Prolog
Copyright © 2023, Jackie Baldwin
Datum: 5. November (Feuerwerksnacht)
Uhrzeit: 22:32 Uhr (Mummy denkt, ich schlafe!)
Alter: acht Jahre, fünf Monate, dreizehn Tage (fast genau achteinhalb!)
Daddy hat wieder was Komisches getan. Ich meine, schlimmer als komisch. Eigentlich sollte ich hier nicht mal darüber schreiben, falls er dieses Tagebuch findet. Aber ich muss es einfach jemandem erzählen. Aber das kann ich nicht, also ist das hier das Nächstbeste.
Er hat wieder einen Hund getötet.
Dieser ist kleiner als der letzte, er hat kurzes braunes Fell und dünne Beine. Ich kenne ihn sogar. Er trägt so ein rosafarbenes Halsband und rennt immer weg, wenn die Dame ihn von der Leine lässt. Dann kommt er und bellt die Schaukeln an. Vielleicht hat Daddy ihn deswegen umgebracht, obwohl mir das nicht wie ein guter Grund vorkommt.
Ich weiß es nur, weil Feuerwerksnacht ist. Es gab ein großes Lagerfeuer auf der Wiese, und Daddy sagte, wir könnten hingehen, und er hatte extra Holz von den ganzen Bauarbeiten zum Verbrennen aufbewahrt. Ich weiß nicht, warum, aber ich wollte mir das Holz ansehen, bevor es verbrannt wird. Ich finde es einfach komisch, dass es in einem Moment da ist und im nächsten nicht mehr. Als ob es einfach – verschwindet. Wohin verschwindet es? Mit den Hunden ist es ähnlich: In einem Moment sind sie lebendig und holen Bälle, wedeln mit dem Schwanz und bellen die Schaukeln an, und dann tut Daddy etwas, das ihnen das Lebendige wegnimmt, und dann sind sie nicht mehr wirklich da und werden ganz steif.
Also bin ich in die Garage geschlichen, wo Daddy das Holz aufbewahrte, obwohl er es mir verboten hat. Und da habe ich ihn gefunden. Zuerst war da dieser komische Geruch, ein Toter-Hund-Geruch, nehme ich an, und dann sah ich die Decke, und ich wusste sofort, was ich finden würde. Sie war irgendwie unter dem Holz eingeklemmt, am Boden des Anhängers, wo er alles gelagert hatte. Ich konnte sie nicht herausziehen, ohne das Holz zu bewegen, aber ich konnte sie ein wenig auswickeln, um einen Blick hineinzuwerfen.
Er hatte die Augen offen, als ob er wach wäre, aber die Augen haben sich nicht bewegt. Als ich die Decke ein Stück weiter zurückschlug, kam das ganze Zeug – das innere Zeug, meine ich – an den Stellen heraus, an denen er aufgeschnitten worden war. Es war so eklig.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Vielleicht sollte ich es jemandem sagen, weil es falsch ist, zu töten. Aber es ist nicht so, dass ich es jemandem sagen kann. Ich bin erst acht. Keiner wird mir glauben.
Jedenfalls hatte ich nicht lange Zeit, darüber nachzudenken, weil Daddy sagte, er müsse das Holz holen, um es auf das Lagerfeuer zu legen, bevor sie es anzündeten. Ich glaube, er wollte allein gehen, aber Mummy musste zum Arzt, also musste Daddy mich mitnehmen. Er hängte den Anhänger ans Auto und wir fuhren zu der Stelle, wo das Lagerfeuer aufgebaut war, aber bevor irgendjemand anderes dort war. Daddy fuhr direkt ans Feuer und sagte mir, ich solle im Auto bleiben, weil es gefährlich sei und das Holz herunterfallen könne, aber das sagte er nur, damit ich nicht sehen würde, was er tat. Ich habe trotzdem durchs Fenster zugesehen.
Er lud die Hälfte des Holzes auf die Außenseite des Lagerfeuers, bevor er den toten Hund nahm, der noch in die Decke eingewickelt war, und ihn direkt in die Mitte des Holzstapels legte. Danach stapelte er den Rest des Holzes so darauf, dass man die Decke nicht sehen konnte. Als er dann wieder ins Auto stieg, pfiff er die Melodie von Die Simpsons vor sich hin.
Später kamen wir wieder, und es gab ein riesiges Feuer, größer als alles, was ich bisher gesehen habe. Nachdem es ein bisschen heruntergebrannt war, haben sie das Feuerwerk abgeschossen. Normalerweise hätte ich mich über ein Feuerwerk gefreut, aber diesmal nicht. Stattdessen habe ich über den Hund nachgedacht und darüber, was passiert, wenn Daddy irgendwann dasselbe wie mit den Hunden macht, aber mit Menschen.
Was ist, wenn er es irgendwann mit mir machen will?
Teil 1
Erica Sands
Eins
Detective Chief Inspector Erica Sands saß an ihrem Schreibtisch und las, während sich das Murder Investigation Department, kurz MID genannt, um sie herum langsam leerte.
Es war nicht ungewöhnlich für die Beamten der Mordkommission, bis in die Nacht hineinzuarbeiten, vor allem wenn sie gerade an einem hochkarätigen oder prioritären Fall arbeiteten, aber an diesem Abend gab es wenig zu tun. An diesem Tag hatten sie den Geburtstag von zwei Kollegen gefeiert – von einem der Junior Detectives und von DI Lindham, dem stellvertretenden Leiter der Einheit und somit Sands’ Stellvertreter. Außerdem war es Freitagabend, und die meisten freuten sich, endlich mal abschalten zu können. Doch das ungezwungene Geplauder darüber, in welchen Pub sie gehen wollten (das George Inn am Poole Quay war der Favorit), verstummte, als die Gruppe an Sands’ Schreibtisch vorbeikam.
Um acht Uhr war sie schließlich allein im MID und versuchte, sich auf die Details des Falles vor sich zu konzentrieren, aber ihre Gedanken wanderten immer wieder zu den beiden Telefonen auf ihrem Schreibtisch, von denen keines geklingelt hatte.
Sie warf einen Blick auf ihr Handy, dann überprüfte sie das Festnetztelefon, ob sie nicht eine hinterlassene Nachricht übersehen hatte. Hatte sie nicht.
Sie fuhr sich durchs Haar – dunkel, mittellang, glatt – und trommelte dann mit den Fingern auf den Tisch. In dem Versuch, ihre Anspannung zu lindern, atmete sie tief ein, aber es half nicht. Also nahm sie die Akte wieder zur Hand und ärgerte sich über ihre Unfähigkeit, sich darauf zu konzentrieren. Ihre Fingernägel waren unlackiert, kurz und gepflegt. Wie immer war sie ungeschminkt. Make-up aufzutragen und dafür zu sorgen, dass es den ganzen Tag lang akzeptabel aussah, kostete Zeit, und Zeit war das, was sie am meisten schätzte.
Plötzlich wurde die Stille im Raum vom Klingeln eines Telefons durchbrochen – aber nicht von einem auf ihrem Schreibtisch. Mit finsterem Blick drückte sie eine Taste auf ihrem Telefon, um den Anruf zu sich umzuleiten. Es war nichts Wichtiges, nur ein nahe gelegenes Leichenschauhaus mit einer Nachfrage, um die sich einer ihrer Beamten vor Feierabend hätte kümmern sollen. Mit dem betreffenden Fall hatte sie selbst nicht direkt zu tun, dennoch konnte sie die Fragen des Rechtsmediziners beantworten – in einem knappen, ungeduldigen Ton. Er hatte sich noch nicht einmal fertig bedankt, da hatte sie bereits aufgelegt.
Sie wandte sich wieder der Fallakte zu. Es war eine Zusammenfassung der Beweise, die fünfundzwanzig Jahre zuvor im Zusammenhang mit dem Ertrinken eines zwölfjährigen Jungen gesammelt worden waren. Der Vater des Jungen behauptete, es sei ein Badeunfall in einem Steinbruchsee gewesen, aber an der Leiche gefundene Spuren hatten Zweifel geweckt. Es hätte sich um die üblichen Beulen und Kratzer handeln können, die sich jeder abenteuerlustige Zwölfjährige zuzog. Oder es hätten Anzeichen von Misshandlung sein können. Da es jedoch keine weiteren Zeugen gegeben hatte, war der Tod als Unfall eingestuft und keine Anklage erhoben worden. Sands’ Aufgabe – die rein selbst auferlegt war, denn niemand hatte sie gebeten, die Akte einzusehen, oder wusste auch nur, dass sie diese las – bestand darin, zu überprüfen, ob der Name des Vaters in den vergangenen Jahren bei anderen verdächtigen Todesfällen oder Beschwerden aufgetaucht war oder ob es andere Aspekte des Falles gab, die man mithilfe der inzwischen fortgeschritteneren Technologie zur Verbrechensaufklärung erneut untersuchen könnte. Als sie nach einer halben Stunde nichts gefunden hatte, wollte sie sich schon der nächsten Akte zuwenden, einer von dem Stapel, der sich auf einer Seite ihres Schreibtischs türmte. Doch dann klingelte ihr Handy.
Anstatt sich wie zuvor darauf zu stürzen, schaute sie auf das Display, und ein dumpfes Gefühl machte sich in ihrem Magen breit. Sie nahm das Handy und hob ab.
„Detective Sands? Hier ist Dr. Hannigan.“
„Ich höre.“
„Chief Superintendent Yorke hat mich gebeten, Sie auf dem Laufenden zu halten, wie Sie, glaube ich, wissen …“
„Ja. Ich höre.“
Der Mann am anderen Ende der Leitung zögerte. „Ich fürchte, es sind keine guten Nachrichten.“
Diesmal sagte Sands nichts. Ihr Mund fühlte sich trocken an.
„Ich glaube, er hat Ihnen die Situation Ihres Vaters erklärt? Leider hat sich sein Zustand weiter verschlechtert, und er wurde auf die Intensivstation verlegt.“ Er hielt erneut inne.
„Und?“
Der Arzt schien seine nächsten Worte mit Bedacht zu wählen. „Wir hatten gehofft, dass sich sein Zustand dadurch bessern würde, aber das ist leider nicht der Fall. Tatsächlich haben wir eine zunehmende Verschlechterung festgestellt.“ Diesmal wurde das Zögern von einem Seufzen begleitet. „Ich glaube, wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem es nur noch einen möglichen Ausgang gibt. Es tut mir leid.“
„Welchen Ausgang?“
Der Arzt zögerte wieder. „Was ich meine, ist, sein Körper versagt. Detective Sands, es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Vater im Sterben liegt.“
Stille trat ein. Aber gerade als der Arzt sie brechen wollte, ergriff Sands das Wort. „Wie lange noch?“
Es gab ein weiteres Zögern, diesmal kürzer. „Wir rechnen eher mit Stunden als mit Tagen.“ Er seufzte. „Er war fit für sein Alter, aber bei diesem Virus geht es so schnell bergab. Wenn Sie sich persönlich von ihm verabschieden wollen, sollten Sie jetzt kommen. Und zwar sofort.“
Falls der Arzt danach noch etwas sagte, bekam Sands es nicht mehr mit. Der Raum um sie herum begann sich zu drehen und zu verschwimmen.
„Danke, Dr. Hannigan“, unterbrach sie ihn einige Augenblicke später, als sie merkte, dass er immer noch am Reden war und ihr die Einzelheiten erklärte, wie sie ihren Vater besuchen konnte. Sie legte auf und starrte vor sich hin.
Ihre Augen waren auf den vertrauten Anblick des Büros gerichtet, jedoch ohne die Reihen von Computern, die Wände von Aktenschränken oder die Raumteiler zu sehen, die gleichzeitig als Pinnwände für Fotos und Zeitungsausschnitte dienten. Dann drehte sie den Kopf und blickte wieder auf die Aktenmappe, die offen vor ihr lag, mit den Fotos des toten Jungen, dessen Verletzungen hervorgehoben und geordnet waren wie eine Einkaufsliste. Plötzlich verspürte sie den überwältigenden Drang, von hier wegzukommen, von diesem Ort, an dem sie praktisch ihr ganzes Leben verbrachte. Schwer atmend raffte sie die Papiere zusammen, legte sie zurück in die Akte und steckte diese zusammen mit zwei weiteren in ihre Tasche – etwas leichte Lektüre für das Wochenende. Dann überprüfte sie ihren Schreibtisch, schaltete ihren Computer aus und ging schnellen Schrittes davon.
Sie nahm die Treppe. Das Reinigungspersonal, zwei Damen aus Venezuela, warf ihr einen Blick zu. Sie waren überrascht, aber dankbar, dass sie ausnahmsweise früher ging. Sie hatten schon vor langer Zeit gelernt, sich beim Staubsaugen des Büros nach Sands’ Zeitplan zu richten und sie nicht zu stören. Sie schritt ohne ein Wort an den Sicherheitsleuten am Empfang vorbei und nickte nicht einmal dem Wachmann zu, der die ganze Nacht die Stellung halten würde.
Sie ging hinaus auf den Parkplatz, schloss ihr Auto auf, einen Alfa Romeo in klassischem Rosso-Corsa-Rot, und stieg ein. Aber sie ließ den Motor nicht an. Stattdessen saß sie einfach da. Und starrte wieder mit leerem Blick vor sich hin.
Obwohl Sands gewusst hatte, dass sie eines Tages mit dem Tod ihres Vaters konfrontiert sein würde, hatte sie die Jähheit überrollt, mit der sich sein Gesundheitszustand verschlechtert hatte. Erst vor drei Tagen hatte sie von seiner Krankheit erfahren, und erst heute hatten die Ärzte angedeutet, dass sie lebensbedrohlich sein könnte. Es ging zu schnell; sie wusste nicht, was sie fühlen sollte. Ihr ganzes Erwachsenenleben hatte sie mit zwei Gewissheiten über ihre Familie verbracht: Erstens, sie hatte nur noch ihren Vater – und zweitens, er war sicher hinter Gittern. Aber nun würde sich das alles ändern, jede Sekunde könnte es so weit sein, und sie hatte nicht genug Zeit, sich daran zu gewöhnen.
Ihre Hand wanderte zu ihrer Brust und ergriff das Medaillon, das dort hing – das einzige Schmuckstück, das sie trug. Ihre Finger strichen über das Metall und zeichneten ein Muster nach, das ihr so vertraut war, dass es sich in das Weißgold hineingegraben hatte. Sie verspürte den Drang, es zu öffnen, widerstand aber reflexartig. Selbst hier, in der Privatsphäre ihres Autos, wäre es nicht sicher.
Es gab Leute, die den Tod ihres Vaters bejubeln würden, das wusste sie. Er würde in der Presse erwähnt werden, selbst so lange nach seiner Verurteilung, und sie wären froh, ihn endlich los zu sein. Andere hingegen würden trauern. Er hatte seine Anhänger, selbst nach dem, was er getan hatte. Aber wie fühlte sie sich? Sie war sich nicht sicher. Trotz allem, was er getan hatte, war er ihr letztes verbliebenes Familienmitglied. Und wenn er fort war, würde sie wahrhaftig allein sein.
Plötzlich ließ sie das Medaillon fallen und beugte sich vor. Sie tippte die Adresse des Krankenhauses in das Navi des Autos ein und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf das Lenkrad, während es die Route berechnete. Das Display aktualisierte sich und zeigte ihr an, dass sie in einer Stunde und siebzehn Minuten im Krankenhaus sein könnte, in dem ihr Vater gerade im Sterben lag. Hannigan hatte alles so veranlasst, dass ihr der Zutritt gewährt werden würde. Sie griff zum Zündschlüssel und wollte ihn schon drehen. Aber sie hielt inne. Es war, als würden ihr Körper und ihr Geist in verschiedene Richtungen gezerrt, als würde sie gleichzeitig dazu gedrängt, dorthin zu fahren und es doch nicht zu tun.
Sie ergriff wieder das Medaillon, ihre Finger zeichneten dasselbe Muster nach. Sie wünschte, sie könnte mit jemandem sprechen, aber es gab niemanden. Ihre Kollegen schätzten ihre Polizeiarbeit sehr – dafür sorgte sie schon –, aber sie stand keinem von ihnen nahe. Wie sollte sie das auch?
Und dann, ohne groß nachzudenken, zog sie den Schlüssel aus der Zündung und öffnete die Tür. Sie nahm ihre Tasche, schloss den Alfa ab und ging los. Sie hatte keine Ahnung, wohin. Sie ging einfach drauflos. Zuerst in keine bestimmte Richtung, aber bald schon ungefähr in Richtung Stadtzentrum und dann in Richtung Kai, wo ihre Wohnung mit Blick auf den Hafen lag. Irgendwann wurde ihr bewusst, dass dies der erste Abend in ihren fünf Jahren beim MID war, an dem sie zu Fuß nach Hause ging. Das gab ihr ein Ziel, an das sie sich klammern konnte.
Es schien eine Art Festival im Gange zu sein, eine Veranstaltung zum Winterende, mit der das Stadtzentrum wiederbelebt werden sollte, wie ihr ein an einen Baum gehefteter Flyer verriet. Sie kam an einer Kirche vorbei, die in verschiedenen Farben beleuchtet war, und ein kleiner Springbrunnen spuckte mal mehr, mal weniger Wasser im Einklang mit Musik und Lichtern. Über dem Brunnen war für einen kurzen Moment der Mond zu sehen, bevor er aufs Neue hinter dahineilenden Wolken verschwand. Kleine Menschentrauben standen herum und sahen sich die Show an, während fahrbare Stände leuchtende Plastikspielzeuge an begierige Kinder verkauften. Sie ging an all diesem Trubel vorbei, ohne bemerkt zu werden und ohne ihn selbst zu bemerken. In Gedanken war sie – wenn überhaupt irgendwo – viele Jahre in der Vergangenheit bei einem anderen Kind, einem Mädchen, das nie wieder spielen würde, weil starke Hände sich um seinen Hals gelegt und das Leben aus ihm herausgewürgt hatten.
Sie kam an einer offenen Tür vorbei, an einem Gebäude, das als Kunstraum genutzt wurde. Sie war noch nie darin gewesen, hatte es nie auch nur bemerkt, aber an diesem Abend lockten das Licht und die Geräusche sie hinein. Im Erdgeschoss hingen vergrößerte Schwarz-Weiß-Fotos der Stadt und des Kais an der Wand. Eine Handvoll Leute schlenderte herum, offensichtlich froh darüber, aus der Kälte herauszukommen. Sie stand vor den Exponaten und nahm nichts von dem Leben wahr, das sie abbildeten. Sie stieg die Treppe zu einem belebteren Raum hinauf und stellte sich vor eine Leinwand mit einem schwarz-blauen Mischmasch, das für sie wie eine Nahaufnahme von blauen Flecken und verfilzten Haaren eines Tatortfotos aussah. Aber sie sah das Bild nicht wirklich. An diesem Abend wollte sie sich einfach mit irgendetwas anderem beschäftigen als mit ihrem eigenen Leben.
„Es sind die Pinselstriche, nicht wahr?“ Eine Stimme ertönte links von ihr. Sie riss den Kopf herum und erblickte einen Mann, der sie anlächelte. Er war ein paar Jahre jünger als sie, und selbst in ihrem benebelten Zustand fiel ihr auf, dass er gut aussah.
„Sie fangen wirklich das Wesen ein von …“ Er beugte sich vor und las mit sarkastischer Stimme die Beschriftung unter dem Kunstwerk: „Dem Wind in den Blättern. So originell und …“ Er schüttelte den Kopf, als wäre er sprachlos angesichts des Talents des Künstlers. „Einfach brillant.“
Sands erwiderte nichts und wandte sich wieder dem Gemälde zu. Aber der Mann gab nicht auf.
„Du musst ein echter Connaisseur sein. Willst du es kaufen?“, fragte er plötzlich, als ob ihm dieser Gedanke gerade erst gekommen wäre. „Alle Kunstwerke hier stehen zum Verkauf, und ich habe eine Liste mit Richtpreisen, falls du Interesse hast? Ich kann dir einen Drink holen und wir können uns darüber unterhalten …“
„Nein.“
„Das kann ich dir nicht verdenken“, fuhr der Mann ohne zu zögern fort. „Sieht für mich eher nach Spaghetti als nach Blättern aus. Oder vielleicht Seetang. Ich erkenne da drin Seetang, was meinst du?“ Er legte seinen Kopf schief, als würde er die Kunst genau studieren, und wandte sich dann mit einem Lächeln ihr zu. Er schien zuversichtlich, dass sie das für ihn einnehmen würde. „Weißt du, dass sie zwölftausend Pfund dafür verlangt? Die Künstlerin, meine ich, was ich für glatte Halsabschneiderei halte. Und das sage ich als ihr Bruder, der sie sehr liebhat. Sag mal, du bist doch nicht von der Polizei, oder bist du etwa undercover hier?“
Auch wenn sie aus keinem dienstlichen Grund hier war, ließ die Frage Sands’ Herz schneller schlagen.
„Ich dachte nur, vielleicht bist du hier, um gegen diese Halsabschneider zu ermitteln, obwohl es gar nicht so blutig zugeht, was?“ Er sah sich im Raum um, dann drehte er sich wieder zu ihr und versuchte es erneut. „Oder gegen Verbrechen gegen die Kunst. Gibt es das?“ Er sah sie fragend an, aber sie wandte sich wieder ab, als sie merkte, dass es nur ein Scherz war. Unbeirrt fuhr er fort. „Im Ernst, für den Preis, den sie für diesen Kitsch hier verlangt, sollte sie verhaftet werden. Noch schlimmer ist die Provision, die ich bekomme.“ Er hielt inne, anscheinend war ihm klar geworden, dass er mit seiner aktuellen Vorgehensweise nicht weiterkam. „Sag mal, möchtest du trotzdem was trinken? Wir haben viel zu viel Essen bestellt, um ehrlich zu sein. Wir hatten einen Ansturm erwartet.“
„Nein.“ Sands machte einen Schritt von ihm fort, weil sie allein sein wollte, doch dann wurde ihr schlagartig klar, was das heute Abend bedeuten würde. Ein einsamer Weg nach Hause in ihre leere Wohnung. Niemand, den sie anrufen konnte. Das ganze Wochenende allein mit ihren Gedanken und den Akten derer, die vor langer Zeit gestorben waren. Und vielleicht, versteckt in den Seiten, der Beweis, dass da draußen immer noch kaltblütige, raubtierhafte Männer herumliefen. Die im Dunkeln ihre Untaten vollbrachten. Ausnahmsweise wollte sie sich dem nicht stellen. Sie musste noch ein bisschen länger im Licht bleiben.
„Ich bin nicht wegen der Kunst hier“, hörte sie sich sagen, und das ermutigte den Mann wieder. Sie konnte ihre Augen nicht von seinem breiten Mund loslösen, als dieser sich zu einem weiteren strahlenden Lächeln verzog.
„Keiner ist wegen der Kunst hier.“ Er verdrehte seine tiefblauen Augen. „Es geht nur um den kostenlosen Alkohol und die Appetithäppchen …“
„Mein Vater liegt im Sterben.“
Sie sagte es nicht, um ihn zum Schweigen zu bringen. Sie sagte es, weil es wahr war und weil sie es jemandem sagen musste, anstatt die Worte nur immer und immer wieder in ihrem Kopf zu wiederholen. Aber es brachte ihn zum Schweigen. Jäh.
„Oh – Scheiße.“ Er verzog das Gesicht, wandte sich aber nicht von ihr ab. „Verdammt, das tut mir leid. Ich bin echt ein Arsch. Was hat er denn?“
Sands schüttelte den Kopf. „Sie wissen es nicht genau. Eine Art Virus. Sie sagen nur, dass er heute Nacht sterben wird. Morgen früh wird er tot sein.“ Wieder fühlte sie sich bei dem Gedanken daran innerlich vollkommen leer.
In diesem Moment kam eine junge Kellnerin mit einem Tablett voller Getränke vorbei, die wie Champagner aussahen, es aber mit Sicherheit nicht waren. Der Mann nahm zwei Gläser und lächelte dem Mädchen dankend zu, deren Blick viel länger auf ihm verweilte als nötig. Er reagierte nicht darauf, sondern drehte sich direkt wieder zu Sands um. „Trink das. Du siehst aus, als könntest du’s brauchen.“
Sands trank selten Alkohol, aber sie nahm das Glas entgegen und nippte an der sprudelnden Flüssigkeit. Ehe sie sichs versah, hatte sie das halbe Glas ausgetrunken.
„Möchtest du darüber reden?“, fragte der Mann, und Sands zog es in Erwägung. Sie dachte an die vielen Male, die sie schon darüber gesprochen hatte. In Polizeiverhören, mit Kinderpsychologen, Sozialarbeitern, den paar hochrangigen Männern bei der Arbeit – immer Männer –, die über ihren Vater Bescheid wussten. Und jetzt sah sie diesen Mann an, diesen freundlichen Fremden, und sie wusste, dass sie ihm nichts davon erzählen konnte. Sie schüttelte den Kopf und nahm einen weiteren Schluck aus ihrem Glas.
„Du musst nicht, wenn du nicht willst. Ich kann reden und du hörst einfach zu. Ich kann dir die Inspiration hinter jedem Werk meiner Schwester erklären. Das ist sie da drüben.“ Er zeigte auf eine dunkelhaarige Frau in einem smaragdgrünen Abendkleid, das zu elegant für den Anlass wirkte. Als diese sah, dass der Mann auf sie zeigte, richtete sie sich auf, tat aber gleichzeitig so, als hätte sie es nicht bemerkt. „Du kannst einfach zuhören und darüber lachen, wie lächerlich wichtigtuerisch sie ist.“ Er hielt inne und sah sie einen Moment lang an. „Das könnte dich auf andere Gedanken bringen.“
Sands zog auch das in Erwägung. Und sie ertappte sich dabei, wie sie nickte. „Okay.“
Der Mann führte sie durch den Raum. Vor jedem der Exponate las er mit lauter Stimme die Schildchen unter den Gemälden vor und erzählte Sands dann mit deutlich leiserer Stimme, dass seine Schwester eine schreckliche Künstlerin war, die kaum Talent oder Hingabe besaß und nur hier war, weil sie von ihren wohlhabenden Eltern unterstützt wurde. Er sagte nichts über sich selbst und darüber, wie er vermutlich in ähnlicher Weise profitierte. Aber er erzählte mit einem Zwinkern in den Augen, dass sie viel mehr Zeit damit verbrachte, Fotos für Instagram zu machen, als zu malen. Ein paar Mal entlockte er ihr sogar ein Lächeln. Wann immer ihr Glas leer war, fand er einen Weg, ihr ein frisches anzubieten. Als sie schließlich die ruhigste Ecke des Raums erreicht hatten, kam er auf das Thema zurück, das sie so offensichtlich beschäftigte.
„Es geht mich zwar nichts an, aber mir ist aufgefallen, dass du dich in einer schrecklichen Kunstgalerie betrinkst und nicht im Krankenhaus Abschied nimmst. Bist du sicher, dass es das ist, was du möchtest?“
Sands verkrampfte sich. Sie wollte es diesem Mann erklären – diesem beliebigen Fremden, den sie nie wieder sehen würde –, aber sie wusste, dass sie das nicht konnte, nicht wirklich.
„Möchtest du darüber reden?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich meine nicht mit mir. Sondern mit Freunden. Oder mit deiner Familie, oder mit jemandem von der Arbeit? Ich kann dich irgendwo hinbringen.“ Er sah sie an, die Sorge stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
„Nein.“ Sie kniff die Augen zu. „Ich habe keine Familie.“ Sie schluckte. „Oder Freunde. Und niemand auf der Arbeit weiß von meinem Vater. Das dürfen sie nicht.“
Darauf hatte er keine Antwort parat, und sie wusste, dass sie zu viel gesagt hatte.
„Ich will nach Hause“, sagte Sands nach einigen Augenblicken der Stille.
„Klar.“ Er schaute sich im Raum um und dann wieder zu ihr. „Wohnst du in der Nähe? Bist du mit dem Auto unterwegs? Zu Fuß?“
„Ich bin zu Fuß hier“, antwortete Sands, fast so, als ob sie sich selbst daran erinnern würde.
„Ich rufe dir ein Taxi. Obwohl …“ Er hielt kurz inne, als wäre er soeben auf ein Problem gestoßen. „Wegen des Festivals sind die sicher im Dauereinsatz … Hey, ich kann dich doch nach Hause fahren.“
„Nein …“
„Komm schon. Ich bin schon den ganzen Abend gegen meinen Willen hier eingesperrt. Ich bekomme zwar eine Provision, wenn ich was verkaufe, aber das würde ich mir auch nie verzeihen. Komm schon. Gib mir eine Ausrede, hier rauszukommen. Bitte! Du würdest mir damit einen Riesengefallen tun.“
Sands nickte dankbar, und der Mann ging sofort los, um seiner Schwester Bescheid zu sagen. Sands sah, wie die Frau enttäuscht die Augenbrauen zusammenzog. Dann kam er zurück.
„Ich bin aus dem Schneider.“ Er lächelte wieder dieses Lächeln. „Ich bin übrigens Luke. Luke Golding.“
„Erica“, antwortete Sands.
„Hi, Erica. Tja, dann komm mal mit. Ich habe direkt vor der Tür geparkt.“
Sie gingen hinaus in die Nacht. Zu dieser späteren Stunde waren die Straßen schon ruhiger, und die Luft war schneidend kalt. Er schloss einen unauffälligen Vauxhall auf, und sie stiegen beide ein. Sie gab ihm ihre Adresse, und er sagte, er wisse, wo das sei. Der Motor war leise – kraftlos, hätte sie ihn normalerweise beschrieben –, aber heute Abend war alles, was sie interessierte, dass der Innenraum mit warmer Luft gefüllt war, die sie schläfrig machte. Doch schneller als ihr lieb war, standen sie vor der Tür ihres Wohnblocks.
„So. Da wären wir.“ Er wirkte nun ein wenig nervös, als wüsste er nicht so recht, was er als Nächstes tun sollte. „Sag mal, hast du einen Mitbewohner oder so? Oder gibt es jemanden, den ich für dich anrufen kann? Eine Freundin? Damit du nicht allein bist?“ Er schenkte ihr ein Lächeln, das, wie ihr später klar wurde, wahrscheinlich mitfühlend gemeint war. Aber er sah gut aus, er war freundlich zu ihr gewesen und im Chaos der Gefühle deutete sie es falsch.
„Nein“, antwortete sie. Und wie schon vorhin traf sie ohne groß nachzudenken eine Entscheidung. „Aber du kannst mit hochkommen, wenn du willst.“
Er versteifte sich, und obwohl Sands durchaus an ihr eigenes schlechtes Urteilsvermögen in solchen Dingen gewöhnt war, überraschte sie seine Reaktion. Für einen Moment dachte sie, er hätte sie nicht richtig verstanden. Und so machte sie eine unangenehme Situation noch viel schlimmer, indem sie versuchte, sie klarzustellen.
„Ich meine nicht, dass du dich um mich kümmern sollst. Ich meine … du weißt schon, ob du nach oben kommen willst, um Sex zu haben.“ Sie hörte, wie die Worte aus ihrem Mund kamen, und wandte gequält den Blick ab. Als sie ihn wieder ansah, waren seine Augen und sein Mund leicht geöffnet. Irgendwie schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen, als er sich wieder fing.
„Wow – damit habe ich echt nicht gerechnet.“ Er brach ab, und Sands überkam eine plötzliche Welle der Scham. Dieser Mann war bloß nett zu ihr; er hatte kein Interesse daran, mit ihr ins Bett zu steigen. Sie drehte sich zur Tür und nahm seine Worte nur noch halb wahr.
„Ich fühle mich geschmeichelt. Ehrlich. Aber ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist“, begann er, „unter diesen Umständen.“
„Ist schon in Ordnung.“ Sie fing an, an der Türklinke herumzufummeln und verfluchte sich dafür, dass sie so viel Champagner getrunken hatte.
Der Mann versuchte, sie zu beruhigen. „Hey, Erica … Ist schon in Ordnung.“ Aber sie war schon weg. Sie marschierte zur Tür und tippte den Code ein, um in die Lobby zu gelangen. Als sie sich umdrehte, stand das Auto immer noch da. Durch das Glas der Haustür und die Windschutzscheibe des Autos erhaschte sie einen Blick auf sein Gesicht.
Zwei
Sie schlief unruhig und träumte mehrmals, dass sie den Anruf erhalten hatte; daher war sie beim Aufwachen überzeugt, ihr Vater wäre bereits tot. Aber auf ihrem Handy ploppten keine Nachrichten, keine verpassten Anrufe auf. Sie machte sich Kaffee und wartete, und schließlich, um kurz vor neun, klingelte das Telefon.
„Erica, hier ist Chief Superintendent Yorke.“
Sie wappnete sich innerlich. „Ist er tot?“
Es herrschte kurz Schweigen. „Tatsächlich, nein. Ist er nicht.“
Sands’ Welt wurde erneut auf den Kopf gestellt.
„Was meinen Sie damit?“
Yorkes Tonfall änderte sich. „Offenbar hat er ungewöhnlich gut auf die Behandlung reagiert. Sie nennen es eine wundersame Genesung.“
Sands rieb sich das Gesicht. „Das ist unmöglich. Mir wurde gesagt, es sei sicher, dass er sterben würde.“
Diesmal blieb Yorke still, und Sands realisierte, was er damit sagen wollte. „Eine wundersame Genesung? Er hat es vorgetäuscht?“
Wieder eine Pause. „Ich weiß nicht, wie er es angestellt hat, aber die Vermutung liegt nahe, ja.“
Sands schloss einen Moment die Augen und zwang dann ihr Gehirn, sich zu konzentrieren. „Warum? Was hätte er davon? Ist er sicher hinter Riegeln?“
„Definitiv. Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Sowohl seine Arme als auch seine Beine sind gefesselt, und vor seiner Tür steht ein Wachmann. Er wird heute Morgen zurück in seine Zelle verlegt. Ich kann Ihnen Bescheid sagen, sobald er dort ist.“
Sands antwortete nicht.
Yorke fuhr fort: „Erica, ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich Sie in diese Sache hineingezogen habe. Wir hätten warten sollen, bis es absolut sicher ist, aber ich dachte, Sie haben ein Recht darauf, es zu erfahren.“
„Das ist nicht Ihre Schuld. Ich habe Sie gebeten, als mein Mittelsmann zu agieren.“
„Ja, nun, wie auch immer. Jetzt sollte alles wieder normal laufen. Sie werden nichts mehr von ihm hören.“
„Vielen Dank, Sir.“
Es herrschte einen Moment lang Stille, bevor Yorke weitersprach.
***
„Um ehrlich zu sein, gibt es noch einen anderen Grund, warum ich anrufe. Ich weiß, dass Sie seit der Übernahme der Abteilung noch keinen großen Fall hatten. Ich glaube, ich könnte einen haben.“
„Was ist passiert?“
„Ich kann den Fall an John Lindham übergeben, wenn die Sache mit Ihrem Vater …“
„Ich übernehme ihn. Was ist passiert?“
Yorke legte wieder eine Pause ein, aber nur kurz. „Jemand hat heute Morgen eine Leiche gefunden. An einem Strand. Von einem jungen Mädchen.“
„Wie jung?“
„Das wissen wir noch nicht. Man sagte mir, etwa sieben oder acht.“
„Wir wissen es nicht? Haben wir die Eltern noch nicht gefunden?“
„Noch nicht, nein.“
Sands warf einen Blick auf die Uhr und runzelte die Stirn. „Wann wurde sie getötet?“
„Ich weiß es nicht. Wir wissen überhaupt noch kaum etwas, und eigentlich ist Lindham der leitende Beamte in Bereitschaft. Aber ich weiß auch, dass Sie auf einen großen Fall gewartet haben. Und dieser sieht groß aus.“
„Ich habe schon gesagt, dass ich ihn will. Welcher Strand?“
Wieder zögerte Yorke, als ob er es sich doch anders überlegen wollte. „Lulworth Cove. Wie schnell können Sie dort sein?“
Sands dachte nach. Von Poole aus waren es mindestens vierzig Minuten nach Lulworth. „Fünfunddreißig Minuten, Sir.“
„Gut. Wir sehen uns dort. Ich bin auch schon auf dem Weg dorthin.“ Er hielt inne. „Und Erica? Noch etwas.“
„Ja, Sir?“
„Nein, vergessen Sie’s. Ich werde es Ihnen persönlich sagen. Ein Sergeant Sinclair fungiert als Leiter der Spurensicherung. Wenn Sie unterwegs die Leitstelle kontaktieren, wird man Sie über den aktuellen Stand der Dinge informieren.“
Yorke legte auf, und sofort begann sich der Nebel in Sands’ Kopf zu lichten. Ihr Vater war fast vergessen, das leere Wochenende des Dahintreibens war durch etwas Aktives ersetzt worden. Jetzt legte sie einen Zahn zu. Sie ging schnell in die Küche, um zu essen und noch eine Tasse Kaffee zu machen, während sie sich anzog. Doch als sie endlich aufbruchsbereit war, fiel ihr ein, dass sie den Alfa am Abend zuvor beim Büro stehen gelassen hatte. Sie fluchte laut.
Das war kein allzu großes Problem. Wenige Augenblicke später war ein Taxi auf dem Weg zu ihrer Wohnung, das sie zurück zum Revier bringen würde, aber die paar Minuten Wartezeit waren ärgerlich. Sie nutzte die Zeit, um ihre Mordtasche durchzusehen, die immer mit dem Nötigsten bereitstand: forensische Schutzkleidung, Karten, Taschenlampe und Polizeifunkgerät – mit vollen Akkus. Außerdem enthielt sie das Nötigste für eine Übernachtung und Kleidung zum Wechseln. Alles war an seinem Platz. Endlich kam das Taxi, und sie eilte die Treppe hinunter.
Als sie endlich in ihrem eigenen Auto saß, wartete sie, bis die Bluetooth-Verbindung ihres Handys hergestellt war, und drückte dann auf den Knopf, um die Einsatzleitstelle zu kontaktieren. Sie identifizierte sich gegenüber dem Disponenten und fragte dann zuallererst nach dem GPS-Standort, sodass sie ihn ins Navi eingeben konnte. Während sie sich – schnell – auf den Weg dorthin machte, wies sie den Disponenten an, alle bisher zu dem Fall erfassten Informationen vorzulesen. Als er fertig war, forderte sie ihn auf, sie noch einmal vorzulesen. Dann ein drittes Mal.
***
Siebenunddreißig Minuten später nahm sie den Fuß vom Gas, da sie nun den Hügel hinunter nach Lulworth fuhr. Auf beiden Seiten tauchten malerische Steinhäuschen auf, die meisten mit dicken Strohdächern. Ein Stück weiter unten erstreckte sich der große Parkplatz – der für die Massen von Sommergästen gebaut worden war – fast vollkommen leer zu ihrer Rechten. Gleich dahinter wurde ein kleiner Kreisverkehr von einem Polizeiauto blockiert, dessen Blaulicht sich zwar langsam drehte, aber ohne Sirene. Sie fuhr schräg heran, um daran vorbeizufahren, und ließ ihr Fenster herunter, ebenso wie der Beamte im anderen Wagen.
„DCI Erica Sands.“ Sie zeigte ihren Ausweis vor.
„Guten Morgen, Ma’am. Es ist gleich dort unten.“ Der Polizist startete den Motor und fuhr ein Stück zurück, um sie vorbeizulassen. Sie folgte der Straße noch fünfzig Meter weiter, bis sie von einer Reihe von Fahrzeugen blockiert wurde, sowohl von gekennzeichneten Polizeiautos als auch von Transportern der Spurensicherung. Sie ließ den Alfa am Ende der Schlange stehen und ging den Rest des Weges zu Fuß.
Die schmale Straße endete am Eingang zur Bucht. Ein kurzer, steiler Strand aus Kieselsteinen und Felsen, der auch als Bachbett diente, und dann das silberblaue Meer. Auf beiden Seiten erhoben sich steile Hügel, die fast vollständig einen Kreis aus ruhigem Wasser umschlossen, der an der breitesten Stelle vielleicht einen halben Kilometer maß. Vor ihr lag der Eingang zum Meer jenseits der Bucht. Ein paar kleine Fischerboote zerrten an ihren Anlegebojen, und viele weitere leere rosa- und orangefarbene Bojen deuteten darauf hin, dass in der Bucht im Sommer um einiges mehr los war. Aber laut war es bereits jetzt: Der durch die jüngsten Regenfälle angeschwollene Bach donnerte die letzten paar Meter bis zum Meer hinunter.
Sie schaute sich um, entdeckte das blaue Zelt der Rechtsmedizin um die Leiche aber nicht sofort, was daran lag, dass es noch fast einen halben Kilometer entfernt war, praktisch auf der gegenüberliegenden Seite der hufeisenförmigen Bucht. Viel näher war ein Absperrband über den Strand gespannt worden, das den Zugang versperrte.
„Erica!“, rief eine Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um und erblickte Yorke in Zivilkleidung. Neben ihm stand ein Mann in Sergeant-Uniform.
„Sergeant Sinclair, das ist DCI Erica Sands. Sie ist eine unserer Besten vom MID.“ Er lächelte sie an und berührte sie am unteren Rücken. „Erica, Ihr Leiter der Spurensicherung.“ Der Sergeant versteifte sich, als er ihr kurz die Hand schüttelte.
Yorke wandte sich an Sands. „Sind Sie zur Leitstelle durchgekommen?“
„Ja, Sir.“
„Dann wissen Sie genauso viel wie wir. Aber es sieht nach einem üblen Fall aus. Wie man ihn an einem Ort wie diesem nicht für möglich halten würde.“ Wie auf Kommando ließen sie alle ihren Blick über die Bucht schweifen, die trotz der Umstände eine fast unwirkliche Schönheit ausstrahlte.
„Ach ja, Erica, da war noch diese andere Sache. Könnte ich Sie kurz unter vier Augen sprechen?“
„Ja, Sir.“
Sands folgte Yorke zu zwei kleinen Ruderbooten, die auf dem Trockenen lagen. In einem der Boote lag ein Paar gelber, mit Blut und Fischschuppen verschmierter Gummihandschuhe, das jemand weggeworfen oder liegen gelassen hatte.
„Was gibt es, Sir?“
Er sah sie an, antwortete aber nicht sofort. „Es heißt, dass er möglicherweise seine Medikamente aufgespart und dann auf einmal genommen hat. Das könnte erklären, wie er die Ärzte ausgetrickst hat.“
Sands erwiderte nichts.
„Wie auch immer, er ist bereits wieder in seiner Zelle. Er ist vollkommen gesichert.“
„Alles, um uns zu schikanieren.“ Sands strich sich eine Haarsträhne, die sich gelöst hatte, hinters Ohr.
Ihre Blicke trafen sich für einen Moment. „War das alles, Sir? Ich sollte mich an die Arbeit machen.“
„Nein, eigentlich nicht.“ Yorke lächelte halb, zögerte dann aber.
Sands wartete. „Ja, Sir?“
„Sie können wahrscheinlich an meinem schicken Outfit erkennen, dass ich heute Morgen eigentlich Golf spielen wollte. Mit dem Regional Commander.“ Er zog seinen Mantel ein Stück zurück, um einen roten Golfpulli zu enthüllen. „Er hat mich um einen kleinen Gefallen gebeten, den ich an Sie weitergeben werde.“
„Kein Problem.“ Sands nickte unbesorgt. „Was ist es?“
Doch Yorke zögerte und warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. „Es gibt da einen jungen Mann, dessen Vater ein Freund von ihm ist – ich bin mir nicht sicher, in welcher Beziehung genau sie zueinander stehen. Aber er hat vor Kurzem sein Detective-Examen bestanden, und man hat mich gefragt, ob er Sie ein paar Wochen lang begleiten könnte. Ich weiß, es ist lästig …“
Sands schüttelte den Kopf. „Ich arbeite lieber allein.“
„Das weiß ich“, sagte Yorke seufzend. „Und ich verstehe es auch. Es ist unverhohlene Vetternwirtschaft, oder wie auch immer man das nennt. Und normalerweise würde ich ihm das nicht durchgehen lassen, aber …“ Er zog eine Grimasse und senkte seine Stimme noch weiter. „In diesem Fall halte ich es für keine so schlechte Idee.“
„Warum nicht?“
„Hören Sie mal, Erica …“ Yorke seufzte, während Sands ihn finster anblickte. „Sie sind die talentierteste Ermittlerin, die diese Einheit seit Jahren gesehen hat. Und mit Sicherheit die engagierteste. Zweifellos hat dieser Junge deshalb auch nach Ihnen gefragt, denn Ihr Ruf eilt Ihnen langsam voraus.“ Yorke versuchte es mit einem Lächeln, aber Sands’ Ausdruck blieb unverändert.
„Aber?“
„Seien wir mal ehrlich. Sie können durchaus schroff sein.“
„Schroff?“
„Sogar ruppig. Und ich kenne diesen Jungen: Er kommt aus der Gegend, er ist ein vielversprechender Detective und außerdem ein sehr sympathischer Kerl. Ich denke, Sie könnten es hilfreich finden, ihn bei sich zu haben.“
„Das bezweifle ich sehr, Sir.“
„Trotzdem haben Sie keine andere Wahl.“ Yorkes Stimme wurde plötzlich strenger, und Sands wurde klar, dass die Sache nicht zur Debatte stand. Sie presste die Lippen zusammen.
„Entweder hilft er Ihnen oder nicht, aber ich bin darum gebeten worden, und der Commander ist für das Budget meiner Abteilung zuständig. Und das scheint der Preis für eine dringend benötigte Erhöhung zu sein. Es tut mir leid, dass Sie ihn bezahlen müssen.“
Sands fand sich mit dem Gedanken ab und nickte dem Chief Superintendent zu. Es war keine große Sache. „Ja, Sir.“
„Gut. Und vielleicht ist es gar nicht so schlimm. Wir alle brauchen ab und zu ein wenig Hilfe. Sogar Sie, Erica.“
Sands nickte. „Wie heißt er?“
Yorke antwortete nicht, denn in diesem Moment betrat ein junger Mann im Anzug den Strand nahe der Stelle, wo Sergeant Sinclair auf sie wartete.
„Da kommt er gerade. Ich habe ihn mitgenommen und ihn das Auto woanders hinstellen lassen. Ich wollte nicht in dem Verkehrschaos hier stecken bleiben.“
Sands spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte, als sie sein attraktives Gesicht erkannte. Er erkannte sie genau im selben Moment.
„Sein Name ist Golding. Detective Luke Golding.“
Drei
Ein paar Schritte von Sinclair entfernt erstarrte Golding. Während Yorke hinüberging, um sie einander vorzustellen, blieb Sands kurz stehen und fluchte leise. Für mehr blieb keine Zeit.
„Detective Golding, das ist DCI Erica Sands. Sie hat zugestimmt, dass Sie sie in diesem Fall begleiten dürfen.“
Golding zögerte, brachte dann aber doch eine Antwort über die Lippen. „Vielen Dank, Sir.“ Eine Sekunde lang stand er starr auf der Stelle, doch dann schien er sich seiner Manieren zu besinnen und trat vor, um ihr die Hand hinzustrecken.
Sands schüttelte sie und blickte in diese tiefblauen, nun geweiteten Augen. Seine Nasenflügel blähten sich.
„Vielen Dank, Ma’am“, sagte er und senkte den Kopf.
„Detective Golding.“ Sands hörte, wie steif ihre eigene Stimme klang.
„Sie können sich glücklich schätzen für diese Chance, Golding“, fuhr Yorke fort, ohne die Spannung zwischen ihnen beiden zu bemerken. „DCI Sands ist einer der besten Detectives ihrer Generation. Also sehen Sie zu, dass Sie tun, was sie sagt.“
„Auf jeden Fall, Sir.“ Er hatte den Blick abgewandt, konnte ihr nicht in die Augen sehen. Sie ihrerseits durchbohrte ihn mit Blicken, als hätte er das alles geplant.
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Yorke sah zwar ein wenig verwirrt darüber aus, wie die Vorstellung verlaufen war, aber nicht genug, um es zu hinterfragen.
„Gut, dann lasse ich Sie mal an die Arbeit gehen.“ Yorke streckte die Hand aus, und nach ein paar Sekunden wurde Golding klar, dass er seinen Autoschlüssel zurückhaben wollte. Yorke nahm ihn entgegen, schenkte ihnen ein letztes kurzes Lächeln und ging.
Sands zögerte, aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als anzufangen. Sie wandte sich an Sinclair. „Geben Sie mir Ihre Nummer. Sie werden sich mit DI John Lindham vom MID abstimmen müssen. Er richtet eine Ermittlungszentrale in der nächstgelegenen Polizeistation ein, die meines Wissens in Dorchester liegt?“
„Ja, Ma’am, das ist richtig.“ Der Mann hielt sein Handy mit der Nummer auf dem Bildschirm hoch. Sands speicherte sie in ihren Kontakten ab.
„Die Leitstelle meinte, dass noch kein Kind als vermisst gemeldet wurde, ist das immer noch der Fall?“
„Das ist richtig, Ma’am. Noch keines.“
Sands blickte zu Golding, dann schnell wieder weg, da ihr der schreckliche Moment wieder einfiel, als sie diesen Mann am Abend zuvor so ungeschickt in ihr Bett eingeladen hatte. Sie versuchte, den bitteren Geschmack in ihrem Mund hinunterzuschlucken.
„Das bedeutet wahrscheinlich, dass wir es mit einem Kind zu tun haben, das entweder obdachlos oder in einem Heim untergebracht ist. Aber ich möchte, dass Sie mich umgehend benachrichtigen, sobald ein Kind als vermisst gemeldet wird, vor allem aus der Gegend.“ Sie versuchte nachzudenken. „Die Frau, die die Leiche gefunden hat, war eine Schwimmerin, richtig? Eine Freiwasserschwimmerin?“
„Genau, Ma’am. Verrückt, was die Leute so alles treiben …“
„Ich würde gern zuallererst mit ihr sprechen.“
Der Sergeant sah verlegen aus. „Ich fürchte, sie wurde ins Krankenhaus gebracht, Ma’am. Ich weiß, dass Sie darum gebeten haben, sie zu sehen, aber die Sanitäter haben darauf bestanden. Sie war stark unterkühlt …“
Sands unterbrach die Entschuldigung mit einem erneuten Fluch. „Haben Sie eine Aussage von ihr?“
„Ja.“
„Hat sie jemanden gesehen? Jemanden gehört? Abgesehen vom Opfer?“
„Nein, Ma’am.“
„Hat sie irgendetwas Ungewöhnliches gesehen?“
„Nein, Ma’am.“ Sinclair warf einen Blick in sein Notizbuch. „Sie schwimmt hier fast jeden Morgen entlang der Küste. Als sie draußen auf die Landzunge zuschwamm, bemerkte sie etwas am Strand, kam aus dem Wasser, um es sich anzusehen, und entdeckte die Leiche.“
Sands antwortete nicht, sondern schaute den Strand hinauf zu dem blauen Zelt, einem unnatürlichen Farbklecks inmitten der Braun- und Grüntöne. „Der Rechtsmediziner ist bereits am Tatort?“
„Ja, Ma’am.“
„In Ordnung. Das ist alles für den Moment …“ Sands hielt inne und dachte nach. „Wobei, nicht ganz. In dem Boot da drüben liegt ein Paar blutige Handschuhe.“ Sie zeigte auf das Ruderboot, neben dem sie mit Yorke gesprochen hatte. „Wahrscheinlich ist es Fischblut, aber ich möchte, dass es vorsichtshalber überprüft wird.“
„Jawohl, Ma’am.“
Sie konnte es nicht länger vermeiden, ihn anzusprechen. Sie drehte sich zu Golding und atmete langsam aus. „Detective Golding.“ Sie sah ihm fest in die Augen. „Ich werde mir die Leiche ansehen. Wenn Sie mich begleiten wollen, brauchen Sie Schutzkleidung. Treffen Sie mich in fünf Minuten wieder hier.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und spürte nur allzu deutlich Sinclairs und Goldings Blicke in ihrem Rücken, sodass ihr ganz schlecht wurde.
Bei ihrem Auto zog sie ihren eigenen forensischen Schutzanzug an und versuchte dabei, die Erinnerung an den Abend zuvor und ihre Worte an Golding zu verdrängen. Aber die Anstrengung, die dies erforderte, lenkte sie so ab, dass sie mit dem weißen Anzug an einer Ecke hängen blieb und ein Loch ins Bein riss. Sie fluchte lautstark über diese Verzögerung, bevor sie den Anzug auszog, ihn genervt zusammenknüllte und einen neuen öffnete. Diesmal faltete sie ihn sorgfältig auseinander, bevor sie mit den Beinen hineinstieg, dann richtete sie sich auf und zog ihn sich über die Hüften. Als sie fertig war, steckte sie ihr Haar unter ein Netz, setzte die Kapuze auf und zog die Bänder fest. Als Nächstes zog sie ein Paar Überziehschuhe über ihre Schuhe und steckte den unteren Teil ihres Schutzanzugs hinein. Schließlich streifte sie sich ein Paar blauer Nitrilhandschuhe über. Dann schlug sie den Kofferraum zu, fluchte erneut und schloss das Auto ab.
Unten am Strand wartete Detective Golding in einem ähnlichen Outfit bereits auf sie. Er begrüßte sie mit einem verhaltenen Lächeln.
„Drehen bitte“, befahl sie ihm mit kalter Stimme. Sie überprüfte seinen Anzug.
„Noch einmal.“
Er drehte sich noch einmal um sich selbst und sie überprüfte seinen Anzug auf Probleme – und war fast verärgert, als sie keine fand.
„Okay. Gehen wir.“
Sie gingen schweigend nebeneinanderher und erreichten schon bald die Stelle, an der der Strand auf Sinclairs Anweisung hin abgesperrt worden war. Die Tatortwache, eine junge Police Constable, stand frierend an der blau-weißen Absperrung.
„Morgen, Sarah“, begrüßte Golding sie, als sie bei ihr ankamen.
„Hi, Luke“, antwortete die Frau und hob das Absperrband hoch. Trotz des wenig schmeichelhaften forensischen Schutzanzugs schien sie ihren Blick nicht von ihm lassen zu können. Sands warf ihr einen finsteren Blick zu, als sie sich unter dem Band hindurchduckte.
„Ma’am“, sagte die junge Frau respektvoll und nickte Sands zu. Sands antwortete mit einem Blick auf ihre Uhr. „Es ist 10:21 Uhr, vermerken Sie das im Tatortprotokoll.“ Sands ging weiter.
Es war noch ein weiter Weg von der Absperrung bis zum Fundort der Leiche und während sie nebeneinanderher gingen, war das Rascheln ihrer Hosenbeine das einzige Geräusch. Bis Golding schließlich den Mund aufmachte: „Hören Sie, wegen letzter Nacht …“
„Sie sind in Dorchester stationiert?“, schnitt Sands ihm mit scharfer Stimme das Wort ab.
Er zögerte, bevor er antwortete. „Äh, ja.“
„Ja, Ma’am“, korrigierte sie ihn, und er entschuldigte sich sofort.
„Ja, Ma’am. Aber das Dorchester-Revier ist ziemlich klein und es gibt kein eigenes Mordkommando, deshalb habe ich darum gebeten, jemanden vom MID begleiten zu dürfen. Und mit Ihrem Ruf waren Sie die offensichtlichste Wahl. Aber obwohl ich schon viel von Ihnen gehört habe, wusste ich nicht, wie Sie aussehen.“
Sands nickte, erwiderte aber nichts. Ein paar Schritte später brach er erneut das Schweigen. „Hören Sie, Ma’am, ich wollte nur …“
„Was?“ Diesmal blieb Sands stehen und drehte sich zu ihm um. „Sie wollten nur was?“
Er hielt inne und schluckte. „Ich wollte nur sagen, wegen letzter Nacht. Es gibt keinen Grund, sich … Ich weiß auch nicht. Ich verstehe, dass Sie aufgewühlt waren, wegen Ihres Vaters …“ Die meiste Zeit schaute er ihr nicht ins Gesicht, aber dann schaffte er es, ihren Blick für einen Moment zu halten.
„Wie geht es ihm eigentlich? Ist er …?“
„Nein“, antwortete Sands und wandte sich ruckartig ab, da ihre Kontrolle sich aufzulösen drohte. Sie warf einen Blick zurück. „Nein, er hat es überstanden. Sie glauben, dass er es vielleicht doch schafft.“
„Das ist ja großartig!“ Plötzlich klang er glücklicher. „Das ist fantastisch, ich bin wirklich froh, das zu hören …“
„Das ist nicht großartig.“
Golding sah verwirrt aus, aber sie ging einfach wieder los. Er beeilte sich, um zu ihr aufzuschließen. „Das verstehe ich nicht so ganz.“
„Sie brauchen es nicht zu verstehen. Es ist nicht relevant für diesen Fall und es ist nicht relevant für Ihr Leben.“
Golding schwieg einen Moment lang, dann nickte er. „Okay. Ich verstehe. Es ist Ihre Angelegenheit, es ist privat. Ich werde nicht mehr nachfragen.“
„Das will ich auch hoffen.“
Sie gingen eine Weile schweigend weiter, bis Golding wieder das Wort ergriff. „Aber da ist noch etwas anderes“, beharrte er. Anstatt stehen zu bleiben, beschleunigte Sands und zwang ihn fast zum Laufen, um mit ihr Schritt zu halten.
„Ich wollte nur sagen, dass Sie nicht … dass es …“ Er lachte nervös. „Dass ich derjenige sein sollte, dem es peinlich ist … was passiert ist. Oder eben nicht passiert ist.“
Abrupt blieb Sands wieder stehen und starrte ihn an. Er nutzte die Gelegenheit, um ihr nochmals in die Augen zu schauen.
„Sie hatten familiäre Probleme, die mich nichts angehen, und vielleicht haben die Sie beeinflusst. Aber was mich angeht, war es nichts. Die Sache ist bereits vergessen.“ Er lächelte das gleiche Lächeln wie am Abend zuvor. Das gleiche Lächeln, das sie hatte glauben lassen, er wollte mit ihr schlafen.
Sie öffnete den Mund, um zu antworten, machte dann aber einfach auf dem Absatz kehrt und setzte ihren Weg fort.
Sie näherten sich dem blauen forensischen Zelt, dessen Eingang auf der von ihnen abgewandten Seite lag. Sands umrundete das Zelt, ohne zu zögern, um zu sehen, was es verbarg.
Es war ein grauenvoller Anblick. Auf den größeren Steinen, aus denen dieses Ende des Strandes bestand, lag die Leiche eines jungen Mädchens. Sie war bis auf ihre Unterwäsche nackt und ihr bloßer Körper war zerschunden und verdreht. Ihre Brust war aufgeschlitzt worden, sodass ihre gesamte Vorderseite eine einzige, leuchtend rote Sauerei war. Der obere Teil war verwirrend, aber nach unten hin konnte Sands die Eingeweide, ihren Magen und ihre Nieren, erkennen. Sands spürte, wie ihr eigener Magen sich zusammenzog, und wandte schnell den Blick ab.
Einen Moment lang starrte sie auf den gekrümmten Rücken des Rechtsmediziners. Er kniete neben der Leiche, fast so, als würde er in einer Art perversem Ritual beten. Aber dann warf sie noch einmal einen genaueren Blick auf die Leiche und zwang sich, die Details zu erfassen. Details waren wichtig.
Das Haar des Opfers war blond, aber fast komplett von Blut verdunkelt – irgendwo musste eine Kopfverletzung sein, die nicht gleich ersichtlich war. An manchen Stellen war es mit halb eingetrocknetem Blut verfilzt, aber an anderen Stellen war es hinter ihr aufgefächert. Absichtlich so arrangiert? Sie ging näher ran, um die Brust des Mädchens genauer zu betrachten, um zu sehen, was dort nicht ganz stimmte.
„Mein Gott.“ Sands fuhr herum und sah, wie Golding die Leiche anstarrte, das Gesicht voller Abscheu verzogen. Sands musterte ihn lange genug, um zu erkennen, ob er sich übergeben musste, aber er schien sich unter Kontrolle zu haben, also drehte sie sich wieder um.
Sands schaute sich am restlichen Tatort um. Ein paar andere Mitarbeiter der Spurensicherung arbeiteten ruhig vor sich hin, fotografierten und filmten Beweisstücke, suchten mögliche Hinweise und maßen sorgfältig Entfernungen. Abgesehen von der Leiche schien nichts offensichtlich fehl am Platz zu sein.
Sie ging weiter in das Zelt hinein, wobei sie darauf achtete, wo sie ihre Füße hinsetzte, und murmelte: „Doktor Bhatt“, als sie die Leiche erreichte und neben dem Forensiker in die Hocke ging. Der Geruch von Fleisch hing in der Luft, wie in einer Metzgerei.
„DCI Sands“, erwiderte er, drehte sich kurz zu ihr um und hob die Augenbrauen über den silbernen Rahmen seiner Brille. Er nahm die Anwesenheit von Golding zur Kenntnis, erkundigte sich jedoch nicht nach seinem Namen. „Ich würde ja sagen, es ist schön, Sie zu sehen, aber …“ Dr. Bhatt war indischer Abstammung und man konnte immer noch den Akzent hören.
Sands erwiderte nichts.
„Mit den Fotos sind wir fertig, also beginne ich jetzt mit der physischen Untersuchung. Möchten Sie hören, was wir bisher gefunden haben?“
„Ja.“ Sands fischte ein digitales Diktiergerät aus ihrer Tasche. „Nur zu.“
Dr. Bhatt widmete sich wieder seiner Arbeit. Mit seinen behandschuhten Fingern berührte er das Gesicht des Mädchens, tastete die glatte Haut ab, schob die Muskeln herum, als ob er jeden einzelnen fachmännisch identifizieren und überprüfen würde. Während er dies tat, schien sich der Gesichtsausdruck des Mädchens zu verändern. Für eine Sekunde konnte Sands sich vorstellen, wie das Mädchen lebend ausgesehen haben könnte, lächelnd oder stirnrunzelnd. Aber der Ausdruck wirkte nie vollständig – es fehlte etwas, ein Leuchten in den Augen.
Bhatt ließ von seiner Untersuchung ab und wippte auf den Fersen zurück. Er holte tief Luft.
„Es sind dreierlei Arten von Verletzungen zu erkennen“, begann er mit seiner melodischen Stimme. „Sie wurde erdrosselt. Und wir haben beträchtliche Verletzungen am Hinterkopf, hier.“ Er zog den Kopf leicht nach vorne, um sie ihnen zu zeigen. „Und dann sind da noch der Bauch und die Brust.“ Er deutete mit dem behandschuhten Finger darauf, dessen Spitze rötlich feucht glänzte. „Das ist eigentlich alles eine einzige Wunde beziehungsweise eine Reihe von Wunden. Das sind sowohl Stich- als auch Schnittwunden, und sie sind sehr tief.“ Er wies auf weiße, zertrümmerte Knochenfragmente. „Mehrere ihrer Rippen sind gebrochen und alle lebenswichtigen Organe sind stark beschädigt.“ Er hielt kurz inne. „Und dann ist da noch das hier.“ Er deutete auf etwas Rosafarbenes, das kein natürlicher Teil der Innereien des Mädchens war.
„Was ist das?“ Sands beugte sich vor.
„Ich werde es hier nicht entfernen, aber es sieht sehr nach einer Puppe aus.“
„Einer Puppe?“
„Ganz richtig. Wenn Sie sich diese Stelle ansehen, können Sie einen Arm erkennen. Das hier ist ein Bein. Der Kopf scheint direkt in die Brustkammer gestoßen worden zu sein.“
Jetzt, da sie es gesehen hatte, konnte Sands es nicht mehr nicht sehen. Es sah grotesk, aber auch fast schon komisch aus, als würde sich die Puppe mit dem Kopf voran in den Körper des Kindes graben.
„Das ist so eine, die man aufwärmen kann“, warf Golding plötzlich ein, und Sands sah überrascht zu ihm auf. „Die Puppe. Die sind mit so einer Art Bohnen gefüllt. Man legt sie in die Mikrowelle, und sie bleiben heiß.“
„Danke.“ Seine Unterbrechung hatte sie überrascht. Das hätte ihr selbst auffallen müssen. Sie drehte sich wieder um. „Wie könnte sie dorthin gekommen sein?“, fragte sie den Rechtsmediziner.
„Schwer zu sagen. Sie scheint unbeschädigt, also wurde sie wahrscheinlich nach Zufügen der Stichwunden in den Körper gesteckt.“
Sands betrachtete die Szene ein paar Sekunden lang. Trotz des Grauens, das der Anblick auslöste, half es ihr, das, was sie sah, in seine Einzelteile zu zerlegen. Eine Leiche. Eine Puppe. Ein Rätsel, wie sie dorthin gekommen waren.
„Könnte sie gegen die Wunde gedrückt und hineingepresst worden sein?“
Der Rechtsmediziner drehte sich zu ihr um. Offensichtlich verstand der nicht, worauf sie hinauswollte.
„Wie eine Kompresse? Ein Versuch, die Blutung zu stoppen? Entweder von dem Mädchen oder von jemand anderem?“
Dr. Bhatt zögerte. „Ich schätze, es wäre möglich. Aber nicht von ihr, nicht mit diesen Verletzungen. Und zu diesem Zeitpunkt wäre es schon viel zu spät gewesen, um sie zu retten.“
„Und es ist ausgeschlossen, dass sie es selbst getan haben könnte?“, hakte Sands nach. „Dass sie die Puppe fest umarmt hat, nachdem sie erstochen worden war?“
Diesmal schüttelte der Forensiker entschieden den Kopf. „Nicht bei diesem Ausmaß an Gewebeschäden.“
Sands beugte sich noch näher ran, um das dunkle Loch in der kleinen Brust des Mädchens genauer zu untersuchen, in dem die Puppe halb vergraben war. Ihre Nasenlöcher füllten sich mit dem ausströmenden Geruch, und sie wich ein wenig zurück.
„Diese Verletzungen, sind sie hier entstanden? Oder wurde sie anschließend hierhergebracht?“
„Der Menge an Blut hier vor Ort nach zu urteilen, ist sie wahrscheinlich hier gestorben.“
Sands stellte dies nicht infrage und fuhr fort. „Was ist mit ihrem Alter?“
Der Rechtsmediziner holte noch einmal tief Luft, bevor er antwortete. „Ich würde sagen …“, setzte er an, beugte sich dann aber vor, drückte den Unterkiefer des toten Mädchens nach unten und schob mit dem Daumen die Zunge beiseite. So konnte er seine anderen Finger vorsichtig hineinstecken.
„Sie hat beide seitlichen Schneidezähne im Unterkiefer.“ Er hielt inne und beugte sich weiter nach unten, sodass er leichter nach oben in ihren Mund schauen konnte. „Aber die oberen sind schon ausgefallen. Ausgehend davon und von ihrer Größe würde ich ihr Alter auf sieben bis neun schätzen.“
„Zeitpunkt des Todes?“
Der Rechtsmediziner zog seine Hände heraus, antwortete aber nicht sofort. Er sah unbehaglich aus. „Die Spanne wird größer sein, als Ihnen lieb ist.“
„Warum?“
„Das Loch in ihrem Unterleib. Ihre Temperatur ist immer noch höher als die Umgebungstemperatur, was bedeutet, dass sie vor weniger als vierundzwanzig Stunden gestorben ist, aber wenn man es noch weiter eingrenzen will …“ Er hielt inne und dachte nach. „Mit offenem Brustkorb wird sie schneller ausgekühlt sein als normal, aber wie viel schneller? Das ist schwer zu sagen. Außerdem ist sie jung. Die Normaltemperatur von Kindern ist weniger einheitlich.“ Er zuckte mit den Schultern.
„Was ist mit den Totenflecken?“
„Sie sind fortgeschritten, sowohl im Gesicht als auch in den Gliedmaßen, aber auch das lässt einen großen Spielraum zu, aus ähnlichen Gründen.“
„Von welchem Spielraum sprechen wir hier?“
Der Gesichtsausdruck des Forensikers wirkte gequält. Er dachte eine Weile nach und seufzte dann. „Die beste Schätzung, die ich Ihnen anbieten kann, ist, dass sie seit zehn bis siebzehn Stunden tot ist.“
Sands warf einen Blick auf die Uhr und rechnete zurück. „Das würde bedeuten, dass der Tod gestern zwischen achtzehn Uhr und Mitternacht eingetreten ist?“
Bhatt zögerte. „Wenn Sie das sagen; Ihre Rechenkünste sind besser als meine.“
Sands ignorierte die Bemerkung und sah sich um. Sechs Uhr abends. Im Februar. Der Strand war zu diesem Zeitpunkt bereits dunkel, vielleicht noch ein kleines bisschen Licht, während die Sonne im Meer versank. Hatte der Mond geschienen? Sie dachte an ihren Spaziergang am gestrigen Abend zurück; es war bewölkt gewesen, nur eine hauchdünne Mondsichel. Sie warf Golding einen Blick zu, ohne sich etwas dabei zu denken, aber er überraschte sie damit, dass er ihre Gedanken zu lesen schien. „Ein bisschen Licht aus dem Dorf fällt auf den Strand, aber nicht bis hier hinten.“
Sie nickte und wollte sich gerade abwenden, als sie es sich anders überlegte. „Wie beliebt ist dieser Ort?“
Wieder schien Golding genau zu wissen, was sie meinte. „Tagsüber ist hier viel los. Aber nachts … Der einzige Weg hierher ist, am Strand entlangzugehen, wie wir es getan haben, oder von den Hügeln herunterzuklettern. Ich würde vermuten, dass derjenige, der sie hierhergebracht hat, den Strand für sich allein hatte.“
Sands nickte nachdenklich und wandte sich wieder an den Rechtsmediziner. „Womit wurde sie erstochen?“
Bhatt schüttelte den Kopf. „Mit irgendeiner einzelnen Klinge. Einer Art Messer, würde ich vermuten. Die Wunden sehen relativ sauber aus, ohne offensichtliche Fremdkörper. Abgesehen von der Puppe. Aber sobald ich sie im Labor habe, werden wir mehr wissen.“
„Gibt es irgendwelche Anzeichen für sexuellen Missbrauch?“
„Ja.“
Sands zeigte kaum eine Reaktion. „Vor oder nach ihrem Tod?“
„Beides.“
„Sperma?“
Der Forensiker schüttelte den Kopf. „Nein. Tut mir leid. Und ich glaube auch nicht, dass wir welches finden werden. Es ist zwar noch früh, aber ich würde sagen, wer auch immer das getan hat, war vorsichtig.“
Sands seufzte. „In Ordnung“, sagte sie schließlich. Ihre Beine brannten vom Hocken. „Sonst noch was?“
„Noch nicht. Aber ich werde Sie auf dem Laufenden halten.“ Bhatt seufzte. „Ach ja, eine Sache habe ich vergessen. Sie hat ein Muttermal.“ Er beugte sich wieder vor und zeigte ihnen einen kleinen Fleck auf der Wange des Mädchens. „Das sollte helfen, sie zu identifizieren.“
Sands betrachtete es schweigend, dann zückte sie ihr Handy und machte eine Nahaufnahme des Mals, bevor sie dem Arzt dankte und aufstand. Sie verließ das Zelt, dicht gefolgt von Golding.
Ein paar Augenblicke lang starrte sie auf die wunderschöne, geschwungene Bucht. Die paar Steinhäuser, die den Übergang von Dorf zu Bucht bildeten, lagen jetzt auf der anderen Seite des Wassers, weit weg von ihnen.
„Woran denken Sie?“ Goldings Frage riss sie aus ihren Gedanken.
„Wie bitte?“
„Woran denken Sie?“, wiederholte er. Seine Stimme war immer noch ernst, sein Gesicht blass. Ihr fiel wieder ein, dass er sie eigentlich bei der Arbeit beobachten sollte, und obwohl sie sich über die Unterbrechung ärgerte, antwortete sie.
„Ich frage mich, warum wir noch nichts von den Eltern gehört haben“, antwortete Sands. „Sie sieht nicht wie eine Ausreißerin aus. Ihr Haar ist sauber und abgesehen von ihren Verletzungen sieht sie aus, als hätte man sich gut um sie gekümmert. Warum haben wir dann nichts von ihnen gehört? Was sind das für Eltern, die nicht bemerken, dass ihr Kind verschwunden ist?“
Golding wurde durch Sands’ Telefon daran gehindert, zu antworten. Es war Sergeant Sinclair.
„Ja.“
„Es kam gerade eine Meldung rein, Ma’am. Ein vermisstes Mädchen.“
Sands warf Golding einen bedeutungsvollen Blick zu. „Alter und Beschreibung?“
„Acht Jahre alt.“ Es gab eine Pause. „Schlanke Statur, blondes Haar.“
„Irgendwelche charakteristischen Merkmale?“
„Ja, sie hat ein Muttermal auf ihrer linken Wange.“
Sands spürte, wie eine seltsame Kälte über ihr Gesicht kroch. Sie blickte zu dem toten Mädchen hinüber, das immer noch nah genug war, um den leeren Blick in ihren Augen zu erkennen.
„Wie ist ihr Name?“, fragte sie mit lebloser Stimme.
„Slaughter, Ma’am. Emily Slaughter.“
Hallo, Emily, dachte Sands. Es tut mir leid, dass dir das zugestoßen ist. Sie schwieg ein paar Sekunden lang. „Okay. Wer hat es gemeldet?“
„Die Eltern, Ma’am. Sie sagen, sie sind heute Morgen aufgewacht und das Mädchen war nicht in seinem Bett.“
„Warum haben sie so lange gebraucht, um es zu melden?“, fragte Sands, aber sie beschloss gleich darauf, dass diese Frage es nicht wert war, gestellt zu werden. Zumindest noch nicht. „Ist auch egal. Ist jemand bei ihnen?“
„Nein, Ma’am. Sie meinten, ich solle Ihnen sofort Bescheid sagen. Soll ich jemanden hinschicken?“
„Wohnen sie in der Nähe? Ich würde ihre Reaktion lieber aus erster Hand sehen.“
„In der Tat, Ma’am, ja. Wenn Sie zu diesem Ende des Strandes zurückschauen …“ Sands war kurz davor, Sinclair anzuschreien, er sollte ihr einfach die Adresse geben.
„Ja?“
„Sehen Sie die kleine Klippe links von unserem Treffpunkt?“
„Ja.“
„Da oben stehen ein paar Häuser.“
„Das sehe ich.“
„Es ist eines davon. Das letzte, Ma’am. Das viereckige.“
Sands starrte es an. Es war weit genug entfernt, dass es die Größe einer Streichholzschachtel hatte, und doch in Sichtweite der Leiche. Sie fragte sich, ob sie jetzt gerade zusahen, ob sie das Blau des forensischen Zeltes erkennen konnten und wussten, welche Gräuel es beinhaltete.
„Die Mutter hat angerufen“, fuhr Sinclair fort. „Ihr Name ist Janet Slaughter. Sie ist mit ihrem Mann Rodney dort. Anscheinend ist sie völlig außer sich. Soll ich jemanden hinschicken?“
„Nein.“ Sands gab dem Rechtsmediziner ein Zeichen, dass sie aufbrachen, und bedeutete Golding, ihr zu folgen. „Nein, wir sind schon auf dem Weg.“
Sands beendete das Gespräch und wollte Golding gerade erzählen, was sie erfahren hatte, als er fragte: „Hat er Rodney Slaughter gesagt?“
Sands warf ihm einen Blick zu. „Kennen Sie ihn?“
„Ich habe von ihm gehört.“ Golding drehte sich nun um und blickte auf die entfernten Häuser auf den Klippen. Trotz der Entfernung war es klar, dass sich das Haus deutlich von seinen Nachbarn unterschied. Ein modernes Gebäude, das irgendwie fehl am Platz wirkte.
„Das hat jeder hier“, fuhr Golding fort. „Es gibt alle möglichen Vorschriften gegen neue Gebäude in dieser Gegend, aber dann bekommt dieser Typ die Erlaubnis, dieses riesige Ding da zu bauen. Man munkelt, dass Geld den Besitzer gewechselt hat. Eine Menge Geld.“
Als Sands nichts erwiderte, fügte Golding hinzu: „Die Einheimischen haben einen Spitznamen dafür. Weil das Haus so hässlich ist, dass es die Aussicht versaut. Also mehr oder weniger. Es hat mehr mit dem Nachnamen der Familie zu tun, nehme ich an …“ Er hielt inne, und obwohl Sands wusste, was als Nächstes kam, lief es ihr kalt den Rücken hinunter.
„Die Leute nennen es Slaughter House – das Schlachthaus.“
Vier
Sie setzten sich nebeneinander in den offenen Kofferraum des Alfas und zogen ihre Schutzanzüge aus.
„Wie viele Todesnachrichten haben Sie schon überbracht?“, fragte Sands und durchbrach damit das Schweigen, das seit dem Verlassen des Leichenfundortes herrschte.
„Einige.“ Er nickte. „Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber ich habe auch eine sensible Seite.“ Er lächelte bitter.
Als Antwort schnauzte sie ihn an. „Sie sind Polizist, kein Therapeut. Wenn Kinder unter zehn Jahren ermordet aufgefunden werden, wurden sie in achtundfünfzig Prozent der Fälle von ihren Eltern ermordet, fast immer vom Vater. Bei weiblichen Opfern sind es sogar sechsundsechzig Prozent. Ich möchte, dass Sie alles, was Sie da drinnen sehen, genauestens beobachten. Ich möchte, dass Sie alles und jedem gegenüber extrem misstrauisch sind. Es besteht eine fast siebzigprozentige Chance, dass Sie dort dem Mörder des Mädchens begegnen.“ Sie zog sich den Schutzanzug das letzte Stück über den Fuß und knüllte ihn zusammen.
„Natürlich.“ Er nickte hastig. „Tut mir leid, Ma’am.“
Der jüngere Detective fuhr sich mit den Fingern durch das nun netzfreie Haar. Sands ignorierte ihres einfach und stieg ins Auto ein. Als Golding es ihr nachtat, sah sie ihn abwartend an, bereit den Motor zu starten.
„Was ist?“
„Anschnallen.“
Golding warf einen Blick durch die Windschutzscheibe. Die Abzweigung zum Haus lag direkt vor ihnen; es war klar, dass der Wagen nie über zwanzig Kilometer pro Stunde kommen würde.
„Verzeihung, Ma’am.“ Er schnallte sich an.
Sands fuhr langsam und stellte den Wagen in einem umzäunten Bereich vor dem großen Haus ab; dann blieben sie einen Moment sitzen und sahen zu dem eindrucksvollen Gebäude auf. Die meisten Häuser im Dorf – und sogar in der weiteren Umgebung – waren sehr traditionell. Auch wenn sie nicht so alt waren wie die Hügel, die sie umgaben, sahen sie dennoch aus, als stünden sie zumindest schon seit einem Jahrhundert oder länger dort. Das galt jedoch nicht für das Haus der Slaughters. Es war ultramodern, ein imposanter rechteckiger, fast absurd breiter Klotz. Er war so schlicht, dass er beinahe aussah wie ein aus dem Boden gewachsener Würfel. Außerdem war er eindeutig brandneu – so neu, dass er noch nicht einmal ganz fertig war. Der Abstellplatz vor dem Haus war voller Baumaterialien, einer Palette mit Ziegelsteinen und einem Minibagger.
Bevor sie noch mehr Details aufnehmen konnten, wurde die große, graue Haustür aufgerissen. Eine Frau mittleren Alters in flauschigen Hausschuhen kam auf sie zugerannt. Sands öffnete die Autotür, aber vor dem Aussteigen ermahnte sie Golding noch einmal: „Nicht vergessen: Alles, was Sie gleich sehen werden, könnte nur vorgespielt sein.“ Sie stieg aus und fragte mit erhobener Stimme: „Mrs Slaughter?“
Als die Frau bei ihnen ankam, hatte sie die Arme um sich geschlungen und ihr Gesicht war tränenüberströmt. „Haben Sie sie gefunden? Bitte sagen Sie mir, dass Sie sie gefunden haben. Am Telefon wollte man mir nichts sagen.“ Sie sprach schnell. Sie trug einen Bademantel, den sie fest um sich gewickelt hatte.
„Ich bin Detective Chief Inspector Erica Sands, und das ist mein Kollege Detective Luke Golding.“ Sie lotste die Frau zu einem provisorischen Pfad aus Pflastersplitt, der durch die unfertige Auffahrt verlief. „Wir sollten uns drinnen unterhalten.“
In ihrem Tonfall schwang genug mit, sodass die Frau verstummte und die Hand vor den Mund schlug. Wenige Augenblicke später waren kleine Schluchzer von ihr zu hören. Sands beobachtete sie teilnahmslos.
„Mrs Slaughter?“ Sie deutete auf die noch offene Haustür. Die Frau sah auf.
„Was haben Sie …?“, setzte sie an, aber Sands fiel ihr ins Wort.
„Bitte, wir sollten hineingehen.“
Janet Slaughters Lippen bebten, und sie begann wieder zu weinen, aber sie nickte und führte sie in einen kühlen, weiß gestrichenen Flur, in dem das Geheimnis des Hauses auf spektakuläre Weise enthüllt wurde. Im Inneren war es alles andere als ein Klotz, sondern bestand aus zwei Flügeln in der Form eines eckigen U, zwischen denen sich ein geräumiger Innenhof erstreckte. Jenseits der beiden Seitenteile des Gebäudes fiel das Grundstück zur Klippe hin ab, unter der sich das Meer ausbreitete.
Janet Slaughter führte sie in den linken Flügel des Hauses, der sich zu einer riesigen Wohnküche öffnete. Die hintere Wand war eine einzige Glasfront, die einen so atemberaubenden Blick auf das Meer bot, dass Sands unwillkürlich einen Moment abgelenkt war. Eine Sekunde später bemerkte sie, dass der Raum nicht leer war. Ein Mann in schwarzen Jeans und einem schwarzen Hemd, das dieselbe Farbe hatte wie seine Haare, erwartete sie dort.
„Mr Slaughter?“ Sands wandte sich von der Aussicht ab, um ihn genauer zu mustern. Während die Mutter kurz vor der blanken Verzweiflung zu stehen schien, wirkte er ruhig und reserviert. Fast schon unnatürlich, dachte Sands. Sie warf Golding einen Blick zu. Sie begann, sich und Golding vorzustellen, wurde aber von Janet Slaughters Flehen unterbrochen.
„Haben Sie sie gefunden? Bitte sagen Sie mir, dass Sie sie gefunden haben!“ Aufgrund der zunehmenden Panik in ihrer Stimme wandte Sands sich wieder ihr zu. Die Frau sah aus, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen.
„Ich denke, wir sollten uns am besten setzen“, sagte Sands. Sie sah sich um und ging dann zum Esstisch. Die Platte aus grünem Glas mit winzigen Unebenheiten und Blasen im Material sah aus wie die Oberfläche eines ruhigen Meeres. Sands übernahm die Führung und zog einen schweren Stuhl heraus, der auf dicken Filzpolstern über den Marmorboden glitt. Janet Slaughter setzte sich gehorsam auf den Stuhl, und Sands zog einen weiteren für den Vater hervor. Als Rodney Slaughter Platz nahm, fielen ihr weitere Details an ihm auf. Der Siegelring an seinem Finger aus massivem Gold, die Rolex an seinem Handgelenk. Er hatte noch immer kein Wort gesprochen.
Bevor sie weitermachte, atmete Sands tief durch. Sie wusste, dass dieser Moment dem Paar bis an das Ende ihres Lebens in Erinnerung bleiben würde. Andererseits wusste sie auch, dass das Leben ihrer Tochter bereits ein Ende gefunden hatte, ein brutales noch dazu. Sie setzte sich und machte ihren Job. „Ich muss Ihnen mitteilen, dass heute Morgen eine Entdeckung gemacht wurde“, fing sie an. „Und es wurde eine Mordermittlung eingeleitet.“
Ein furchtbares Wimmern entrang sich Janet Slaughters Lippen. Rodney Slaughter verharrte vollkommen regungslos, nur die Muskeln in seinem Nacken begannen zu zucken.
„Das Opfer ist ein junges Mädchen, und wir schätzen ihr Alter auf sieben bis neun Jahre …“
Sie wurde von Janet Slaughters Wimmern unterbrochen, das immer lauter und greller wurde, als würde sie versuchen, Sands’ Stimme zu übertönen. Als würde sie damit Sands’ Worte weniger real machen.
Aber Sands fuhr unbeirrt fort. Es brachte nichts, es hinauszuzögern. „Hat jemand von Ihnen ein aktuelles Foto Ihrer Tochter, auf dem die linke Gesichtshälfte deutlich zu erkennen ist?“ Sie ließ ihren Blick auf der Mutter ruhen, und es war offensichtlich, dass ihr die Bedeutung ihrer Bitte bewusst war. Janet kniff die Augen zu, und Sands musste ihre Frage wiederholen. „Mrs Slaughter?“
Schwerfällig und unbeholfen fummelte die Frau in der Tasche ihres Morgenmantels herum und zog ein iPhone heraus. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie eine Weile brauchte, bis sie ein Bild geöffnet hatte, und als sie es endlich geschafft hatte, schien sie das Handy nur widerwillig auszuhändigen. Sands streckte die Hand aus, um die Sache zu beschleunigen.
Das Foto zeigte das Mädchen auf dem Strand unterhalb des Hauses, in einen warmen Wintermantel eingepackt, halb lächelnd, halb in die Sonne blinzelnd. Es sah glücklich aus. Wohlgenährt und voller Leben, von dem noch so viel vor ihm lag. Sands schaltete ihre Gefühle aus und vergrößerte das Bild, sodass das Gesicht den ganzen Bildschirm ausfüllte. Sie versuchte, den Gesichtsausdruck des Mädchens zu ignorieren, und konzentrierte sich stattdessen auf die linke Seite, den kleinen Makel in Form eines Muttermals. Das seltsame, kalte Gefühl überkam sie wieder. Die distanzierte Leere der Trauer eines anderen Menschen. Sie versuchte, Abstand von dem zu gewinnen, was sie gleich sagen würde, damit sie Janet und Rodney Slaughters Reaktion besser analysieren konnte.
„Einer von Ihnen muss erst noch eine formelle Identifizierung vornehmen. Aber das Opfer, das heute Morgen gefunden wurde, hat ein Muttermal, das genau mit dem übereinstimmt, das Sie mir soeben gezeigt haben.“
Das Wimmern von Janet Slaughter, das nie aufgehört hatte, steigerte sich nun zu einem regelrechten Schreckensgeheul. Kurz darauf schnappte sie wiederholt nach Luft, schien aber nicht genug Luft zu bekommen. Sie drehte sich zu ihrem Mann um, und kurz dachte Sands, sie würde ihn umarmen, doch stattdessen begann sie, mit ihren Fäusten auf seine Brust einzuschlagen, bis er schließlich ihre Arme ergriff und sie in eine enge Umarmung zog. Auch er rang um Atem, aber er presste die Panik mit mehr Kraft und Geschick aus seiner Frau heraus, als Sands erwartet hatte. Doch dann lockerte er seinen Griff. Janets Schluchzen hielt an, aber wenigstens saß sie still.
„Das muss ein Irrtum sein.“ Er ergriff zum ersten Mal das Wort. Seine Stimme war sehr tief. „Es ist nicht möglich …“
Sands wartete ab, ob er den Satz beenden würde, und antwortete erst, als klar war, dass er das nicht tun würde. „Ich habe sie auch auf dem Foto wiedererkannt. Ich fürchte, es besteht kein Zweifel.“
Janet Slaughters Wehklagen schwoll erneut an und brachte Sands zum Schweigen. Es schien an sie gerichtet zu sein, aber als sie nichts sagte, wandte Janet sich stattdessen an Golding, der immer noch stand. Mit ihren Augen flehte sie ihn an, bis er ganz leicht den Kopf schüttelte. „Es tut mir sehr leid, Mrs Slaughter“, sagte er, dann sah er ihren Ehemann an und nickte ihm zu.
Sands schaute ihm dabei mit leicht gerunzelter Stirn zu. Dann sah sie wieder die beiden Slaughters an. Janets Augen waren unfokussiert, aber Rodney blickte Sands direkt an, als meinte er, sie unbemerkt beobachten zu können. Er wandte seinen Blick bald wieder ab, aber nicht bevor ihr auffiel, dass seine Augen fast vollkommen schwarz waren.
Einige Augenblicke lang war Janet Slaughters schmerzerfülltes Stöhnen das einzige Geräusch. Trotz seiner Größe erfüllte ihr Wehklagen den gesamten Raum, und Sands hatte keinen Zweifel daran, dass ihr Schmerz echt war. Doch das bedeutete noch lange nicht, dass sie ihre Tochter nicht getötet hatte, sondern nur, dass die Realität des Todes des Mädchens sie erschütterte.
Sands wartete, bis sie bereit waren weiterzumachen, und nutzte die Zeit, um sich noch einmal im Raum umzusehen. Ihr stach die Dekoration ins Auge – beziehungsweise die fehlende Dekoration. Der Raum war weiß gestrichen, die Möbel waren minimalistisch und offenkundig teuer. Es waren keine Familienfotos zu sehen. Kein Spielzeug auf dem Boden. Es wirkte nicht, als würde hier ein Kind leben.
„Mr Slaughter, Mrs Slaughter“, sagte Sands, als das Wehklagen der Mutter ein wenig abgeklungen war. „Ich weiß, wie schwierig das für Sie sein muss, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen, und ich muss sie Ihnen jetzt stellen. Wer auch immer Ihrer Tochter das angetan hat, je schneller wir mit der Suche beginnen können, desto besser stehen die Chancen, ihn zu finden.“ Sie legte ihr Diktiergerät auf den Tisch und zog ein Notizbuch hervor, dann klickte sie mit ihrem Kugelschreiber, um zu signalisieren, dass sie keine andere Wahl hatten.
Janet Slaughter wimmerte weiterhin, aber sie nickte auch und schien sich an den Worten als eine Aufgabe festzuklammern. Rodney Slaughters Miene war ausdruckslos, seine schwarzen Augen undurchdringlich.
„Mich irritiert, dass wir Ihre Tochter gefunden haben, bevor Sie sie als vermisst gemeldet haben. Können Sie mir sagen, wann Sie sie zuletzt gesehen haben?“
Janet Slaughter antwortete: „Gestern Abend.“ Ihre Stimme klang dünn und brach bei jedem Wort. „Sie fühlte sich nicht gut, und wir hatten Besuch, also habe ich sie früh ins Bett gebracht. Und heute Morgen … Ich dachte, sie wäre auf und würde in ihrem Zimmer fernsehen, aber sie … war nicht dort. Und dann nahm ich an, sie würde draußen spielen, aber ich konnte sie nirgends finden … Da habe ich …“ Sie brach wieder in Schluchzen aus. „Da habe ich angerufen.“ Dicke Tränen liefen ihr über die Wangen, doch sie wischte sie nicht weg.
Sands notierte sich ihre Antwort, bevor sie aufstand und zum Fenster ging, das den Innenhof zwischen den beiden Flügeln des Hauses überblickte.
„Das Haus ist verkehrt herum aufgebaut, oder? Die Wohnräume sind im ersten Stock und die Schlafzimmer unten?“
„Richtig“, antwortete Rodney Slaughter.
„Also ist Emilys Zimmer im Erdgeschoss?“
„Ja.“
Sands setzte sich wieder.
„Sie hatten Besuch?“ Sie sah Janet an; es dauerte eine Weile, bis diese es merkte, aber schließlich nickte sie.
„In Ordnung, darauf komme ich gleich zurück.“ Sands sprach langsam und deutlich. „Ich muss wissen, wann Sie Emily zuletzt gesehen haben. Was haben Sie da gemacht?“
„Das war, als ich sie ins Bett gebracht habe.“
„Und um wie viel Uhr war das?“
Wieder musste sie auf eine Antwort warten.
„Unsere Gäste kamen um halb acht“, sagte Janet Slaughter schließlich. „Ich musste kochen. Emy wollte mir dabei helfen, aber sie … na ja, Sie wissen ja, wie Kinder sind …“ Sie hob den Kopf, in ihren Augen glitzerten Tränen. Einen Moment sah es so aus, als würde sie gleich wieder hyperventilieren, aber sie schaffte es, die Fassung zu bewahren. „Ich habe sie gebadet und ich … ich habe sie ins Bett gebracht.“
„Um wie viel Uhr war das, Mrs Slaughter?“
„Ich weiß es nicht. Gegen sieben, glaube ich.“
„Könnten Sie etwas genauer sein? Jedes Detail könnte von Bedeutung sein.“
Die Mutter zögerte. „Es war auf jeden Fall um sieben herum. Vielleicht kurz nach.“
Sands wandte sich an ihren Ehemann. „Mr Slaughter? Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?“
Aber er schüttelte den Kopf, fast so, als würde er die Frage abtun. „Ich … ich habe sie nicht gesehen. Ich habe … den ganzen Nachmittag gearbeitet.“ Er warf seiner Frau einen Blick zu, die zu sehr in ihrem eigenen Elend versunken war, um es zu bemerken – im Gegensatz zu Sands.
„Wo haben Sie gearbeitet?“
„Ich habe ein Büro. In Dorchester.“
„Ich habe nicht gefragt, was Sie haben, ich habe gefragt, wo Sie waren.“
Rodney Slaughters Gesicht wurde rot, als würde er sich über Ihren Tonfall beschweren wollen, aber er hielt sich zurück. „In meinem Büro. In Dorchester.“
„Und Sie sind direkt nach der Arbeit nach Hause gekommen?“
„Ja.“
„Um wie viel Uhr war das?“
Er schüttelte den Kopf. „Gegen halb acht. Emily war schon im Bett.“
„Ich wiederhole: Es wäre hilfreich, wenn Sie so präzise wie möglich sein könnten. Wann genau sind Sie hier angekommen?“
Rodney Slaughter holte tief Luft und stieß sie dann wieder aus. „Ich weiß es nicht ganz genau. Es war ungefähr um halb acht. Glaube ich.“ Er zuckte leicht mit den Schultern.
Sands musterte ihn einen Moment. „Wir können das mit den Daten Ihres Mobiltelefons überprüfen.“ Es war als Warnung gemeint, aber in seinem Gesicht zeichnete sich keine Reaktion ab. Sie fuhr fort: „Und Sie haben nicht nach Ihrer Tochter gesehen, als Sie nach Hause gekommen sind? Ist das normal?“
Rodney Slaughter versteifte sich erneut, sein Kiefer war fest zusammengepresst. „Sie war schon eingeschlafen, als ich nach Hause kam. Und wir erwarteten Gäste. Ich musste mich fertig machen.“ Er fuhr sich mit der Hand über das nach hinten gegelte Haar. Sands entging nicht, dass seine Hand leicht zitterte und wie er sie mit der anderen Hand ergriff, um sie ruhig zu halten. Sie sah in seine Augen, auf der Suche nach dem Grund dafür. Er überraschte sie damit, dass er ihr ebenfalls in die Augen sah.
„Okay.“ Sands wandte den Blick als Erste ab, leicht verunsichert. Sie wandte sich wieder Janet Slaughter zu, musste allerdings ihre bisherigen Notizen überfliegen, bevor sie entschied, was sie als Nächstes fragen wollte.
„Nachdem Sie sie ins Bett gebracht haben, haben Sie sie danach noch einmal gesehen oder gehört?“ In ihrer Stimme lag ein forscher Ton, während Janet Slaughters Antwort stockend und kraftlos ausfiel.
„Nein.“
„Haben Sie irgendetwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört? Geräusche? Lichter im Freien, die normalerweise nicht zu sehen sind?“
„Nein.“
„Keiner von Ihnen?“ Sie wandte sich wieder an Rodney Slaughter.
„Nicht dass ich wüsste.“
Sands trommelte mit den Fingern auf die glänzende, glatte Glasoberfläche des Tisches.
„Wer waren Ihre Gäste?“, wechselte sie das Thema. „Sie sagten, Sie hatten Besuch?“ Sie richtete die Frage nicht an jemand Bestimmten, aber Rodney Slaughter antwortete.
„Steven Wade und seine Frau Dorothy.“ Er sah anscheinend, dass ihnen die Namen allein nichts sagten. „Das heißt, Bürgermeister Wade. Wir haben uns angefreundet, seit wir hierhergezogen sind. Sie wollten das Haus sehen, jetzt, wo wir eingezogen sind.“
„Ich brauche ihre Nummer.“
Rodney Slaughter zog ein Handy aus der Hosentasche. Er tippte darauf herum, dann hielt er es Sands hin, sodass sie die Nummer auf dem Bildschirm sehen konnte.
„Um wie viel Uhr sind die Wades eingetroffen?“
„Um kurz vor acht. Sie haben angerufen, dass sie sich verspäten werden.“
„Und um wie viel Uhr sind sie wieder gegangen?“
Rodney überlegte kurz. „Spät, aber nicht extrem spät. Kurz vor Mitternacht.“
„Haben die Wades Emily gesehen?“
„Nein. Sie war schon im Bett.“
„Was haben Sie gemacht, während sie hier waren?“
Rodney Slaughter starrte sie an, als wäre diese Frage vollkommen verrückt. „Wir haben zu Abend gegessen. Wir haben geredet.“
„Worüber?“
„Das Übliche. Über was man bei Dinnerpartys eben so redet.“
„Ich gehe nicht zu Dinnerpartys, und auf dieser war ich ganz sicher auch nicht. Also worüber haben Sie geredet?“
Slaughter sah sie finster an, dann seufzte er. „Wir haben uns über das Haus unterhalten. Und über … Politik. Bürgermeister Wade ist ein prominentes Mitglied der örtlichen Konservativen. Wir haben die Möglichkeit besprochen, dass ich der Partei eine kleine Spende zukommen lasse.“
Sands erinnerte sich an Goldings Worte und überlegte, ob sie nachfragen sollte, ob die Spende etwas mit der Baugenehmigung zu tun hatte, entschied sich dann aber dagegen.
„Haben Sie die Wades herumgeführt?“
„Wie bitte?“
„Sie haben gesagt, sie wollten das Haus sehen, jetzt, da Sie eingezogen sind. Und doch sind sie gekommen, als es schon dunkel war. Haben Sie ihnen das Haus gezeigt?“
„Nicht direkt. Sobald wir ins Gespräch gekommen waren, verging die Zeit wie im Flug.“
„Sind sie nach unten gegangen?“
„Nein, sie waren nur … hier.“
„Sind sie auf die Toilette gegangen?“
„Wie bitte?“
„Sie waren fast vier Stunden lang hier. Mussten sie kein einziges Mal urinieren?“
„Ich nehme an, schon, ich weiß es nicht mehr. Es gibt oben eine Toilette, im Flur.“ Er zeigte auf die Tür, und Sands notierte sich die Position.
„Was haben Sie getrunken?“, fragte sie als Nächstes.
Rodney Slaughter runzelte die Stirn, antwortete jedoch: „Ein paar Flaschen Rotwein, aber ich trinke seit einiger Zeit nicht mehr so viel. Die Frauen haben Chardonnay getrunken.“
Sands stand auf und ging in den Küchenbereich, wo ordentlich gestapelt die Flaschen lagen, bereit zum Recyceln.
„Sind die von gestern Abend?“
„Nicht alle.“
Sands sah sich die Flaschen genauer an, dann setzte sie sich wieder an den Tisch. „Was haben Sie gemacht, nachdem die Wades weg waren?“
Die Frage war an Janet Slaughter gerichtet, aber sie war in keiner Verfassung, zu antworten, daher ergriff Rodney wieder das Wort. „Meine Frau ging direkt ins Bett. Ich habe ein wenig aufgeräumt, den Geschirrspüler beladen. Dann bin ich auch ins Bett gegangen.“
Sands hakte bei Janet nach. „Sie haben nicht nach Ihrer Tochter gesehen?“
Die Frau schien eine Energiereserve ganz tief in ihr anzuzapfen, um antworten zu können. Als sie den Kopf hob, war ihr Gesicht eine Maske des Elends. „Normalerweise tue ich das … aber …“ Es war ihr scheinbar unmöglich, fortzufahren.
„Aber was?“, beharrte Sands, fast schon ungeduldig.
„Ich weiß auch nicht. Ich war … müde. Normalerweise sehe ich nach ihr, aber es war spät …“
Janet Slaughter brach aufs Neue in Tränen aus, und wieder starrte Rodney seine Frau einfach nur an. Sein Gesicht war weiß und er atmete schwer.
Sands wandte sich an ihn. „Wie lange haben Sie noch aufgeräumt?“
„Keine Ahnung. Vierzig Minuten?“
„Dann sind Sie auch ins Bett gegangen? Auch ohne nach Emily zu sehen?“
„Richtig.“
Sands dachte nach. „Hat Ihre Frau geschlafen? Als Sie sich hingelegt haben?“
„Ja.“ Rodney Slaughter zögerte einen Moment. „Wobei, nicht ganz. Sie ist kurz aufgewacht. Ich weiß noch, dass sie auf ihr Handy geschaut hat, vermutlich um zu sehen, wie spät es ist.“
Sands warf Janet, die anscheinend nicht zugehört hatte, einen Blick zu. „Sind Sie aufgewacht? Als Ihr Mann ins Bett kam?“
Sie wirkte desinteressiert, vollkommen von ihrer Trauer eingenommen. Aber irgendwann reagierte sie doch auf die Frage mit einem halben Schulterzucken und halben Nicken.
„Wie viel Uhr war es?“
Sie antwortete mit schwacher Stimme: „Ich glaube, es war kurz nach eins.“
Sands ging noch einmal ihre bisherigen Notizen durch, dann stand sie wieder vom Tisch auf und ging zur Fensterfront am Ende des Raums, weit genug vom Paar entfernt, dass sie sie nicht hören konnten. Sie holte ihr Handy heraus und wählte eine Nummer. Etwa eine Minute lang sprach sie leise in den Hörer, bevor sie das Telefon wieder wegsteckte und sich zu den anderen umdrehte. Janet schluchzte wieder leise vor sich hin. Rodney saß stocksteif auf seinem Stuhl, sein Gesicht eine undurchdringliche Maske. Golding stand beinahe genauso steif neben dem Tisch. Sands betrachtete sie alle eine Weile, dann gesellte sie sich wieder zu ihnen. „Ich würde jetzt gerne einen Blick in Emilys Zimmer werfen“, sagte sie.
Keiner der Slaughters rührte sich, also sprach Sands erneut. „Ich möchte, dass wir alle gemeinsam gehen, bitte“, beharrte sie und wartete, bis das Paar sich aufgerappelt hatte. „Es ist überaus wichtig, dass niemand von Ihnen irgendetwas anfasst. Absolut gar nichts. Bitte zeigen Sie mir einfach, wo das Zimmer ist.“
Rodney Slaughter ging voran zurück in den Flur zu einer großen Treppe, die nach unten führte. Sands folgte ihm die breiten, auf Hochglanz polierten Betonstufen hinunter, wobei ihr auffiel, wie riesig er war; sein breiter, kräftiger Rücken füllte fast das gesamte Treppenhaus aus. Janet Slaughter ging hinter Sands, und Golding bildete das Schlusslicht. Im unteren Stockwerk wirkte das Haus weniger imposant. Es gab nur einen Gang, der entlang der Rückwand verlief und von dem mehrere Zimmer abgingen, und eine Tür ganz am Ende schien ins Freie zu führen. Rodney Slaughter ging den Gang entlang und blieb vor einem der Zimmer stehen. Er streckte die Hand aus. „Das ist Emys …“
Sands’ Arm schnellte vor, um ihn zurückzuhalten. „Bitte nichts anfassen.“ Sie ließ ihre Hand lange genug auf seinem Arm liegen, um ihn von der Türklinke wegzuschieben, aber auch, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie fest die Muskeln waren. Die Antwort überraschte sie. Dann zog sie ein weiteres Paar Handschuhe aus der Tasche. „Warten Sie bitte hier.“ Sands streifte die Handschuhe über, stieß die Tür aber dennoch mit ihrem Stift auf.
Das Zimmer von Emily Slaughter sah nicht ungewöhnlich aus für das Zimmer eines achtjährigen Mädchens. Es war sehr geräumig, aber nicht übermäßig groß. Das Bett, die Kommode und der Kleiderschrank sahen brandneu und qualitativ hochwertig aus, waren aber ebenfalls nichts Außergewöhnliches. Die Wände waren in einem hellen Rosaton gestrichen, und ein paar Spielsachen lagen auf dem Boden verstreut, doch die meisten standen ordentlich aufgereiht auf den Regalen. Es gab keine Anzeichen eines Kampfes, geschweige denn eines Mordes. Sands ging zum Bett hinüber und bemerkte, dass die Bettdecke zurückgeschlagen war, als wäre das Mädchen einfach aufgestanden. Oder als hätte sie jemand zurückgeschlagen, um das Mädchen hochzuheben. Sie spürte Golding neben sich und sah ihn an. Ihre Blicke trafen sich. Dann gingen sie beide zum Fenster.
Eigentlich war es kein Fenster, sondern eine Glasschiebetür, die in den Innenhof hinausführte. Sie registrierte das Schloss, dann den Schlüssel, der an einem Haken neben der Tür hing. Dann ging Sands in die Hocke und nahm den Teppich in Augenschein. Dafür zog sie eine Taschenlampe hervor und beleuchtete damit den Boden. Hier waren ein paar Spuren zu erkennen, winzige Schlammflecken, aber es war unmöglich, zu sagen, wann genau sie dort hingekommen waren. Sie stand auf und blickte in den Innenhof hinaus. Direkt vor der Tür befand sich ein Gehweg; dahinter war der Hof als Garten gestaltet worden. Auf der anderen Seite des Gartens erhob sich der gegenüberliegende Gebäudeflügel, unvollendet und leer. Das Gebäude erstreckte sich nicht bis ganz zum Klippenrand, daher war links eine Lücke, in der Stufen nach oben und außer Sichtweite führten.
„Wohin führen die?“, fragte sie und drehte sich zu den Slaughters um, die immer noch vor der Zimmertür warteten.
„Nirgendwohin“, antwortete Rodney. „Nur hinaus auf den Klippenpfad. Da kommt noch eine Mauer hin.“
Sands nickte und wandte sich dann wieder zu der Glastür um. Sie drückte probehalber mit ihrem Stift dagegen und stellte fest, dass sie sie ohne viel Kraftaufwand aufschieben konnte. Sie glitt fast lautlos auf. „War die Tür letzte Nacht verschlossen?“
„Natürlich“, erwiderte Rodney, aber Sands tat so, als hätte sie ihn nicht gehört. Sie wiederholte die Frage, diesmal an Janet gerichtet.
Diese stieß schluchzend eine Antwort hervor. „Ja.“
„Sind Sie sicher?“
„Ja. Ganz sicher.“
„Meine Frau ist extrem auf Sicherheit bedacht“, sagte Rodney Slaughter. „Das sind wir beide.“
„Und was ist mit heute Morgen? War da die Tür immer noch verschlossen?“
„Ich glaube schon.“ Janet schniefte. „Ich habe sie aufgesperrt, um mich im Hof umzusehen. Aber sie war nicht dort.“
Mit gerunzelter Stirn warf Sands Golding erneut einen Blick zu, dann trat sie nach draußen. Auch hier untersuchte sie sorgfältig den Boden, fand aber nichts. Dann bückte sie sich und inspizierte die Außenseite des Schlosses. Sie leuchtete mit der Taschenlampe darauf und entdeckte einen winzigen Kratzer auf der Weißmetalleinfassung. Das könnte etwas zu bedeuten haben, oder es könnte nichts zu bedeuten haben.
Sands überlegte kurz, dann ging sie wieder hinein und schloss die Tür. Sie wandte sich an Janet Slaughter. „Fehlen irgendwelche Kleidungsstücke? Oder Schuhe? Mäntel? Irgendetwas in der Art?“
Nach einer Weile schüttelte die Frau den Kopf.
Sands ließ sich das durch den Kopf gehen. „Was ist mit einer Puppe? Ist Ihnen aufgefallen, ob eine Puppe fehlt? Insbesondere so eine, die man zum Aufwärmen in die Mikrowelle legen kann?“
Bei dieser Frage schoss Janet Slaughters Kopf hoch, und sie nickte sofort. „Buddy – ich weiß nicht, ob er hier ist …“
„Hatte diese Puppe irgendeine besondere Bedeutung für sie?“
„Er war ihre Lieblingspuppe. Normalerweise legt sie ihn immer unter ihr Kopfkissen.“ Janet Slaughter wollte schon den Raum betreten, doch Golding hielt sie auf. „Vielen Dank, Mrs Slaughter. Es ist besser, wenn Sie nichts anfassen.“
Sands drehte sich zum Bett um. Selbst mit ihren Handschuhen wollte sie das Kissen nicht hochheben. Schließlich wusste sie bereits, dass die Puppe nicht dort sein würde. Sie sah sich ein letztes Mal im Zimmer um, beschloss dann aber, dass sie genug gesehen hatte. Was auch immer hier drin noch an Beweisen zu finden war, darum sollte sich am besten die Spurensicherung kümmern. Sie kehrte zurück in den Flur. „Würden Sie mir bitte wieder nach oben folgen?“
Dieses Mal ging sie voran zurück in den Hauptraum. Gerade als sie dort ankamen, klingelte es an der Tür. Sands bedeutete Golding mit einem Nicken, dass er aufmachen sollte.
Wenige Augenblicke später kehrte Golding zurück, gefolgt von einer Frau, die Sands vorstellte. „Das ist Detective Constable Carol Bookman. Sie ist eine auf Familien spezialisierte Kontaktbeamtin.“ Die Slaughters starrten den Neuankömmling stumm an. Es war, als ob die Kontrolle über ihr Haus ein natürlicher nächster Schritt war.
„Mein aufrichtiges Beileid“, sagte Bookman in einem Tonfall, der so sanft war wie ihr Gesichtsausdruck.
„Detective Bookman wird in den nächsten Stunden und Tagen als Kontaktperson zwischen uns und Ihnen fungieren.“ Sands sah zu, wie Bookman zu Janet Slaughter ging und ihre Hand in ihre nahm.
„Ich möchte, dass Sie DC Bookman ins Polizeirevier begleiten, wo wir Ihnen weitere Fragen stellen können“, fuhr Sands fort und hielt nur kurz inne, bevor sie den nächsten Punkt ansprach. „Ich habe außerdem einen Durchsuchungsbefehl für dieses Haus beantragt und erhalten, um Beweise zu sichern. Wir werden sofort damit beginnen.“ Während sie sprach, behielt sie Rodney Slaughter im Auge und registrierte, wie sich seine Augen bei dieser Ankündigung leicht weiteten.
„Das ist ein Standardvorgehen unter den gegebenen Umständen, aber ich muss Sie warnen, dass es wahrscheinlich mehrere Tage dauern wird. DC Bookman kann ein Hotel für Sie organisieren, aber wenn Sie es vorziehen, können Sie sich auch selbst eine Unterkunft suchen. Wenn Sie das machen, achten Sie bitte darauf, dass sie in der Nähe ist.“ Sie verstummte, ihr Gesicht war noch immer ausdruckslos.
„Ein Hotel?“, fragte Rodney Slaughter, und Sands, die ihn weiterhin aufmerksam beobachtete, nickte.
„Ja. Wenn Sie möchten.“
„Ich möcht…“ Er brach mitten im Wort ab. Als er wieder das Wort ergriff, wählte er ein anderes. „Ich verstehe nicht ganz. Ein Durchsuchungsbefehl? Wollen Sie damit andeuten …? Wollen Sie damit andeuten, dass Janet oder ich irgendetwas damit …? Das ist doch …“
Sands antwortete nicht sofort, sondern wählte ihre Worte sorgfältig. „Zu diesem Zeitpunkt deute ich gar nichts an. Außer dass wir Ihr Haus gründlich durchsuchen, um so viele Beweise wie möglich zu sammeln, die uns dabei helfen können, den Mörder Ihrer Tochter zu finden. Ich nehme an, dagegen haben Sie nichts einzuwenden?“
Rodney Slaughter durchbohrte sie aufs Neue mit seinen schwarzen Augen. Doch dann senkte er den Blick und nickte.
Fünf
Sands erlaubte Janet Slaughter, sich umzuziehen, allerdings nur unter dem diskreten, aber wachsamen Blick von DC Bookman, bevor das Paar zur Polizeistation in Dorchester eskortiert wurde. Die beiden Detectives warteten im Alfa, bis zwei uniformierte Beamte eingetroffen waren, deren Aufgabe es war, das Haus zu bewachen, bis die Spurensicherung kam.
„Und, was denken Sie?“, fragte Golding nach einer Weile im Auto.
Sands starrte weiterhin schweigend vor sich hin.
„Ich meine, sie hat für mich glaubwürdig gewirkt. Er? Da bin ich mir nicht so sicher.“
Sie erwiderte immer noch nichts. Stattdessen zog sie ihr Handy heraus und wählte die Nummer der Wades, die Rodney Slaughter ihr gegeben hatte. Als sich eine Männerstimme meldete, stellte sie sich vor und erkundigte sich nach seiner Adresse. Sie sah zu Golding auf dem Beifahrersitz und fragte lautlos: „Wie weit?“
„Zwanzig Minuten?“, antwortete er im Flüsterton. In diesem Moment bog ein Funkstreifenwagen in die Einfahrt ein und ein uniformierter Polizist trat an ihr Fenster heran.
„Bitte bleiben Sie, wo Sie sind, wir sind in fünfzehn Minuten bei Ihnen.“ Sands beendete das Gespräch. Dann ließ sie das Fenster herunter, gab dem Beamten ihre Anweisungen und startete den Motor.
„Und?“, versuchte Golding es erneut, als sie unterwegs waren. „Was denken Sie?“
Sie überlegte, ob sie ihn weiter ignorieren sollte, aber dann erinnerte sie sich an das Versprechen, das sie Yorke gegeben hatte beziehungsweise zu dem er sie gezwungen hatte. „Was denken Sie?“, fragte sie schließlich.
Beflügelt legte Golding los. „Sie fand ich glaubwürdig. Aber seine Reaktion wirkte seltsam.“
Da das Dorf nun hinter ihnen lag, trat Sands kräftig aufs Gas und schnitt die Kurven der gewundenen Straße, die zurück zur Hauptstraße führte. Inzwischen war klar, dass sie nicht vorhatte, ihm zu antworten.
„Ich verstehe nicht, wie sie da runterkommt“, fuhr Golding fort. „An den Strand, meine ich. Nach Sonnenuntergang an einem Winterabend.“
Sands warf einen Blick zu ihm nach links, sagte aber nichts.
„Das letzte Mal, dass sie das Mädchen lebend gesehen haben, war gestern Abend um sieben. Alle Türen sind verschlossen, es gibt keine offensichtlichen Einbruchsspuren. Wie kommt es dann, dass sie am nächsten Morgen tot am anderen Ende des Strandes liegt?“ Er schüttelte frustriert den Kopf.
„Offensichtlich gibt es nur eine begrenzte Anzahl an möglichen Szenarien. Warum fangen Sie nicht damit an, diese aufzulisten?“
„Okay. In Ordnung, warum nicht?“ Er lehnte sich zurück. „So wie ich das sehe, gibt es drei Möglichkeiten. Erstens, sie verlässt das Haus von sich aus. Sie geht zum Strand und wird dort von jemandem angegriffen …“ Er hielt inne, und Sands wartete. „Aber es ist mitten im Winter. Ich kann mir kaum vorstellen, dass eine Achtjährige sich so weit von zu Hause entfernen würde. Nicht allein. Im Dunkeln.“
„Also gut“, sagte Sands. „Was können Sie sich dann vorstellen?“
„Sie könnte durchaus von sich aus das Haus verlassen haben. Vielleicht hat sie draußen ein Spielzeug vergessen oder so und ist hinausgegangen, um es zu holen. Und dann hat sie jemand geschnappt.“
„Das wäre aber ein großer Zufall, wenn jemand gerade dann auf sie gewartet hätte.“
„Vielleicht wurde sie dann von etwas hinausgelockt? Von jemandem?“
Sands zuckte mit den Schultern.
Golding kniff die Augen zusammen und wandte den Blick ab.
„Was wäre noch eine andere Möglichkeit?“
„Also gut. Zweitens. Sie hat das Haus nicht von sich aus verlassen. Jemand ist reingekommen und hat sie entführt.“
„Wie ist diese Person hineingekommen? Alle Türen waren verschlossen.“
„Sie ist eingebrochen. Sie haben mir diesen Kratzer am Schloss gezeigt …“
„Ich habe Ihnen etwas gezeigt, das vielleicht ein Kratzer ist. Wir werden es überprüfen lassen, aber es gibt doch sicher eine einfachere Erklärung, die keinen Einbruch voraussetzt.“
Golding dachte einen Moment lang nach. „Sie waren es. Er war es.“
„Warum Rodney Slaughter und nicht Janet? Warum nicht beide gemeinsam?“
„Sie schien aufgebrachter zu sein.“
Sands raste um eine Kurve und der Kotflügel des Wagens streifte einen Brombeerstrauch. „Es könnte gespielt sein.“ Dann wechselte sie das Thema. „Da vorne ist eine Kreuzung, wohin?“
Golding sah aus dem Fenster, als wäre er überrascht, dass er in einem Auto saß. „Ähm, links.“ Er wandte sich wieder Sands zu. „Er hatte die Zeit dafür. Er hätte sich in ihr Zimmer schleichen können, während Janet am Kochen war, nachdem sie die Kleine ins Bett gebracht hat. Er hätte sie da töten und dann bis nach der Dinnerparty warten können, um sie in die Bucht zu bringen.“
„Das ist riskant. Was, wenn sie nach dem Kind sieht, wenn sie ins Bett geht?“
„Hat sie aber nicht. Vielleicht ist das normal bei ihnen?“
„Oder vielleicht auch nicht. Und sie hatte doch viel mehr Gelegenheit dazu. Vielleicht war es gelogen, dass sie sie früher ins Bett gebracht hat, und stattdessen hat sie sie getötet.“
„Und dann hat sie eine ganze Dinnerparty über sich ergehen lassen? In dem Wissen, dass sie ihr eigenes Kind getötet hat?“
Sands zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Wer auch immer das gemacht hat, ist mit ziemlicher Sicherheit ein Psychopath. Wir haben ja gesehen, wozu diese Person fähig ist.“
„Also glauben Sie, dass sie es war, nicht er?“
„Ich weiß nicht, was ich glaube. Aber ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen die möglichen Szenarien aufzählen. Sie sind noch nicht fertig.“
Golding lehnte sich zurück und dachte noch mal nach. „Okay. Die Wades? Sie könnten es getan haben …“
„Schon möglich“, erwiderte Sands, während sie viel zu schnell um einen Kreisverkehr kurvte. Dann bremste sie scharf ab, als sie den Rand der kleinen Stadt Wareham erreichten. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Siebzehn Minuten waren vergangen.
„Vielleicht finden wir das gleich heraus.“
Sechs
Der Alfa kam vor Steven und Dorothy Wades weiß gestrichenem Cottage zum Stehen. Eine Frau lugte hinter geblümten Gardinen hervor, verschwand aber sofort, als sie merkte, dass sie entdeckt worden war. Sands starrte weiter auf das Fenster, bis die Frau einen zweiten Blick riskierte und anschließend endgültig verschwand. Dann stieg sie aus dem Auto.
Der Vorgarten des Wade-Cottage war mit einem gusseisernen Tor gesichert, auf dem ein Schild darauf hinwies, dass der Haushalt keine unerbetene Post oder Werbesendungen erhalten wollte. Die Scharniere quietschten, als Sands es öffnete.
Sie ging den Pfad entlang voran, der auf der einen Seite von säuberlich geschnittenem Rasen und auf der anderen Seite von einer Auffahrt mit einem großen, makellosen, bordeauxroten Jaguar gesäumt war.
Sie brauchten nicht zu klingeln, da die Tür bei ihrer Ankunft von einem klein gewachsenen Mann in seinen späten Fünfzigern geöffnet wurde. Er trug schlecht sitzende Jeans und ein Rugby-Trikot, sah jedoch aus, als würde er sich darin nicht wohlfühlen.
„Detective Sands?“
„Detective Chief Inspector Sands“, korrigierte sie ihn. „Das ist mein Kollege Detective Golding. Sie müssen Steven Wade sein?“
Der Bürgermeister zögerte, als würde er auf seinen offiziellen Titel bestehen wollen, aber irgendetwas an Sands’ Auftreten hielt ihn davon ab. „So ist es.“
„Wir sollten hineingehen.“
Wieder zögerte er, trat dann jedoch zur Seite, sodass die beiden Detectives in den mit dickem Teppichboden ausgelegten Flur eintreten konnten. Die Wände waren mit Blumenmuster tapeziert. Die Luft roch ebenfalls nach Blumen, aber mit dem chemischen Beigeschmack eines elektrischen Lufterfrischers.
„Wir könnten in mein Büro gehen …“, setzte der Bürgermeister an, aber Sands fiel ihm ins Wort.
„Nein. Wir müssen auch mit Ihrer Frau sprechen. Ich habe gesehen, dass sie zu Hause ist.“
„Ja, natürlich. Sie ist, äh … Sie ist im Wintergarten.“
Er führte sie durch ein kleines Wohnzimmer, das vollgestellt war mit Tierfiguren und winzigen Porzellanfingerhüten. An den Wänden hingen fade Aquarelle, nur den Ehrenplatz nahm ein großes Foto von Wade in seiner zeremoniellen Bürgermeisterrobe ein.
Dorothy Wade – die Frau, die aus dem Fenster geschaut hatte – tat so, als würde sie die Mail on Sunday lesen. Als sie eintraten, heuchelte sie Überraschung und legte die Zeitung weg. Sobald sie stand, wurde ersichtlich, dass sie noch kleiner war als ihr Mann und von den beiden Detectives deutlich überragt wurde. Vielleicht weil er sich dessen bewusst war, bedeutete der Bürgermeister ihnen hastig, dass sie sich auf die geblümten Sofas setzen sollten.
„Also, worum geht es hier?“, fragte er.
„Schlechte Nachrichten“, sagte Sands an den Bürgermeister gerichtet. „Die Leiche eines Kindes wurde heute Morgen am Strand von Lulworth Cove gefunden.“
Seine Augen weiteten sich, und seine Augenbrauen hoben sich. Dorothy Wade keuchte auf und schlug die Hand vor den Mund.
„Die Identität ist noch nicht bestätigt“, sprach Sands weiter. „Aber wir glauben, dass es sich bei dem Opfer um Emily Slaughter handelt, die Tochter von Rodney und Janet Slaughter.“
Ein entsetztes Quieken entfuhr Dorothy Wade. Ihr Mann sah sie an, aber sagte nichts, blinzelte nur mehrmals.
„Wie ich höre, waren Sie gestern Abend bei den Slaughters zu Besuch?“, fuhr Sands fort, ihre Aufmerksamkeit weiterhin auf Steven Wade gerichtet.
„Ich … Wir … Wir waren zum Abendessen dort, aber …“
„Aber was?“, fragte Sands.
Als er schließlich antwortete, schüttelte Steven Wade den Kopf. „Aber nichts. Ich weiß nicht … Ich weiß nicht, was ich sagen soll, das ist unfassbar. Das ist schrecklich. Einfach schrecklich.“
Sands ließ einen Moment lang Stille im Raum herrschen, bevor sie weitersprach. „Ja.“ Sie lehnte sich vor, näher an den Bürgermeister heran. „Kennen Sie die Slaughters gut?“
„Ja … Nein … Na ja …“ Er wirkte panisch. „Eigentlich nicht wirklich. Ganz und gar nicht. Erst seit sie das Grundstück über der Bucht gekauft haben. Aber Rodney, er ist … Na ja, sie scheinen beide wie … die Art von Leuten, die man in diese Gegend holen möchte. Wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Sands schwieg und dachte wieder an die Gerüchte über die fragwürdigen Zahlungen im Gegenzug für die Baugenehmigung. Steven Wade nahm das Schweigen offenbar als Zeichen, dass sie ihn nicht richtig verstanden hatte.
„Wir haben hier viele Auswärtige, die Immobilien kaufen, aber nicht hier leben. Ferienhäuser. Immerhin haben die Slaughters die Absicht, das ganze Jahr über hier zu wohnen.“
„Ich verstehe“, sagte Sands. „Sind Sie vorher schon einmal in dem Haus gewesen?“
„Nein. Nun ja, ich habe natürlich dort vorbeigeschaut, während es gebaut wurde, in meiner offiziellen Funktion, ich sitze im Planungsausschuss, aber gestern Abend war …“
„War was?“
„Waren wir zum ersten Mal zu Gast.“
„Aha.“ Sands hielt inne, um einen Moment lang Dorothy Wade zu mustern. Sie war wie erstarrt, seit sie die Nachricht gehört hatte.
„Was ist passiert?“, fragte Steven Wade. „War es ein Unfall?“
„Nein. Wir haben eine Morduntersuchung eingeleitet.“
„Ach du meine Güte“, sagte er mit plötzlich ganz flachem Atem. „Mord? Aber … Wie …?“
„Wir haben zu diesem Zeitpunkt noch keine Informationen, die wir preisgeben dürfen.“
Dorothy Wade schlug sich erneut die Hand vor den Mund. Ihr Mann warf ihr einen Blick zu, bevor er sich wieder Sands zuwandte. „Aber wir waren doch erst gestern Abend bei ihnen!“
„In der Tat. Sie werden also verstehen, dass wir einige Fragen an Sie haben.“
Er schaute verwirrt zu, wie Sands ihr Notizbuch und ihr Diktiergerät aus der Tasche zog.
„Um wie viel Uhr sind Sie dort angekommen?“
„Ähm …“ Die Farbe war größtenteils aus Wades Gesicht gewichen, nur seine Nase war noch rot. „Gestern Abend? Ich weiß nicht. Ich glaube, so um acht.“ Er wandte sich zu seiner Frau um, aber die starrte ihn nur an, die Hände immer noch vor den Mund geschlagen. „Ja, es war kurz vor acht. Wir waren um halb acht verabredet, aber wir waren spät dran.“
„Und um wie viel Uhr sind Sie gegangen?“
„Gegen Mitternacht, glaube ich. Ich bin mir nicht ganz … Doch, doch, es war kurz nach zwölf, als wir nach Hause kamen. Das habe ich auf der Küchenuhr gesehen. Also war es kurz vor …“
„Haben Sie Emily Slaughter gesehen, während Sie dort waren?“
„Nein. Ich nehme an, sie war im Bett. Ich meine, ich nahm es an.“ Steven Wade blickte seine Frau an. „Wir haben das Mädchen noch nie gesehen, nicht wahr, meine Liebe?“ Dorothy Wade schüttelte steif den Kopf. Ihr Mann fuhr fort. „Das ist so ein Schock. So ein furchtbarer Schock.“
„In der Tat. Haben sie ihre Tochter Ihnen gegenüber erwähnt? Gestern Abend?“
„Nein.“ Wade sah zu seiner Frau, die den Kopf schüttelte, dann aber mit zittriger Stimme antwortete: „Janet hat mir gesagt, dass es ihr nicht gut ginge. Dass etwas im Umlauf sei.“
„Nur das? Sonst nichts?“
„Sie hat über Schulen gesprochen.“
„Können wir wenigstens erfahren, was ihr zugestoßen ist?“, unterbrach Steven Wade plötzlich. „Wir haben doch sicher ein Recht darauf …“
„Wir werden die Informationen so bald wie möglich bekannt geben“, schnitt ihm Sands entschieden das Wort ab. Sie ließ sich Zeit, bevor sie die nächste Frage an den Bürgermeister richtete. „Ist Ihnen im Laufe des Abends irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Überhaupt nichts.“
„Worüber haben Sie gesprochen?“
„Ich … äh … Sie wissen schon. Wir haben über das Haus gesprochen. Dass er den zweiten Flügel bis zum Frühling fertigstellen möchte. Und über Themen, die die Gegend betreffen. Und das Land. Ganz normale Dinnerparty-Gespräche eben.“
„Sie haben sich hauptsächlich mit Rodney Slaughter unterhalten?“
„Nun, ja … ich schätze schon.“
„Wie war er? Wirkte er entspannt? Nervös? Zerstreut?“
„Nein. Er war … entspannt. Er war vollkommen in Ordnung. Er erzählte von seinen Geschäften in Japan. Anscheinend haben sie mehrere Jahre dort gelebt.“
„Gab es irgendetwas an diesem Abend, das Ihnen ungewöhnlich vorkam?“
„Zum Beispiel?“
„Keine Ahnung. Ich war nicht dabei.“
Der Mann sah verwirrt aus, und Golding schaltete sich ein, um zu erklären, was sie meinte. „Geräusche im Freien, Lichter vielleicht? Irgendetwas, woran Sie sich erinnern?“
„Nein. Nichts dergleichen.“ Wade schaute von einem Detective zum anderen. Er schien ehrlich verdutzt zu sein.
„Haben sie Sie durch das Haus geführt?“
„Nein, nein, das wollten wir, aber es war schon dunkel, also haben sie vorgeschlagen, dass wir ein andermal wiederkommen.“
„Sind Sie irgendwann nach unten gegangen?“
„Nein.“
Sands las noch einmal all ihre Notizen durch und wiederholte anschließend die Fragen, die sie auch den Slaughters gestellt hatte, um zu überprüfen, ob ihre Antworten übereinstimmten. Es gab nichts, was besonders herausstach. Schließlich wandte sie sich wieder an den Bürgermeister. „Haben Sie noch etwas hinzuzufügen?“, fragte sie.
„Wie bitte?“
„Haben Sie dem, was Sie bereits gesagt haben, noch etwas hinzuzufügen?“
Der Bürgermeister blickte zu seiner Frau hinüber, dann zurück zu Sands. „Ich glaube nicht, dass wir überhaupt schon etwas gesagt haben. Es ist nichts passiert …“
„Es ist etwas passiert“, berichtigte Sands. „Irgendwann letzte Nacht wurde Emily Slaughter ermordet, entweder während Sie dort waren oder kurz davor oder danach.“ Sie fixierte beide Wades, was Dorothy zum Wimmern brachte. „Sind Sie sicher, dass Sie absolut gar nichts Ungewöhnliches gehört oder gesehen haben? Denken Sie genau nach, jedes Detail könnte von Bedeutung sein.“ Sie sah den Bürgermeister an und wartete, bis dieser den Kopf schüttelte. Dann wandte sie sich Dorothy Wade zu, die erneut wimmerte und deren Kopf mehr zitterte, als dass sie ihn schüttelte.
Sands seufzte. Sie schaute Golding an, nickte knapp und stand auf. „Ich werde jemanden vorbeischicken, der Ihre Aussagen aufnimmt. Bitte verlassen Sie in der Zwischenzeit nicht das Haus und sprechen Sie mit niemandem.“
„Aussagen?“, fragte der Bürgermeister. „Wir haben Ihnen doch gerade alles gesagt …“
„Und Sie werden uns alles noch einmal sagen müssen. Wenn Sie es vorziehen, können Sie auch auf das Polizeirevier kommen, wo eine offizielle Befragung durchgeführt wird, aber ich dachte, Sie würden ein wenig Diskretion zu schätzen wissen in Anbetracht Ihres Status.“ Sie schenkte ihm ein kühles Lächeln, woraufhin der Bürgermeister erst verlegen, dann geschmeichelt aussah. Was Sands gesagt hatte, stimmte so nicht ganz. In Wirklichkeit war das Polizeirevier von Dorchester einfach nicht groß genug, um alle Zeugen dorthin zu schicken und sie gleichzeitig getrennt zu halten.
Der Bürgermeister nickte selbstgefällig. „Genau, genau, ich danke Ihnen dafür.“
Sands betrachtete ihn ungerührt. „Wenn Ihnen in der Zwischenzeit etwas einfällt, was wir noch nicht besprochen haben, sollten Sie nicht warten.“ Sie reichte ihm ihre Karte. „Kontaktieren Sie mich sofort. Ist das klar?“
Der Bürgermeister nickte. „Selbstverständlich. Ich begleite Sie hinaus.“
„Danke.“
Sie gingen durch das Wohnzimmer zurück in den Flur. Die Einrichtung des Hauses schien dem Bürgermeister aus irgendeinem Grund dabei zu helfen, etwas von seinem Selbstvertrauen zurückzugewinnen. Als sie die Haustür erreichten, ergriff er das Wort. „Natürlich ist es offensichtlich, wo Sie suchen sollten.“
Sands sah ihn überrascht an. „Ach ja?“
„Ja. In diesem verdammten St. Austells. Ich habe schon immer gesagt, dass so etwas passieren würde.“ Er schüttelte den Kopf, als würden sie sich beide regelmäßig über dieses Thema beschweren.
Sands starrte ihn mit unverhohlener Verwirrung an. „Was ist St. Austells?“
„Das wissen Sie nicht?“ Wade war fassungslos. „Es ist das Obdachlosenheim in der Nähe von Lulworth …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich warne die Leute schon seit Jahren davor. Es ist eine Gefahr für die gesamte Gegend, voller gewalttätiger und gefährlicher Menschen.“ Er sah Sands zuversichtlich an. „Ich setze mich schon seit Jahren dafür ein, dass es geschlossen wird, nicht wahr, meine Liebe?“ Er warf seiner Frau einen Blick zu, die sich zu ihnen in den Flur gesellt hatte. „Nach dem hier wird es sicher geschlossen werden.“ Die Farbe kehrte nun langsam in seine Wangen zurück, und er nickte enthusiastisch.
Nach einer kurzen Stille sagte Sands: „In Ordnung“ und nickte ebenfalls, aber nur einmal. „Vielen Dank für Ihre Zeit, Mr Wade, Mrs Wade. Wir werden der Sache nachgehen.“
***
Zurück im Alfa saßen sie eine Weile einfach nur da und beobachteten weiter das Cottage, wobei Golding gelegentlich auch Sands beobachtete.
„Warten wir auf irgendwas?“, fragte er nach einiger Zeit.
„Nein“, erwiderte sie, ohne einen Finger zu rühren.
Golding nahm einen neuen Anlauf. „Also, was denken Sie? Haben die beiden was damit zu tun?“
Sie drehte sich zu ihm. „Sagen Sie es mir.“
„Ich glaube nicht“, meinte er vorsichtig. „Sie scheinen nichts davon gewusst zu haben. Sie wirkten ehrlich überrascht.“
Sands erwiderte nichts darauf, sie schien nicht einmal richtig zuzuhören. Stattdessen zückte sie unvermittelt ihr Handy, wählte Lindhams Nummer und sagte ihm, er solle so schnell wie möglich zwei Detectives herschicken, um eine Aussage von den Wades aufzunehmen. Nachdem sie aufgelegt hatte, starrte sie eine Weile aus der Windschutzscheibe, bevor sie sich endlich Golding zuwandte.
„Erzählen Sie mir von diesem Obdachlosenheim. St. Austells. Kennen Sie es?“
Golding sah überrascht aus, aber nickte. „Klar. Jeder hier kennt es.“
„Warum?“
Ein leichtes Stirnrunzeln zeichnete sich auf Goldings Gesicht ab. „Es ist gewissermaßen berüchtigt.“
„Inwiefern?“
Golding antwortete nicht sofort, sondern legte sich seine Worte offensichtlich genau zurecht. „Okay.“ Er holte tief Luft. „Es ist so eine Art Wohltätigkeitsklinik, die Obdachlosen hilft – Alkoholikern, Drogensüchtigen auf Entzug – und so weiter. Die Idee dahinter ist, sie in einer ländlichen Gegend unterzubringen, wo sie ihre Sucht ohne Versuchung überwinden können.“
„Funktioniert es?“
Golding sah aus, als hätte er diese Frage nicht erwartet. Er zögerte. „Ich nehme an, es kann durchaus funktionieren, manchmal …“
„Also nicht?“
Er warf ihr einen Blick zu und zuckte mit den Schultern. „Nicht wirklich. Meiner Erfahrung nach …“ Er überlegte kurz. „Die Bewohner dort dürfen nichts ins Heim mitnehmen – Alkohol oder Drogen, meine ich. Aber das hat zur Folge, dass sie dafür einfach in die nahe gelegenen Städte gehen. Es wird auch viel gebettelt und in den umliegenden Geschäften gestohlen. Als ich noch in Uniform war, hatte ich ständig damit zu tun.“
Sands hörte nachdenklich zu. „Hat es jemals einen gewalttätigen Vorfall gegeben?“
Golding schüttelte den Kopf. „Ein paar Prügeleien. Unter den Bewohnern, wenn sie zu viel intus hatten, oder mit einigen Jugendlichen aus den Städten, die sich mit ihnen angelegt haben. Aber das war’s auch schon. Niemals so was wie das hier.“
Sands trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. „Wo ist es?“
„Ein paar Meilen die Straße zurück. Dort gibt es ein paar Wälder, in denen es mehr oder weniger versteckt ist.“
„Entlang dieser Straße?“
„Ja.“
„Also nicht allzu weit von der Leiche entfernt?“
„Nein.“
Sands blieb noch eine Weile sitzen und dachte nach. „In Ordnung“, sagte sie schließlich. „Dann sollten wir es uns ansehen.“ Sie drehte den Schlüssel um und ließ den Motor aufheulen.
Sieben
Diesmal tätigte Sands während der gesamten Fahrt Anrufe und folgte Goldings Zeigefinger, wann immer sie zu einer Kreuzung kamen. Der Einsatz wurde zusehends größer und komplexer. Immer mehr Polizeibeamte und Personal vom MID sowie von mehreren anderen Abteilungen wurden hinzugezogen, und sie als leitende Ermittlerin war für die Koordination zuständig. Sie hatte gerade erst alles erledigt, als sie beim Heim ankamen, einem großen roten Backsteingebäude, umgeben von hohen Bäumen. Sie lenkte den Wagen durch eine schmale Einfahrt zwischen zwei hohen Backsteinmauern und stellte ihn in einer Parklücke neben einem ramponierten Kleinbus mit der Aufschrift St. Austells auf der Seitentür ab. Sands stieg aus und sah sich um, dicht gefolgt von Golding. Es standen nur ein paar andere Autos herum, eines davon auf Ziegeln, da die Räder abmontiert worden waren. In einem Fahrradständer an der hinteren Mauer standen ein paar klapprige Fahrräder.
Sands blickte sich aufmerksam um, während sie zum Eingang ging.
Sie klopfte kräftig mit den Fingerknöcheln, während sie gleichzeitig nach einer Türklingel suchte. Niemand kam zur Tür, also drückte sie versuchshalber die Klinke nach unten, stellte fest, dass nicht abgeschlossen war, stieß die Tür auf und ging hinein. Es lag ein gewisser Geruch in der Luft wie in all solchen Einrichtungen, nach altem Essen oder so. Ein weiteres Fahrrad mit einem platten Hinterreifen stand in einem Flur an der Wand. Das ganze Gebäude musste dringend renoviert werden. Es gab keine Rezeption, aber eine Frau kam mit besorgter Miene auf sie zugeeilt.
„Hallo? Kann ich Ihnen helfen?“ Ihre Miene wurde noch besorgter, als Sands sagte: „Ich bin DCI Sands vom South West Murder Investigation Department. Das ist mein Kollege Detective Golding. Wir untersuchen einen schwerwiegenden Vorfall, der sich heute Morgen in Lulworth Cove ereignet hat. Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“
Das Blut wich aus ihrem Gesicht. „Sie sollten besser zu Julian gehen. Er ist in seinem Büro.“
„In Ordnung.“
Händeringend stand die Frau da, bis ein erwartungsvoller Blick von Sands sie dazu brachte, sich in Bewegung zu setzen. Sie führte sie schnellen Schrittes einen Gang entlang. Sands warf einen Blick in die Räume, an denen sie vorbeikamen. Es gab eine Küche, bei der der faulige Geruch stärker war, und einen Gemeinschaftsraum, in dem in voller Lautstärke irgendeine Talkshow auf einem Fernseher dröhnte. Eine Gestalt im Rollstuhl saß davor, während zwei junge Männer leise an einem unterdimensionierten Tisch Billard spielten. Die Detectives kamen zu einer geschlossenen Holztür, an die die Frau zaghaft klopfte. Als keine Reaktion kam, warf sie einen Blick auf Sands und klopfte hastig noch mal.
„Was ist denn?“, ertönte eine Männerstimme von drinnen. Sie klang irritiert, aber die Frau öffnete die Tür nervös einen Spalt und flüsterte hinein. Dreißig Sekunden später hatte man ihr immer noch keinen Zutritt gewährt, also übernahm Sands und stieß die Tür auf. Drinnen blickte ein Mann mit langen, fettigen Haaren perplex von seinem Schreibtisch auf.
„Ich bin DCI Sands, und das ist Detective Golding, South West Murder Investigation Department.“ Sie zeigte ihre Dienstmarke vor. „Ich entschuldige mich für die Störung, aber dies ist eine zeitkritische Untersuchung. Sind Sie der Leiter dieser Einrichtung, Mr …?“
Der Mann stand auf. Er war Anfang vierzig, groß und trug eine Jeans und ein Hawaiihemd. Sein langes Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Er hatte auf einem kleinen Fernseher auf seinem Schreibtisch ferngesehen. Er schaltete ihn nicht aus, sondern drehte nur die Lautstärke herunter. „Pink. Julian Pink. Ich bin der Manager hier. Und die meisten Leute vereinbaren einen Termin, anstatt einfach hereinzuplatzen.“
„Wir haben nur ein paar Fragen.“ Sands betrat das Büro, suchte sich einen Stuhl, stellte ihn näher an den Schreibtisch und setzte sich.
Pink zwang sich zu einem Lächeln und deutete dann sarkastisch auf den Stuhl. „Na gut. Dann setzen Sie sich doch. Alles für die Polizei.“ Er setzte sich ebenfalls und wartete mit verschränkten Armen. Es gab keine weiteren Stühle, also blieb Golding bei der Tür stehen.
„Wir untersuchen den Mord an einem Kind, dessen Leiche heute Morgen weniger als drei Meilen von hier entdeckt wurde“, begann Sands, kam aber nicht dazu, zu Ende zu sprechen.
„Na, das ging ja schnell.“
Überrascht von der Unterbrechung runzelte sie die Stirn. „Was soll das heißen? Wissen Sie etwas darüber?“
Er seufzte. „Es ist nur so, dass sich schlechte Nachrichten hier schnell verbreiten. Und meist nur in eine Richtung.“
Mit weiterhin gerunzelter Stirn warf Sands einen Blick über die Schulter zu Golding, der unauffällig die Augen verdrehte. Sie wandte sich wieder um. „Können Sie diese Bemerkung näher erläutern, Mr Pink? Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.“
Pink lächelte unaufrichtig. „Wenn es Ärger gibt, sind wir immer die erste Anlaufstelle für unsre Freunde und Helfer. Oder Freundinnen und Helferinnen.“ Er schenkte ihr ein gehässiges Lächeln.
Sands verengte unwillkürlich ihre Augen, versuchte aber, seinen Seitenhieb zu ignorieren. „Wir haben den Tipp erhalten, dass ein Bewohner Ihrer Einrichtung darin verwickelt sein könnte.“
Er lachte fast. „Natürlich haben Sie das, Detective. Natürlich haben Sie das. Das heißt aber noch lange nicht, dass es auch stimmt, oder?“ Sein Blick wanderte zum Fernseher, auf dem ein Nachrichtensender lief, irgendetwas über eine Infektion in China, Menschen in orangefarbenen Schutzanzügen mit riesigen Hauben, die wie Forscher auf der Marsoberfläche aussahen. Pink schaute zurück zu Sands, noch immer ein spöttisches Grinsen im Gesicht.
„Ich glaube, Sie verstehen mich nicht ganz, Mr Pink“, sagte Sands. „Ein Mädchen wurde ermordet. Dieses Gespräch wird stattfinden; es ist Ihre Entscheidung, ob wir es hier oder auf dem Revier führen.“
Das Grinsen verschwand. „Ich bitte um Entschuldigung, Detective. Aber man wird der Hetzjagd ziemlich überdrüssig.“
Sands starrte ihn an. „Würden Sie das bitte ausmachen?“ Mit einem hörbaren Seufzer nahm Pink die Fernbedienung und stellte den Fernseher auf stumm. Aber als er sich wieder umdrehte, sah er, dass Sands ihn anfunkelte. Er schaltete ihn ganz aus.
„Sie haben völlig recht. Wie kann ich helfen?“
„Wir brauchen eine vollständige Liste aller Personen, die hier leben oder arbeiten. Aber es würde uns Zeit ersparen, wenn Sie mir sagen können, ob es jemanden gibt, den wir zuerst überprüfen sollen. Jemanden mit einer gewalttätigen Vergangenheit, besonders Kindern gegenüber, einen registrierten Sexualstraftäter.“
Pink erbleichte ein wenig. Als er schließlich antwortete, wählte er seine Worte offensichtlich sehr sorgfältig. „Ich bin mir sicher … Ich habe diese Informationen nicht zur Hand, aber ich gehe davon aus, dass mehrere unserer Bewohner einen derartigen Hintergrund haben. Bei der Art von Menschen, denen wir zu helfen versuchen, ist das unvermeidlich.“
„Zweifellos. Gibt es jemanden, der Ihnen unmittelbar in den Sinn kommt?“
Sands sah an den Augen des Mannes, wie er im Geiste die Namen durchging. „Nein“, antwortete er einen Augenblick später. „Niemand.“
„Wie viele Bewohner sind derzeit im Heim?“
Pink antwortete nicht sofort, aber diesmal war deutlich, dass er die Antwort wusste, ohne lange nachzudenken. „Fünfzehn.“
Sie wollte gerade zur nächsten Frage übergehen, als Golding sie mit einer eigenen Frage überraschte. „Fünfzehn? Ein Zimmer steht also leer?“
Sands drehte sich mit hochgezogenen Augenbrauen zu Golding um.
„Es gibt sechzehn Betten hier“, erklärte er. „Zumindest war das so, als ich noch in Uniform war und sie zur Ausnüchterung zurückgebracht habe.“
Julian Pink runzelte bei der Antwort leicht die Stirn. „Wir haben Platz für sechzehn Personen. Ein Mann hat heute Morgen beschlossen zu gehen.“
„Ist das üblich?“ Sands wandte sich wieder ihm zu, plötzlich deutlich interessierter. „Dass Leute einfach gehen? Bieten Sie nicht eine kostenlose Unterkunft an? Für Menschen, die ansonsten obdachlos wären? Warum sollte jemand freiwillig zurück auf die Straße gehen?“
Der Mann lächelte nun wieder, da er zurück auf vertrautem Terrain war. „Detective, sosehr wir auch versuchen, den Menschen hier zu helfen, es kann ein schwieriger Ort sein, dies zu tun. Der örtlichen Bevölkerung“ – er sah lächelnd zu Golding auf – „und auch der örtlichen Polizei fehlt es mitunter an Mitgefühl und Toleranz.“
„Warum ist dieser Mann gegangen?“ Sands ignorierte die Moralpredigt und kam direkt auf den Punkt.
Pink wirkte verärgert darüber, breitete aber seine Arme aus und erklärte: „Das hier ist eine Zuflucht, kein Gefängnis. Niemand wird gezwungen zu bleiben.“
Sands warf Golding einen Blick zu, um zu sehen, ob er daraus schlau wurde. Dann wandte sie sich wieder Pink zu. „Heißt das, Sie wissen es nicht?“
Pink lächelte wieder. Gerade als sie dachten, er würde nicht antworten, sagte er: „Von Zeit zu Zeit geht eben jemand. Manchmal beschließen sie, wieder in die Nähe ihrer Heimat zu ziehen. Bei ihrer Familie zu leben. Manchmal beschließen sie auch einfach zu gehen. Die Menschen, denen wir hier helfen, leiden an einer Vielzahl von komplexen Problemen. Sie können unberechenbar sein.“
Sands lehnte sich zurück und blickte auf den Computer am Schreibtisch des Mannes. Sie zuckte mit den Schultern. „Also gut. In diesem Fall geben Sie mir besser diese Liste.“ Sie wartete, aber ihr Gegenüber rührte sich nicht. Das ärgerte sie noch mehr. „Mr Pink, verstehen Sie immer noch nicht, wie ernst die Lage ist? Ich brauche eine Liste von all Ihren aktuellen und kürzlich abgereisten Bewohnern sowie die Namen und Adressen Ihres gesamten Personals. Und zwar sofort.“
Julian Pink schluckte schwer. Dann nahm er ein Handy, das auf dem Schreibtisch lag, und bat eine Frau namens Wendy, in sein Büro zu kommen. Kurz darauf ertönte ein Klopfen an der Tür und die Frau, die sie zuvor kennengelernt hatten, steckte den Kopf herein. Pink wiederholte Sands’ Forderung und wies sie an, sofort die Liste zu beschaffen. Sie verschwand wieder, aber nicht bevor sie den beiden Detectives einen zweifelnden Blick zugeworfen hatte.
Erneut legte sich Stille über den Raum. Es fühlte sich an wie ein Kräftemessen, so als würde Pink Sands herausfordern, um zu sehen, wer von ihnen die Stille am längsten aushielt. Es war kindisch, aber Sands würde nicht als Erste nachgeben. Sie saß einfach nur da und starrte ihn an, während er Papierstapel auf seinem Schreibtisch zurechtrückte, dann seinen Stift hochhob, ihn betrachtete und wieder hinlegte. Sie war enttäuscht, als das Klingeln ihres eigenen Handys die unbehagliche Stille durchbrach. Sie ging ans andere Ende des Büros, bevor sie abhob und den Lautsprecher fest ans Ohr drückte, damit der Ton nicht zu den anderen hinausdrang. Sie hörte zu und beendete das Gespräch mit einem knappen: „Rufen Sie mich an, wenn Sie noch etwas finden.“ Sie ging zurück zum Schreibtisch und setzte sich wieder. Sie hatte keine Lust mehr auf Spielchen.
„Wie haben Sie von dem Mord heute Morgen erfahren? Die Nachricht schien Sie nicht zu überraschen.“
Er blickte auf, überrumpelt von ihrer neuen Taktik. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sich schlechte Neuigkeiten schnell verbreiten.“
„Das beantwortet meine Frage nicht. Was haben Sie gehört? Wie? Sparen Sie kein Detail aus.“
Pink wand sich ein wenig. „Wir sind nicht weit von der Hauptstraße entfernt. Es müssen Hunderte Polizeiautos vorbeigefahren sein. Wir konnten die Sirenen hören.“
„Sirenen verraten einem nicht, was passiert ist. Sie wussten, dass ein Kind gefunden wurde. Wer hat Ihnen das gesagt?“
Pink wandte den Blick ab, als würde er sich überlegen, wie er sich aus der Sache herauswinden konnte, ohne auf ihre Frage zu antworten, aber schlussendlich zuckte er mit den Schultern. „Im Heim ist heute Morgen ein Streit ausgebrochen.“
„Was für ein Streit?“
„Zwischen zwei Bewohnern. Nichts Ernstes, aber sie haben darüber gesprochen.“
Sands stieß ein ungeduldiges Seufzen aus. „Zwischen welchen Bewohnern?“
Wieder einmal zögerte Pink. Er schüttelte den Kopf, als wäre dies bloß eine Ablenkung, eine Zeitverschwendung für ihn und die Detectives. „Zwei der Jungs haben sich im Gemeinschaftsraum gestritten. Sie haben einander Drohungen an den Kopf geworfen. Das kommt hin und wieder vor. Ich bin hin, um sie zu trennen, und sie haben darüber gesprochen, dass ein Kind getötet worden war. Einer von ihnen hat den anderen beschuldigt. Ich wurde gerufen, um den Streit zu beenden. Es war nichts.“
„Wie bitte?“ Sands machte sich gar nicht erst die Mühe, das Erstaunen in ihrer Stimme zu verbergen. „Einer hat den anderen beschuldigt?“
„Freuen Sie sich nicht zu früh. Diese Kerle, sie … Man sollte ihnen nicht unbedingt glauben, wenn sie solche Dinge sagen. Sie haben es wahrscheinlich von jemandem aus der Stadt gehört. Oder sie haben die Polizeiautos gesehen und eins und eins zusammengezählt. Ich meine, was hätte es sonst sein können? Mit so vielen Autos?“
Sands ignorierte diese Aussage. „Wer sind diese zwei? Wer hat wen beschuldigt?“
Pink zögerte erneut, da er offensichtlich keine Namen nennen wollte, aber bald schon wurde ihm klar, dass er keine andere Wahl hatte. „Die zwei Männer, die sich gestritten haben, waren Michael Sopley und Arthur Josephs. Arthur hat den Streit begonnen. Er hat Michael beschuldigt. Aber Arthur ist ein Unruhestifter. Ein Lügner. Ich versichere Ihnen, da ist nichts dran.“
Sands ignorierte diese Aussage. „Sind die beiden noch hier?“
„Arthur schon. Michael ist gegangen. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.“
Eine Sekunde lang konnte Sands ihm nicht folgen, dann ergab alles Sinn. „Sie wollen uns also sagen, dass Michael Sopley derjenige ist, der das Heim heute Morgen verlassen hat?“
„Ja.“
Fassungslos starrte Sands den Mann an und überlegte, ob sie ihn auf der Stelle verhaften sollte, einfach weil er sie so wütend machte.
„Wo ist er? Arthur Josephs? Können Sie uns zu ihm bringen?“
Pink sah von einem Detective zum anderen, als hoffte er, dass Golding die Unterhaltung in eine andere Richtung lenken und seine Kollegin beruhigen würde. Aber Golding sah einfach nur zu.
„Er ist hier. Aber Sie werden nicht viel aus ihm rausbekommen …“ Sands war schon auf den Beinen und fast zur Tür hinaus. „Nicht jetzt, wo er seine Medikamente bekommen hat.“
„Das werden wir selbst beurteilen. Zeigen Sie uns, wo er ist. Jetzt sofort, wenn ich bitten darf.“ Sie hielt ihm die Tür auf.
Sobald er hinter seinem Schreibtisch hervorgekommen war, fiel Sands auf, dass Pink gelbe Flip-Flops trug, die bei jedem Schritt quietschten. Er führte sie aus dem Büro und zurück in Richtung der Gemeinschaftsräume. Aus irgendeinem Grund schlüpfte Pink in die Rolle eines stolzen Gastgebers, der seinen Gästen das Haus zeigte. „Die meisten Leute hier sind wie Sie und ich, ganz normal, nur vom Pech verfolgt. Deshalb ist es wichtig, dass es Orte wie diesen hier gibt“, sagte er, als wäre Sands nicht gerade kurz davor gewesen, ihm Handschellen anzulegen. „Auch wenn die Bullen hier das nicht verstehen.“
„Ersparen Sie uns die Moralpredigt“, schnauzte Sands nach einer Weile. Das brachte ihn zum Schweigen.
Sie kamen wieder beim Gemeinschaftsraum vorbei, der leer aussah, aber Pink führte sie hinein und sie sahen, dass der Mann im Rollstuhl noch hier war, zusammengesunken in seinem Stuhl, fast wie bewusstlos. Irgendjemand hatte den Fernseher leiser gedreht. Wahrscheinlich nicht er.
„Arthur Josephs“, verkündete Pink und deutete mit einer überschwänglichen Geste auf ihn.
Der Mann stank, nicht nur nach Schweiß und Schmutz, sondern nach etwas Schlimmeren, das nicht einmal der Krankenhausgeruch um ihn herum überdecken konnte. Der Grund für den Rollstuhl war sofort ersichtlich: Er hatte nur ein Bein; das andere war auf halber Höhe des Oberschenkels amputiert worden. Seine Hose war knapp unter der Amputationsstelle abgeschnitten und ausgefranst, sodass ein Teil des Stumpfes sichtbar war; die Wunde war knotig und von dunkelvioletter Farbe. Er schien in so einem schlechten Zustand zu sein, dass Sands kurz zögerte, bevor sie sich ihm näherte, dann ging sie aber doch vor ihm in die Hocke.
„Mr Josephs?“, fragte sie und stellte sich vor.
Josephs rührte sich kaum, öffnete jedoch ein Auge und musterte kurz die drei Personen, die sich um ihn herum versammelt hatten. Dann schloss er es wieder.
Sands nahm noch einen Anlauf, aber diesmal war die einzige Reaktion ein genervtes Grunzen.
„Arthur schläft normalerweise den Großteil des Nachmittags“, erklärte Pink. „Morgens ist er ein wenig ansprechbarer, bevor die Medikamente anschlagen. Deswegen hat er sich heute wahrscheinlich gestritten. Es war sicher nichts Ernstes.“
„Mr Josephs, Sie haben heute Morgen mit einem Mann namens Michael Sopley gesprochen. Sie haben ihn beschuldigt, etwas mit einem Kind zu tun zu haben, das heute Morgen tot aufgefunden wurde. Können Sie mir etwas dazu sagen?“ Sands blieb hartnäckig.
„Verpisst euch“, erwiderte Arthur.
Pink versuchte nicht einmal, seine Selbstgefälligkeit zu verbergen. Sands warf ihm einen Blick zu, verärgert, dass sie das überhaupt getan hatte, dann verlagerte sie das Gewicht, damit ihre Position in der Hocke etwas bequemer war. Sie merkte, dass sie sich nicht nur wegen ihrer protestierenden Muskeln unbehaglich fühlte, sondern dass es auch am üblen Geruch lag.
„Arthur hat einen sehr starken Willen“, fing Pink aufs Neue an. „Und dieser Geruch nach verfaulendem Fleisch? Das ist Wundbrand. Kommt von seinem Bein. Von dem, das er noch hat, meine ich. Wenn es nicht amputiert wird, stirbt er. Aber er lässt die Ärzte nicht ran. Er verübelt es ihnen immer noch, dass sie das andere abgetrennt haben.“
Niemand fragte, warum sie es amputiert hatten, aber Pink fuhr fort, als hätten sie es getan. „Ihm sind die Venen in den Armen ausgegangen, wissen Sie. Also hat er sich in seine Füße, Oberschenkel, überallhin gespritzt, wo er eine Nadel hineinbekam. Das Problem war, dass er schmutzige Nadeln benutzte. So hat sich zuerst sein erstes Bein infiziert, es wurde brandig, und sie mussten es abtrennen, um sein Leben zu retten. Aber das hat ihn nicht aufgehalten. Er hat weitergespritzt.“ Pink schüttelte den Kopf. „Jetzt hat er schon wieder Wundbrand, im anderen Bein, und wenn sie das nicht auch entfernen, ist er in einem Monat tot. Aber wenn sie es amputieren, sagt Arthur, ist er sowieso so gut wie tot. Ist das nicht so, Arthur?“
Diesmal öffnete der Mann beide Augen und starrte Pink mit unverhohlenem Hass an. Sands ignorierte den Manager weiterhin. „Mr Josephs, was können Sie uns über den Mann sagen, mit dem Sie heute Morgen gestritten haben? Wissen Sie etwas?“, fragte sie erneut, aber Arthur schwieg weiterhin. „Michael Sopley? Nach Ihrem Streit hat er das Heim verlassen. Warum ist er gegangen? Wissen Sie das?“
„Sopley ist ’n Arsch“, sagte Arthur unerwartet.
Pink lächelte voller gespieltem Tadel. „Aber, aber …“, setzte er an, aber Sands fiel ihm ins Wort.
„Mr Pink, wenn Sie nicht den Mund halten, werde ich Sie wegen Justizbehinderung verhaften.“ Sie rückte näher an den Rollstuhl heran und zwang sich, den bestialischen Gestank auszublenden. „Warum ist er ein Arsch?“ Als sie das Wort wiederholte, ließ sie ihre Stimme ganz sanft und neutral klingen. Diesmal behielt Arthur Josephs die Augen offen und musterte sie.
„Er ist ’n Arsch und ’ne Schwuchtel.“
„Okay. Sonst noch was?“
„Und ’n … wie heißt das noch?“
„Ich weiß es nicht, Arthur. Ein was?“
„Und ’n … ’n Pädo, das is er. ’n dreckiger Pädo.“
„Warum sagen Sie das, Arthur? Hat er etwas zu Ihnen gesagt? Haben Sie etwas gesehen? Etwas, wovon wir wissen sollten?“
„Warum sollt ich euch was sagen?“ Er verzog das Gesicht und kratzte sich am Stumpf seines linken Beins. Das Hosenbein rutschte hoch und enthüllte ein Stück fleckige, violette Haut. Er bemerkte, dass sie es anstarrten, und kratzte einfach weiter.
„Weil ich dafür sorgen kann, dass er Schwierigkeiten bekommt“, erwiderte Sands und richtete den Blick wieder auf das Gesicht des Mannes. „Und weil Sie ihn nicht leiden können.“
Josephs ließ sich das einen Moment durch den Kopf gehen, dann zuckte er leicht mit den Achseln. „Er war deswegen ganz komisch drauf. Verängstigt-komisch.“
„Weswegen komisch, Arthur?“
„Wegen dem, was ihr gefunden habt. Unten in der Bucht. Ihr habt ’ne Leiche gefunden. Die Leiche von ’nem Kind.“
„Woher wussten Sie davon, Arthur?“
„Das haben sie im Radio gesagt, am lokalen Sender. Sie haben gesagt, dass deswegen das ganze Dorf abgeriegelt worden ist. Da hat Sopley ziemlich besorgt ausgesehen. Ich hab gewusst, wieso.“
„Und wieso?“
„Ich kenn ihn schon ewig. Er war schon immer so versaut. Hat schon immer Kinder gemocht. Hat mir so gut wie gesagt, dass er’s getan hat.“
„Was genau hat er Ihnen erzählt, Arthur?“
„Das hab ich doch grad gesagt.“
Sands zog das Diktiergerät aus der Tasche. Sie zeigte es ihm und hob fragend die Augenbrauen. „Darf ich?“
„Von mir aus.“ Josephs zuckte die Achseln.
„Was genau hat Michael Sopley Ihnen erzählt, Arthur? Seine genauen Worte. Das ist wichtig.“
„Für mich is es nicht wichtig.“
„Aber vielleicht trägt es dazu bei, dass Michael Sopley verhaftet und verurteilt wird. Das würde Ihnen doch gefallen, oder nicht? Weil Sie ihn nicht besonders mögen.“
„Er ist ’n Arsch. Und ’n Pädo.“
„Also sagen Sie uns, was er Ihnen erzählt hat.“
Arthur Josephs rutschte in seinem Stuhl hin und her. Er beäugte erst das Aufnahmegerät, dann Sands. Dann warf er Pink einen weiteren feindseligen Blick zu. Schließlich begann er zu sprechen.
„Hat gesagt, dass er was Schlimmes getan hat. Wollte nicht sagen, was genau, bloß dass es schlimm war. Schlimmer als alles, was er je getan hat. Und er war nervös. So richtig nervös. Er hat geschwitzt. Ganz verängstigt. Da wusst ich, dass er’s war. Ihr solltet euch ihn vornehmen, statt mich zu belästigen.“ Arthur riss die Augen auf und grinste hämisch. „Und wieso sollte er sich sonst aus dem Staub machen? Häh? Außer wenn er’s war. Pädo.“
Daraufhin sank sein Kopf auf die Brust, scheinbar hatte ihn das Reden komplett ausgelaugt. Sands versuchte, noch mehr Informationen aus ihm herauszubekommen, aber er weigerte sich, mehr zu tun, als unverbindliche Antworten zu grunzen. Nach fünf Minuten gab sie auf, funkelte Pink an, als wäre er schuld an allem, und zog dann Golding zur Seite.
„Sehen Sie nach, ob wir irgendetwas über diesen Sopley haben“, flüsterte sie ihm zu, sodass nur er es hören konnte. „Das könnte alles totaler Blödsinn sein, aber wenn, dann ist es ein verdammt großer Zufall.“ Er nickte und zog sein Handy aus der Tasche, während sie sich wieder vor den Rollstuhl hockte. Aber es sah ganz danach aus, als hätte die Wirkung der Medikamente jetzt so richtig eingesetzt. Josephs war praktisch komatös.
Wenige Augenblicke später tippte ihr jemand auf die Schulter, und als sie sich umdrehte, hielt Golding ihr sein Handy hin, auf dem eine eingescannte Polizeiakte zu sehen war. Sie überflog sie schnell.
„Ach du Scheiße.“ Sie nahm ihm das Telefon aus der Hand.
Acht
Sie las die Akte noch einmal für sich durch und fasste sie dann laut zusammen.
Februar 2009: verhaftet wegen Verdachts auf eine Reihe von Einbrüchen. Nichts wurde entwendet, daher Anklage fallen gelassen. Erhielt offizielle Verwarnung.
Juli 2010: verhaftet wegen Körperverletzung. Verurteilt zu einer Geldstrafe.
September 2010: verhaftet wegen Trunkenheit und Ordnungswidrigkeit. Anklage fallen gelassen.
März 2011: verhaftet wegen Körperverletzung. Die festnehmenden Beamten fanden sittenwidrige Bilder von Kindern in seinem Besitz. In das Register der Sexualstraftäter aufgenommen.
Oktober 2013: erneut verhaftet wegen Einbruchs. Wieder nichts entwendet. Anklage aus Mangel an Beweisen fallen gelassen.
Juni 2015: erneut verhaftet. Diesmal in einem Haus erwischt, während die Besitzer im Urlaub waren. Die Familie hatte kleine Kinder. Er wurde im Schlafzimmer des Mädchens entdeckt. Beim Spielen mit ihren Spielsachen. Insbesondere mit den Puppen, die er auf dem Bett aufreihte.
Sie sah zu Pink auf, dessen Haltung sich während des Vorlesens deutlich verändert hatte. Ihre Stimme klang angespannt vor lauter Wut. „Ich habe Sie gefragt, ob Sie jemanden im Heim haben, den wir wegen Mordes an einem Kind überprüfen sollen. Anstatt mir von Sopley zu erzählen, haben Sie versucht, ihn zu verharmlosen.“
Pink öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
„Er ist ein registrierter Sexualstraftäter. Sie müssen doch gewusst haben, dass wir das herausfinden werden, aber stattdessen haben Sie lieber unsere Zeit verschwendet.“ Sie gab Golding sein Handy zurück. „Wir müssen Sopley finden.“ Sie wirbelte zu Pink herum. „Wo ist er hin?“
Dem Heimleiter schien es vor Scham die Sprache verschlagen zu haben.
„Mr Pink, Sie haben heute Morgen schon genug getan, um verhaftet zu werden. Wenn Sie auch noch dafür verantwortlich sein wollen, dass dieses Heim geschlossen wird, dann bitte, antworten Sie mir nicht. Wir werden ihn so oder so finden.“
„Ich weiß es nicht“, antwortete er.
„Hatte er ein Transportmittel? Ein Auto?“
„Nein. Das haben nur sehr wenige unserer Bewohner.“
„Wie ist er dann von hier weggekommen?“
„Ich weiß es nicht.“
„Er hatte ’n Fahrrad“, unterbrach Josephs. „Das weiß er sehr wohl.“
Sands drehte sich zu dem Mann im Rollstuhl um, der seine Benommenheit offensichtlich nur vorgetäuscht hatte. Sie überlegte, ob sie noch einmal versuchen sollte, ihm zum Sprechen zu bewegen, aber das war gar nicht nötig.
„’n Mountainbike“, bekräftigte Josephs hämisch. „Gelbes Mountainbike. Damit is er weggefahren. Ich hab ihn gesehen. Verdammter Pädo.“ Er warf einen Blick zum Fenster, das auf den Parkplatz hinausblickte.
Sands drehte sich wieder zu Pink um, der kurz zögerte, bevor er scheinbar eine Entscheidung traf. Er nickte unglücklich. „Er wollte zum Bahnhof. Drüben in Wareham.“
„Woher wissen Sie das?“
„Weil ich ihm eine Fahrkarte gegeben habe. Deshalb.“
Sands musste sich sehr beherrschen, ihm nicht an Ort und Stelle eine reinzuhauen. Sie atmete tief durch. „Wohin? Um wie viel Uhr ging der Zug?“
„London. Ein ungebundenes Ticket. Ich übernehme oft die Kosten für die Weiterreise der Bewohner. Ich sah keinen Grund, das bei Michael nicht zu tun.“
„Um wie viel Uhr?“
„Was?“
„Um wie viel Uhr ist er von hier weggefahren?“
Pink dachte einen Moment lang nach, dann zuckte er mit den Schultern. „Der Streit war kurz nach dem Frühstück. Danach hat er sofort zusammengepackt und ist aufgebrochen. Ich schätze, so gehen zehn. Halb elf …“
Sands wirbelte zu Golding herum. „Wie oft fährt ein Zug nach London?“
„Jede Stunde. Um Punkt.“
„Also gut, und es sind … was, zwei oder drei Meilen bis zum Bahnhof?“ Golding nickte, und sie wandte sich wieder zu Pink um, der erneut mit den Schultern zuckte.
„In was für einer Verfassung ist Sopley? So ähnlich wie Arthur hier?“
„Nein, er ist … noch in einem Stück.“
Golding tippte auf seinem Handydisplay herum und zeigte ihr dann ein Foto aus Sopleys Polizeiakte. Ein weißer Mann in den Vierzigern mit mürrischen Augen in einem schmuddeligen weißen T-Shirt. Er hatte weiche, teigige Gesichtszüge, sah aber fit genug aus, um drei Meilen zu fahren.
Sands ertappte sich dabei, wie sie Sopley ein paar Sekunden lang anstarrte und sich fragte, ob dies das Gesicht eines Kindermörders war, bevor sie sich tadelte, dass dies eine ausgesprochen dumme Frage war.
„Okay, also sitzt er wahrscheinlich schon im Zug.“ Sie sah Golding an, ihr Gehirn lief immer noch auf Hochtouren. „Rufen Sie die Leitstelle an. Jemand soll die Videoüberwachung am Bahnhof durchsehen. Wenn wir herausfinden, in welchem Zug er sitzt, können wir ihn immer noch am anderen Ende abfangen. Rufen Sie sofort an.“
„Jawohl, Ma’am.“
„Treffen Sie mich dann draußen. Ich werde einen Blick in sein Zimmer werfen.“ Sie wandte sich zu Pink um. „Wurde es bereits gereinigt?“
Er schüttelte den Kopf.
„Na, immerhin etwas. Dann los.“
Pink brauchte einen Moment, um zu kapieren, dass er sie dorthin bringen sollte, ging dann jedoch ohne Widerspruch voran. Er führte sie den Flur zurück, dann eine Treppe hinauf und einen weiteren Gang entlang, von dem links und rechts mehrere Türen abgingen. Vor der letzten Tür mit der Nummer sechzehn blieb er stehen.
„Das ist es.“ Pink schien zu wissen, dass er die Tür nicht berühren und auch nicht selbst hineingehen sollte, und Sands sah sich um. Ein Notausgang neben Sopleys Zimmer führte auf eine Feuertreppe hinaus. Sie sah sie sich genauer an und stellte fest, dass sie Tag und Nacht unverschlossen bleiben musste.
„Ist die alarmgesichert?“
Pink schüttelte den Kopf, und Sands drückte mit dem Ellbogen gegen die Stange. Die Tür schwang auf und ließ einen Schwall kalter Februarluft herein. Sie trat nach draußen und sah, dass die Treppe zum Parkplatz hinunterführte. Man konnte hier hinuntergehen und das Gebäude verlassen, ohne gesehen zu werden. Sie ging wieder hinein, ließ die Tür zufallen, griff in ihre Tasche und zog sich ein Paar Handschuhe über.
Dann öffnete sie die Tür zu Sopleys Zimmer.
Ein neuer Geruch schlug ihr entgegen, ebenfalls unangenehm, aber anders als der Krankenhausgeruch auf dem Gang. Dieser Geruch war muffiger – abgestanden und maskulin. Es war deutlich, dass Sopley es eilig gehabt hatte, aufzubrechen. Die Decke war vom Einzelbett gerutscht und lag zusammengeknüllt auf dem Boden. Sie durchstöberte die Kleidungsstücke, die er im Schrank zurückgelassen hatte, befühlte auch die Taschen. Dann ging sie zum Schreibtisch, der vor dem Fenster stand. Er war ein einziges Durcheinander. Dutzende von leeren Instantnudelpackungen lagen herum, und der Wasserkocher sowie zwei halb volle Becher mit getrockneten Spiralnudeln machten es ersichtlich, dass er sie hier im Zimmer gekocht hatte. Sie zog die Schreibtischschublade auf und fand noch mehr Nudeln, eine leere Medikamentenpackung, die sie fotografierte, und zu guter Letzt eine Boulevardzeitung. Sie wollte die Schublade gerade schließen, als sie darunter etwas hervorlugen sah. Sie hob die Zeitung an und fluchte leise, als sie den Titel des darunter liegenden Magazins las. Antique Doll Collector – für Sammler von antiken Puppen. Auf dem Titelbild war eine gruselig aussehende Puppe mit weichem Körper und bemaltem Porzellankopf abgebildet.
„Ach du heilige Scheiße.“
Sie wollte die Zeitung gerade wieder fallen lassen, als sie noch etwas entdeckte, etwas, das mit blauem Kugelschreiber auf die Titelseite gekritzelt war. Sie starrte es verwirrt an. Es war eindeutig eine Telefonnummer, aber daneben hatte jemand – vermutlich Sopley – ein Wort in krakeligen Großbuchstaben geschrieben:
HILFE!
Sands stöberte noch ein wenig herum, aber entdeckte nichts anderes von Interesse. Sie zog ihr Handy heraus und tippte die Telefonnummer ein. Sie wollte schon die Anruftaste drücken, als ihr einfiel, dass Pink noch vor der Tür wartete, daher steckte sie das Telefon wieder weg.
Sie sah sich ein letztes Mal im Raum um, dann ging sie hinaus.
„Dieses Zimmer ist ab sofort versiegelt“, erklärte sie Pink, der nickte. „Ich werde dafür sorgen, dass in zehn Minuten Polizeibeamte hier sind. Bis dahin betritt niemand den Raum, ist das klar?“
Pink nickte erneut, und dieses Mal ging Sands voraus, den Gang entlang zurück und die Treppe hinunter.
***
Vor dem Heim rief sie Lindham an und beorderte die Spurensicherung hierher. Da sie nicht genügend Personal hatten, um gleichzeitig das Haus der Slaughters und Sopleys Zimmer zu untersuchen, war sie gezwungen, Prioritäten zu setzen. Sie sagte ihm, sie sollten sich zuerst auf Sopley fokussieren. Dann, da Golding immer noch nicht da war, lief sie ungeduldig auf dem Gelände auf und ab, bevor ihr wieder die Nummer einfiel, die sie auf der Titelseite des Magazins gefunden hatte. Sie wählte sie, aber es klingelte nur ununterbrochen. Und nach etwa zwanzig Mal brach die Verbindung plötzlich ab. Sands war nicht sicher, was das zu bedeuten hatte, also versuchte sie es noch einmal. Aber es geschah genau dasselbe. In diesem Moment kam Golding aus dem Heim und streckte ihr sein Handy entgegen.
„Der Rechtsmediziner, Ma’am. Er ist auf Ihrer Leitung nicht durchgekommen. Er hat etwas gefunden.“
Sie nahm ihm das Telefon aus der Hand, stieg ins Auto ein und schaltete auf Lautsprecher. „Sands hier, was haben Sie?“
„Ich glaube, das wird Ihnen gefallen, Detective.“ Dr. Bhatt klang aufgeregt. „Er hat einen Fehler gemacht.“
„Was für einen?“
Er räusperte sich. „Sie erinnern sich doch sicher, dass ich erwähnt habe, dass wir keine offensichtlichen physischen Spuren des Täters gefunden haben. Dass er anscheinend sehr vorsichtig war?“
„Ja.“
„Tja, er war nicht ganz so vorsichtig, wie ich zuerst dachte. Er hat ein Haar zurückgelassen.“
Sands spürte, wie ihr ganzer Körper auf diese Neuigkeit reagierte. Unwillkürlich ballte sie eine Hand zur Faust.
„Fahren Sie fort.“
„Ein sehr schwarzes und sehr offensichtliches Schamhaar – also eindeutig keines von ihr. Es ragte aus der Unterwäsche des Opfers heraus, halb innen, halb außen. Sonst hätte ich es nicht gefunden vor der Untersuchung im Labor.“
„Ist das genug, um ein DNA-Profil zu erstellen?“
„Oh, mehr als genug.“
„Gut. Es soll mit höchster Priorität analysiert werden.“
„Es ist bereits in Arbeit. Wir werden die Ergebnisse in zwei bis drei Stunden haben. Wenn er in der Datenbank ist, wird er aufscheinen.“
Sands starrte auf das Handy hinab. Sie spürte den Nervenkitzel, wie sich plötzlich alles ineinanderfügte, doch dann fühlte sie sich ein wenig schuldig angesichts dessen, was dem Opfer zugestoßen war. Sie überwand den Zwiespalt, indem sie sich zwang, sich zu beruhigen; es war noch nicht vorbei.
„Vielen Dank, Dr. Bhatt.“
Neun
Sands nutzte die Ruhe im Auto, um den Fall bis zum aktuellen Zeitpunkt zu evaluieren. Bei jeder Ermittlung, in jeder Phase – aber besonders in den kritischen ersten Stunden – drehte sich alles um die Entscheidung, worauf man seine extrem begrenzten Ressourcen angesichts eines potenziell unendlichen Wissensmangels fokussieren sollte. Traf man die richtige Entscheidung, dann lenkte man die Ermittlungen in die richtige Richtung. Traf man die falsche Entscheidung, dann verschaffte man dem Täter möglicherweise Zeit und Raum, um Ablenkungen zu erfinden und Lügen zu verbreiten. Wenn Ermittlungen komplett schiefliefen, dann lag das meistens an den ersten paar Stunden oder Tagen. Das führte dazu, dass viele der Verbrechen nie aufgeklärt wurden.
In diesem Fall gab es bereits viele Spuren zu berücksichtigen. Zu viele. Da war die forensische Untersuchung der Leiche und des Fundorts. Dr. Bhatt war gründlich, und Sinclair wirkte zumindest kompetent. Dann war da das Haus der Slaughters, das nun warten musste, weil sie bereits angeordnet hatte, dass Sopleys Zimmer in St. Austells Vorrang bekommen sollte.
Sie fühlte sich kurz ganz schwindelig vor lauter Druck, alles richtig zu machen. Rodney Slaughter war ein klarer Verdächtiger, aber er war vorerst unter Kontrolle. Es bestand kein Fluchtrisiko seinerseits. Wenn es in dem Haus Beweise gegen ihn gab, dann sollten diese nicht zeitkritisch sein. Es bestand weiterhin die Chance, sie zu finden.
Sie schüttelte energisch den Kopf, um ihre Gedanken neu zu ordnen. Da waren auch noch Janet Slaughter und die Wades – hatte sie da etwas übersehen? Es war kein klares Motiv zu erkennen, wieso einer von ihnen das Mädchen töten sollte, aber das bedeutete noch lange nichts. Sie wusste, dass das Motiv bei Kindermorden wie diesem nicht immer eine Rolle spielte. Zumindest nicht im herkömmlichen Sinne des Wortes. Nicht für diejenigen, die die Denkweise eines Psychopathen nicht nachvollziehen konnten.
Nein. Es war eine Entscheidung nach eigenem Ermessen, aber es war ihr Job, diese zu treffen. Angesichts aller Fakten, die ihr derzeit vorlagen, fühlte es sich richtig an, sich an Sopleys Fersen zu heften. Er hatte ein Motiv, falls das überhaupt etwas zu bedeuten hatte, und er war auf der Flucht, und sie mussten wissen, warum. Aber ihre Vorgehensweise musste ausgewogen sein: Sopley war ihre Priorität, aber sie musste dennoch andere Möglichkeiten in Betracht ziehen.
Diese Gedanken linderten ihre Anspannung nicht. Sie fühlte sich immer noch wie eine Glücksspielerin, die alles auf Rot gesetzt hatte und nun am Roulettetisch stand und zusah, wie die Kugel um die Scheibe rollte und von einer schwarzen Zahl zur nächsten sprang.
***
Sie brauchten keine fünf Minuten bis zum Bahnhof in Wareham. Er lag etwas außerhalb der Stadt, und zwei Polizeiwagen standen bereits davor. Sands stellte sich hinter sie. Sie ging voran in die Schalterhalle, wo es kalt und zugig war. Nur einer der drei Fahrkartenschalter war geöffnet, und die Frau dahinter war die einzige Person weit und breit.
„Überwachungsraum?“, fragte Sands, während sie ihren Ausweis aufklappte.
„Ich lasse Sie rein“, erwiderte die Frau. „Zwei von Ihnen sind schon drin.“ Sie führte sie in einen kleinen, dunklen Raum, in dem zwei Männer bereits die Aufnahmen der Überwachungskameras auf einer Reihe von Bildschirmen durchgingen. Sie blickten bei der Unterbrechung auf, murmelten eine respektvolle Begrüßung an Sands gerichtet und ignorierten Golding. Die Ticketverkäuferin ließ sie allein.
„Haben Sie etwas gefunden?“
„Noch nicht, Ma’am.“ Der Mann, der das System bediente, zeigte auf die Monitore. „Wir haben eine Kamera an jedem Ende der beiden Plattformen und zwei weitere an den beiden Eingängen. Die letzte hier überblickt die Fahrkartenschalter. Wir erfassen jedes Mal, wenn wir eine weiße, männliche Person sehen, den Zeitstempel, aber bis jetzt passt niemand auf die Beschreibung.“
„Also gut. Wir stehen unter Zeitdruck. Können Sie alle Bildschirme auf einmal abspielen?“
„Ja, Ma’am. Und wir spielen alles mit vierfacher Geschwindigkeit ab. Wir müssen vier Stunden abdecken, es sollte also nicht allzu lange dauern. Außerdem sind Lukas und Willoughby draußen je auf einem Bahnsteig postiert, nur für den Fall, dass er jetzt auftaucht.“
„Gut. Machen Sie weiter.“ Sands stellte sich hinter sie und sah zu, wie sich die Bilder wieder in Bewegung setzten. Die Bildschirme waren die einzige Lichtquelle in dem kleinen, abgedunkelten Raum. Selbst bei vierfacher Geschwindigkeit war deutlich, dass kaum etwas los war. Wareham war keine große Stadt, und an einem Februarwochenende gab es nicht viel auf den Überwachungskameras zu sehen. Der Detective steuerte die Aufnahmen mithilfe eines in den Schreibtisch eingelassenen Balles. Jedes Mal, wenn eine Person auf einem der Bildschirme auftauchte, drehte er den Ball, um das Filmmaterial zu verlangsamen, aber keine von ihnen war Michael Sopley.
Irgendwann rauschte ein Zug mit fast schon komisch überhöhter Geschwindigkeit ins Bild. Der Detective spulte zurück, sodass er noch einmal mit annähernd normaler Geschwindigkeit einfuhr. Eine Frau mit Einkaufstaschen stieg aus, gefolgt von zwei Teenagern mit Skateboards, auf die sie sofort aufsprangen, um den leeren Bahnsteig hinunterzufahren. Eine zweite Frau, die älter war als die erste, ging den Bahnsteig entlang und stieg in den Zug ein, wobei ihre beschleunigten Bewegungen wie das Watscheln eines Zeichentrick-Pinguins aussahen. Ein paar Sekunden später – in Echtzeit ein paar Minuten – fuhr der Zug wieder ab, ohne dass weitere Fahrgäste zu sehen waren.
„Welcher Zug war das?“, fragte Sands.
„Der Elf-Uhr-Zug.“
„Das ist der, in dem er hätte sitzen sollen“, sagte Golding.
Die Bildschirme zeigten nun wieder einen leeren Bahnhof ohne jegliche Züge oder Menschen. Ein paar Minuten darauf passierte der Zeitstempel am unteren Rand des Hauptbildschirms den Zeitpunkt, an dem die anderen Detectives am Bahnhof eingetroffen waren. „Sieht nicht so aus, als wäre er in einen Zug gestiegen, Ma’am.“
Tief in Gedanken versunken stand Sands im Dunkeln. „Bei welcher Zeit haben Sie begonnen?“
„Zehn Uhr dreißig, Ma’am. Gleiche Zeit, um die Sopley das Heim verlassen haben soll.“
„Gehen Sie alles noch einmal durch. Starten Sie diesmal früher und lassen Sie es langsamer laufen.“
Der Mann zögerte einen Moment, als wäre er sich der Sinnlosigkeit der Sache bewusst, aber er tat, was sie verlangte. Sie wartete, bis er die Maschine bis zu neun Uhr zurückgespult hatte, und schaute sich die gesamten Aufzeichnungen noch einmal an, diesmal in dem Wissen, dass er nicht auftauchen würde.
„Er macht sich also mit einem Zugticket in der Tasche aus dem Staub, benutzt es aber nicht. Warum nicht?“ Es war mehr als rhetorische Frage gemeint, aber Sands hatte nichts dagegen, als Golding antwortete.
„Vielleicht dachte er, im Zug wäre er zu leicht zu verfolgen?“
„Das heißt, er muss geahnt haben, dass wir ihn verfolgen würden.“
Sie warteten, bis der Zeitstempel am unteren Bildschirmrand ein zweites Mal zwölf Uhr passierte, bevor Sands den Überwachungsraum verließ und ihr Handy zückte. Dieses Mal ordnete sie eine breitere Überprüfung der Überwachungskameras an, die die ganze Stadt und auch andere Städte in der Umgebung abdeckten. Dann stiegen sie und Golding wieder ins Auto und fuhren zur neu eingerichteten Ermittlungszentrale.
Zehn
DI Lindham, der mit der Einrichtung der Ermittlungszentrale beauftragt war, erteilte gerade ein paar IT-Mitarbeitern Anweisungen, die die Computer und Telefone anschlossen. Eine Reihe anderer Beamter vom MID sowie von anderen Abteilungen der South West Police Force waren bereits an der Arbeit. Sands erregte Lindhams Aufmerksamkeit und deutete auf ein leeres Büro, dann schickte sie Golding los, um Kaffee zu holen.
Als Lindham hereinkam, bat sie ihn zu warten. Sie brauchte einen Moment, um ihre Gedanken zu ordnen. Golding kam mit drei Pappbechern Kaffee zurück. Er stellte sie auf dem Schreibtisch ab und schloss die Tür.
„Also gut.“ Sands nickte Lindham zu. „Wo stehen wir mit den Slaughters?“
„Wir sprechen gerade mit der Mutter“, antwortete er. „Ich war eine Weile mit dabei. Sie sagt, sie habe das Mädchen gestern Abend gegen sieben ins Bett gebracht und sei dann heute Morgen in ihr Zimmer gegangen, und da war sie weg. Sie behauptet, sie habe nichts gehört. Sie ist allerdings ziemlich neben der Spur. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt weiß, was sie da sagt.“
Sands nippte an ihrem Kaffee. „Was ist mit dem Vater?“
„Wir haben ihn isoliert. Ich dachte mir, dass Sie diejenige sein wollen, die mit ihm spricht.“
Sands erwog dies kurz, dann nickte sie. „Aber er wird warten müssen. Was gibt es sonst noch?“
Lindham warf einen Blick auf eine hastig gekritzelte Liste auf seinem Notizblock. „Die Spurensicherung ist jetzt in Sopleys Zimmer. Bisher noch nichts. Aber bei den Schlössern im Haus der Slaughters haben wir was gefunden. Wir haben einen forensischen Schlosser, einen richtig guten, der zufällig in der Nähe war. Er ist gerade vor Ort, aber er hat angerufen und gesagt, dass er Ihnen zustimmt: Es gibt Anzeichen dafür, dass das Schloss an der Schlafzimmertür geknackt worden sein könnte.“
„Geknackt worden sein könnte?“
„Er nimmt die Schlösser mit ins Labor, um sicherzugehen. Aber er glaubt schon.“
„Okay. Gut. Was ist mit dem Haar? Das der Rechtsmediziner gefunden hat? Wissen wir schon mehr darüber?“
Lindham schüttelte den Kopf. „Noch nicht, aber sie haben alles andere stehen und liegen lassen, um an diesem Fall zu arbeiten. Es wäre ein kleines Wunder, aber wir könnten schon in der nächsten Stunde etwas hören. Das heißt, wenn der Besitzer des Haares in der Datenbank ist.“
„Wenn es Sopley gehört, wird er das sein“, erwiderte Sands nachdenklich. „Wir brauchen auch einen Abstrich von Rodney Slaughter.“
„Schon erledigt, Ma’am. Er hat keinen Einspruch erhoben.“
„Und von Steven Wade.“
„Jawohl, Ma’am.“
Sands war immer noch unzufrieden und trommelte einige Augenblicke lang mit den Fingern auf den Schreibtisch. „Okay.“ Sie zeigte auf einen Computer. „Können wir Sopleys Akte darauf aufrufen? Er war in Einbrüche verwickelt, was war seine Vorgehensweise?“
Innerhalb weniger Sekunden hatte Golding sich in das System eingeloggt. Seine Finger flogen über die Tasten, um die Akte von Sopley aufzurufen. Sands und Lindham beugten sich über seine Schultern, um einen besseren Blick zu haben. „Er bricht ein …“, las Golding vor, während er den entsprechenden Text überflog. „Er stiehlt nichts, er spielt nur mit dem Spielzeug … mit den Puppen.“ Er brach ab.
„Aber wie? Wie kommt er hinein?“
Golding klickte auf einen anderen Teil der Datei. „Hier.“ Er zeigte mit dem Finger auf die Stelle. „Ach du Scheiße.“
Sands las den Abschnitt, auf den er zeigte, laut vor: „Es gab zwar keine sichtbaren Schäden an Türen oder Fenstern im Haus, aber eine anschließende Inspektion durch forensische Schlosser ergab die Verwendung von Dietrichen und eines Spanners. Sopleys beruflicher Werdegang zeigt, dass er fast zehn Jahre als gewerblicher Schlosser tätig war.“ Sie trommelte wieder mit den Fingern auf die Tischplatte, bis sie durch das Klingeln ihres Handys unterbrochen wurde. Es war der Rechtsmediziner. Sands stellte den Anruf auf Lautsprecher. „Dr. Bhatt, Sie sind auf Lautsprecher. Was haben Sie für uns?“
Er schien kurz zu zögern. Als er schließlich sprach, klang er atemlos und redete sehr schnell. „Wir haben einen Treffer bei den Ergebnissen der DNA aus dem Haar.“
„Haben Sie die Ergebnisse?“
„Ja, und wir haben sie überprüft. Wir haben einen Namen.“
Sands blickte weiterhin ins Leere. Sie war sich bewusst, dass die beiden Männer neben ihr den Atem anhielten. „Und?“
„Er ist im Register der Sexualstraftäter. Ein dreiundvierzigjähriger Mann namens Michael Sopley. Geschrieben Sierra, Oscar …“
„Er ist uns bekannt. Wir haben seine Akte schon vor uns auf dem Schirm“, unterbrach Sands.
„Oh. Na dann. Ich wollte Ihnen so schnell wie möglich Bescheid geben.“
„Ich danke Ihnen, Dr. Bhatt. Vielen, vielen Dank.“ Sie legte auf.
Einen Moment lang sagte Sands nichts, aber ihr Herz raste. Sie wandte sich an Lindham. Die Zeit der Ausgewogenheit war vorbei. „Ich will, dass alle verfügbaren Einheiten nach Sopley suchen. Alles andere ist zweitrangig. Durchsuchen Sie Nebengebäude, Scheunen, jegliche leer stehenden Häuser. Fordern Sie sämtliche Überwachungsaufzeichnungen an, die Sie bekommen können.“ Sie hielt inne und dachte nach. „Alarmieren Sie sicherheitshalber auch alle Sportvereine, bei denen Kinder zusammenkommen. Vor allem wenn sie in dem Alter sind, in dem sie mit Puppen spielen. Er weiß, dass wir ihm auf der Spur sind, und er weiß, dass er keine weitere Chance bekommen wird, sobald wir ihn geschnappt haben. Er könnte versuchen, noch einmal zu töten, bevor es so weit ist.“