Leseprobe Die Braut in den Highlands

Prolog

 

Zwei Meilen nordöstlich von Edinburgh, März 1371

 

„Ich hoffe, die vier Jahre, in denen du fort warst, haben dich zur Vernunft gebracht“, sagte Ian Logan, zweiter Baron Lestalric, in strengem Ton zu seinem jüngeren Sohn.

Breitbeinig, die kräftigen Arme vor der Brust verschränkt, stand Sir Ian vor dem riesigen Kamin in der großen Halle von Lestalric Castle. Die Seidenschuhe, das tiefrote Wams über den ebenfalls seidenen Beinlingen und der Goldschmuck zeugten von seinem Reichtum, und seine in Falten gelegte Stirn verriet seine Skepsis.

In der Nähe auf dem Podium stand sein Erbe William, ein Ebenbild seines Vaters, mit der gleichen stolzen Haltung und vornehmen Kleidung und von ebenso stämmiger Gestalt. Auch er blickte missbilligend auf den dritten Mann im Raum und sagte: „Hoffentlich bist du jetzt wenigstens so schlau und verrätst uns das verdammte Geheimnis, das du mit dir herumschleppst, seit du fortgegangen bist, Robbie.“

„Ob schlau oder nicht, du wirst es uns verraten, und zwar auf der Stelle!“, wetterte der Baron. „Ich befehle es dir!“

Der jüngere Sohn des Barons, Sir Robert, war noch keine achtzehn, etwas über eins achtzig groß und muskulös. Er war erst zwei Stunden zuvor vom Schlachtfeld heimgekehrt, auf dem er sich seine Sporen verdient hatte. Er wurde zornig, als er sich derart angegriffen sah, ließ es sich jedoch nicht anmerken. Er wollte endlich seine große Liebe heiraten, und dazu brauchte er die Unterstützung seines Vaters. Dennoch konnte er nicht tun, was Sir Ian von ihm verlangte.

Die drei Männer waren sich sehr ähnlich, allesamt dunkelhaarig und mit haselnussbraunen Augen. Rob war lediglich größer, hatte breitere Schultern und schmalere Hüften als die beiden anderen. Obgleich nur ein schmaler Streifen von mit Binsen bestreutem Fußboden zwischen ihnen lag, trennten sie doch ein Zeitraum von vier Jahren sowie Dutzende von Auseinandersetzungen.

Jetzt, da er in seinen von der Reise verschmutzten Hosen und den schlammigen Stiefeln vor ihnen stand, erschien es Rob, der sich mit den beiden Männern nie wirklich gut verstanden hatte, als wären sie meilenweit voneinander entfernt. Geistesabwesend rieb er den schlichten goldenen Ring an seinem linken kleinen Finger, während er sich eine Antwort überlegte.

„Also?“, hakte Sir Ian nach. „Ich habe dir eine klare Frage gestellt, die jeder loyale Mann in unserer Familie auf Anhieb beantworten würde.“

Erneut spürte Rob, wie der Zorn in ihm hochstieg, doch er zwang sich zur Ruhe. „Ihr wisst, dass ich loyal bin, Mylord, und müsstet Euch eigentlich denken können, dass ich nicht antworten kann.“

„Ich habe es Euch ja gesagt, Vater“, mischte sich Will ein. „Robert war erst dreizehn, als er uns verließ, und was er mir damals an den Kopf geworfen hat, spielt jetzt keine Rolle mehr. Warum hätte Großvater ihm mehr verraten sollen als uns? Großvater hat selbst gesagt, dass er Rob nichts Wichtiges erzählt hat.“

„Schweig, Will!“, befahl Sir Ian, ohne Rob aus den Augen zu lassen. „Ich habe dir doch gesagt, dass der Steward bald zum König der Schotten gekrönt wird, oder etwa nicht, Junge?“, wandte er sich erneut an seinen jüngeren Sohn.

„Doch“, erwiderte Rob. „Aber ich weiß nicht, was das mit mir zu tun hat, bis auf die Tatsache, dass wir wahrscheinlich alle zusammen zur Krönung in der Abtei Scone reisen werden.“

„Und zu diesem feierlichen Anlass hast du uns wirklich nichts mitzuteilen?“

„Nein, Sir. Was sollte ich über die Krönung des Königs wissen?“

„Hat dein Großvater dir denn gar nichts Interessantes erzählt?“

„Ich habe viel Interessantes von ihm erfahren“, gab Rob zu. „Meistens jedoch sprach er von den alten Zeiten hier auf Lestalric, als er und seine Gefährten sich in Höhlen versteckten und die englischen Eindringlinge hinters Licht führten, indem sie ihren Nachschub raubten und dergleichen. Aber diese Geschichten kennt Ihr und William doch auch, oder nicht?“ Mit einem Blick auf seinen Bruder, der ihn noch immer mit finsterer Miene musterte, fügte Rob hinzu: „Für meine frechen Bemerkungen damals entschuldige ich mich, Will. Aber du hast mich schließlich auch gereizt. Jedenfalls hat Großvater dir die alten Geschichten doch auch erzählt, nicht wahr?“

„Ja, aber du weißt genau, dass wir hier nicht über irgendwelche Possen mit den verdammten Engländern reden. Seit nunmehr fast vierzig Jahren – seit der Zeit, von der Großvater sprach – haben sie sich von Schottland ferngehalten, bis auf einen kurzen Überfall vor zwanzig Jahren, als sich die Unsrigen beinahe ihren König Edward geschnappt hätten. Aber uns geht es um Familiengeheimnisse. Was weißt du darüber?“

Rob schüttelte den Kopf. „Wenn es Familiengeheimnisse gäbe, würdet wohl eher ihr, unser Vater als Erbe des Titels und danach du, davon erfahren. Mich würde bestimmt niemand einweihen. Und vergiss nicht, dass unser Großvater, zwei Monate nachdem er mich nach Dunclathy geschickt hatte, starb.“

„Also hat er dir weder etwas von seinem Vater und seinem Onkel erzählt, die beide mit Robert the Bruce befreundet waren, noch davon, was die beiden Männer für Bruce getan haben?“, erkundigte sich der Baron.

Rob runzelte die Stirn. „Ich weiß, dass sowohl mein Urgroßvater, Sir Robert Logan, dessen Namen ich trage, als auch sein Bruder, Sir Walter, nach dem unser Großvater benannt war, nach Bruce’ Tod den guten Sir James Douglas und Sir William Sinclair begleiteten, um nach dem Willen ihres Herrn dessen Herz ins Heilige Land zu bringen.“

„Genau. Und deshalb führen wir, ebenso wie die Douglas, auch ein Herz in unserem Wappen“, warf Sir Ian ein. „Aber was weißt du sonst noch über sie?“

„Ich weiß, dass unsere beiden Vorfahren zusammen mit Sir James und Sinclair in Spanien getötet wurden und dass Sir William Keith und weitere Überlebende ihre Leichname und Bruce’ Herz wieder nach Hause holten. Was ich nicht weiß, ist, was das alles mit Eurer Frage zu tun hat.“

Sir Ians Augen wurden schmal, und er starrte Rob eindringlich an, doch der hielt dem Blick gleichmütig stand. In den vergangenen vier Jahren hatte er noch ganz andere Blicke ertragen müssen.

„Du weißt also gar nichts“, stellte Sir Ian schließlich mit einem tiefen Seufzer fest. „Das ist schade, weil ich dir sonst nämlich entgegengekommen wäre. Ich habe gehört, du möchtest Lady Ellen Douglas heiraten. Man hat mir sogar berichtet, dass du es gewagt hast, vor einem Jahr mit ihr darüber zu reden, als du dich für einen Tag ganz in der Nähe bei den Douglas auf Tantallon aufhieltest, ohne einen Abstecher zu deinem Vater zu machen.“

„Ihr wisst doch, dass es nicht ging“, entgegnete Rob mit gepresster Stimme. „Ich ritt damals in Sir Edward Robisons Gefolge, als er die Douglas aufsuchte, um sich mit ihnen über die immer dreister werdenden Übergriffe der englischen Grenzräuber zu beraten.“

„Es ist wirklich jammerschade, dass du uns nichts mitzuteilen hast“, bemerkte William mit geheucheltem Bedauern.

Rob schwieg. Es fiel ihm schwer, sein aufbrausendes Temperament im Zaum zu halten, und er fragte sich, ob die anderen wohl hören konnten, wie sein Herz vor Aufregung pochte.

„Also?“, fuhr ihn sein Vater an. „Willst du das Mädchen oder nicht?“

„Das weißt du doch“, erwiderte Rob. „Und außerdem …“

„Ein appetitliches Ding ist Ellen ja“, bemerkte William leichthin.

„Halt den Mund!“, fuhr Rob ihn an. „Vergiss nicht, dass du von einer Dame sprichst und dass du jetzt nicht mehr einen Kopf größer und einige Kilo schwerer bist als ich.“

„Mit einem Jüngelchen wie dir werde ich immer noch fertig.“

Rob bedachte ihn mit einem wütenden Blick. Was auch immer Will während seiner Ausbildung beim Earl of Douglas auch gelernt haben mochte, dachte er, höfliches Benehmen gehörte jedenfalls nicht dazu. Sein Bruder hatte sich offensichtlich keinen Deut verändert seit der Zeit, als sie fünfzehn und dreizehn Jahre alt gewesen waren. Damals hatte William ihn bei jeder Gelegenheit schikaniert und ihn sogar als Weichling verspottet, als Rob über den Tod seiner Mutter geweint hatte. Wie hatte er Will damals gehasst!

Andererseits musste Rob zugeben, dass ihm selbst der Orden alles beigebracht hatte, was er im Leben brauchte, bis auf das eine: Selbstbeherrschung. Sir Edward Robison, sein Ausbilder auf Dunclathy, hätte ein Wörtchen zu der Art und Weise zu sagen gehabt, wie Rob vor vier Jahren auf Wills Hänseleien reagiert hatte. Doch Sir Edward wusste nichts davon, und wenn es nach Rob ging, würde er es auch nie erfahren. Ebenso wenig wie Hugo oder Michael. Seine beiden besten Freunde sparten nicht mit guten Ratschlägen, äußerten aber auch Kritik, wenn sie es für angebracht hielten.

Während sich sein Sohn um Selbstbeherrschung bemühte, sagte Sir Ian: „Ich glaube, du solltest dir das Mädchen aus dem Kopf schlagen.“

Auf Williams Gesicht trat ein selbstzufriedener Ausdruck, den Rob sehr beunruhigend fand.

„Da du der Dame nichts weiter zu bieten hast als deine schönen neuen Sporen“, fuhr sein Vater fort, „soll sie lieber unseren Will heiraten.“

„Sie will ihn aber nicht!“, platzte Rob heraus.

William lachte. „Sie wird nicht gefragt. Ich bin der Erbe von Lestalric und nicht du, und sie ist Lady Ellen Douglas, die Tochter des mächtigsten Mannes von Schottland.“

Rob öffnete den Mund, klappte ihn jedoch gleich wieder zu.

„Will hat recht“, sagte der Baron. „Und wenn du sonst nichts für uns hast, bin ich schwer enttäuscht von dir und werde mir deinetwegen keine Mühe mehr machen.“

Rob, der es seinem Vater am liebsten mit gleicher Münze heimgezahlt hätte, biss fest die Zähne zusammen.

Noch immer grinsend sagte Will: „Du hast das Mädchen in deinem Leben doch höchstens dreimal getroffen. Wenn du glaubst, sie würde einen frischgebackenen Ritter nehmen, wenn sie stattdessen das ganze Lestalric-Erbe haben kann, dann bist du noch immer derselbe Hohlkopf wie mit dreizehn, Robbie. Und selbst wenn sie dich haben wollte, wünscht sich ihr Vater bestimmt eine bessere Partie für sie, und sie muss ihm gehorchen. Aber das alles spielt ohnehin keine Rolle mehr, denn Ellen hat meinen Antrag bereits angenommen.“

Rob blickte seinen Vater an, doch Sir Ian zuckte nur mit den Schultern.

„Sagt, Mylord“, erwiderte Rob mit äußerster Beherrschung, „wenn ich Euch etwas über dieses Geheimnis hätte erzählen können, das mein Großvater mir angeblich verraten hat, was hättet Ihr dann gemacht? Da Will ja bereits erfolgreich um Lady Ellens Hand angehalten hat …“

„Ach was!“, entgegnete sein Vater. „Wenn du dir das Mädchen verdient hättest, dann hätte ich Douglas überredet, es dir zu geben. Ein Mann muss tun, was die politische Klugheit erfordert, Junge. Will weiß das genau, und wenn du es noch nicht gelernt hast, dann war deine ganze großartige Ausbildung für die Katz.“

„Wenn ich Euch also das Geheimnis hätte verraten können, so hättet Ihr es an Douglas weitergegeben, im Tausch gegen die Hand seiner Tochter für mich oder Will. Ist es so? Oder hättet Ihr es vielleicht Will erzählen lassen, damit er Eindruck schinden und Lady Ellen hätte für sich gewinnen können?“

Mit geblähter Brust, die Hände in die Hüften gestemmt, reckte Sir Ian das Kinn und erwiderte: „Und wenn schon! Jedenfalls hätte ich das Geheimnis zum größtmöglichen Nutzen der Logans verwendet. Mit den richtigen Informationen hätte ich euch beiden eine Douglas-Braut verschafft. Als einflussreichster Nachfahre des guten Sir James hat Douglas eindeutig das Recht, jedes Geheimnis deines Großvaters zu erfahren.“

„Dann tut es mir leid, dass ich ihm nichts mitzuteilen habe“, antwortete Rob mit steifem Nicken und wandte sich ab.

„Und wo willst du jetzt hin, wenn ich fragen darf?“, erkundigte sich Sir Ian.

Rob drehte sich noch einmal um. „Ich sage Euch Lebewohl, Mylord. Denn ich komme niemals wieder.“

„Na gut, dann eben nicht“, gab Sir Ian zurück. „Aber sei dir im Klaren darüber, dass du dann in Zukunft auch nichts mehr von mir zu erwarten hast!“

Rob, der seinen Zorn jetzt kaum noch zügeln konnte, entgegnete: „Ich erwarte auch nichts! Da ich für Euch doch eine solche Enttäuschung bin, solltet Ihr froh darüber sein, dass ich gehe!“

„Das bin ich auch!“, brüllte Sir Ian.

Rob blickte nicht zurück, als er von Lestalric fortritt, doch der Gedanke an den erbitterten Streit und das Gefühl, verraten worden zu sein, ließen ihn nicht los. Umso mehr, als ihm klar wurde, dass das erste Geheimnis, das sein Großvater ihm verraten hatte, nichts mit Lestalric zu tun hatte. Das zweite allerdings sehr wohl.

Der Schlüssel zu diesem Geheimnis befand sich in der Burg. Doch nun, da er geschworen hatte, niemals zurückzukehren, würde er das Rätsel vielleicht nie lösen.

Wahrscheinlich ging es sowieso bloß um eine Art Familienschatz, auf den dann sein Vater oder Will Anspruch erheben würden. Doch eines stand fest: Obwohl er verzweifelt versucht hatte, sich zu beherrschen, hatte sein verwünschter Jähzorn ihn wieder einmal ins Unglück gestürzt. Er musste unbedingt lernen, sich unterzuordnen, ganz gleich, wohin ihn sein Weg führte.

Bei diesem Gedanken wusste er plötzlich, wohin er sich wenden würde. Denn während er sich bei seinem Vater und seinem Bruder niemals richtig heimisch gefühlt hatte, hatte ihn eine andere Familie stets mit offenen Armen empfangen.

1

 

Stirling Castle, April 1380

 

Der Earl of Fife, Erbvogt von Stirling Castle und dritter Sohn des Königs der Schotten, saß hinter dem großen Schreibtisch in seinem Audienzzimmer und betrachtete mit strengem Blick den jungen Mann, der vor ihm stand. Fife besaß eine gute Menschenkenntnis, und dieser Jüngling trat in Gegenwart des Earls selbstbewusster auf als die meisten anderen Männer. Fifes beeindruckende Persönlichkeit und seine stetig wachsende Macht schüchterten viele ein – und das zu Recht.

„Wer hat Euch zu mir geschickt?“

„Ich bin aus eigenem Entschluss gekommen, Mylord“, erwiderte der Besucher. „Weil ich davon überzeugt bin, dass wir uns gegenseitig von Nutzen sein können. Man hat mir erzählt, dass Ihr der rechtmäßige Erbe des Throns von Schottland seid, Euch jedoch einem geringeren Mann unterordnen müsst.“

„Es ist wahr, dass ich bei Weitem geeigneter wäre, dieses Land zu regieren, als mein Bruder Carrick“, stimmte Fife ihm zu. „Doch Robert the Bruce hat seinerzeit nun einmal festgelegt, dass der älteste Sohn der Thronfolger wird.“

„Aber das schottische Parlament kann diese Bestimmung doch ändern, oder nicht?“

„Ja, wenn man es dazu bewegen könnte.“

„Ich habe mir auch sagen lassen, dass Ihr ein frommer Mann und Anhänger der Römischen Kirche seid.“

„Das ist wahr“, antwortete Fife.

„Könntet Ihr das Parlament nicht leichter umstimmen, wenn der Papst Euren Anspruch auf den Thron unterstützen würde?“

„Ja, gewiss, doch was würde Seine Heiligkeit als Gegenleistung fordern?“

„Wir sind auf der Suche nach Informationen über den Tod meines Vetters. Er war der Sohn des Bruders meines verstorbenen Vaters und verschwand bei dem Versuch, der Römischen Kirche einen Gegenstand von einigem Wert wiederzubeschaffen. Seine Männer sind davon überzeugt, dass er durch die Hand gewisser schottischer Adeliger starb.“

„Wie war der Name dieses Vetters?“

„Waldron von Edgelaw, Mylord.“

Fife beugte sich vor. „Und diese schottischen Adeligen, kennt Ihr ihre Namen?“

„Es sind die Sinclairs, Mylord, die mütterlicherseits ebenfalls mit Waldron verwandt sind.“

„Ich habe Gerüchte über seinen Tod vernommen“, sagte Fife. „Aber meine Gewährsmänner haben mir berichtet, dass er in einem gerechten Kampf gefallen sei. Erzählt mir mehr darüber, was er gesucht hat und warum Ihr der Meinung seid, die Sinclairs hätten etwas mit seinem Tod zu schaffen.“

„Zunächst möchte ich Euch versichern, wie dankbar sich Seine Heiligkeit für Eure Hilfe erweisen würde. Eine hohe Belohnung und die Gunst des Papstes wären Euch gewiss.“

„Dann muss es um etwas sehr Wertvolles gehen“, erwiderte Fife. „Was ist es?“

Sein Besucher nickte. „Man hat mich schon vor Eurem Scharfsinn gewarnt, Mylord. Wonach Waldron suchte, war in der Tat von immensem Wert. Und es gehörte der Heiligen Kirche.“

„Gewiss. Ich würde es ihr auch treulich übergeben“, versicherte Fife. „Aber was ist es denn nun?“

„Ein Schatz, Mylord, den die Tempelritter vor fast einhundert Jahren der Kirche geraubt haben. Diejenigen, die mich geschickt haben, glauben, dass er sich heute in der Obhut der Sinclairs befindet. Bei ihnen hält sich auch eine Frau auf, die während der letzten zwei Wochen seines Lebens bei meinem Vetter war. Ihr Name ist Adela Macleod, und sie wird in Kürze heiraten und in die Highlands ziehen.“

Fife überlegte. Schließlich sagte er nachdenklich: „Sir William Sinclair war einer der Männer, die versuchten, Bruce’ Herz ins Heilige Land zu bringen.“

„Ja, Sir, und ein Templer war er obendrein.“

„Mag sein. Doch Ihr seid schon der Zweite, der mir in letzter Zeit von einem verborgenen Schatz erzählt hat. Ich muss darüber nachdenken. Kommt morgen wieder, dann reden wir weiter.“

Roslin Castle, Donnerstag, 10. Mai 1380

„Lächle, Adela. Wir Bräute müssen doch glücklich aussehen an unserem Hochzeitstag!“

Lady Adela Macleod wandte sich zu ihrer jüngeren Schwester Sorcha um, die tatsächlich über das ganze Gesicht strahlte. Doch sosehr Adela sich auch bemühte, sie brachte nur ein mattes Lächeln zustande.

Sie hoffte, dass ihre Hochzeit diesmal – im Unterschied zum ersten Versuch, Ardelve zu heiraten – reibungslos verlaufen würde. Gewiss würden die vorzüglich ausgebildeten Wachen auf Roslin Castle dafür sorgen, dass nicht noch einmal ein Drama wie bei ihrer ersten Trauung geschah. Dennoch wurde für ihren Geschmack viel zu viel Aufhebens um die Feier gemacht, und es würde im Laufe des Tages noch schlimmer werden. Nervös fingerte sie an der goldenen Halskette herum, die ihre Mutter ihr in dem Jahr, bevor sie starb, geschenkt hatte.

Sorcha strich ihrer Schwester eine lange, glatte, honigblonde Haarsträhne aus dem Gesicht, die Adela nach vorne auf das fest geschnürte Mieder ihres goldenen Samtgewandes gefallen war. Adela ließ es still und fügsam geschehen. Sorchas bernsteinfarbenes Haar war unter einem perlenbesetzten Haarnetz und dem schlichten, schulterlangen blauen Schleier verborgen, den sie zu ihrem ebenfalls blauen Seidenkleid trug.

Ganz ohne Aufwand ging es nun einmal nicht, sagte sich Adela. Zum einen gab es heute zwei Brautpaare statt einem, und da die Gastgeberin darüber hinaus eine mächtige Gräfin war, wurde mit besonders viel Prunk und Pomp gefeiert. Außerdem hatten Adelas jüngere Schwester und der Lieblingsneffe der Gräfin sich bereits vor vierzehn Tagen zu Mann und Frau erklärt. Da war es kein Wunder, dass sowohl die treusorgende Tante als auch der Vater der Braut auf einer Doppelhochzeit bestanden hatten, bei der beide Verbindungen den kirchlichen Segen erhalten sollten.

Selbst Adelas Vater, Macleod von Glenelg, hatte bei den Hochzeitsvorbereitungen nur wenig mitzureden gehabt. Zu Hause im Hochland war sein Wort Gesetz, doch hier gab er zu allem sein Einverständnis. Er hatte nämlich selbst die Absicht zu heiraten, und zwar eine wohlhabende Witwe, die sieben Meilen entfernt in Edinburgh ein Haus besaß. Dort in der Stadt residierte zurzeit der königliche Hof, und Adela wusste, dass ihr Vater alles vermeiden würde, was ihn ins Gerede bringen oder seine eigenen Heiratspläne gefährden konnte.

Im Grunde war ihr von Anfang an klar gewesen, dass ihre Hochzeit diesmal prächtiger ausfallen würde als beim vorherigen Versuch wenige Wochen nach dem Tod des ersten Lords der Inseln. Doch die Wirklichkeit übertraf ihre Erwartungen bei Weitem. Ihre Gastgeberin Isabella, Gräfin von Strathearn und Caithness, und der Rest der einflussreichen Familie Sinclair hatten keine Kosten und Mühen gescheut.

Dafür war Adela überaus dankbar, obwohl es sie nicht gestört hatte, dass ihre erste Hochzeit sehr schlicht gewesen war. Sie bedauerte nur, dass es ihr jetzt nicht gelang, sich mehr auf ihre Vermählung zu freuen.

Während sie zusammen mit Macleod und ihren engeren Verwandten am Eingang zur Kapelle wartete und die kleine, aber illustre Schar der Hochzeitsgäste, die eng gedrängt in der kleinen Kirche saßen, allmählich zur Ruhe kam, überlegte Adela, warum das alles sie so kaltließ. Denn im Grunde genommen war alles wie beim ersten Mal, abgesehen von der Tatsache, dass sich in der großen Halle der Burg noch viele weitere Freunde und Verwandte eingefunden hatten, die nicht mehr in die Kapelle passten. Und natürlich waren diesmal auch Sorcha und ihr Bräutigam Sir Hugo Robison dabei.

Selbst Adelas zukünftiger Gemahl war derselbe: Ardelve, ein freundlicher, großherziger Mann, der sie gernhatte und keine übermäßigen Ansprüche an sie stellen würde.

Das Einzige, worum er sie bisher gebeten hatte, war, dass sie seinem großen Haushalt in Kintail, nicht weit entfernt von ihrer Heimat Chalamine, vorstehen sollte. Auf diese Aufgabe hatte sie sich gefreut, nachdem sie sich beinahe zehn Jahre lang damit abgemüht hatte, ihre eigene anstrengende Familie zu versorgen.

Sorcha fand, Ardelve wäre zu alt und wichtigtuerisch, um einen guten Ehemann abzugeben, doch Adela mochte ihn. Gewiss, er war beinahe so alt wie ihr Vater, bereits zweimal verwitwet und hatte einen Sohn, der älter war als sie. Doch seine Kinder hatten gegen die Verbindung nichts einzuwenden gehabt, und seine Cousine Lady Clendenen, die reiche Witwe, die Macleod zu heiraten gedachte, stand jetzt mit einem wohlwollenden Lächeln in der ersten Reihe und wartete auf den Beginn der Trauung.

Adela konnte also davon ausgehen, dass ihre Ehe mit Ardelve durchaus glücklich werden würde. Was, so fragte sie sich, war dann nur mit ihr los? Warum fühlte sie überhaupt nichts?

Normalerweise war Adela tiefer Empfindungen fähig und auch in der Lage, sie auszudrücken. Sonst hätte sie es gar nicht geschafft, in einer Burg mitsamt Dienstboten, einer aufsässigen Schwester wie Sorcha und ihrem aufbrausenden Vater den Haushalt zu führen. Selbst ihre jüngste Schwester, die verträumte Sidony, beanspruchte ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit. Doch jetzt …

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie zusammenfuhr und vor Schreck fast aufgeschrien hätte, als Sorcha sachte ihren Arm berührte.

Sorchas Lächeln wich einem besorgten Stirnrunzeln. „Kneif dir mal in die Wangen“, sagte sie. „Du bist ja kreidebleich. Stimmt etwas nicht? Tut dir die Schulter noch weh?“

„Nein, die ist ausgeheilt“, antwortete Adela und versuchte, nicht auf den Schmerz zu achten, der von einer Verletzung vor vierzehn Tagen herrührte. „Mir geht es gut.“

„Du siehst aber nicht so aus“, erwiderte Sorcha gewohnt freimütig.

„Lass gut sein, Mädchen“, sagte Sir Hugo und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

Nicht einmal der große, gut aussehende, herrische Hugo konnte ihre Schwester gegen ihren Willen zum Schweigen bringen, dachte Adela.

„Ihr denkt bestimmt an das letzte Mal, Lady Adela“, sagte Hugo lächelnd. „Aber heute wird kein Überfall unsere Feier stören. Das verspreche ich Euch.“

Da er für die Sicherheit auf Roslin Castle verantwortlich war, konnte sie sich auf sein Wort verlassen. Sie setzte ebenfalls ein höfliches Lächeln auf und erwiderte: „Davor habe ich auch keine Angst.“ Sie konnte ihm ja schlecht verraten, dass sie überhaupt nichts empfand, sondern sich wie in einem Traum vorkam, in dem sich vier Unbekannte anschickten, vor den Altar zu treten.

Jetzt wirkte Hugos Miene beinahe so besorgt wie Sorchas. Adela fiel auf, dass er den Griff um die Schulter ihrer Schwester noch ein wenig verstärkte, als ahnte er, dass sie etwas bemerken wollte.

Erstaunlicherweise schwieg Sorcha.

Da sagte Hugo leise: „Seid nicht beunruhigt darüber, dass Ihr jetzt keine Freude empfindet, Mädchen. Das ist ganz normal. Eine ähnliche Reaktion habe ich schon bei tapferen Männern erlebt, die gerade eine Schlacht hinter sich und eine weitere vor sich hatten. Wahrscheinlich fühlt Ihr Euch im Augenblick genauso.“

„Macht Euch bitte keine Sorgen um mich, Sir“, sagte Adela. „Was mir passiert ist, kann man nicht mit einer Schlacht vergleichen. Schließlich wurde ich nicht verwundet. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass er mir etwas angetan hätte.“

Hugos Miene verriet seine Skepsis, doch er antwortete nur: „Ich glaube, der Pfeifer ist jetzt bereit.“

Macleod, der wortlos neben Adela gestanden hatte, fügte hinzu: „Ja, Mädchen, und du weißt ja, wir kommen direkt hinter den Brautjungfern. Also Kopf hoch! Du siehst gut aus, auch wenn du nicht die Glücksfarbe Blau trägst.“

Adela atmete einmal tief durch und erwiderte mit erzwungener Ruhe: „Bitte, Sir, erzählt mir nicht, dass Blau mehr Glück bringt als Goldgelb. Ich kann es nämlich nicht mehr hören. Beim letzten Mal habe ich Rücksicht auf Euren Aberglauben genommen. Ich habe sogar darauf verzichtet, an einem Freitag, dem Dreizehnten zu heiraten. Und denkt nur daran, was mir diese Vorsichtsmaßnahmen genützt haben.“

„Ja, schon, aber wenn du kein Blau getragen hättest, wäre es vielleicht noch schlimmer gekommen. Ist ja jetzt auch egal“, fügte er hastig hinzu. „Das Kleid steht dir jedenfalls gut. Es bringt die grünen Sprenkel in deinen Augen zur Geltung und lässt dein Haar wie eine Flut von goldenem Honig erscheinen.“

Adela schob die Vorstellung von klebrigem Honig, der ihr über den Rücken rann, beiseite und sagte sich, dass ihr Vater nur selten Komplimente machte und deshalb keine Übung darin hatte.

Sie schrak aus ihren Gedanken auf, als Macleod ihr seinen Arm bot und die Brautjungfern sich in Bewegung setzten. Zwischen den Reihen der Gäste hindurch, die sich links und rechts von ihren Bänken erhoben, schritten sie durch den schmalen Gang auf den Altar zu. Folgsam legte Adela ihrem Vater die Hand auf den Unterarm und wartete.

Bei ihrer ersten Hochzeit hatten ihre Schwestern Sorcha und Sidony als Brautjungfern fungiert, doch dieses Mal übernahmen vier Frauen diese Aufgabe, von denen sie drei kaum kannte.

Die blonde, blauäugige Sidony, die in ihrem blassrosa Kleid an der Spitze ging, strahlte heitere Schönheit aus. Hinter ihr kamen Sir Hugos jüngere Schwestern in Lavendelblau und Hellgrün. Den Abschluss bildete ihre Cousine, eine weitere Nichte der Gräfin Isabella, in einem strohgelben Kleid. Alle drei waren erst am Tag zuvor eingetroffen.

Sorcha und Sir Hugo waren bereits rechtmäßig verheiratet. Sie hatten von dem uralten schottischen Recht Gebrauch gemacht, wonach sich ein Paar selbst zu Mann und Frau erklären kann. Sorcha hatte gar nicht eingesehen, warum sie noch einmal heiraten sollten, aber Gräfin Isabella bestand darauf, dass Sorcha und Hugo in aller Form von Isabellas Hauskaplan getraut wurden. Aus diesem Grund traten die beiden Paare gemeinsam vor den Altar.

Die vier Brautjungfern postierten sich zu beiden Seiten auf den flachen Stufen, die zum Altar führten, wo Ardelve und der Kaplan bereits warteten, als Adela und ihr Vater durch den Gang auf sie zuschritten. Ihnen folgten Sorcha und Sir Hugo, begleitet von den Klängen des Dudelsacks.

Obgleich nur wenige Jahre jünger als Macleod, machte Ardelve mit seinem gestutzten Bart und dem grau melierten Haar einen ansehnlicheren, würdevolleren Eindruck. Zu diesem besonderen Anlass trug er einen mit einer weißen Feder geschmückten hohen Hut und ein Gewand aus schwarzem, mit Zobel besetztem Samt über zweifarbigen Beinlingen und dazu modische Schnabelschuhe.

Stolz und aufrecht stand er neben Isabellas Kaplan und blickte seiner Braut entgegen. Als ihre Blicke sich trafen, lächelte er.

Adela antwortete mit dem gleichen automatischen Lächeln wie zuvor bei Hugo, wandte den Blick jedoch nicht ab. So brauchte sie wenigstens keinen der übrigen Anwesenden anzusehen. Zum Lächeln und Winken fehlte ihr die Energie; sie wollte die Trauung und das anschließende Fest nur so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Als sie an Macleods Arm, den Blick unverwandt auf Ardelves lächelndes Gesicht gerichtet, den halben Weg bis zum Altar zurückgelegt hatte, nahm sie plötzlich aus dem Augenwinkel eine Bewegung zu ihrer Rechten wahr. Gleichzeitig hörte sie ein leises Klirren, als wäre etwas auf die Steinfliesen der Kapelle gefallen.

Sie drehte den Kopf und blickte geradewegs in die jadegrünen Augen eines der attraktivsten Männer, die sie je gesehen hatte.

Er besaß fein gemeißelte Züge, glänzendes kastanienbraunes Haar, das sich an den Spitzen kräuselte, dazu breite Schultern, eine schmale Taille und muskulöse, wohlgeformte Beine. Seine körperlichen Vorzüge kamen in dem gut geschnittenen waldgrünen Samtwams und den Beinlingen aus glatter gelber Seide vorzüglich zur Geltung. An seiner Mütze steckte eine geschwungene, leuchtend gelbe Feder.

Er wollte sich gerade bücken, um etwas vom Boden aufzuheben, erstarrte jedoch mitten in der Bewegung, als ihn Adelas Blick traf. Ganz langsam und ohne die Augen von ihr zu wenden, richtete er sich auf.

Seine auffallenden grünen Augen funkelten, und er zwinkerte ihr dreist zu.

Empört löste sie den Blick von dem Fremden und richtete ihn erneut auf Ardelve, der sie noch immer gelassen anlächelte. Danach ließ sie sich nicht mehr ablenken.

Die Musik verstummte, als Adela und ihr Vater an den beiden flachen Stufen anlangten, die zu den Betschemeln für die beiden Brautpaare führten.

„Wer übergibt diese Jungfrau dem anwesenden Mann?“, fragte der Priester.

„Das tue ich – ihr Vater, Macleod von Glenelg“, antwortete Macleod deutlich vernehmbar.

Auf ein Zeichen des Priesters hin ließ Adela den Arm ihres Vaters los, stieg die Stufen hinauf und stellte sich neben Ardelve. Sorcha und Hugo folgten ihr und nahmen ihre Plätze links von Adela ein. Alle vier standen dem Altar zugewandt.

Isabellas Kaplan trat vor die Festgemeinde hin und sprach nach kurzem Schweigen: „Lasst mich zunächst die Frage stellen, ob einer unter Euch einen Grund wüsste, der gegen die Vermählung von Baron Ardelve und Lady Adela Macleod spricht. Wenn dem so ist, soll er jetzt sprechen oder für immer schweigen.“

Adela schloss die Augen, denn genau an dieser Stelle war beim ersten Mal die Zeremonie unterbrochen worden.

Doch heute ließ sich, bis auf ein leises Füßescharren, nichts vernehmen.

Da es sich im Fall von Sorcha und Sir Hugo nur um die Absegnung einer bereits bestehenden Verbindung handelte, stellte der Priester die Frage für sie nicht. Erfreut bemerkte Adela, wie überglücklich die beiden wirkten.

Seit Hugo sich und Sorcha zu Mann und Frau erklärt hatte, waren Adela und ihre Schwester einander erst einmal begegnet. Denn das junge Paar war unmittelbar darauf nach Hawthornden Castle geritten, das eine Meile nördlich des Tals von Roslin lag. Drei Tage nach der Erklärung hatten Adela, Sidony, ihre ältere Schwester Isobel und die Gräfin den beiden einen Besuch abgestattet. Danach hatten sich die beiden Schwestern erst heute Morgen wiedergetroffen.

Isobel, die mit Sir Michael Sinclair verheiratet und somit die Schwiegertochter der Gräfin war, befand sich mit ihrem Mann und seiner Mutter unter den anwesenden Gästen. Adelas übrige drei Schwestern hatten es nicht mehr rechtzeitig zur Hochzeit nach Roslin geschafft.

Als Adela ihren Namen hörte, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Zeremonie zu und sprach mit ruhiger, klarer Stimme die erforderlichen Worte. Glücklicherweise war die Trauung kurz, und in der darauf folgenden Hochzeitsmesse würde sie die Antworten der Gemeinde auswendig und ohne nachzudenken hersagen können.

Schließlich erklärte der Priester sie vor dem Angesicht Gottes zu Mann und Frau. Darauf nahm Ardelve Adelas Hand und ließ sie bis zur Kommunion nicht mehr los.

Als die Messe zu Ende ging, hoffte Adela, niemand würde sie nach ihren Eindrücken fragen, denn Trauung und Gottesdienst waren an ihr vorübergerauscht, ohne dass sie viel davon wahrgenommen hätte.

Isabella ließ den Brautpaaren keine Zeit, sich zu besinnen, sondern scheuchte sie eilig in die große Halle, wo sie die Hochzeitsgäste begrüßen sollten. Schon von Weitem vernahmen sie Musik und Gelächter, denn das Fest hatte bereits begonnen, und die Musikanten auf der Galerie spielten muntere Weisen. Als der Brautzug eintraf, verstummte die Melodie, und Isabellas Kämmerer trat vor.

„Mylords, Myladys und alle, die in diesem Raum versammelt sind“, begann er mit weithin vernehmbarer Stimme. „Bitte erhebt Euch und entbietet Lord und Lady Ardelve sowie Sir Hugo und Lady Robison Euren Gruß!“

Inmitten der Jubelrufe und der wieder einsetzenden Musik bemerkte Adela, dass man zu beiden Seiten des Podiums, auf dem sich die hohe Tafel befand, für die Gäste zwei lange Tische aufgebaut hatte, die sich fast über die gesamte Länge der Halle erstreckten. In der Mitte zwischen den hufeisenförmig angeordneten Tischen war Raum für die verschiedenen Darbietungen, die Isabella für das Fest geplant hatte.

Während sie mit den anderen zwischen den langen Tischen hindurch zur hohen Tafel schritten, neigte sich Ardelve zu Adela hinüber und flüsterte ihr ins Ohr: „Bevor das Fest beginnt, würde ich gern unter vier Augen mit Euch sprechen, Mylady. Wenn es Euch recht ist, können wir mit Isabellas Erlaubnis in ihre Kemenate gehen.“

„Wie Ihr wünscht, Mylord“, erwiderte sie und hoffte, sie hätte nicht bereits etwas getan, was sein Missfallen erregt hatte. Dabei dachte sie an den Zwischenfall mit dem grünäugigen Mann. Doch sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Ardelve hatte sich noch nie besitzergreifend oder eifersüchtig gezeigt.

Sie überquerten das gedrängt volle Podium und gingen auf die Tür zu, die sich an der Wand dahinter befand. Dabei kamen sie an der hohen Tafel vorüber, die sich in Kürze unter der Last der goldenen und silbernen Platten mit Speisen, der Krüge voller Whisky und Wein sowie der Pokale und Holzteller der Gäste biegen würde.

Ein Page der Sinclairs hielt ihnen die Tür zur Kemenate auf.

Mit einem Nicken befahl Ardelve dem Jungen, die Tür hinter ihnen zu schließen, dann sagte er ohne Einleitung zu Adela: „Üblicherweise erwähnt man das Aussehen einer Dame lediglich, um ihr Komplimente zu machen, meine Liebe. Aber die ganze Aufregung scheint Euch ermüdet zu haben. Wenn Ihr möchtet, verabschieden wir uns auf der Stelle und ziehen uns in unser Schlafgemach zurück.“

„Das ist sehr freundlich von Euch, Sir, doch es wäre unhöflich, ja sogar ausgesprochen undankbar von uns, jetzt zu gehen, nachdem sich Gräfin Isabella unseretwegen solche Mühe gemacht hat.“

„Ach was!“, entgegnete er. „Alles, was Isabella tut, tut sie für sich selbst oder für Roslin. Ehrlich gesagt bin ich selbst müde. Aber wenn es Euch wirklich gut geht …“

„Ja, wirklich, Sir“, erwiderte Adela. „Ich bin nur ein klein wenig erschöpft.“

Da blickte er sie forschend an und sagte: „Wenn es Euch beruhigt, so seid versichert, dass Ihr weder heute Nacht noch sonst jemals etwas von mir zu befürchten habt. Falls Ihr noch etwas Zeit braucht, um Euch an Eure ehelichen Pflichten zu gewöhnen, habe ich dafür Verständnis. Ich habe es nicht eilig, Adela, und würde es durchaus verstehen, wenn Ihr Euren Mann unter etwas ruhigeren Umständen näher kennenlernen wollt. Versteht Ihr, was ich meine, Mädchen?“

„Ja, Sir“, antwortete sie und spürte, wie sie errötete. „Meine Schwester Isobel hat mir erklärt, worin meine diesbezügliche Aufgabe besteht. Es ist sehr freundlich von Euch, aber ich wünsche mir Kinder und habe nichts dagegen einzuwenden, meine ehelichen Pflichten zu erfüllen, wann immer es Euch gefällt. Wenn Ihr allerdings nicht mehr bleiben möchtet, braucht Ihr es nur zu sagen.“

Er tätschelte ihr die Hand. „Ich bin zufrieden“, sagte er. „Mein Haushalt benötigt dringend weibliche Fürsorge und ich auch. Da Ihr so rücksichtsvoll seid, freue ich mich noch mehr auf die gemeinsamen Jahre, die vor uns liegen. Allerdings habt Ihr mich zu Recht daran erinnert, wie viel Mühe sich alle hier mit unserer Hochzeitsfeier gegeben haben.“

„Ich kann es auch kaum noch erwarten, ins friedliche Hochland zurückzukehren, Sir.“

Als er erneut lächelte, dachte sie, wie charmant er jetzt wirkte, und schenkte ihm das erste echte Lächeln an diesem Tag. Es kümmerte sie nicht, dass Sorcha der Meinung war, ihre Schwester habe einen Fehler begangen. Schließlich hatte Sorcha mit Hugo einen Mann geheiratet, bei dem stets alles nach seinem Kopf gehen musste.

Da Sorcha ähnlich geartet war, konnte sich Adela gut vorstellen, dass zwischen ihnen nicht selten die Fetzen flogen. Mit Ardelve dagegen würde das Leben friedlich und behaglich verlaufen.

Er berührte ihre Schulter, und als sie sich zur Tür wandte, ließ er seine Hand beiläufig über ihren Rücken bis an eine Stelle unterhalb ihrer Taille gleiten. Auf dem Rückweg zu der lärmenden Festgesellschaft dachte Adela verwundert, wie beruhigend die Berührung seiner Hand war. An der hohen Tafel angelangt, nahmen sie ihre Plätze neben Hugo und Sorcha ein, die hinter ihren Stühlen an den Ehrenplätzen standen. Während sie ihre Augen über die ihr am nächsten sitzenden Gäste schweifen ließ, beglückwünschte sich Adela, dass sie Ardelve zum Mann bekommen hatte.

Die Mehrzahl der Gäste auf dem Podium gehörte zur Familie Sinclair. Dem Wunsch von Gräfin Isabella entsprechend, hatten sie eine ungewöhnliche Sitzordnung eingenommen. Während gewöhnlich die Männer auf der – von der unteren Halle aus gesehen – linken Seite und die Frauen auf der rechten Seite der Tafel saßen, nahmen heute die beiden Brautpaare die mittleren Plätze ein. Die übrigen Ehrengäste hatten zu beiden Seiten Aufstellung genommen.

Daher stand Isabella rechts von Ardelve, und auf ihrer anderen Seite war Henry Sinclair, ihr ältester Sohn und Besitzer von Roslin.

Henry trug auch den norwegischen Titel „Fürst von Orkney“, den er über die Familie seiner Mutter geerbt hatte. Da in Schottland sogar Angehörige der königlichen Familie – ja, selbst der Thronerbe – lediglich als Grafen tituliert wurden, blickten die Adeligen hier scheel auf jemanden, der den Titel „Fürst“ für sich beanspruchte. In Schottland galt Henry daher lediglich als „Graf von Orkney“.

Neben Henry standen Macleod und seine zukünftige Ehefrau, Lady Clendenen. Dann kam ein freier Platz. Bei der Lady, die sich zu ihrem Verdruss dem fünfzigsten Lebensjahr näherte und nach eigenen Angaben mit allen bedeutenden Familien in Schottland verwandt war, handelte es sich um eine mollige, ansehnliche Person mit glatter, heller Haut, haselnussbraunem Haar und einnehmenden Zügen. Sie hatte lebhaft funkelnde braune Augen, war jedoch – wie sie selbst oft bedauernd feststellte – ein wenig klein geraten. Selbst Adela, die nur etwas über einen Meter fünfzig maß, überragte sie noch. Neben dem mehr als einen Meter achtzig großen Henry wirkte Lady Clendenen geradezu winzig.

Sorcha stand links von Adela, dann folgten Sir Hugo, Isobel, Sir Michael Sinclair und schließlich Sir Hugos Schwester und sein Vater, Sir Edward Robison. Der Platz neben ihm war leer. Die Ehrengäste an der hohen Tafel saßen mit Blick in die untere Halle, wo die übrigen Gäste an den beiden langen Tischen untergebracht waren.

Nachdem der Kaplan der Gräfin das Tischgebet gesprochen hatte, nahmen alle geräuschvoll ihre Plätze ein. Begleitet vom Spiel der Dudelsackpfeifer trat der Vorschneider ein, und die Pagen eilten geschäftig mit Krügen voller Wein, Ale und Whisky hin und her.

Adela saß schweigend da und antwortete nur, wenn sie angesprochen wurde. Kurz darauf erblickte sie den attraktiven jungen Mann, der ihr schon in der Kapelle aufgefallen war.

Er unterhielt sich mit einer von Sir Hugos Schwestern, der älteren, wie Adela annahm. Doch da die beiden Mädchen etwa gleich groß waren und sehr ähnliche Kleider trugen, war sie sich nicht sicher.

Sie blickte zu Hugo hinüber und war nicht überrascht festzustellen, dass er das Pärchen mit gerunzelter Stirn beobachtete. Bestimmt war er ein äußerst pflichtbewusster Bruder und würde später ein Wörtchen mit seiner bedauernswerten Schwester zu reden haben. Adela seufzte. Sich vorzustellen, dass ihre Schwestern einmal angenommen hatten, sie würde Hugo heiraten!

Lächelnd drehte sie sich zu Ardelve um und rückte dabei ein wenig zur Seite, damit der Page ihren Weinpokal füllen konnte. Als der Junge zurücktrat, griff sie nach dem Pokal, zog jedoch ihre Hand eilig wieder zurück. Ihr war eingefallen, dass noch keine Trinksprüche ausgebracht worden waren.

Ardelve sagte: „Nehmt ruhig einen Schluck, Mädchen. Das wird keinen stören. Der Vorschneider hat schon seine Messer gezückt, aber es wird eine Weile dauern, bis den Zeremonien Genüge getan ist. Deshalb würde ich Euch empfehlen, ein Stück Brot zum Wein zu essen.“

Ein anderer Page, der in der Nähe stand, hielt ihr eilfertig einen Korb mit Brötchen hin. Dankbar nahm sich Adela eines, brach ein Stückchen ab und steckte es sich in den Mund, bevor sie von ihrem Wein kostete. Es war bestimmt ein vorzüglicher Claret, doch ihr Geschmack erschien ihr heute ebenso abgestumpft wie ihre übrigen Sinne.

Auch Ardelve nippte an seinem Wein, und nachdem der erste Gang feierlich präsentiert worden war, konnte Adela auf ihrem Platz zwischen Sorcha und Ardelve endlich in Ruhe essen. Pausenlos schleppten die Pagen Speisen und Getränke herbei, die Spielleute musizierten, und die Halle war von fröhlichem Stimmengewirr erfüllt. Da sie selten mehr als einen halben Becher Wein trank, stieg Adela der Claret rasch zu Kopf, und ihre Anspannung begann sich zu lösen.

Links von ihr führte Sorcha ein ungebührlich angeregtes Gespräch mit Hugo. Adela hatte bemerkt, dass die beiden miteinander über jedes erdenkliche Thema sprachen – ein Benehmen, das sie nicht gutheißen konnte. Ihrer Ansicht nach sollten zumindest die Damen mehr Wert auf Zurückhaltung legen. Aber sie hatte es schon lange aufgegeben, das Sorcha zu predigen. Adela konnte nur hoffen, dass ihre ungebärdige Schwester nichts tun würde, weswegen die Gräfin ihre ungewöhnliche Sitzordnung bedauern müsste.

„Wo ist Sidony?“, fragte sie, als Sorcha sich ihr zuwandte. „Seit wir hereingekommen sind, habe ich sie nicht mehr gesehen.“

„Ich möchte wetten, sie ist nach oben gegangen, um nach unserem neuen Neffen zu schauen“, erwiderte Sorcha breit lächelnd. Damit meinte sie Isobels und Michaels erstgeborenes Kind, das nun zwei Wochen alt war. „Sie verbringt mehr Zeit mit ihm als irgendjemand sonst, und außerdem ist Isobel auffallend gelassen. Würde ihr Kind allein oben in ihrer Kammer liegen, dann wäre sie jetzt schon ganz zappelig.“ Nach diesen Worten bat Sorcha einen vorbeigehenden Pagen, ihr Wein nachzuschenken.

„Hugo hätte um den Wein bitten sollen, Liebes“, sagte Adela.

„Er redet gerade mit seiner Schwester Kate“, erwiderte Sorcha.

Das Mädchen, das mit dem gut aussehenden Fremden geflirtet hatte, saß nun neben Hugo. Während sich die Gäste zur Linken angeregt unterhielten, hatte Hugo seine Schwester Kate mit strengem Blick ins Gebet genommen.

Kate wirkte verärgert; zu Recht, wie Adela fand. Sie selbst hatte Hugo einmal eine Schüssel mit Weihwasser über den Kopf geschüttet, weil ihr seine Belehrungen auf die Nerven gingen. Ausgerechnet er, der keinen Flirt ausließ, schimpfte wegen einer kleinen Tändelei mit seiner Schwester.

Nicht nur Adelas Schwestern waren davon ausgegangen, dass sie Sir Hugo heiraten würde. Sie hatte es sogar selbst erwogen, worüber sie sich jetzt wunderte. Sie mochte ihn sehr, denn er sah gut aus, war charmant und ein hervorragender Schwertkämpfer. Aber er hatte auch die fatale Neigung, andere herumzukommandieren, und darauf konnte Adela gut verzichten. Sorcha verstand es wesentlich besser, mit ihm umzugehen, als Adela es jemals gekonnt hätte.

Ardelve passte zu ihr. Mit ihm würde sie nicht weit von ihrem früheren Zuhause entfernt leben und jederzeit alte Freunde und ihre Familie besuchen können. Und außerdem war er wohlhabend genug, um ihr alle Annehmlichkeiten bieten zu können. Und er erteilte ihr nie Befehle.

Gerade starrte er in seinen Pokal, als überlegte er, ob er ihn noch einmal füllen lassen sollte. Doch als er ihren Blick bemerkte, wandte er sich ihr zu und sagte: „Ich glaube, der Wein hier ist verdorben. Aber was macht das schon? Ihr seid so schön, und ich kann mich glücklich schätzen, dass …“

Zu ihrem Schrecken wurden seine Züge plötzlich starr. Nur seine Lippen öffneten und schlossen sich, als wollte er den letzten Satz noch beenden. Gleichzeitig griff er sich mit der rechten Hand an die Brust. Als Adela erkannte, dass Ardelve verzweifelt nach Luft schnappte, kippte er bereits seitlich gegen Isabella.

Mit einem Aufschrei versuchte die Gräfin, ihn zu stützen, doch vergeblich – er rutschte vom Stuhl und brach auf dem Fußboden zusammen.

Adela starrte ihn entsetzt an.

„Meine Güte, ich habe gar nicht gemerkt, dass er so viel getrunken hat!“, rief Sorcha.

„Hat er auch nicht“, erwiderte Hugo, sprang auf und war mit einem Schritt bei Ardelve.

„Dreh dich um, meine liebe Adela“, sagte die Gräfin mit fester Stimme. „Und bitte beruhige dich, damit du kein Aufsehen erregst. Ich bin sicher, du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“

„Seine Augen sind geöffnet, aber er scheint mich nicht zu sehen“, entgegnete Adela, ohne den Blick von Ardelve zu wenden.

Hugo kniete noch immer neben ihm und untersuchte ihn kurz. Dann blickte er auf und sagte leise: „Es tut mir leid, Mädchen, aber ich fürchte, er ist von uns gegangen.“

Adela keuchte; die Tränen schossen ihr in die Augen.

Auf ein Zeichen von Isabella hin stimmten die Spielleute eine fröhliche Melodie an. Gleich darauf kamen drei Jongleure hereingerannt, gefolgt von einigen Salto schlagenden Akrobaten.

Wie Adela feststellte, verfolgten fast alle Gäste den Einzug der Gaukler – bis auf einen.

Der Mann mit den grünen Augen blickte sie an.

3

Die tiefe, körperlose Stimme klang wohlerzogen, beruhigend, ja sogar sinnlich. Dennoch wurde Adelas Anspannung noch stärker. „Aber wer seid Ihr?“, fragte sie noch einmal.

„Nur ein Mann, der es betrüblich findet, wenn eine junge Dame weint, Mylady. Kann ich Euch denn gar nicht helfen?“

„Nein, Sir“, erwiderte sie und schämte sich, weil er sie weinen gehört hatte.

„Wollt Ihr mir nicht verraten, warum Ihr so traurig seid, Lady Adela?“

„Ach, Ihr wisst, wer ich bin?“ Die Sache wurde immer peinlicher. Sie spürte, wie ihre Wangen trotz der Kälte vor Verlegenheit brannten, weil der Unbekannte Zeuge ihres für sie untypischen und gänzlich undamenhaften Gefühlsausbruches geworden war.

„Ich erkenne Eure Stimme wieder“, erklärte er und setzte hinzu: „Wenn man bedenkt, was geschehen ist, habt Ihr allen Grund zum Weinen. Zweifellos handelte es sich in Eurem Fall nicht um die übliche arrangierte Ehe, da Ihr so sehr über Euren Verlust trauert, dass Ihr Euch hier verkriecht.“

Ihr kam ein Verdacht, wer der Fremde sein könnte, denn abgesehen von Ardelve hatte sich an diesem Tag nur ein Mann für sie interessiert. Doch hier auf Roslin spazierten die Gäste bestimmt nicht allein durch die Burg und schon gar nicht bis hinauf auf den Wehrgang.

„Bitte, Sir, nennt mir Euren Namen“, bat sie.

„Mein Name tut nichts zur Sache. Betrachtet mich einfach weiterhin als eine freundliche Stimme aus dem Dunkel.“

„Seid Ihr ein Freund der Familie Sinclair?“

„Ja, ein guter Freund sogar.“

„Ich frage nur, weil Fremde normalerweise nicht allein hier heraufkommen.“

„Das kann ich mir denken“, erwiderte er. „Doch heute Abend rechnen wohl nicht einmal die übervorsichtigen Sinclairs damit, dass sich ein Feind auf ihre Zinnen schleichen könnte. Hugo Robison ist bekannt dafür, dass er diese Burg gut bewachen lässt.“

„Sir Michael Sinclair aber auch“, sagte Adela, die wusste, dass Michael in Abwesenheit seines Bruders Henry Herr auf Roslin war.

„Ja, aber Ihr schweift vom Thema ab, Mylady. Ich habe gehört, dass Ihr Euren Gatten kaum kanntet. Trauert Ihr also wirklich so sehr um ihn, oder gibt es noch einen anderen Grund für Euren Kummer?“

„Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, warum ich weine“, gestand sie. In dem darauffolgenden Schweigen versuchte sie, sich über ihre Gedanken und Gefühle klar zu werden. Dann fuhr sie fort: „Wahrscheinlich weine ich gerade eben, weil ich nicht um Ardelve trauern kann.“

„Das verstehe ich nicht“, sagte er. „Wenn Ihr weint, weil Ihr nicht um ihn weinen könnt, um wen weint Ihr dann?“

„So wie Ihr es sagt, klingt es wie ein Rätsel“, erwiderte Adela. „In Wirklichkeit ist es ganz einfach. Wisst Ihr, heute Morgen habe ich überhaupt nichts empfunden. Das ist sonderbar, weil eine Frau an ihrem Hochzeitstag doch glücklich sein sollte, meint Ihr nicht auch?“

„Wart Ihr denn traurig?“

„Ich fühlte gar nichts.“

„Und warum?“

„Ach, Sir, das weiß ich nicht. Und ich weiß auch nicht, warum ich mich überhaupt mit Euch unterhalte, wo ich doch nicht einmal hier oben sein sollte. Stattdessen erzähle ich Euch Dinge, die ich normalerweise niemandem verraten würde. Wenn ich hier etwas sehen könnte, hätte ich mich wahrscheinlich gar nicht auf dieses merkwürdige Gespräch eingelassen, sondern wäre auf der Stelle weggelaufen.“

„Ihr könnt selbstverständlich in Eure Kammer zurückkehren, wenn Ihr es wünscht“, sagte er in demselben beruhigenden Ton. Seine Stimme übte eine eigenartige Wirkung auf Adela aus. Es war, als berührte sie etwas tief in ihrem Inneren, sodass sich Wärme in ihrem Körper ausbreitete. Es war ein ungewohntes, aber nicht unangenehmes Gefühl, und sie wollte nicht, dass es aufhörte.

„Zumindest schickt Ihr mich nicht weg“, erwiderte sie. „Die meisten Männer, die ich kenne, würden verlangen, dass ich sofort in meine Kammer gehe und die Tür hinter mir verriegele. Und sie würden mit mir schimpfen, weil ich hier mit Euch rede, als wären wir miteinander bekannt.“

„Ihr habt nicht das Geringste von mir zu befürchten“, entgegnete er.

„Das sagt Ihr, aber ich bezweifle, ob Sir Hugo das auch so sehen würde.“

„Wie Hugo die Sache sieht, ist mir herzlich gleichgültig.“

Sie war sich jetzt beinahe sicher, um wen es sich handelte. Es belustigte sie, dass der Fremde es wagte, Hugo die Stirn zu bieten, und sie antwortete: „Das würdet Ihr ihm wohl kaum ins Gesicht sagen.“

„Mag sein“, stimmte er ihr zu, und sie hörte ein Lächeln in seiner Stimme.

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Ich weiß natürlich von Eurer Entführung. Das muss ein schreckliches Erlebnis gewesen sein.“

„Angenehm war es nicht“, erwiderte sie. „Ich wurde damals, bei meiner ersten Hochzeit, förmlich von der Kirchentreppe weg entführt. Der Priester hatte gerade gefragt, ob jemand gegen die Trauung Einspruch erheben wolle, da kamen vier Reiter aus dem nahen Wald geprescht. Wir dachten alle, es wären verspätete Hochzeitsgäste, doch dann sahen wir, dass sie Masken trugen. Sie ritten bis dicht an die Stufen, und ihr Anführer …“

„Waldron von Edgelaw.“

„Ja. Er kam auf mich zugeritten. Ich dachte, er hätte eine Nachricht für mich, daher trat ich einen Schritt vor. Da riss er mich aufs Pferd und stürmte mit mir davon.“

„Entsetzlich“, murmelte der Fremde.

„Ja, schon, aber er hat mir nichts getan. Und ich glaube, das hatte er auch nie vor.“

„Ich bin sicher, Ihr kanntet ihn besser als ich, Mylady.“

Ein scharfer Klang in seiner Stimme ließ sie erstarren. „Ich weiß nur, dass ich nichts Schlimmes von ihm zu befürchten hatte“, erwiderte sie und verdrängte die Erinnerung daran, wie sehr sie sich vor allem zu Anfang vor Waldron gefürchtet hatte.

„Ich kann mich nicht erinnern, ob ich jemals den Grund für Eure Entführung gehört habe“, fuhr die Stimme fort. „Hat er Euch eine Erklärung für sein ungeheuerliches Verhalten gegeben?“

„Er sagte, es sei aus Rache geschehen, für ein Unrecht, das man ihm und der Kirche angetan habe“, antwortete sie. „Aber ich muss gestehen, ich habe es nie richtig verstanden. Und ich möchte auch nicht darüber sprechen. Wenn Ihr also bitte …“

„Verzeiht“, sagte er zögernd. „Ich hätte Euch nicht derart persönliche Fragen stellen dürfen. Es ist einer meiner Fehler, dass ich meine Neugier nicht zügeln kann, wenn mich etwas – oder jemand – interessiert.“

Auch diese Bemerkung belustigte Adela und sie antwortete: „Ihr solltet meine Schwester Isobel kennenlernen, Sir. Gegen die ihre ist Eure Neugier gar nichts. Sie hat mich so lange ausgefragt, bis mir fast der Kragen geplatzt wäre.“

Gleich darauf hätte sie ihre Worte am liebsten ungesagt gemacht. Mit seinem angenehmen Geplauder hatte der Fremde ihr das Geständnis entlockt, dass sie Isobel gegenüber so unfreundlich gewesen war wie zu keinem sonst auf Roslin.

Als er erwiderte: „Es müssen schlimme Erinnerungen sein“, kam ihr plötzlich wieder alles Mögliche in den Sinn, und sie sagte knapp: „Ich habe gesehen, wie er einen Mann gehängt hat.“

Die Bemerkung war ihr unwillkürlich entschlüpft. Wenn sie jemand zuvor nach der Entführung gefragt hatte, hatte sie sich an nichts erinnern können, doch dieser Mann schien eine geradezu diabolische Macht zu haben, sie zum Sprechen zu bringen. Und nun konnte sie ihre Worte nicht mehr zurücknehmen.

In der eintretenden Stille krampfte sich ihr Magen zusammen.

Er schwieg so lange, bis sie die Spannung kaum noch aushielt. Doch sie konnte ihn unmöglich fragen, was er sich dabei dachte. Eine solche Bemerkung hätte sie sich höchstens einem unbotmäßigen Dienstboten oder früher ihren jüngeren Schwestern gegenüber erlauben können. Meistens waren es Sorcha oder Isobel gewesen, die Adela wegen ihrer dummen Streiche ausschelten musste.

Gerade als Adela meinte, die Spannung nicht länger ertragen zu können, sagte der Fremde: „Das muss ein schrecklicher Anblick gewesen sein. Warum hat er es getan?“

Darüber hatte sie noch nie nachgedacht. Überhaupt hatte sie das schlimme Erlebnis so gut es ging verdrängt. Doch jetzt sagte sie, ohne zu zögern: „Um den Mann zu bestrafen. Aber zugleich wollte er mir Angst machen. Ich sollte wissen, wozu er fähig war, damit ich ihm blind gehorchte.“

„Manche Männer stützen ihre Macht auf Angst und Schrecken. Waldron war ein Schurke, und Ihr habt vermutlich recht, was ihn betrifft“, sagte er. „Was hatte der Bestrafte denn verbrochen?“

Adela schauderte. Ihr war, als herrschte auch in ihrem Kopf dichter Nebel.

Ihr Gefährte schwieg geduldig, doch diesmal empfand sie das Schweigen nicht als tröstlich, da ihr verstörende Bilder durch den Kopf gingen. Schließlich nahm sie sich zusammen und antwortete: „Er … er sagte, er würde mir helfen. Ich brauchte nur …“ Sie tat einen zitternden Atemzug, doch der Fremde schwieg noch immer. Da platzte sie endlich heraus: „Ich sollte ihn zuerst küssen. Er war grässlich.“

„Dann hatte er es verdient, zu hängen“, erwiderte der Fremde mit Bestimmtheit. „Die Erinnerung an solch einen Wurm braucht Euch nicht länger zu quälen, Mylady. Dieser Mann war um nichts besser als der Entführer, und beide haben sie ihr Schicksal redlich verdient.“

„Was wisst Ihr denn über Waldrons Schicksal?“, fragte sie, denn sie wusste, dass nur wenige die Wahrheit kannten.

Obwohl er nicht gleich antwortete, spürte sie instinktiv, dass er überrascht war. Doch als er schließlich sprach, war seine Stimme so ruhig wie zuvor. „Ich nehme an, ich weiß nicht mehr als die meisten anderen. Nämlich dass er seit Eurer Rettung verschwunden und vermutlich tot ist. Hugo und die Brüder Sinclair sind fähige Männer.“

Adela antwortete nicht. Sie hätte ihm immer weiter zuhören können, schon seiner Stimme wegen, die so sanft und einschmeichelnd war. Ihm hätte sie alles erzählen können. Bei diesem Gedanken hörte sie im Geist plötzlich Hugos und Sorchas Stimmen. Sie erinnerten Adela daran, wie dumm es war, sich einem Menschen anzuvertrauen, den sie nicht sehen konnte und am nächsten Tag nicht wiedererkennen würde.

Doch seine Stimme hätte sie überall erkannt. Außerdem war sie sich fast sicher, um wen es sich handelte – aber eben doch nicht sicher genug, um ihren Verdacht laut auszusprechen. Noch nicht. Eines jedoch musste sie in diesem Gespräch noch klarstellen.

„Ihr habt unrecht, was meinen Entführer angeht“, sagte sie. „Er war nicht böse in dem Sinne, wie Ihr und die anderen es darstellt. Gewiss, er hat schreckliche Dinge getan, doch er war eben ein Mensch mit festen Überzeugungen, die völlig anders waren als unsere.“

„Ihr erinnert Euch mit mehr Freundlichkeit an ihn, als er es verdient hat“, entgegnete der Fremde.

Er sprach noch immer ganz gelassen, und doch lag jetzt ein Unterton in seiner Stimme, der ihr riet, das Thema nicht weiter zu verfolgen. Und dennoch – niemand kannte Waldron von Edgelaws Gedanken und Überzeugungen so gut wie sie, und ihrer Meinung nach war ihre Einstellung dazu nicht nur ein Ausdruck von Freundlichkeit.

„In mancherlei Hinsicht war er freundlich zu mir, Sir. Er sagte, ich könne gut zuhören, und ich bin sicher, er glaubte selbst fest an das, was er mir erzählte.“

„Meint Ihr, er brauchte jemanden, der ihm zuhört?“

„Ja, vielleicht.“

„Also brauchte er Euch.“

Genau so hatte sie es auch empfunden. „Vielleicht sollte ich das glauben“, sagte sie nach kurzem Nachdenken. „Doch dann ließ er mich einfach frei, als wäre ich ihm nicht einmal als Geisel etwas wert.“

„Wolltet Ihr ihm denn etwas wert sein?“

„Nein!“

Darauf erwiderte er nichts, doch seine Skepsis war beinahe mit Händen zu greifen.

„Er war grässlich! Er war …“

„Böse?“

Ärgerlich presste sie die Lippen zusammen und sog scharf die Luft durch die Nase ein. Dann atmete sie langsam und beherrscht wieder aus und sagte: „Ihr dreht mir das Wort im Munde um, Sir. Das ist nicht sehr nett.“

„Kann sein“, erwiderte er gleichmütig. „Wir können ein andermal weiter darüber reden, wenn Ihr wollt. Ihr friert doch bestimmt.“

Mit seiner Antwort hatte er ihr den Wind aus den Segeln genommen, und sie sagte nur: „Ich habe gar nicht darauf geachtet. Aber mir ist wirklich kühl, und ich kann sowieso nicht länger bleiben. Ich war froh über ein paar freie Minuten, doch mittlerweile sucht man bestimmt schon nach mir.“

„Glaubt Ihr?“, fragte er. „Wahrscheinlich gehen alle davon aus, dass Ihr um diese Zeit bereits fest schlaft.“

„Ist es schon so spät? Das war mir nicht bewusst.“

„Das späte Abendessen wurde bereits vor über einer Stunde serviert“, antwortete er. „Als ich ging, waren die Gaukelspiele noch in vollem Gange, doch die Damen haben sich wahrscheinlich inzwischen zurückgezogen. Von der Kapelle wird es wohl bald zur Nokturn läuten.“

„Mitternacht! Ach herrje, ich wusste nicht, dass ich so lange geschlafen habe.“

„Seid doch froh darüber. Die Ruhe hat Euch bestimmt gutgetan.“

„Ja, schon, aber jetzt muss ich gehen. Morgen ist ein anstrengender Tag. Wahrscheinlich werden mich alle wieder mit ihren Fragen bedrängen, was ich als Nächstes tun will. Um das durchzustehen, muss ich ausgeruht sein.“

„Wer wagt es, Euch zu bedrängen?“

Ärgerlich biss sie sich auf die Lippe, weil sie schon wieder laut gedacht hatte. Und das in Gegenwart eines Mannes, der ihr noch nicht einmal seinen Namen verraten wollte.

Da er, wie sie mittlerweile wusste, stets schweigend auf ihre Antwort wartete, sagte sie: „Ich darf mich nicht beklagen. Schließlich tun sie es nur, weil sie sich Sorgen um mich machen. Sie haben Angst, ich könnte einen folgenschweren Fehler begehen.“

„Trotzdem ist es noch viel zu früh, Euch zu einer Entscheidung zu drängen“, erwiderte er. „Sagt ihnen einfach, sie sollen gehen und Euch in Ruhe lassen.“

„Sagt Ihr so etwas, wenn Euch jemand mit unerwünschten Ratschlägen plagt, Sir?“

„Nicht immer“, gab er zu. „Aber sofern ich dem Betreffenden nicht zu Loyalität oder besonderem Respekt verpflichtet bin, kann es durchaus vorkommen.“

Sie seufzte. „Es muss herrlich sein, Leuten, die einen wie die Stechfliegen umschwirren, einfach die Meinung zu sagen. Aber ich kann es leider nicht.“

„Ich dachte, die Macleod-Schwestern nähmen kein Blatt vor den Mund“, sagte er.

„Das gilt wohl eher für Isobel und Sorcha und nicht für die übrigen fünf“, erwiderte sie lakonisch.

„Aber lammfromm kommen mir die anderen auch nicht gerade vor.“

„Ich halte mich nicht für lammfromm“, entgegnete Adela. „Ich versuche nur, taktvoll zu sein, solange man mich nicht allzu sehr reizt. Heute habe ich sie zum Beispiel alle aus dem Zimmer geschickt, weil ich todmüde war und mir der Schock über Ardelves Tod noch immer in den Knochen saß. Allerdings habe ich mich über meine unwirsche Reaktion wahrscheinlich am meisten gewundert.“

„Und, sind sie gegangen?“

„Ja.“

„Na also.“

Adela hielt es für das Beste, ihm jetzt Gute Nacht zu sagen, bevor sie noch mehr ausplauderte oder womöglich jemand auf den Wehrgang kam. Es wäre nicht gut, wenn man sie allein mit dem Fremden hier oben fände – obwohl er das wahrscheinlich zu vermeiden wüsste, indem er sich im Nebel praktisch unsichtbar machte.

„Wollt Ihr hier oben bleiben?“, fragte sie schließlich.

„Das wäre wohl das Beste, nicht wahr?“

„Ich wüsste gern, wer Ihr seid.“

„Das freut mich“, erwiderte er. „Und es freut mich auch, dass wir uns so gut unterhalten haben. Ich bewundere Euch für Euren Mut.“

„Ich bin nicht mutig, Sir. Ich habe nur getan, was ich musste. Mittlerweile bin ich zwar davon überzeugt, dass Waldron von Edgelaw mir nichts angetan hätte, doch während der Entführung und noch eine ganze Weile danach hatte ich, offen gestanden, schreckliche Angst.“

„Aber Mut besteht doch genau darin, Mylady, oder etwa nicht?“

„Worin?“

„Dass man tut, was zu tun ist, auch wenn man sich fürchtet. Es ist bewundernswert, wenn jemand auch unter schwierigen Umständen einen klaren Kopf behält. Und dass Ihr Euch Gedanken über die Bedürfnisse und Beweggründe anderer macht, beweist nur, dass Ihr ein netter Mensch seid. Ich würde Euch gern besser kennenlernen und Freundschaft mit Euch schließen.“

Adela stand vollkommen still und hielt den Atem an, bis sie ein Stechen in der Brust verspürte. Sie überlegte, ob schon einmal jemand so etwas zu ihr gesagt hatte. Für unfreundlich oder feige hielt man sie wohl nicht, doch ausdrücklich gelobt hatte ihren Charakter auch noch niemand, jedenfalls nicht so wie dieser Mann.

Es hatte sie auch noch nie jemand um ihre Freundschaft gebeten. Gewiss, zu Hause hatte sie Freunde, doch nur wenige ihres Alters und keinen, dem sie ihre Gedanken hätte anvertrauen können wie dem Fremden in dieser überaus seltsamen Nacht. Sie wusste nicht, was sie ihm antworten sollte.

Plötzlich jedoch kamen ihr die Worte wie von selbst. „Das würde ich auch gern, aber wie könnte ich einen Mann zum Freund haben, dessen Namen ich nicht einmal kenne?“

„Das ist wirklich nicht leicht, aber Ihr werdet es schon schaffen. Doch jetzt solltet Ihr so vernünftig sein wie immer und zu Bett gehen.“

„Ja, da habt Ihr wohl recht.“ Doch sie konnte sich noch immer nicht losreißen.

„Wir werden uns wiedersehen. Das verspreche ich Euch“, sagte er. „Bis dahin stehe ich zu Eurer Verfügung, wann immer Ihr einen Freund nötig habt.“

„Das ist ein merkwürdiges Angebot, da ich doch gar nicht wüsste, an wen ich mich wenden soll, Sir.“

„Ihr braucht bloß zu sagen, dass Ihr einen Freund braucht, Mädchen.“

Seine Worte waren rätselhaft, doch sie klangen tröstlich für jemanden, der für gewöhnlich nichts als Kritik, Nörgelei und unerwünschte Ratschläge zu hören bekam.

Leise, um das Gefühl tiefen Friedens nicht zu zerstören, das seine Gegenwart in ihr bewirkt hatte, sagte Adela: „Gute Nacht, Sir.“

„Schlaft wohl, meine Freundin“, murmelte er.

Sie tastete sich zurück zur Tür und öffnete sie vorsichtig, beinahe darauf gefasst, dass jemand dahinterstehen und sie fragen würde, was zum Teufel sie hier zu suchen hatte. Welche Folgen das für sie hätte, hing natürlich davon ab, um wen es sich handelte. Das Schlimmste, was ihr widerfahren konnte, war eine Strafpredigt. Als verheirateter Frau käme es eigentlich nur ihrem Ehemann zu, sie zu schelten.

Wieder seufzte Adela. Jetzt, da Ardelve tot war, würden alle möglichen Leute versuchen, sie zu gängeln. Am besten kehrte sie also still und heimlich in ihre Kammer zurück.

Im Treppenhaus lauschte sie, hörte jedoch nichts.

Da sie diese Treppe noch nie benutzt hatte, wusste sie nicht, wie viele Zugänge es gab. Doch vermutlich war es mehr als einer, und der Mann vom Wehrgang kannte sie bestimmt alle.

Insgeheim war sie davon überzeugt, dass es sich bei ihm um den gut aussehenden Fremden handelte, der sich für sie interessiert hatte – Lady Clendenens entfernten Verwandten Etienne de Gredin.

Adela fragte sich, warum sie ihn nicht darauf angesprochen hatte. Über alles andere, was ihr in den Kopf gekommen war, hatte sie doch so ungezwungen mit ihm reden können. Doch dass sie ahnte, wer er war, hatte sie ihm nicht verraten.

Ihr fiel ein, dass Lady Clendenen erzählt hatte, ihr Vetter käme aus Frankreich. Doch der Mann im Nebel hatte wie ein gebildeter Schotte gesprochen. Allerdings stammte er nicht aus dem Hochland, oder er hatte zumindest die meiste Zeit woanders verbracht. Eigentlich hatte Lady Clendenen nichts davon erwähnt, dass seine Muttersprache Französisch oder er selbst Franzose wäre. Sie hatte nur gesagt, seine Vorfahren stammten aus Frankreich.

Adela drückte die Tür zu ihrer Kammer auf und stellte fest, dass sowohl einige Kohlepfannen als auch ein kleines Feuer im Kamin Wärme verbreiteten.

Die adrette rothaarige Dienstmagd, die auf Roslin für Adelas Wohlergehen sorgte, sprang von ihrem Stuhl beim Kamin auf. „Ach, Mylady“, rief sie, „ich dachte, Ihr wäret zum Abortturm gegangen. Aber Ihr seid so lange fortgeblieben!“

„Ja, Kenna, aber jetzt bin ich ja wieder da“, erwiderte Adela ruhig.

„Ich habe immer mal wieder hereingeschaut, ob Ihr etwas zu essen oder sonst etwas wünschtet.“

„Ich möchte nur schlafen, aber trotzdem vielen Dank.“

„Ich habe Euer Nachthemd herausgelegt, und im Krug ist warmes Wasser.“

Während Adela sich zum Schlafengehen fertig machte, dachte sie an den Mann auf den Zinnen. Sie war gespannter darauf, Lady Clendenens Vetter kennenzulernen, als es einer jungen Witwe anstand.

Der Mann auf den Zinnen öffnete die Tür zum Treppenhaus und lauschte, bis ihre leisen Schritte verklangen und sie die sichere Schlafkammer erreicht hatte. Bei all den Wachtposten in und außerhalb der Burg drohte ihr ohnehin keine Gefahr, und auch wenn sie es nicht wissen konnte, würde ihr Ausflug auf den Wehrgang nicht gänzlich verborgen bleiben.

Wenn es sich herumsprach, dass sie mitten in der Nacht durch die Burg irrte, würde man sich noch mehr Sorgen um ihren seelischen Zustand machen, der durch die Ereignisse der letzten Zeit ohnehin schon gelitten hatte. Allerdings würde sie bestimmt rascher über die Schicksalsschläge hinwegkommen, wenn all die wohlmeinenden Frauen sie in Ruhe ließen.

Er hatte schon gewusst, dass Adela eine Schönheit war, doch ihr Anblick in dem eng anliegenden samtenen Hochzeitskleid mit ihrem honiggoldenen Haar, das ihr in dichten Wellen über den Rücken fiel, hatte ihm förmlich die Sprache verschlagen. Ihre weichen, vollen Brüste drängten sich gegen den edlen goldfarbenen Stoff und schienen nur auf die Berührung durch eine zärtliche Männerhand zu warten. Die Erinnerung daran erregte ihn noch immer.

In der Halle hatte er sie derart fasziniert angestarrt, dass einer seiner Männer ihm geraten hatte, den Mund zuzumachen, damit keine Fliege hineinkam. Das hatte ihn ziemlich unsanft in die Wirklichkeit zurückgeholt, wie er sich mit einigem Unbehagen erinnerte.

Die Schönheit der Macleod-Schwestern war allgemein bekannt, doch wann immer die Leute auf Roslin von ihnen sprachen, erwähnten sie vor allem die schöne Lady Isobel, die mit Sir Michael Sinclair verheiratet war, und außerdem Hugos Frau, Lady Sorcha. Sie war ebenso hübsch wie Isobel und reckte ihr Kinn stets keck in die Luft, wenn sie etwas tun sollte, wozu sie keine Lust hatte.

Manchmal sprach man auch von der jüngsten Schwester, Lady Sidony, die stiller und daher unauffälliger als die anderen war. Sidony war in allem das Gegenteil ihrer Schwester Sorcha, der sie stets die Führung überlassen hatte.

Wenn er hätte wählen können, dann hätte er sich für Hugos Lady Sorcha entschieden, doch er konnte nicht leugnen, dass auch Lady Adela ihm bereits im letzten Sommer bei der Einsetzung des Fürsten Henry von Orkney ins Auge gefallen war. Inmitten des allgemeinen Durcheinanders hatte sie Ruhe und Gelassenheit bewahrt – außer einmal, als sie Hugo eine Schale mit Weihwasser über den Kopf geschüttet hatte. Michael hatte ihm den Zwischenfall in allen Einzelheiten geschildert.

Mit dieser grandiosen Tat, die er nur zu gern miterlebt hätte, hatte sie ihn für sich eingenommen. Endlich einmal hatte jemand dem unverschämten Hugo einen Dämpfer verpasst. Das nächste Mal war er ihr begegnet, kurz nachdem ihr Entführer sie freigelassen hatte. Da war sie verletzt, zerlumpt und vollkommen durcheinander gewesen. Jetzt dagegen …

Er schloss leise die Tür und lehnte sich kopfschüttelnd an die Brustwehr. Wie närrisch von ihm, überhaupt an sie zu denken – oder, genau genommen, an irgendeine dieser Damen. Solche Frauen waren nichts für ihn, landlos, wie er war. Landbesitz wurde ererbt, als Belohnung vom König verliehen oder durch Heirat erworben. Doch sein Vater hatte ihm nichts hinterlassen, die regierende königliche Familie raubte eher Land, als welches zu verschenken, und um eine gute Partie zu machen, musste ein Mann erst einmal Besitz vorweisen.

Er hatte einer Frau nichts zu bieten als seine ritterlichen Künste und die Sicherheit, dass er in den vergangenen neun Jahren gelernt hatte, sein überschäumendes Temperament im Zaum zu halten – fast immer jedenfalls. Vor neun Jahren war er als einfacher Ritter in den Dienst der Sinclairs und Hugos getreten und hatte seither zufrieden in den Tag hinein gelebt, ohne sich Gedanken um seine Zukunft zu machen. Doch jetzt …

Die Hände auf die feuchte Brustwehr gelegt, stand er noch lange in der undurchdringlichen Dunkelheit, lauschte auf das Brausen des Flusses tief unter ihm und gab sich seinen Gedanken und Erinnerungen hin. Schließlich bemerkte er, dass sein schwerer Umhang vom Nebel schon völlig durchnässt war. Da stieß Sir Robert Logan einen tiefen Seufzer aus, dachte noch ein letztes Mal daran, wie alles hätte sein können, und ging schlafen.