“ Einen Augenblick sah sie ihn fassungslos an. Dann lachte sie. „Mr. Whiting, das ist ja außerordentlich amüsant. Und es ist auch erfreulich zu erfahren, dass mein Vater mich immerhin für wert erachtete, solch ein Arrangement zu treffen. Also“, sie grinste, „wen hat er mir denn zugedacht?“
„Den Earl of Pennington.“ Whiting schob die Unterlagen auf seinem Schreibtisch hin und her. „Ihr Vater und der alte Earl waren in ihrer Jugend sehr gute Freunde. Sie kamen überein, Sie und seinen Sohn miteinander zu verheiraten, sollte der Junge in seinem dreißigsten Lebensjahr noch ledig sein. Das steht in einem der beiden gegengezeichneten Briefen, die mir vorliegen.“
„Und?“
„Seine Geburt jährt sich bald zum dreißigsten Mal und er ist noch unverheiratet.“
„Verstehe.“ Sie dachte einen Moment nach. „Mr. Whiting, verliere ich mein Einkommen oder mein Haus, wenn ich diesen Earl nicht eheliche?“ Er schüttelte den Kopf. „Sie verlieren gar nichts. Wenigstens nichts, was Sie bereits besitzen. Es ist ein äußerst ungewöhnliches Arrangement, wie das manchmal so ist. Der alte Earl überließ die Brautsuche seinem Sohn, allerdings räumte er ihm dafür nur einen gewissen Zeitraum ein.“
„Bis er dreißig wird.“
„Ganz genau.“ Whiting nickte. „Ihr Vater war in Anbetracht der unpassenden Ehe Ihrer Schwester nicht bereit, Sie Ihren Gatten selbst wählen zu lassen. Doch er beugte sich dem Wunsch des Earl, um Ihnen eine möglichst vorteilhafte Partie zu sichern. Davon abgesehen würden Sie zu diesem Zeitpunkt auch bereits einundzwanzig Jahre zählen und wenn Sie dann noch nicht verheiratet wären …“
„Bräuchte ich definitiv Unterstützung“, vollendete sie trocken. „Ich bin froh, dass wir uns verstehen.“ Er nahm ein paar Papiere auf und legte sie wieder hin, dann fand er das gesuchte. „An dieser Stelle wird es etwas merkwürdig.“
„Erst hier?“ Er überhörte den Einwurf. „Der früheste Zeitpunkt, zu dem Sie und der junge Earl von diesem Arrangement erfahren sollten, war drei Monate vor seinem Geburtstag. Sobald Sie Bescheid wissen, können Sie einzig die erwähnte Mitgift und den Geldbetrag erhalten, wenn Sie den Wünschen Ihres Vaters gemäß heiraten.“
„Wenn ich also“, begann sie bedächtig, „gerade heute Morgen geheiratet oder Alberts Antrag vor wenigen Minuten angenommen hätte, wäre ich in den Genuss dieser beträchtlichen Geldsumme gekommen. Aber ab diesem Augenblick besteht der einzige Weg darin, diesen dreißig Jahre alten Gentleman zu heiraten, der sich selbst keine Braut zu suchen vermag?“ Whiting runzelte die Stirn. „Ich hätte es etwas anders formuliert, aber ja, das trifft den Kern der Sache.“
„Ist er dick? Oder hässlich? Hat er zu viel Bauch und zu wenig Haare?“ Der Anwalt presste missbilligend die Lippen zusammen. „Aber mitnichten. Der Earl ist recht gut aussehend und gilt darüber hinaus als durchaus begehrenswerter Ehemann.“
„Nicht für mich. Ich werde auf den gut aussehenden, begehrenswerten Earl verzichten müssen. Da das schon weit mehr ist, als ich zu hoffen wagte, werde ich mit meinem bescheidenen Einkommen sehr zufrieden sein, in meinem neuen Häuschen in der Nähe des Dörfchens …“, sie stockte. „Sagten Sie Pennington? Wie in Earl of Pennington?“
„So ist es. Ihr Grund beträgt zwar weniger als einen halben Hektar, aber er grenzt an seinen Besitz.“
„Wie vorausschauend von meinem Vater. Zu schade, dass ich ihn nicht besser kannte. Dennoch werde ich keinen Fremden heiraten, nicht einmal wegen eines Vermögens.“ Wieder erhob sie sich. „Also, Mr. Whiting …“ Seine Miene ließ sie innehalten. „Da ist noch mehr, oder?“ Er nickte und sie seufzte und ließ sich wieder nieder. „Die Sache ist sehr unerfreulich und ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll.“ Besorgnis verdunkelte seinen Gesichtsausdruck. „Miss Townsend, mit tiefem Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass Mr. und Mrs. Loring, Ihre Schwester und Ihr Schwager, gestorben sind …“ Die Worte hingen in der Luft, so unerwartet, dass Gwen sie eine Weile nicht in sich aufnehmen konnte. Ohne Warnung durchfuhr sie ein so scharfer und erbarmungsloser Schmerz, dass sie beinahe laut stöhnte. Sie hatte ihre Schwester kaum gekannt, die nie den Kontakt zu ihr gesucht hatte. Warum sollte Gwen also Louisas Schicksal etwas bedeuten?
„… ertrunken, soweit ich erfahren habe, offenbar ein Schiffbruch, aber diese Information war sehr vage. Irgendwo in der Südsee, Polynesien vielleicht oder …“ Doch es bedeutete ihr etwas und zwar mehr, als sie je vermutet hätte.
„… vor über einem Jahr, aber …“ Vielleicht lag es daran, dass Gwen nie wirklich allein auf der Welt war, solange sie irgendwo eine Schwester hatte. „… die Kinder haben …“
Jetzt war sie allein. „… wurden von Missionaren aufgenommen, glaube ich, und schließlich nach England …“ Kinder? Gwens Aufmerksamkeit galt wieder Whiting. „Was für Kinder?“
„Die Kinder Ihrer Schwester.“ Er blickte auf seine Unterlagen. „Drei Mädchen.“ Er sah sie an. „Ich entnehme Ihrer Reaktion, dass Sie von den Kindern nichts wussten?“ Vielleicht war sie doch nicht ganz allein. „Was wurde aus ihnen?“
„Momentan wohnen sie auf dem Land“, seine Stimme klang widerstrebend. „Bei Ihrem Cousin. In Townsend Park.“
„Für sie ist also gesorgt“, sagte sie langsam. Ihre ruhige Fassade strafte ihren inneren Aufruhr Lügen. Townsend Park. Zuhause. „So scheint es.“ Sein Ton war unverbindlich. Zu unverbindlich. Ihre Augen wurden zu Schlitzen und sie sah ihn prüfend an. Doch seine Miene passte zum Tonfall. Genau diese Eigenschaft machte ihn wahrscheinlich zu einem ausgezeichneten Anwalt. „Was wollen Sie damit sagen, Mr. Whiting?“
„Es steht mir nicht zu, irgendetwas zu sagen, Miss Townsend.“
„Ich vermute, dass wird Sie nicht daran hindern.“
„Sehr wohl. Außer Ihrem Cousin, einem entfernten Verwandten, wenn ich mich recht entsinne, haben Sie keinerlei Familie. Es wäre durchaus angemessen, wenn Sie Ihre Nichten besuchten und sich bekannt machten. Sich persönlich von Ihrem Wohlergehen überzeugten.“ Sein Ton blieb zurückhaltend, doch sein Blick war durchdringend. „Außerdem ist es, unabhängig vom Mut oder der Kraft oder dem Selbstvertrauen eines Menschen, überaus schwierig, allein durchs Leben zu schreiten. Besonders für junge Damen.“ Sie reckte ihr Kinn und blitzte ihn an. „Ich habe mein Leben bisher völlig allein gemeistert und das recht ordentlich.“
„Darüber kann man geteilter Meinung sein, Miss Townsend. Es dreht sich“, er seufzte geduldig, „allerdings weniger um Ihr Leben als um die Zukunft dieser Mädchen. Sie sind Ihre einzigen Verwandten, und – was noch wichtiger ist – Sie sind alles, was die Kinder noch haben.“
Zweites Kapitel
Söhne oder Ehemänner, jung oder alt: Männer im Allgemeinen haben nicht die geringste Ahnung, was sie tun sollen, wenn wir es ihnen nicht sagen. Helena Pennington
„Warum hast du den unseligen Mann nicht zu dir bestellt?“ Die ungehaltene Stimme von Reginald, Viscount Berkley, schallte die Treppe herauf. „Verdammt lästig, wenn du mich fragst.“ „Marcus Holcroft, der achte Earl of Pennington, verbiss sich ein Grinsen und warf seinem Freund über die Schulter einen Blick zu. „Ich kann mich nicht erinnern, dich gefragt zu haben.“ Reggie murmelte etwas Unverständliches. „Komm schon, Reggie, so lästig ist es doch wieder nicht. Wir wollten sowieso in den Club und es ist doch gleich um die Ecke. Außerdem stand in Whitings Brief, es handle sich um eine dringende Angelegenheit.“
„Und genau aus diesem Grund hätte er zu dir kommen sollen. Sehr undurchsichtig, die ganze Sache“, gab Reggie finster zurück. „Unsinn.“ Obwohl Marcus Reggies Warnung in den Wind schrieb, musste er zugeben, dass die Einladung des Mannes, der lange Jahre seinem Vater und seit dessen Tod vor sieben Jahren auch ihm als Anwalt gedient hatte, zumindest ungewöhnlich war. Whiting war kein impulsiver oder überstürzt handelnder Mann. Dennoch verriet seine Botschaft eine Dringlichkeit, die nicht zum Charakter des Anwalts passte, und Marcus konnte sich eines gewissen Unbehagens nicht erwehren. Es war besser, den Mann sofort aufzusuchen und herauszufinden, was vor sich ging, als sich darüber den Kopf zu zerbrechen. „Sehr wahrscheinlich geht es nur um die eine oder andere Unterschrift auf einem offiziellen Dokument.“ Marcus kam im dritten Stockwerk an und blickte zu seinem Freund zurück. „Sicher geht es um ein kleines Anwesen in der Nähe von Holcroft Hall, auf das ich ein Auge geworfen habe. Das alte Witwenhäuschen. Mein Vater hat es vor Jahren verkauft und ich versuche schon länger, es zurückzubekommen. Ich hoffe, dass Whit…“
„Sir, wenn ich bitten dürfte …“ Eine zornige weibliche Stimme drang ihm im selben Moment ans Ohr, als er auf eine kleine, aber überraschend robuste weibliche Gestalt prallte. Marcus konnte sie gerade noch rechtzeitig auffangen. „Verzeihung, Miss, ich …“
„Lassen Sie mich sofort los!“ Unter ihrem nun schief sitzenden Hut blitzte sie ihn an, mit funkelnd blauen Augen und vor Zorn zart gerötetem Porzellan-Teint, die Lippen voll und einladend. Einen Augenblick lang konnte er nur auf sie herabstarren.
„Ist Ihr Gehör so mangelhaft wie Ihre Fähigkeit, einen Fuß vor den anderen zu setzen?“ Sie schüttelte seine Hand ab. „Ich bitte demütigst um Entschuldigung.“ Marcus trat zurück und machte eine übertriebene Verbeugung. „Ich sollte wohl besser aufpassen, nicht, dass noch ein weiteres weibliches Wesen kopfüber auf mich zustürzt.“
„Ich war ja wohl nicht diejenige, die hier auf jemanden zustürzte. Sie haben nicht aufgepasst, wo Sie hintreten.“
Sie rückte den Hut zurecht und verengte die schönen Augen. „Ihr Sarkasmus, mein Herr, ist weder erforderlich noch erwünscht.“
„Ach wirklich? Wie merkwürdig“, sagte er auf seine unnachahmlich verschmitzte Art. „Ich war immer der Meinung, dass Sarkasmus nur noch von Esprit übertroffen werden kann.“
Sie blickte ihn durchdringend an, offensichtlich misstrauisch und gleichzeitig verärgert. Er musste ein Lachen unterdrücken. Ganz eindeutig versuchte die junge Frau herauszufinden, ob er lediglich unhöflich oder tatsächlich stumpfsinnig war.
„Sie müssen ihn entschuldigen, Miss.“ Reggie schob Marcus zur Seite und tippte sich an den Hut. „Er hält sich für sehr geistreich. Nach diesem schrecklichen Jagdunfall im letzten Jahr ist er nie wieder derselbe geworden.“ Reggie beugte sich zu der Frau vor, die ihn im gleichen Maße mit Neugier wie Vorsicht beäugte. „Wissen Sie, er wurde mit einem Bock verwechselt. Direkt in den …“
„Sir!“ Die Stimme der Lady klang schockiert, doch Marcus hätte schwören können, ein winziges Blitzen widerstrebender Erheiterung in ihren Augen zu entdecken.
„Das reicht jetzt“, sagte Marcus bestimmt. „Es ist vollkommen an den Haaren herbeigezogen. Ich kann Ihnen versichern, ich wurde noch nie irgendwohin getroffen, weder aus Versehen noch absichtlich.“
„Das fällt mir außerordentlich schwer zu glauben.“ Der ungehaltene und vage vertraute Gesichtsausdruck der jungen Frau war zwar unverändert, aber nun war Marcus sich sicher, dass sie – wenn auch widerwillig – amüsiert war. „Es würde mich nicht überraschen, wenn schon einige Schüsse auf Ihre Person abgegeben worden wären und wenn nur wegen Ihrer arroganten Art.“ Reggie lachte. „Jetzt hat sie dich, mein Alter.“
„Das stimmt“, gab Marcus lässig zurück. Reggie grinste sie verschwörerisch an. „Es gibt unzählige Menschen, die ihn gerne erschießen würden, Miss. Doch es war nur ein Wunschdenken von meiner Seite, dass es wirklich geschehen ist.“
„Mein Freund ist leicht zu erheitern.“ Marcus trat zur Seite und nickte freundlich. „Ich fürchte, wir haben Sie schon zu lange aufgehalten. Ich bitte nochmals um Vergebung, Miss.“
„Gewiss.“ Sie reckte das Kinn und marschierte an ihnen vorbei die Treppe hinunter. Marcus betrachtete ihren wohlgeformten Körper mit Anerkennung und beschäftigte sich kurz mit dem Gedanken, dass diese Frau mehr zu verbergen hatte, als er auf den ersten Blick erahnen konnte. Nicht, dass es ihn etwas anginge.
„Sie ist ohne Begleitung, Marcus.“ Reggies Blick folgte der Gestalt, die rasch die Treppe hinunter verschwand. „Nicht einmal ein Dienstmädchen dabei. Seltsam, findest du nicht? Sie drückt sich gewählt aus, offenbar eine Frau mit Niveau.“
„Ja, aber die Ärmelaufschläge waren abgewetzt“, erwiderte Marcus nachdenklich. „Und ihr Kleid war völlig unmodern.“
„Und hässlich. Zu …“
„Förmlich? Steif? Langweilig?“
„Genau.“ Reggie nickte. „Wie schade. Ich möchte wetten, dass sich unter diesem tristen Kleid eine betörende Figur verbirgt und hinter diesen Augen eine faszinierende Geschichte. Möglicherweise ist sie das Opfer abscheulicher Umstände, für die sie nicht verantwortlich ist. Und benötigt dringend Unterstützung oder gar Rettung. Ich sollte wahrscheinlich …“
„Das solltest du ganz sicher nicht.“ Marcus packte seinen Freund entschlossen am Ellbogen und dirigierte ihn in Richtung Korridor zum Büro des Anwalts. Viscount Berkley, Reginald, Reggie, war Marcus’ ältester und engster Freund. Ihre Landgüter lagen in direkter Nachbarschaft und die Männer waren zusammen aufgewachsen. In vielerlei Hinsicht waren sie wie Brüder. In anderer hätten sie unterschiedlicher nicht sein können. Reggie besaß die lästige Neigung, sich als Ritter in glänzender Rüstung zu sehen, der schöne Mägde und hilflose Jungfrauen rettet. Meistens wünschte die fragliche Dame weder die angebotene Rettung noch bedurfte sie ihrer. Und jedes Mal bot Reggie neben seiner Hilfe auch sein Herz dar. Was Marcus betraf, so war er ganz sicher kein Retter hilfloser Damen. Vielmehr hatte er schon immer einen Hang zum Mysteriösen gehabt und seine Gedanken verweilten noch ein wenig bei dem Rätsel zweier bezaubernder Augen, eines hübschen runden Hinterteils und einer Ausstrahlung, die nicht zu den sichtbaren Lebensumständen passen wollte. Seiner Erfahrung nach hielten nur Damen seines eigenen Standes dem Blick eines Gentlemans mit der unbeirrbaren Direktheit stand, die sie gezeigt hatte; und selbst in diesen Kreisen waren solche Damen selten. Ja, die einzigen Frauen, die jemals so bestimmt und direkt mit ihm gesprochen hatten, waren mit seiner Erziehung betraut gewesen. Seine Mutter natürlich, Kindermädchen, Gouvernanten …
Er lachte. „Ich wage zu behaupten, dass deine hilflose Maid mehr als in der Lage ist, auf sich selbst aufzupassen. Ich würde sogar eine beträchtliche Summe darauf verwetten, dass die fragliche Dame schon weitaus trügerischere Gewässer durchschifft hat, als ohne Begleitung durch London zu wandern. Ich vermute mal, sie ist daran gewöhnt, mit der unerfreulichsten aller Lebensformen umzugehen.“ Er zog die Tür zu Whitings Büro auf und grinste seinen Freund an: „Mit Kindern.“
Keine zwei Stunden später waren mysteriöse Frauen, energische Gouvernanten und hilflose Jungfern Marcus’ geringstes Problem.
„Es ist einfach absurd“, erklärte Reggie zum etwa hundertsten Mal, wobei seine Entrüstung sich proportional zum Konsum von Marcus’ hervorragendem Brandy steigerte. „Ich kann nicht glauben …“
„Ich schon“, unterbrach Marcus ironisch. „Mein Vater war schon immer gut darin, die Leine genau so lang zu lassen, dass ich mich darin verfangen konnte.“
„Die Leine?“ Reggie hielt ihm erneut sein leeres Glas hin.
„Bildlich gesprochen.“ Marcus zuckte die Schultern und füllte das Glas des Viscount. Die zwei hatten es sich in der geräumigen Bibliothek von Pennington House, seit zweihundert Jahren Londoner Domizil der Familie Holcroft und der Earl of Pennington, gemütlich gemacht. Seit sie mündig waren, benutzten die beiden diesen Raum als Zufluchtsort.
„Diesmal hat er mir, natürlich ohne mein Wissen, eine seiner Ansicht nach gebührende Zeitspanne eingeräumt.“
„Dreißig Jahre?“ Reggie blinzelte über den Rand seines Glases. „Das wäre also die Leine?“
„Genau. In den Augen vieler Männer ausreichend Zeit, um sich eine Braut seiner Wahl auszusuchen. Durch mein Versäumnis, dies zu tun, habe ich jenes Recht nun eingebüßt.“ Marcus lehnte sich an den Schreibtisch und nippte nachdenklich an seinem Brandy. „So wenig mir der Gedanke zusagt, dass diese Wahlmöglichkeit mir nun genommen wurde, muss ich doch zugeben, dass es bemerkenswert schlau angestellt wurde.“
„Ach ja?“
„Hätte ich von diesem Stichtag gewusst, so hätte ich womöglich eine Frau aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung oder ihres Vermögens gewählt. Mein Vater hatte allerdings auch eine romantische Ader. Zuneigung, selbst Liebe, wäre nicht infrage gekommen, wenn ich von seinem Plan gewusst hätte. Er befasste sich sehr mit Herzensdingen.“ Marcus grinste. „O ja, er war außerordentlich klug. Ich werde womöglich eines Tages denselben Trick bei meinem eigenen Sohn anwenden.“
„Also hör mal, Marcus, ich dachte, du seist sehr wütend über die ganze Sache.“
„War ich auch. Ich bin es auch noch, aber mein Zorn wird durch Bewunderung gemildert.“ Er atmete langsam aus. „In Wahrheit, mein lieber Reggie, hat er die Hand aus dem Grab gestreckt und packt mich am …“ Die Tür der Bibliothek wurde aufgestoßen und Lady Helena Pennington stürmte in den Raum wie ein unerbittlicher Windstoß.
„Marcus Aloysius Grenville Hamilton Holcroft, wirst du dieses Mädchen nun heiraten oder nicht?“ Reggie sprang aus Panik und Höflichkeit zugleich hastig auf die Füße. Die Witwe des siebten Earl of Pennington hatte diese Wirkung oft auf Menschen, die sie nicht durchschauten. Generell betraf das jeden außer ihren verstorbenen Gatten und ihren Sohn.
„Guten Abend, Mylady. Es ist mir wie immer ein Verg…“
Lady Pennington brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen und stellte sich vor ihr einziges Kind. „Nun? Wie wirst du dich entscheiden?“
„Guten Abend, Mutter“, sagte Marcus besänftigend. Er war unendlich dankbar, den Hang seiner Mutter zu dramatischen Auftritten nicht geerbt zu haben. „Ich sehe, du hast die Nachricht erhalten.“
„Selbstverständlich. Ich war hier, als Mr. Whiting heute Morgen mit der furchtbaren Kunde auftauchte. Du warst selbstredend mal wieder nirgendwo zu finden.“
„Man stelle sich vor.“ Marcus versuchte, die Anschuldigung zu belächeln. Er liebte seine Mutter, wie es jeder gute Sohn sollte, doch vorzugsweise aus der Entfernung. Das Haus in London und Holcroft Hall auf dem Land waren groß und auch die Interessen von Mutter und Sohn unterschiedlich genug, um ihnen ein friedliches Zusammenwohnen während der wenigen Monate zu erlauben, die das erforderlich machten. Schon lange dachte Marcus über den Erwerb eines eigenen Stadthauses nach, wenngleich sich ihre Pfade nur selten kreuzten. Marcus hielt das für das Beste und er ging davon aus, dass es seiner Mutter ähnlich ging.
„Hättest du dein Leben bisher nicht so vergeudet, wärest du längst verheiratet und hättest mit etwas Glück bereits einen Erben.“ Lady Pennington funkelte ihn an, als sei Marcus’ Versäumnis zu heiraten und sich fortzupflanzen Teil eines groß angelegten Plans, ihrem Leben Bedeutung und Erfüllung zu verweigern.
„Jetzt bleibt dir keine Wahl mehr.“
„Wohl nicht“, sagte Marcus. „Du wirkst nicht gerade erschüttert.“ Seine Mutter beäugte ihn misstrauisch. „Warum um Himmels willen nicht?“ Marcus zuckte die Schultern, als hätte es keinerlei Bedeutung für ihn, eine Frau zu heiraten, die er noch nie im Leben gesehen hatte und als sei diese Vorstellung nicht das Unerquicklichste, was ihm je passiert war. Und dem er nicht entkommen konnte.
„Deine Verärgerung reicht für uns beide.“ Er nippte beiläufig an seinem Drink. „Meine Verärgerung ist vollkommen angemessen in Anbetracht der grässlichen Situation.“ Ihre Augen weiteten sich vor Bestürzung. „Du bist dir doch wohl über die Konsequenzen im Klaren, falls du dieses Townsend-Mädchen nicht heiratest? Du würdest dein gesamtes Vermögen verlieren, jeden Penny!“
„Ja, aber ich würde meinen Titel und das Landgut sowie dieses Haus behalten.“
„Weder ein Titel noch ein Landgut sind von Bedeutung, wenn man sie nicht unterhalten kann. Und was wird aus mir, Marcus? Hat Mr. Whiting dir nicht erklärt, dass auch ich alles verlieren würde? Alles, was dein Vater mir hinterließ? Und was mir gestattete, weitgehend unabhängig zu leben, ohne dein Vermögen anzutasten.“ Sie schritt in der Bibliothek auf und ab. „Ich konnte meine eigenen Entscheidungen treffen und du deine. Wenn ich an meine Freundinnen denke, die vollständig von ihren Familien abhängig sind, bin ich deinem Vater zutiefst dankbar für seinen Weitblick.“
„Genau wie ich“, murmelte Marcus. Reggie schob sich langsam zur Tür. „Vielleicht sollte ich Sie lieber allein …“
„Du bleibst, wo du bist, mein Herr. Reginald. Obwohl ich befürchte, dass du keinen Deut besser bist. Deine eigene Mutter glaubt schon nicht mehr daran, dass du jemals deine Pflicht erfüllen und dir eine passende Frau suchen wirst. Dennoch brauche ich jemanden, der meinen Sohn davon überzeugt, in dieser Angelegenheit keine andere Wahl zu haben.“ Sie zwang sich zu einem liebenswürdigen Lächeln. „Und du bist offensichtlich der Beste, den ich mir für diese Aufgabe vorstellen kann.“
„Gern zu Diensten.“ Reggie lächelte versonnen und sah sehnsüchtig zu der Karaffe mit dem Brandy auf dem Schreibtisch. Lady Pennington folgte seinem Blick. „O bitte, mein Junge, schenk dir nur ein und mir auch einen. Das ist genau das, was wir jetzt brauchen. Ich bin sehr bekümmert über diese Sache und sehe mich einem unerbittlichen Schicksal ausgesetzt.“ Marcus verkniff sich ein Grinsen. Seine Mutter ertappte ihn dabei. „Du findest mich wohl zu dramatisch?“
„Vielleicht ein wenig.“
„Nur ein wenig?“ Sie sank mit einem Seufzer aufs Sofa und nahm das Glas von Reggie entgegen. „Vielleicht nicht dramatisch genug. Es war ein ziemlicher Schock.“
„Du wusstest demnach nichts von Vaters Plan?“ Marcus betrachtete seine Mutter eindringlich. Sie hielt seinem Blick stand. „Natürlich nicht.“ Marcus wusste nicht, ob er ihr glauben sollte. Das Verhältnis seiner Eltern war ihm immer als außerordentlich eng erschienen, enger als das der meisten Ehepaare. Es handelte sich ganz offenbar um eine Liebesheirat. Sehr seltsam also, dass sein Vater etwas so Bedeutsames nicht mit seiner Frau geteilt haben sollte.
„Er hat diese Vereinbarung also niemals erwähnt?“
„Mit keinem Wort“, gab sie bekümmert zurück. „Tatsächlich?“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Sieh mich nicht so an, Marcus. Ich sage dir doch, ich hatte keine Ahnung.“ Ihre Stimme war fest. „Erstens hätte ich so etwas niemals gutgeheißen. Allein die Vorstellung einer arrangierten Ehe ist geschmacklos und mittelalterlich. Und zweitens: hätte ich von diesem Plan deines Vaters gewusst, hätte ich es dir schon längst erzählt.“
„Damit du dir selbst eine Braut aussuchen könntest.“ Reggie nickte. „Genau.“ Sie warf dem Freund ein beifälliges Lächeln zu. Reggies Brust schwoll ob dieser Anerkennung und er strahlte sie an. „Sehr anständig von dir, Mutter.“
„Das finde ich auch.“ Sie nickte selbstzufrieden und nippte an ihrem Brandy. Einen Moment lang sah sie viel jünger aus als ihre achtundvierzig Jahre und gleichzeitig verletzlich. Das war natürlich lächerlich. Helena, Countess of Pennington, war alles andere als verletzlich. Sie war ihrem Gatten eine gleichberechtigte Partnerin gewesen. Marcus hatte das bereits als Kind bemerkt und dieses Konzept von Ehe hatte ihm so zugesagt, dass er später eine ähnliche Beziehung zu seiner Frau haben wollte. Das Schwierige war, eine Frau zu finden, die intelligent und kompetent genug für eine solche Partnerschaft war und die gleichzeitig Charme, Leidenschaft und möglichst auch Schönheit besaß. Eine Frau, die sein Herz und seinen Geist erobern würde. Kurz gesagt: die perfekte Frau. Ein Wesen, das es unmöglich geben konnte, wie er selbst zugeben musste. Natürlich spielte es jetzt keine Rolle mehr, was er sich wünschte.
„Hast du dir diesen Brief angesehen?“ Lady Pennington sah ihren Sohn prüfend an. „Ist er rechtsgültig?“
„Es schien mir so.“ Marcus nickte. „Ich kenne Vaters Signatur so gut wie meine eigene und ich zweifle nicht an der Echtheit des Briefes. Allerdings skizzierte er lediglich das Gerüst der Vereinbarung. Whiting hatte noch andere Unterlagen, in denen die Einzelheiten dieses Handels beschrieben wurden.“
„Und hast du diese auch gründlich gelesen?“, fragte sie neugierig. Marcus wehrte die Frage ab. „Ich habe nur einen kurzen Blick darauf geworfen. Mehr schien mir nicht notwendig zu sein. Mein Schicksal ist offenbar besiegelt.“
„Es wäre sicher geboten, die Unterlagen von einem anderen Anwalt überprüfen zu lassen.“ Reggie wirkte nachdenklich. „Vielleicht gibt es doch noch einen Ausweg.“
„Unsinn, Reginald, das würde das Unausweichliche doch nur hinauszögern“, seufzte Lady Pennington. „Außerdem hat Mr. Whiting immer im Interesse von Marcus und seinem Vater gehandelt. Ja, er war mir in den Jahren seit dem Tod meines Mannes eine große Hilfe.“
„Ich vertraue Whiting bedingungslos.“ Soweit Marcus wusste, hatte der Mann nie etwas getan, was nicht einwandfrei war und hatte nie einen schlechten Rat erteilt. „Wenn es einen eleganten Ausweg aus dieser Sache gäbe, zweifle ich nicht daran, dass Whiting ihn bereits gefunden hätte.“
„Das versteht sich von selbst.“ Seine Mutter nippte an ihrem Brandy. „Selbstverständlich konnte weder Lord Townsend noch dein Vater vorhersehen, in welche Abgründe seine Tochter ohne eigene Schuld …“
„Was für Abgründe?“ Marcus’ Stirn kräuselte sich. „Das verheißt nichts Gutes“, murmelte Reggie. „Es ist nicht annähernd so besorgniserregend, wie es klingt“, sagte sie leichthin. „Was für Abgründe?“, wiederholte Marcus. „Ich muss sagen, es klingt außerordentlich bedenklich“, raunte Reggie.
„Das tut es wirklich. Was für Abgründe, Mutter?“
„Es war laut Mr. Whiting ein schrecklicher Fehler. Miss Townsend erhielt fehlerhafte Informationen bezüglich ihrer finanziellen Situation nach dem Tod ihres Vaters. Daraufhin war sie gezwungen, sich eine ehrbare Beschäftigung als Gouvernante zu suchen“. Lady Pennington blickte ihrem Sohn herausfordernd an. „In meinen Augen wertet sie das nicht ab. Ich meine, dass sie ihr Schicksal in die eigene Hand nahm. Wie siehst du das, Marcus?“
„Ganz genauso, Mutter.“ Er konnte ein ironisches Lächeln nicht unterdrücken. Seine Mutter behandelte diese Angelegenheit ungewöhnlich großzügig. Zweifellos, weil sie selbst als junges Mädchen einige finanzielle Schwierigkeiten zu überwinden hatte und ihr Leben damals ebenfalls selbst in die Hand nehmen musste.
„Du scheinst beträchtlich mehr Informationen über meine mögliche Braut zu haben als ich. Wie lange genau hast du denn mit Whiting geplaudert?“
„Lange genug. Ich stelle eben die richtigen Fragen. Und ich wage zu behaupten, Marcus, dass du wahrscheinlich viel zu überrascht von Whitings Enthüllungen warst, um Erkundigungen über das Mädchen einzuholen.“ Sie lehnte sich wieder auf das Sofa zurück. „Ich hoffe doch, ihre Umstände schockieren dich nicht.“
„Ich glaube nicht, dass mich jetzt noch etwas schockieren kann“, sagte er langsam. Völlig unvermittelt schob sich das Bild einer stolzen, mysteriösen Frau mit dem unverkennbaren Tonfall einer Gouvernante und leuchtend blauen Augen in sein Bewusstsein. „Weiß Miss Townsend von dieser Vereinbarung?“
„Bis heute Morgen noch nicht. Mr. Whiting sagte, er habe nach ihr schicken lassen, wusste aber nicht, wann ihr Schiff eintreffen würde. Wahrscheinlich im Laufe dieser Woche.“ Sie hielt einen Moment inne. „Sie kommt aus Amerika.“ Reggie fuhr zusammen. Marcus’ Vorstellung entschwand.
„Mach nicht so ein Gesicht, Marcus. Das Mädchen ist ja schließlich Engländerin. Ihre Herkunft ist makellos und ich bin überzeugt, dass ihr Charakter durch all diese Prüfungen gefestigt wurde.“
„Ohne Zweifel.“ Ein neues Bild formte sich in Marcus’ Geist. Das einer stämmigen, untersetzten Frau mit der unerbittlichen Haltung einer humorlosen Gouvernante und einer starken, entschlossenen Persönlichkeit. Lady Pennington beobachtete ihren Sohn vorsichtig. „Dennoch hast du dich noch nicht entschlossen, sie zu heiraten?“
„Nein.“ Marcus schüttelte den Kopf. „Und ich glaube nicht, dass ich diese Entscheidung treffen kann, ohne die Frau auch nur zu kennen.“
„Möglicherweise tätest du besser daran, auf dein Vermögen zu verzichten“, merkte Reggie an. „Falls sie sich als ein Brauereigaul entpuppen sollte.“ Lady Pennington blitzte Reggie drohend an. Sofort widmete er seine ungeteilte Aufmerksamkeit dem Brandy in seiner Hand. „Sei nicht albern. Man kann mit einer unattraktiven Ehefrau leben. Es ist viel schwieriger, ohne Vermögen auszukommen. Besonders, wenn man Verpflichtungen hat.“ Sie erhob sich. Reggie sprang ebenfalls auf. „Ich rate dir, das nicht zu vergessen, mein Junge.“
„Ja, Mylady“, murmelte Reggie und Marcus verkniff sich ein Lächeln. Woran lag es nur, dass gewisse Frauen oder besser gesagt gewisse Mütter, fähige Männer ungeachtet ihres Standes oder Alters in stammelnde Schuljungen verwandelten? Sie wandte sich an Marcus. „Und du, mein lieber Sohn, solltest dir darüber im Klaren sein, dass wir ohne das Vermögen deines verstorbenen Vaters das Gut schwerlich weiter betreiben könnten. Die Pächter würden wohl damit zurechtkommen, aber es gäbe dann nicht mehr die Förderung landwirtschaftlicher Verbesserungsmaßnahmen, an denen dir so sehr gelegen ist. Wir müssten sparen wie nie zuvor und dieses Haus auf jeden Fall verkaufen. Viele der Bediensteten müssten entlassen und ein Großteil von Holcroft Hall stillgelegt werden. Außer natürlich der Teil, in dem wir dann ganzjährig leben. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ich nicht mehr reisen oder meinen Interessen nachgehen könnte. Gleichwohl ist es natürlich ausschließlich deine Entscheidung. Heirate das Mädchen oder auch nicht. Niemals würde ich dich gegen deinen Willen zu einer Heirat zwingen, egal wie gut die Partie ist. Nein, du entscheidest das, was du für das Beste hältst.“ Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und schenkte ihm ein tapferes Lächeln. „Irgendein Gutes wird die Sache schon haben. Wir werden viel mehr Zeit füreinander haben!“ Sie tätschelte ihm die Wange. „Wir werden der Zukunft gemeinsam ins Auge sehen, du und ich, Mutter und Sohn. Zusammen … bis ans Ende unserer Tage.“ Sie blickte ihn völlig unschuldig an. Dann richtete sich Lady Pennington stolz und mutig auf und rauschte aus dem Zimmer wie ein Krieger, der sich furchtlos in die Schlacht stürzt. Sie schloss die Tür mit Bestimmtheit und lange Zeit sagte keiner der beiden Männer ein Wort. „Sehr gut, Mutter“, murmelte Marcus. Reggie starrte die Tür an. „Das würde sie doch nicht wirklich tun, oder? Ihre ganze Zeit mit dir verbringen, meine ich.“
„Gütiger Himmel, ich hoffe nicht.“ Marcus stürzte seinen Drink herunter. Seine Mutter wollte das doch wohl genauso wenig wie er selbst? Er wusste, es gab Männer, die ihren Müttern sehr nahe standen. Nur leider waren das nicht die, die er besonders mochte oder respektierte. Er hatte nicht die Absicht, sich bei ihnen einzureihen. Sie lag ihm nun schon seit Jahren in den Ohren, sich eine Frau zu suchen und eine Familie zu gründen. In Anbetracht dessen hielt er es nicht für ausgeschlossen, dass die Drohung ernst gemeint war. „Der Gedanke, eine Fremde zu heiraten, wird damit in ein anderes Licht gerückt.“ Marcus atmete hörbar aus. „Und gibt auch Armut eine neue Bedeutung.“
„Nicht echte Armut.“ Reggie ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder. „Es ist schließlich nicht so, als müsstet ihr betteln gehen.“
„Nein, wohl nicht. Wir werden nur mit jener vornehmen Armut konfrontiert sein, die hoffnungslos und erbärmlich ist. Die Männer wie uns, deren größte Laster Alkohol, Spiel oder Frauen sind, zu Glücksrittern macht. Auf der Jagd nach guten Partien aus dem einzigen Grund, dass ihr Reichtum uns den gewohnten Lebensstandard erhalten oder den ehrwürdigen Namen bewahren oder …“
„Oder uns unsere Mütter vom Hals halten kann.“ Reggie prostete ihm zu. „Ganz recht.“ Marcus erhob ebenfalls sein Glas und schüttelte den Kopf. „Was in Gottes Namen soll ich jetzt bloß machen?“ Berkley schwenkte seinen Brandy und verzog das Gesicht. „Mein Rat ist, so viel wie möglich zu trinken.“
„Vielen Dank. Das hatte ich auch schon in Betracht gezogen.“
„Ich denke außerdem“, Reggie holte tief Luft und blickte seinem Freund in die Augen, „dass du Miss Townsend heiraten solltest.“
„Auch du, mein Sohn Brutus?“ Marcus hob die Augenbrauen. „Du scheinst nicht viele Alternativen zu haben. Abgesehen davon würdest du nicht viel aufgeben. Ich wage zu behaupten, dass es das Idealbild weiblicher Perfektion, von dem du gelegentlich sprichst, in Wirklichkeit nicht gibt. Und selbst wenn, tja“, er zuckte die Achseln, „würde es dir wohl auch nicht helfen. Sehr wahrscheinlich würdest du es nicht einmal erkennen.“
„Wie bitte?“
„Du bist stets gelassen, gefasst und beherrscht. Du bist niemals auch nur in die Nähe des Altars gekommen und du hast dich nie von einer Frau zum Narren halten lassen. Du, mein Alterchen, warst noch nie verliebt oder wenigstens habe ich nichts bemerkt.“
„Willst du damit sagen, dass ich kalt bin?“ Marcus sah seinen Freund ungläubig an. „Gefühllos?“
„Überhaupt nicht. Aber du bist vielleicht zu vorsichtig für die Liebe. Möglicherweise sogar zu intellektuell. Du denkst viel zu viel nach. Dein Kopf hat schon immer dein Herz beherrscht. Du hast genaue Vorstellungen von dem, was du willst, und dir ist nur das Perfekte gut genug. Ich auf der anderen Seite …“
„Du verliebst dich im Handumdrehen.“
„Ganz genau.“
„Und hast dir wie oft das Herz brechen lassen?“
„Viel zu oft.“ Reggie grinste ohne einen Anflug von Reue. „Und jedes gebrochene Herz war die Sache wert. Die Erwartungen, die großen Gefühle und die unbegrenzten Möglichkeiten, alter Freund. Es ist wie auf einen Abgrund zuzutaumeln in dem sicheren Gefühl, dass man fliegen kann.“
„Ich stand schon nahe an diesem Abgrund“, entgegnete Marcus mit einem verteidigenden Tonfall. Reggie schnaubte. „Aber bisher bist du noch nicht gesprungen. Zugegeben, du hast dich ab und an dem Rand genähert. Ich erinnere mich noch gut an eine reizende Witwe vor einigen Jahren.“
„Nur schade, dass ihr toter Ehemann sich entschloss, ins Leben zurückzukehren.“ Marcus schauderte bei der Erinnerung. Wer konnte ahnen, dass ein Mann, der angeblich in Spanien verstorben war, sechs Jahre später wieder auftauchen würde?
„Und dann letztes Jahr“, fuhr Reggie fort. „Ich glaube, du warst mehr als nur ein wenig vernarrt in Marianne Shel…“
„Inzwischen Lady Helmsley, Reggie“, unterbrach Marcus energisch. „Und ich glaube, du selbst warst auch mehr als nur ein wenig vernarrt.“ Marcus hatte sich selbst längst eingestanden, dass er sich tatsächlich beinahe in den charmanten Blaustrumpf verliebt hätte. Es war einfach Pech und ein ungünstiger Zeitpunkt, da sich die junge Frau gerade in einen seiner ältesten Freunde verliebte, den Marquis von Helmsley. Am Ende musste Marcus sich gar an dem absonderlichen, aber erfolgreichen Plan beteiligen, der sie von einer Heirat mit Helmsley überzeugen sollte. Marcus schüttelte den Kopf. „Die Liebe flieht vor mir, mein Bester, und ich vermute, das wird immer so sein. Vielleicht hast du recht: Ich bin viel zu zurückhaltend für ein solches Gefühl. Vielleicht habe ich aus deinen Fehlern gelernt. Möglicherweise hast tatsächlich du mir beigebracht, dass man die Liebe um jeden Preis vermeiden muss.“
„Dennoch geben wir ein interessantes Paar ab. Einer entzieht sich jeglicher Emotion und der andere wirft alle Bedenken über Bord.“ Reggie lachte, dann wurde er ernst. „Wenn du wirklich glaubst, man müsse der Liebe aus dem Weg gehen, warum heiratest du dann nicht dieses Townsend-Mädchen?“
„Wenn sie nun hässlich ist?“
„Mach die Augen zu.“
„Wenn sie ein keifender Hausdrache ist?“
„Genau deshalb halten sich Männer eine Geliebte.“ Reggie zuckte mit den Schultern. „Es gibt schlechtere Gründe für eine Ehe, als den Wunsch deines Vaters zu erfüllen und die Rettung deines Vermögens.“
„Ich vermute, das stimmt. Obwohl mir spontan nur einer einfällt.“
„Ach ja?“
„Wenn man sich ausschließlich dein Beispiel vor Augen hält, dann ist der komplizierteste, der gefahrvollste und demnach der wahrscheinlich schlechteste Grund von allen“, Marcus grinste, „die Liebe.“
Drittes Kapitel
In allen die Männer betreffenden Angelegenheiten, außer bei Geld, ist Qualität besser als Quantität. Colette de Chabot „Lord Pennington?“ Marcus sprang auf und starrte mit offenem Mund die engelsgleiche Erscheinung in zartem Rosa und Weiß an, die gerade in den üppig dekorierten Salon hereinschwebte. Whiting hatte ihm versichert, dass Miss Townsend hier in diesem Stadthaus bei einer ehemaligen Lehrerin Logis genommen hatte. In Anbetracht der noblen Gegend von London schien es sich um eine Lehrerin mit ungewöhnlich soliden Finanzen zu handeln. Zudem hatte die Frau, die nun auf ihn zukam, keinerlei Ähnlichkeit mit den Lehrerinnen, die er bisher kennengelernt hatte. Er trat vor. „Miss Townsend?“ Das bezaubernde blonde Wesen lachte. Besser gesagt, sie ließ ein Geräusch ertönen, das an das Klingen wertvoller Kristallglocken erinnerte. Charmant und ausgesprochen weiblich. Sie bot ihm ihre Hand dar wie eine Opfergabe, neigte den Kopf und sah mit einem Blick zu ihm hoch, der selbst dem hartherzigsten Mann weiche Knie beschert hätte. Er führte ihre Hand an seine Lippen.
„Nein, mein Wertester, ich bin nicht Ihre Miss Townsend.“ Ein leichter französischer Akzent haftete ihren Worten an wie ein Streicheln. „Schade“, murmelte er in ihre seidenweiche Haut. Sie lachte wieder und der Klang ihrer Stimme durchströmte seinen Körper. Er richtete sich auf und versuchte, wieder Herr seiner Sinne zu werden. Sie war offenbar älter als Miss Townsend, ungefähr in Marcus’ Alter. Nicht, dass das eine Rolle spielte. Sie war alterslos und bezaubernd.
„Ich bitte um Vergebung. Sie müssen Madame Freneau sein.“
„Nein, mein Wertester, aber es wird schon wärmer.“ Eine amüsierte Stimme erschallte in der Eingangshalle und eine zweite Dame gesellte sich zu ihnen. Sie war ebenfalls blond und attraktiv, aber sie hatte nicht die sinnliche Ausstrahlung der ersten Frau. „Ich bin Madame Freneau.“ Sie trat zu ihm und streckte ihre Hand aus. Gehorsam berührte er sie flüchtig mit den Lippen. „Madame.“
„Das ist Madame de Chabot, die Schwester meines verstorbenen Gatten.“ Ein ironisches Lächeln kräuselte Madame Freneaus Mundwinkel. „Aber ich sehe, dass Sie schon Bekanntschaft geschlossen haben.“
„Das haben wir“, sagte Madame de Chabot sanft, als teilten sie und er ein intimes Geheimnis. „Stimmt“, plapperte Marcus nach, unfähig, seinen Blick abzuwenden. „Nun sehe ich auch, dass Sie keine Lehrerin sind.“ Sie lachte. „Darin irren Sie sich, mein Herr. Ich habe sehr vielen Menschen sehr viel beigebracht.“ „Lag in ihren Worten eine Einladung oder wünschte er sich das nur? Sein Blick zeigte Überraschung und Entzücken zugleich. „Ich bin die Lehrerin“, sagte Madame Freneau bestimmt. Marcus wurde bewusst, wie unhöflich er geklungen haben musste. „Ich bitte um Vergebung, Madame.“ Er war selbst irritiert von seinem merkwürdigen Benehmen. Das entsprach gar nicht seinem üblichen Verhalten. Er kannte normalerweise keine Unsicherheit. Offenbar hatten die Enthüllungen über das Erbe seines Vaters, in Verbindung mit seinem eigenen Widerstreben gegen die Anforderungen, und dann zum Überfluss auch noch die unerwartete, verführerische Erscheinung in Zartrosa seinen Verstand verwirrt. Aber noch nie hatte er sich von Umständen und ganz sicher nicht von einer Frau – gleich wie unerwartet oder verlockend sie auch sein mochte – durcheinander bringen lassen. „Ich wollte damit nicht sagen …“ Madame winkte ab. „Es bedarf keiner Erklärung, mein Herr. Ich verstehe voll und ganz. Zweifellos haben Sie erwartet, dass ich uralt und furchteinflößend sein würde. Die meisten ehemaligen Lehrerinnen sind beides.“ Sie lächelte amüsiert. „Und Sie konnten unmöglich mit der Anwesenheit meiner Schwägerin rechnen.“
„Dennoch war ich sehr unhöflich und bitte um Verzeihung.“
„Ich finde ihn ganz charmant“, murmelte Madame de Chabot, während sie gleichzeitig Marcus musterte, als würde sie seine Vorzüge und Defizite abschätzen. „Das werden wir sehen, Colette.“ Madame Freneaus Stimme klang nachdenklich. „Ist Miss Townsend denn zu Hause?“ Marcus hatte zwar schriftlich ein Treffen vorgeschlagen, war aber zu ungeduldig gewesen, die Antwort abzuwarten. Da er sich nun schon durchgerungen hatte, die Dame zu heiraten, wollte er auch so schnell wie möglich die nötigen Vorkehrungen treffen.
„Obwohl sie Sie nicht erwartet hat“, der strenge Tonfall in Madames Stimme verriet nun doch die ehemalige Lehrerin, „wird sie sicher bald hier sein. Wenn Sie uns entschuldigen würden?“
„Sicher.“
„Komm, Colette. Wir werden nach Miss Townsend sehen.“ Colette warf ihm noch einen prüfenden Blick zu und Marcus richtete sich unwillkürlich etwas auf und hob sein Kinn ein wenig. Sie nickte befriedigt. „Möglicherweise passt er doch zu unserer Gwendolyn.“
„Still, Colette“, gab Madame entschieden zurück. „Das ist allein ihre Entscheidung.“ Colette zog die wohlgeformten Schultern hoch. Einen Moment später war er allein in dem allzu weiblichen Salon. Ihre Entscheidung? Marcus hatte die Möglichkeit, dass Miss Townsend dieser Hochzeit genauso widerstrebend gegenüberstand wie er, nie in Betracht gezogen. Die Dame war eine ehemalige Gouvernante. Sie würde selbstverständlich freudig die Chance einer Ehe ergreifen. Und, in aller Bescheidenheit, er galt doch als gute Partie. Er hatte einen einwandfreien Titel. Sein Vermögen war, zumindest momentan, mehr als ansehnlich. Sein Ruf war nicht schlechter als der seiner Freunde und besser als der der meisten Männer. Er war ein geistreicher Gesprächspartner und ein humorvoller Beobachter und es gab kaum ein gesellschaftliches Ereignis, auf dem er nicht nur willkommen, sondern unbedingt erwünscht war. Und zu guter Letzt galt er auch noch als sehr gut aussehend. Nur diese äußerst absonderlichen Umstände konnten ihn in die merkwürdige Situation bringen, einer vollkommen fremden Frau einen Heiratsantrag zu machen. Und dann auch noch einer Gouvernante. Ungeachtet der Vergangenheit seiner Mutter und ihrer Vorträge über Charakterbildung war er nicht an einer Ehefrau interessiert, die vormals eine bessere Dienstbotin gewesen war. Aber er musste wohl diesen Weg gehen. Er würde das junge Ding einfach heiraten und dadurch sein Vermögen retten. Sie würde ihm einen Erben schenken und sicherheitshalber noch einen zweiten. Danach konnte sie, was ihn betraf, ihr eigenes Leben führen. Er jedenfalls hatte die Absicht, das zu tun. Ihre Ehe würde ein Arrangement zu ihrer beider Vorteil sein. Marcus’ Vermögen würde sicher in seiner Hand bleiben. Er würde der zukünftigen Countess of Pennington ein angemessenes Leben finanzieren und obendrein würde sie, laut Whiting, ein beträchtliches eigenes Einkommen aus dem Erbe ihres Vaters erhalten. Es würde ihr sozial und finanziell an nichts fehlen. Das waren seine Bedingungen und er ging davon aus, dass keine Frau bei klarem Verstand diese ablehnen würde. Das war nicht das, was er sich von einer Ehe erhofft hatte; doch er hatte lange genug nach einer Frau gesucht, die seinen Träumen und Sehnsüchten entsprach, und sie nicht gefunden. Nun blieb ihm keine Wahl mehr. Ihre Entscheidung. Er schnaubte ungläubig. Es war ganz sicher nicht ihre Sache. Diese Ehe und alle anderen Abmachungen waren seine Sache. Warum um Himmels willen sollte sie nicht ja sagen? Zum Henker, er war der Earl of Pennington und sie war eine fast mittellose Gouvernante. Welche Frau in ihrer Position würde ihn und alles, was er zu bieten hatte, nicht wollen? Er hörte Stimmen von draußen und wandte sich der Tür zu. Er setzte ein liebenswürdiges Lächeln auf und wappnete sich für die erste Begegnung. Wenn sie stämmig, untersetzt und resolut war, dann könnte er das ertragen. Er hatte seinen Pächtern und Angestellten wie auch seiner Familie gegenüber eine Verantwortung. Er seufzte resigniert. Nein, sein Vermögen aufzugeben kam nicht infrage. Er musste tun, was das Beste für alle Beteiligten war, egal, was er sich selbst wünschte. Nicht, dass er sich momentan besonders großherzig fühlte. Es war nun einmal seine Pflicht und er würde sich seinen traditionellen und angeborenen Verpflichtungen stellen. Gleich wie furchtbar das – sie – auch sein mochte. Die Tür öffnete sich und die zukünftige Lady Pennington trat ein. Marcus’ Herz schlug dumpf. Ihr Kleid war altmodisch, schlecht sitzend, von einem ausgeblichenen Grau; dennoch konnte es die Andeutungen einer wohlgeformten Figur nicht ganz verbergen. Ihr Haar war dunkelrot, die Farbe feinsten Mahagonis, und zu einem unordentlichen Dutt aufgesteckt. Sie müsste ihm gerade bis zum Kinn reichen. Ihre Blicke trafen sich. Ihre Wangen färbten sich rot, die blauen Augen weiteten sich. Sie war erschrocken, da sie ihn wiedererkannte. Ihm ging es nicht anders. Er starrte sie lange an und ein Gefühl, das für einen Mann seines Formats viel zu ungezwungen war, durchfuhr ihn. Es war eine seltsame Mischung aus Erheiterung und Ironie und Erleichterung und … Dankbarkeit. Und viel zu mächtig, um dagegen anzukämpfen. Er konnte sich nicht gegen das törichte Grinsen wehren, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete.
„Herr im Himmel, Sie sind das!“ Gwen starrte ihn ungläubig an. Das war Lord Pennington? Der arrogante, sarkastische, zugegebenermaßen gut aussehende Mann, den sie auf der Treppe getroffen hatte? Das war ihr Lord Pennington? Nicht, dass sie in der Zwischenzeit einen Gedanken an ihn verschwendet hätte. Gott bewahre. Außerdem wirkte er im Moment eher verstört als attraktiv. „Warum sehen Sie mich so an?“, fragte sie misstrauisch. Sie dachte über einen Rückzug in den Flur nach. „Und warum grinsen Sie wie ein Dummkopf?“
„Das ist nur, weil ich so erleichtert bin.“ Er kam auf sie zu, nahm ihre Hand und führte sie an die Lippen. Sein Blick ließ sie nicht los. Äußerst irritierend. „Es ist mir ein ehrliches Vergnügen, Sie endlich kennenzulernen, Miss Townsend.“
„Tatsächlich?“ Sie zog ihre Hand weg. „Warum?“
„Warum?“ Er hob eine Augenbraue. „Ich dachte, das wäre offensichtlich.“ Sie schüttelte den Kopf. „Offenbar nicht.“
„Verzeihung.“ Die Stirn des Earl legte sich in Falten. „Ich ging davon aus, dass Mr. Whiting Sie über unsere Verbindung informiert hat.“
„Er erzählte mir von den Vorkehrungen unserer Väter“, antwortete sie langsam. „Ausgezeichnet.“ Er nickte und das Grinsen stahl sich zurück auf sein Gesicht. Wäre sein Haar etwas zerzauster gewesen, hätte er mehr wie ein spitzbübischer Schuljunge ausgesehen und nicht wie ein Gentleman von annähernd dreißig Jahren. Unter anderen Umständen hätte das recht einnehmend gewirkt.
„Dann können wir ja gleich mit den Vorbereitungen fortfahren. Ich werde eine besondere Genehmigung einholen und wir können Ende dieser Woche verheiratet sein.“ Vor Schreck verschlug es ihr die Sprache und einen Augenblick konnte sie ihn nur anstarren. Der Mann war tatsächlich genauso arrogant, wie er bei ihrem ersten Aufeinandertreffen gewirkt hatte. Und noch viel selbstherrlicher als erwartet. Sie hatte nicht die Absicht zu heiraten und diesen Mann schon gar nicht. Und selbst wenn sie an einer Ehe interessiert wäre, würde sie es bevorzugen, erst gefragt zu werden.
„Miss Townsend?“
„Ich fürchte, Sie haben mich auf dem falschen Fuß erwischt, mein Herr.“ Sie fixierte ihn mit einem unverwandten Blick, den sie sich antrainiert hatte, um Kinder in die Schranken zu weisen. Leider führte er nie wirklich zum Erfolg. „Ich verstehe nicht ganz. Ist das ein Heiratsantrag?“
„Ein Antrag?“ Verwirrung verdunkelte sein Gesicht, dann hellte seine Miene sich auf. „Aber natürlich. Wie gedankenlos von mir. Das erwarten Sie natürlich. Jede Frau würde das, ungeachtet der Umstände. Ich nahm einfach an … Na ja, das tut ja jetzt nichts zur Sache. Ich bitte um Vergebung. Gestatten Sie mir, noch einmal von vorne anzufangen.“ Er nahm ihre Hand in die seine und blickte etwas unbehaglich. „Ich habe wohl nicht daran gedacht, weil ich unerfahren in solchen Angelegenheiten bin. Ich habe noch nie einen Heiratsantrag gemacht.“
„Wie erfreulich, dass Sie nicht jeder Fremden einen Antrag machen, mit der Sie zufällig zusammenstoßen.“
„Oh, das tue ich keinesfalls.“ Seine Augen zwinkerten amüsiert. „Meine liebe Miss Townsend.“ Er räusperte sich und sah ihr in die Augen. „Würden Sie mir die große Ehre erweisen, meine Frau zu werden?“ Seine Augen waren dunkelgrün, kühl und einladend wie die endlosen Tiefen eines Sees. Einen winzigen Augenblick lang wollte Gwen nichts anderes, als sich ihren Verheißungen ergeben. Nichts mehr, als für immer in diese Augen sehen. Sie spürte ein merkwürdiges Flattern in ihrem Inneren, so beunruhigend wie das Gefühl seiner warmen Finger um die ihren. „Vielen Dank.“ Sie holte tief Luft und entwand ihm ihre Hand. „Aber ich muss bedauernd ablehnen.“
„Ablehnen?“ Er sah sie an, als spräche sie eine fremde Sprache. „Was soll das heißen, ablehnen?“
„Es heißt, falls ich mich nicht über die Bedeutung des Wortes täusche“, sie presste die Hände fest zusammen, „dass ich nein sage.“
„Nein?“
„Nein.“ Sie schenkte ihm ihr liebenswürdigstes Lächeln. „Aber ich weiß das Angebot zu schätzen.“
„Sie wissen es vielleicht zu schätzen, aber Sie scheinen es nicht ganz zu verstehen.“ Seine Augen verengten sich und eine leichte Beunruhigung machte sich bei ihr bemerkbar. Sein eindringlicher Blick und die Art, wie er auf sie herabsah, ließen ihn ein klein wenig gefährlich erscheinen. Und erstaunlicherweise attraktiver.
„Ich biete Ihnen keine unanständige Verbindung an, keine vorübergehende Liaison. Ich biete Ihnen meinen Namen, meinen Titel, mein Vermögen, meinen Besitz an. Ich biete Ihnen eine Zukunft an.“
„Warum?“, fragte sie, ohne nachzudenken. „Wegen der Vereinbarungen zwischen unseren Vätern. Versprechungen wurden gemacht und sollten auch eingehalten werden. Mein Vater gab sein Wort und mir bleibt keine Wahl, als es zu ehren und zu befolgen.“
„Wie ausgesprochen schmeichelhaft.“ Ihr Ton war nüchtern.
„Offenbar habe ich mich nicht gut ausgedrückt. Ich scheine heute überhaupt nicht die richtigen Worte zu finden.“ Er holte tief Luft. „Ich wünsche, es zu beherzigen. Sehr sogar.“
„Wirklich? Sie wünschen, eine Frau zu heiraten, die Sie gar nicht kennen? Wie ungewöhnlich.“ Er ignorierte das. „Nichtsdestoweniger …“
„Ihr Sinn für Ehre ist eindrucksvoll, mein Herr. Aber ungeachtet Ihrer Gefühle spüre ich keine Verpflichtung, eine Vereinbarung zu befolgen, die ohne meine Zustimmung getroffen wurde. Dennoch billige ich Ihre Bereitschaft, das zu tun.“ Sie lächelte abschätzig. „Nun, Sie dürfen Ihre Verantwortung gegenüber Ihrem und meinem Vater als getilgt betrachten und können Ihr Leben ohne Schuldgefühle weiterleben. Guten Tag.“ Gwen nickte und ging zur Tür, gleichzeitig erleichtert und ein wenig ernüchtert. Nicht, dass sie ihn heiraten wollte, wirklich nicht. Sie kannte ihn ja gar nicht. Trotzdem, ausgenommen der schuldbewussten Anfrage Alberts war ihr noch nie ein Heiratsantrag gemacht worden und dabei würde es vermutlich bleiben. Überdies war der Earl, abgesehen von seiner Arroganz, doch in Wesen und Erscheinung angenehmer, als sie erwartet hatte. Und überhaupt nicht so, wie sie sich einen Mann vorgestellt hatte, der selbst keine Braut finden kann. An der Tür wandte sie sich um. Er stand noch genau am selben Fleck.
„Mein Herr!“ Sie deutete auf die offene Tür. „Ich glaube, unser Gespräch ist beendet.“
„Ganz im Gegenteil, Miss Townsend. Unser Gespräch fängt gerade erst an“, erwiderte er. „Ich weiß nicht, worüber wir noch sprechen sollten. Sie haben mich etwas gefragt. Ich habe diese Frage beantwortet. Daher“, sie deutete diesmal etwas nachdrücklicher auf die Tür, „guten Tag.“
„Vor wenigen Minuten dachte ich wirklich, es wäre ein guter Tag. Aber ich habe mich getäuscht.“ Er ging an ihr vorbei zur Tür und schloss sie. „Was bitte schön soll das?“ Sie richtete sich gerade auf und blickte zu ihm hoch. Sie war entschlossen, sich nicht zur Seite drängen zu lassen, selbst wenn sie viel zu nahe bei ihm stehen bleiben musste. „Öffnen Sie sofort diese Tür. Es ist nicht schicklich für uns …“
„Für eine Frau, die ohne Begleitung durch London streift, ist dieser Einwand etwas überraschend.“
„Ich streife ganz sicher nicht …“ Sie hielt inne. „Wenn Sie auf unsere letzte Begegnung anspielen: Auf mich wartete eine Kutsche, also war ich nicht ohne Begleitung.“
„Es war niemand bei Ihnen, als wir uns trafen.“ Seine deutlichen Worte straften die lässige Haltung Lügen. „Gleich wie viele Kutschen auf Sie warteten, Ihr Verhalten war ganz und gar nicht schicklich. Sogar skandalös.“
„Ich würde es wohl kaum skandalös nennen. Ich bin sehr gut daran gewöhnt, mich ohne Begleitung zu bewegen.“
„Vielleicht ist in Amerika ein solcher Mangel an Schicklichkeit annehmbar“, sagte er kühl. „Hier aber nicht.“
Sie widerstand dem Impuls, ihn anzufauchen. „Ich glaube kaum, dass das eine Rolle spielt. Niemand kennt mich hier. Mein Vater nahm nicht am gesellschaftlichen Leben teil und er starb, bevor ich debütieren konnte. Ich lebte beträchtliche Zeit nicht in England und nur ein paar Menschen in London wissen überhaupt von meiner Existenz. Ich habe keine Familie zu schützen, keine Position zu bewahren.“
„Aber das werden Sie bald. Als Countess of Pennington werden Sie gesellschaftliche Verpflichtungen und Verantwortungen haben und jeder Schritt wird beobachtet und kommentiert werden.“ Er nahm einen hässlichen Porzellanmops in die Hand und betrachtete ihn eingehend. „Am Anfang werden natürlich viele Menschen neugierig sein aus den von Ihnen genannten Gründen: Trotz Ihres Elternhauses sind Sie unbekannt. Freund wie Feind werden auf den geringsten Hauch von Unanständigkeit, auf jedes Quäntchen ungebührlichen Benehmens warten.“ Sie schwieg, dann musste sie wider Willen lachen. „Nur zu Ihrer Information, mein Verhalten ist immer unfehlbar anständig. Darauf bin ich stolz. Falls Sie allerdings Ihrem Anliegen Vorschub leisten möchten, dann ist das nicht der richtige Weg. Zudem ist es nicht der Mühe wert, denn ich habe kein Verlangen nach einer bestimmten Position oder …“
„Was ist mit einer Familie?“ Er sah sie scharf an. „Möchten Sie keine eigene Familie? Einen Mann und Kinder?“ Die Schwester, die sie nie kannte, und die Nichten, die sie nie sah, kamen ihr in den Sinn, doch sie schob den Gedanken energisch von sich. Sie hatte noch nicht entschieden, ob sie in der Angelegenheit etwas unternehmen wollte, und wenn ja, was. Und was Kinder allgemein betraf …
„Ich bin nicht gerade begeistert von Kindern und sie scheinen ebenfalls nicht besonders viel für mich übrig zu haben.“
„Wir müssen ja nicht mehr als eine Hand voll haben“, gab er unbekümmert zurück. „Eigentlich wären zwei schon ausreichend, vorausgesetzt natürlich, sie sind beide männlich.“
„Natürlich.“ Das hätte sie sich ja denken können. Darin unterschied er sich überhaupt nicht von jedem anderen Mann von Stand. „Und zweifellos wären sie genauso störrisch wie ihr Vater.“ Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und musterte ihn. „Ich habe Ihren großzügigen Antrag abgelehnt. Damit haben Sie sogar vor dem loyalsten aller Anhänger geheimer Ehrenkodexe Ihrer Pflicht Genüge getan. Dennoch glauben Sie weiterhin beharrlich, dass eine Ehe zwischen uns möglich wäre.“
„Nicht nur möglich“, er grinste sie wissend an. „Sondern unausweichlich.“
„Nichts ist unausweichlich, mein Herr. Außer dem Auf- und Untergang der Sonne oder dem Wechsel der Jahreszeiten.“
„Und was macht Sie so sicher, dass Sie und ich nicht so unausweichlich sind wie die Natur? Dass das Schicksal uns nicht füreinander bestimmt hat, wie es die Sterne dazu bestimmt hat, den nächtlichen Himmel zu erleuchten? Oder den Tag, der Nacht zu folgen?“ Seine Worte klangen so beiläufig, als spräche er von Nichtigkeiten, doch in seinen Augen lag ein faszinierender Glanz. „Ich würde ein Komplott, das unsere Väter ausgeheckt haben, um den Fortbestand unseres – oder besser Ihres – Familiennamens zu sichern, nicht unbedingt Schicksal nennen.“ Dennoch, es war ein überraschend angenehmer Gedanke, die Vorstellung, dass er und sie füreinander bestimmt sein könnten. Angenehm und völlig an den Haaren herbeigezogen.
„Wirklich? Sie halten die Tatsache, dass Sie mir buchstäblich in die Arme gefallen sind, noch bevor wir von dieser Vereinbarung wussten, nicht für einen Wink des Schicksals?“
„Nicht schlecht, mein Herr.“ Sie klatschte ironisch Beifall. „Brillante Strategie. Sie nehmen eine im Prinzip rein geschäftliche Vereinbarung zwischen törichten Vätern und verwandeln sie in etwas Geheimnisvolles und Romantisches. Wie ging das noch? Ach ja.“ Sie legte den Handrücken auf die Stirn und sprach mit dramatischem Ausdruck: „Meine liebste Miss Townsend, wir sind füreinander bestimmt. Unser Schicksal steht in den Sternen geschrieben. Es ist … unausweichlich.“ Sie richtete sich wieder auf. „Wirklich gut gemacht.“
„Danke“, gab er bescheiden zurück. „Ich fand mich selbst nicht schlecht.“
„Dennoch muss ich daran erinnern, dass ich Ihnen nicht in die Arme gefallen bin. Sie haben mich beinahe umgeworfen.“
„Umgeworfen?“ Er hob wissend eine Augenbraue. „Und da glauben Sie nicht an Schicksal?“
„Ich glaube lediglich, dass Sie nicht aufgepasst haben, wo Sie hintreten. Es war reiner Zufall, dass wir beide am gleichen Tag zur gleichen Zeit Mr. Whiting einen Besuch abstatteten.“
„Manche Menschen meinen, es gibt keine Zufälle.“
„Das ist Unsinn und das wissen Sie auch.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ehrlich, mein Herr, ich weiß nicht, warum Sie darauf bestehen …“
„Warum wollen Sie mich nicht heiraten?“, fragte er unvermittelt. „Das ist doch ganz offensichtlich.“
„Nicht für mich.“
„Dann füge ich der Liste Ihrer Charakterfehler neben Sturheit auch noch Einfalt hinzu. Bitte sehr.“ Sie seufzte lang und tief und zählte ihre Gründe an den Fingern ab. „Erstens – ich kenne Sie nicht. Zweitens – ich weigere mich, meine Zukunft von Männern bestimmen zu lassen, besonders von lang verstorbenen Männern. Und drittens – ich habe keinerlei Bedürfnis zu heiraten.“
„Jemals?“ Er sah sie erstaunt an. „Oder nur mich nicht?“
„Beides.“ Sie nahm sich zusammen. Wenn Mr. Whiting keinerlei Verständnis für ihren Wunsch nach Ehelosigkeit zeigte, dann würde Pennington das sicherlich auch nicht tun. „Wenn eine Frau kein Interesse an Kindern hat …“
„Und Sie haben kein Interesse an Kindern?“ Sie zögerte und er triumphierte. „Aha!“ Er lächelte selbstgefällig und sie fügte der Liste im Geiste Impertinenz hinzu.
„Alle Frauen wollen Kinder. Es liegt in ihrer Natur.“
„Vielleicht.“ Gwen gab das gerne zu. Schon öfter hatte sie überlegt, ob ihre Abneigung gegen Kinder mehr mit den ihr anvertrauten zu tun hatte als mit einem Mangel an mütterlichen Instinkten ihrerseits. Dennoch müsste der Wunsch nach Fortpflanzung in ihr erst geweckt werden und sie war sich nicht sicher, ob das je geschehen würde.
„Von Kindern mal abgesehen, betrachte ich die Ehe nicht als wünschenswerten Zustand für eine Frau.“
„Warum um Himmels willen nicht?“ Er klang entrüstet, als wäre ihre Abneigung der Ehe gegenüber eine persönliche Beleidigung. Sie wurde ungeduldig. „Ich schulde Ihnen wohl kaum eine Erklärung.“
„Als Ihr zukünftiger Ehemann habe ich aber ein Recht darauf“, erwiderte er überheblich. „Was Ihre unmittelbare Zukunft betrifft: Wenn es nach mir ginge, stünde Ihnen keine Hochzeit bevor, sondern etwas ganz anderes, ebenso Endgültiges.“ Sie versuchte, mit fester Stimme zu sprechen, doch seine Hartnäckigkeit war gleichermaßen amüsant wie ärgerlich. Sie hatte noch nie ein Wortgefecht mit einem Gentleman geführt, doch es war überraschend anregend. „Lord Pennington, der einzig wahre Vorteil einer Heirat für eine Frau ist finanzieller Natur. Ich bedarf keiner Heirat, da ich über ein bescheidenes Einkommen verfüge. Es dürfte nicht annähernd so komfortabel sein wie das Ihre, aber es genügt mir.“
Er musterte ihr Kleid. „Sehr bescheiden, möchte ich meinen.“
Ihre Heiterkeit schwand. „Ich habe soeben erst von meiner finanziellen Situation erfahren und hatte noch keine Gelegenheit, einen Teil meines Vermögens in eine anständige Garderobe zu investieren.“
„Das erleichtert mich ebenfalls.“
„Ebenfalls?“ Sie sah ihn misstrauisch an. „Was soll das heißen, ebenfalls?“
„Ich meinte nur …“ Er hielt inne und rang um die passenden Worte. Sie verspürte keinerlei Bedürfnis, ihm entgegenzukommen. „Was?“, forderte sie. „Kommen Sie schon, Miss Townsend, Sie wissen ganz genau, was ich meine.“ Sein Blick war zu aufdringlich, zu abschätzend, zu wohlwollend. Einen Augenblick lang hatte sie das verstörende Gefühl, er sähe sie gänzlich unbekleidet.
„Ich hatte damit gerechnet, eine vollkommen unattraktive Frau zu treffen. Eine herrische Frau. Sie sind eine ausgesprochen angenehme Überraschung. Ich liebe rote Haare.“ Sie ignorierte das Blut, das ihr in die Wangen schoss. „So schmeichelnd das sein mag, mein Herr, das tut jetzt nichts zur Sache. Wir sprachen gerade über die Gründe, warum Frauen …“
„Und was ist mit der Liebe, Miss Townsend?“ Seine Stimme war sanft, doch sein Blick intensiv. „Zuneigung? Die Gefühle, von denen Dichter inspiriert werden? Sicherlich glauben auch Sie daran, dass manche Frauen nicht nur aus finanziellen Gründen heiraten?“
„Natürlich.“ Sie reckte ihr Kinn und sah ihm direkt in die Augen. „Ich glaube einfach nur, dass Liebe, Zuneigung und Gefühle ein lächerlicher Grund sind, um sich für den Rest seines Lebens an einen Mann zu ketten. Die Ehe ist ein Käfig und die Liebe ist nichts als der Köder.“
„Tatsächlich?“ Er betrachtete sie eingehend. „Sie haben also gründlich darüber nachgedacht?“
„Ein wenig.“ Sie zuckte die Schultern. Schon vor langer Zeit hatte sie die Erkenntnis gewonnen, dass es nicht die Ehe war, die Frauenleben zerstörte, sondern die Liebe. Die Liebe, derentwegen sie einem Mann bis ans Ende der Welt folgten, sich die Gesundheit ruinierten, um einen Sohn zu gebären, oder über die Untreue jenes Gatten hinwegsahen, der ihnen einst ewige Liebe geschworen hatte. „Genug, um zu wissen, dass ich kein Bedürfnis danach habe.“
„Das ist ja perfekt“, grinste er. „Sie lieben mich nicht. Ich liebe Sie nicht. Zugegeben, ich erwarte schon, ein gewisses Maß an Sinneslust gegenüber meiner zukünftigen Frau zu verspüren. Ihnen gegenüber. Selbst jetzt in diesem Moment.“
„Halten Sie sofort den Mund!“ Widerwillig musste sie lachen. Er war höchst amüsant. „Sie sind unverbesserlich. Akzeptieren Sie niemals ein Nein?“
„Niemals.“ Er kam auf sie zu. „Was machen Sie denn da?“ Sie trat einen Schritt zurück. Er blieb vor ihr stehen, nur wenige Zentimeter entfernt. Sein Blick wanderte von ihren Augen zu ihren Lippen und zurück. Sie hatte das Gefühl, als habe er sie körperlich berührt. „Da Sie ja kein Interesse an Liebe oder Reichtum haben, dachte ich, ich zeige Ihnen die Vorteile der Sinneslust in einer Ehe.“
„Sie wollen mich doch wohl nicht … nicht …“ Sie schluckte und starrte ihn an. „Küssen?“
„Nein, natürlich nicht“, antwortete er sanft. Wieder blieb sein Blick an ihren Lippen hängen. „Das käme mir nie in den Sinn.“
„Sie lügen.“
„Aber nicht doch“, murmelte er. Doch sie hätte ihr gesamtes Vermögen darauf verwettet, dass er es doch tat.
„Meine liebe Miss Townsend, sollte ich Sie wirklich küssen wollen, dann wüssten Sie das mit Sicherheit.“
„Jetzt bin ich nicht ganz sicher.“ Seine Augen leuchteten in einem noch tieferen Grün. „Haben Sie schon einmal geküsst?“
„Nicht freiwillig.“
„Ach?“
„Ich habe schon zwangsweise die Aufmerksamkeit von Männern über mich ergehen lassen müssen“, entschlüpfte es ihr. Er sah beunruhigt aus, jegliche Leidenschaft, die sich vielleicht bei ihr entfachen wollte, verlosch unerwartet. „Stört Sie das?“, fragte sie etwas schärfer als beabsichtigt. „Es stört mich generell, wenn Männer einer Frau ihre Aufmerksamkeiten aufzwingen. Ich kann nur hoffen, dass Ihnen kein Leid geschehen ist.“ Er klang ernsthaft besorgt und ihr wurde bewusst, dass er ein liebenswerter Mann war. Trotzdem war er nicht – und würde es niemals sein – ihr Verlobter.
„Keineswegs. Ich habe gelernt, mit unwillkommener Aufmerksamkeit umzugehen.“ Sie legte ihm die Hand auf die Brust und schob ihn mit Bestimmtheit von sich. Er grinste und trat beiseite. „Das war sicherlich noch nicht alles?“
„Natürlich nicht.“ Gwen ging an ihm vorbei. Sie war erstaunt, dass er nicht gemerkt hatte, wie bereit sie war, einen Kuss zuzulassen. Noch schlimmer, ihn gar zu erwidern. So etwas hatte sie noch nie verspürt und sie wusste nicht recht, wie sie jetzt damit umgehen sollte. Vor dem Kamin blieb sie stehen und wandte sich ihm wieder zu. „Im Moment allerdings schien mir das ausreichend. Ich halte Sie für einen Gentleman, der das Nein einer Dame ernst nimmt. Sie wären erstaunt, wie viele vorgeblich ehrbare Gentlemen nur wenig Skrupel haben, das bei einer Frau, die bei ihnen in Diensten steht, nicht zu tun.“
„Männer sind abstoßende Bestien“, sagte er energisch. Sie ignorierte die Heiterkeit in seinen Augen. „Da gebe ich Ihnen recht.“
„Allerdings gibt es unter uns abstoßenden Bestien auch Ausnahmen.“
„Gut.“
„Außerdem sind manche von uns abstoßenden Bestien noch nie einer Frau begegnet, der sie ihre Aufmerksamkeiten aufzwingen mussten.“ Sie schnaubte verächtlich. „Ich bitte Sie, wollen Sie damit sagen, dass Sie noch nie eine Frau getroffen haben, die kein Bedürfnis verspürt hat, Sie zu küssen?“
„Nie.“ Er zuckte mit den Schultern. „Sie sind genauso arrogant, wie ich bei unserer ersten Begegnung den Eindruck hatte.“
„Und genauso charmant, hoffe ich.“ Er zog keck die Augenbrauen hoch und sie musste ein Lachen unterdrücken.
„In einem allerdings irren Sie sich, Miss Townsend.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Was unsere Ehe betrifft, haben Sie heute wieder und wieder nein gesagt. Und doch gedenke ich nicht, das hinzunehmen.“
„Warum nicht?“ Sie seufzte müde. „Sie sind lästiger als jedes Kind, das ich je betreuen musste.“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und trat ans Fenster. Die Widersprüche dieses Mannes waren schwer zu durchschauen. „Ich habe es Ihnen so leicht gemacht, aus dieser Sache herauszukommen. Niemand könnte Ihnen vorwerfen, das Versprechen Ihres Vaters nicht zu ehren. Gott weiß, Sie haben alles versucht. Wirklich bewundernswert. Außerdem können Sie nichts außer der Ehre und meiner Mitgift gewinnen. Die allerdings für einen Mann Ihres Vermögens wohl kaum erwähnenswert sein dürfte.“ Er räusperte sich. „Miss Townsend, es gibt da etwas …“ Sie winkte ab. „Ich hingegen würde sehr von dieser Ehe profitieren. Ich würde ein hübsches kleines Vermögen erhalten, ganz abgesehen davon, dass ich auch an Ihrem teilhaben würde.“ Ein merkwürdiger Gedanke schoss ihr durch den Kopf und sie wandte sich ihm wieder zu. „Ihr Vermögen ist doch beträchtlich, oder?“
„Das ist es“, antwortete er vorsichtig. „Im Moment.“
„Im Moment?“ Plötzlich wurde ihr alles klar. „Gütiger Himmel, Sie sind völlig mittellos, oder? Sie brauchen diese Ehe. Meine Mitgift und mein armseliges kleines Einkommen.“
„Vor einer Minute war es noch ein hübsches kleines Vermögen.“
„Vor einer Minute spielte es auch noch keine Rolle.“
„Wie dem auch sei, ich bin nicht mittellos.“ Er wich ihrem Blick aus. „Noch nicht.“
„Noch nicht?“ Einen Moment lang starrte sie ihn an. Die Wahrheit lag auf der Hand und sie ärgerte sich, dass sie erst jetzt begriff. Sie wählte ihre Worte mit Bedacht. „Ich erbe ein Vermögen, wenn wir heiraten. Wie viel bekommen Sie?“
Sein Blick bestätigte ihren Verdacht. Er ähnelte einem ihrer Zöglinge, der bei etwas Verbotenem erwischt wurde. „Ich hätte es nicht so nüchtern ausgedrückt.“
„Wie viel, mein Herr?“
„Um genau zu sein, bekomme ich gar nichts, außer einer Frau natürlich. Und ob das ein Vorteil ist, muss sich noch herausstellen. Sondern ich verliere nicht das, was ich schon habe.“ Er seufzte resigniert. „Wenn wir nicht heiraten, büße ich mein gesamtes Vermögen ein.“
„Ich verstehe“, sagte sie langsam. Seine Entschlossenheit zu dieser Ehe ergab nun einen Sinn. „Miss Townsend.“ Er kam näher. „Es geht nicht um mich. Ich würde mit Freuden mein mir noch verbleibendes Leben in Armut verbringen, bevor ich einen von uns gegen unseren Willen zu einer Ehe zwinge.“
„Das bezweifle ich. Ich war schon einmal arm und es ist kein bisschen amüsant.“ Er ging nicht auf sie ein. „Auch wenn ich selbst immer mehr der Meinung bin, dass wir von der Hand des Schicksals …“
„Ja, ja. Schicksal. Vorhersehung. Es steht in den Sternen geschrieben und so weiter.“ Sie rollte die Augen gen Himmel und ließ sich auf das Sofa fallen. „Bitte, fahren Sie fort.“
„Sie sollten wissen, dass meine Motive nicht nur selbstsüchtiger Natur sind. Nicht ich allein bin von dieser Angelegenheit betroffen. Es gibt Menschen, die von mir abhängen.“ Wie er sich mit der Hand durch das Haar fuhr, stellte sie fest, dass er tatsächlich wie ein zerzauster kleiner Junge aussah.
„Die Pächter auf unserem Landsitz, eine kleine Armee von Bediensteten und meine Mutter, die ebenfalls ihr Vermögen verlieren würde, wenn wir nicht heiraten. Das Dorf Pennington selbst hängt von meinem Patronat ab, so wie früher von dem meines Vaters und davor von dem meines Großvaters. Außerdem war ich nie geizig mit meinem Reichtum. Ich spende für viele gute Zwecke.“ Er hielt inne und blickte sie an. „Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele Waisen über die Jahre nach mir benannt wurden?“
„Pennington klingt etwas protzig für eine Waise“, murmelte sie. „Seien Sie nicht albern. Sie wurden natürlich Marcus getauft.“ Er schüttelte den Kopf. „Wer würde denn eine Waise Pennington nennen.“
„Marcus.“ Der Name zerging auf ihrer Zunge. „Ich weiß, das sind meine Probleme und nicht Ihre.“ Er warf ihr einen durchdringenden Blick zu. „Obgleich eine Ehefrau die Probleme ihres Mannes teilen sollte.“
„Vielleicht, aber ich werde nicht Ihre Ehefrau.“ Wieder tat er so, als habe er sie nicht gehört. „Es ist alles meine Schuld, ich weiß das. Ich hätte schon vor Jahren eine Frau finden sollen. Aber es ist nicht so einfach, wie man sich das vielleicht vorstellt.“
„Nicht einmal, wenn man so charmant ist wie Sie?“
„O nein.“ Er schritt immer noch auf und ab. „Man möchte glauben, dass es bei all den frischen jungen Gesichtern, die jedes Jahr wie Rinder auf einer Auktion vorgeführt werden, nicht so schwer sein würde, eine Braut zu finden. Es gibt genügend aus ehrbaren Familien und mit annehmbarer Mitgift. Viele sind auch attraktiv und manche besitzen sogar einen Anflug von Intelligenz. Aber meiner Ansicht nach sollte man eine Braut nicht aussuchen wie ein neues Pferd, das Augenmerk nur auf Zähne, Aufzucht und Herkunft gerichtet. Was meinen Sie, Miss Townsend?“
„Keineswegs.“ Der Mann war einfach faszinierend in seiner Leidenschaft und sie konnte den Blick nicht von ihm wenden.
„Natürlich nicht. Weil es unsinnig ist. Doch genau das wird erwartet. Auf keinen Fall habe ich das getan, obwohl ich es gekonnt hätte. Hatte ich schon erwähnt, dass ich als gute Partie gelte?“
„Vielleicht ein- oder zweimal.“
„Gut. Sie sollten wissen, was Sie bekommen.“ Sie wollte protestieren, schloss jedoch den Mund wieder. Er würde ihr momentan sowieso keine Beachtung schenken. Er war in einem Redeschwall. „Ehrlich gesagt finde ich die gesamte Idee eines Heiratsmarktes geschmacklos. Und wissen Sie auch warum, Miss Townsend?“ Sie riss die Augen auf und schüttelte den Kopf.
„Es ist zu … geschäftsmäßig. Zu unpersönlich. Finden Sie nicht auch?“ Sie nickte. „Zum Teufel, Miss Townsend, ich weiß, dass man es mir nicht sofort anmerkt, aber ich habe auch eine sentimentale Ader. Zugegeben, ich zeige sie nicht. Meine Freunde glauben sogar, ich hätte überhaupt keine Gefühle, nur weil ich mein Herz nicht auf der Zunge trage.“
„Ist das wahr?“
„Ja. Sehr ärgerlich.“ Er nickte energisch. Dann umspielte ein trockenes Lächeln seine Mundwinkel. „Vielleicht würden sie anders darüber denken, wenn ich zu ihnen einmal so sprechen würde wie jetzt zu Ihnen. Herr im Himmel, ich habe noch nie mit jemandem über solche Dinge gesprochen, schon gar nicht mit einer Frau. Die Umstände, in denen wir uns hier wiederfinden, belasten mich offenbar stärker, als ich vermutet hatte.“
„Offenbar.“
„Und was ist mit Ihnen, Miss Townsend? Wir – oder besser: ich – befinde mich in dieser misslichen Lage, weil keiner von uns beiden verheiratet ist. Sie sind außergewöhnlich hübsch und …“
„Außergewöhnlich?“ „Sie hielt sich für einigermaßen attraktiv, aber nicht für außergewöhnlich hübsch. Ja, sie selbst fand sich sogar etwas übertrieben: die Farbe ihres Haars war zu intensiv und ihre Hüften und Brüste waren zu rund für ihre Statur. Von einem Mann wie Pennington als außergewöhnlich hübsch bezeichnet zu werden, war das netteste Kompliment, was sie je bekommen hatte. „Außergewöhnlich.“ Er nickte heftig. „Ich kann nicht glauben, dass sich Ihnen noch nie die Gelegenheit zu einer Heirat geboten hat.“
„Ich war nur eine Gouvernante, Lord Pennington. Da gab es nicht viele Gelegenheiten. Außerdem habe ich ja erklärt …“
„Ja, ja, Verzeihung. Ich vergaß. Die Ehe ist nichts für Sie. Dennoch, wenn Sie zu diesem Zeitpunkt verheiratet wären, dürfte ich mein Vermögen behalten.“ Sein Gesicht hellte sich auf. „Vielleicht ist es noch nicht zu spät? Wenn Sie mich nicht heiraten wollen, könnten wir Sie in Windeseile an einen anderen verheiraten. Mein Freund Berkley, der Gentleman, der mich neulich begleitete, würde Sie auf der Stelle ehelichen. Er war recht angetan von Ihnen und offensichtlich ist hier auch eine Rettung vonnöten.“
„Das reicht, mein Herr. Ich habe nicht die Absicht, irgendjemanden zu heiraten und Ihren Freund auf gar keinen Fall. Abgesehen davon, sollte ich überhaupt an eine Ehe denken, dann sicherlich nur mit Ihnen.“ Sie wusste im selben Moment, dass diese Worte ein Fehler waren. Noch bevor sie aufbegehren konnte, kam er quer durch den Raum zu ihr, kniete sich zu ihren Füßen und ergriff ihre Hände. „Meine liebe Miss – haben Sie eigentlich auch einen Vornamen?“
„Gwendolyn.“
„Gwendolyn.“ Er nickte begeistert. „Bezaubernd. Gwendolyn und Marcus. Das klingt wunderschön. Ich sagte doch, es ist Schicksal.“
„Das ist es sicher nicht.“ Sie versuchte, ihm ihre Hände zu entziehen, doch er hielt sie fest. „Retten Sie mich, Gwendolyn.“ Seine Stimme war so eindringlich, wie er sie anschaute. „Retten Sie die Menschen, die von mir abhängen.“
Sie sah lange auf ihn herab. Es wäre für sie mühelos, nachzugeben und ihn zu heiraten. Und vermutlich wäre es genauso leicht, ihn zu mögen. Vielleicht sogar zu lieben. Aber Liebe würde zu nichts Gutem fuhren. Sie würde nicht in die Fußstapfen ihrer Mutter und Schwester und all der Frauen treten, die einem Mann ihre Liebe schenkten, nur um viel zu früh ihr Leben zu verlieren oder sich das Herz brechen zu lassen. Nein, abgesehen von allen anderen Gründen, diesen Mann nicht zu ehelichen, war der wichtigste: die Liebe.
„Es tut mir schrecklich leid, mein Herr.“ Sie entzog ihm ihre Hände. „Aber ich werde Sie nicht heiraten.“
„O doch, das werden Sie, Miss Townsend. Denn wissen Sie, ich werde nicht aufgeben.“ Er stand auf und sah auf sie herunter. Es war sehr beängstigend. „Ich habe beinahe volle drei Monate Zeit, Sie zu überzeugen. Und glauben Sie mir: genau das werde ich tun.“ Sie funkelte ihn an. „Ich werde meine Meinung nicht ändern.“
„Ich werde jeden Tag und jede Nacht vor Ihrer Türe stehen. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Sie davon zu überzeugen, mich zu heiraten. Und ich werde nicht aufgeben bis zu dem Tag, an dem ich mein dreißigstes Lebensjahr vollende. Mein Vermögen zu behalten ist viel zu wichtig für viel zu viele Menschen. Es gibt für Sie nur einen Weg, mich ein für alle Mal aus Ihrem Leben verschwinden zu lassen, Miss Townsend, und das“, ein boshaftes und überaus anzügliches Lächeln breitete sich langsam auf seinem Gesicht aus, „ist, mich zu heiraten.“