Leseprobe Die dunkle Begierde des Earls

1

London, April 1826

Ohne auf das Gedränge und den Lärm im Salon zu achten, betrachtete Julian Southwood, Earl of Erith, die berühmte Kurtisane, die er als nächste Gespielin auserkoren hatte. Obwohl man im eleganten Mayfair war und trotz der milden Frühlingsluft, roch es so durchdringend nach käuflichem Sex wie auf den Sklavenmärkten von Konstantinopel oder Marrakesch.

Es waren überwiegend Männer anwesend, die die wenigen verführerisch zurechtgemachten Frauen, die durch den Raum flanierten, genauso wenig wahrnahmen wie die verblüffend realistischen Details des großen Wandgemäldes, auf dem die Entführung des Hirtenknaben Ganymed durch den wilden Zeus zu sehen war.

Auf einem Podium in der Ecke kämpften sich ein Geiger und ein Pianist verbissen durch eine Mozart-Sonate, die aus einer anderen, einer reinen, unbefleckten Welt zu stammen schien.

Einer Welt, in der der Earl of Erith schon seit langer Zeit nicht mehr zu Hause war.

Er schüttelte den Kopf, um diesen düsteren Gedanken zu vertreiben, und wandte sich seinem Begleiter zu: »Stellen Sie mich vor, Carrington.«

»Gerne, alter Freund.«

Carrington brauchte nicht zu fragen, welcher Frau Eriths Interesse galt. Schließlich nahmen alle anwesenden Männer nur die eine gertenschlanke Frau, die mit einstudierter Nonchalance auf der Chaiselongue vor einem der westlichen Fenster saß, wahr.

Erith war bewusst, dass sie diese Position mit Bedacht bezogen hatte. Die goldfarbenen Sonnenstrahlen fielen schimmernd auf ihr locker aufgestecktes, lohfarbenes Haar, und ihr leuchtend rotes Kleid sah in dem hellen Licht wie eine Feuersäule aus. Ein dramatischer Effekt, wie bei einer Aufführung des königlichen Hoftheaters, dachte er.

Selbst ihm, der alle Tricks der Kurtisanen kannte, hatte der Atem angesichts ihrer Ausstrahlung gestockt. Sein Blut hatte den düsteren, pulsierenden Gesang körperlichen Verlangens angestimmt, seine Haut hatte gekribbelt, und er hatte gewusst, dass er nicht eher Ruhe finden würde, als bis er sie bekam.

All das hatte sie bewirkt, obwohl sie ganz am anderen Ende des Salons gesessen hatte, als er eingetreten war.

Sie war allerdings auch keine durchschnittliche Kurtisane.

Sonst wäre der Earl nicht hier. Der Earl of Erith nahm von allem immer nur das Beste. Er ging zum besten Schneider in der Stadt, kaufte stets die besten Pferde und die besten Frauen.

Selbst ein anspruchsvoller Mann wie er musste sich unumwunden eingestehen, dass diese ganz spezielle Hure eine wirklich erstklassige Ware war.

Zwei außergewöhnliche Frauen hatten in den letzten Jahren in London für Aufsehen gesorgt. Soraya – dunkel, kühl, geheimnisvoll –, die den Herzog von Kylemore geheiratet und dadurch den Skandal des Jahrzehnts heraufbeschworen hatte. Und die Frau, die jetzt vor Erith saß und sich bewundern ließ, als wäre sie das kostbarste Juwel.

Er musterte sie so, wie er die Tiere musterte, wenn er, bei einem Pferdehändler war.

Himmel, ihr leuchtend rotes, enges Kleid betonte noch, wie ungewöhnlich groß und schlank sie war. Sie würde geradezu perfekt zu seinem großen, muskulösen Körper passen, auch wenn ihm für gewöhnlich eher etwas an fülligeren, üppigeren Frauen lag. Wie an dem charmanten, drallen, blonden Gretchen, das er in Wien zurückgelassen hatte.

Dieses Weib war das genaue Gegenteil von ihr. Während die Tiroler Schönheit weiche, nachgiebige Rundungen geboten hatte, verströmte diese Frau beinahe ein Übermaß an Eleganz. Ihr Busen wirkte geradezu bescheiden, ihre Taille lang und schlank, und die Beine unter ihrem schmal geschnittenen Rock waren bestimmt so wohlgeformt und lang wie die eines Vollblutpferdes.

Gretchen war blutjung gewesen, während sie bestimmt schon an die dreißig war. Viele Frauen in diesem Alter waren bereits leicht verblichen, doch dieser Paradiesvogel führte seine Regentschaft über die männlichen Mitglieder der besseren Gesellschaft unangefochten fort. Die Tatsache, dass sie bereits seit Jahren die begehrteste Mätresse in ganz London war, machte sie noch reizvoller für ihn.

Sein Blick glitt ein Stück an ihr hinauf. Nach den Schwärmereien, die er in den Clubs vernommen hatte, und aufgrund des beinahe schmerzlichen Verlangens in den Stimmen ihrer zahlreichen Bewunderer hatte er gedacht, sie stelle ihre Waren recht freizügig zur Schau. Aber wie ihr Körper sah auch ihr Gesicht vollkommen anders als erwartet aus.

Sie hatte ein kantiges, beinahe maskulines Kinn, eine et was zu lange Nase, ein wenig zu hoch angesetzte Wangenknochen und große, schräg stehende Augen, deren Farbe von dem Platz neben der goldgerahmten Tür, an der er stand, nicht zu erkennen war.

Augen einer Katze. Augen einer Tigerin.

Und ihr Mund …

Wahrscheinlich war ihr Mund der Grund für die außergewöhnliche Anziehungskraft, die sie auf die Männerwelt ausübte. Vielleicht war er etwas zu groß. Aber wer würde sich darüber beschweren? Kein Mann konnte diese vollen Lippen ansehen, ohne von ihnen geküsst werden zu wollen, dachte er. Bei dem Gedanken an die herrlich dekadenten Freuden, die sie ihm damit bereiten könnte, spürte er ein leichtes Ziehen in seinem Unterleib.

Es gab keinen Zweifel. Dieses Weibsbild hatte etwas an sich, das den Männern den Verstand raubte.

Sie war keine ausgemachte Schönheit, sie war nicht mehr jung, und sie pries ihre Vorzüge nicht wie billigen Tand auf einem Jahrmarkt an. Wenn er ihr bei einer ehrenwerten Soiree begegnet wäre statt auf diesem anrüchigen Fest, hätte er sie für ein Mitglied seiner eigenen Klasse halten können.

Was nach all der Aufregung im Vorfeld überraschend und enttäuschend für ihn war.

Doch noch während er die viel gerühmten Reize dieser Kurtisane abtat, lenkte er den Blick bereits auf dieses beinahe herbe, seltsam vornehme Gesicht zurück. Mit dem sündig vollen Mund. Dem prächtig vollen Haar. Und dem langen, geschmeidigen Körper, der in vollkommen entspannter Haltung auf dem Sofa saß, während sich um sie herum ein endloser Strom von Bewunderern ergoss.

Sie war die mächtigste Person im Raum. Selbst aus der Distanz spürte er die sexuelle Energie, die um sie herum zu brodeln schien.

Spöttisch lächelnd blickte sie sich um, ihr stolz gerecktes Kinn zeugte von Verachtung, Trotz und gleichzeitigem Mut.

Er versuchte, sich der Lockung dieses Wesens zu entziehen. Doch sein leichtfertiges Herz schlug bereits mit dem Nachdruck eines Trommlers vor Beginn der Schlacht.

Er hatte etwas völlig anderes erwartet, doch er musste sich gestehen, dass sie ein ganz besonderes Niveau besaß.

Sie hob den Kopf, lächelte über etwas, was der Weichling von sich gab, der direkt neben ihrem Ellenbogen stand. Beim Anblick ihrer lässig verzogenen, vollen roten Lippen wogte die Erregung wie ein heißer Lavastrom durch Erith. Dieses Lächeln zeugte von Wissen, Intelligenz und einem sexuellen Selbstbewusstsein, wie es ihm, obwohl er seit fast sechzehn Jahren ständig mit gefallenen Frauen verkehrte, noch nie bei einem weiblichen Wesen begegnet war. Er musste mühsam schlucken, denn obgleich er dieses Spiels allmählich überdrüssig war, rief diese Frau heißes Interesse in ihm wach. Das begehrliche Summen seines Blutes nahm noch zu.

Oh ja, sie würde ihm gehören.

Nicht nur, weil sie die begehrteste Mätresse von ganz London war und seine Selbstachtung es nicht erlaubte, dass er sich mit weniger zufriedengab. Sondern weil er sie wirklich wollte.

Und zwar mehr als irgendetwas anderes seit langer, langer Zeit.

 

»Miss Raines, wie schön, dass wir uns hier begegnen. Ich hoffe, es geht Ihnen gut.«

Olivia blickte von der wilden römischen Orgie auf ihrem Seidenfächer auf. Vor ihr stand Lord Carrington. Er hatte jahrelang um ihre Gunst geworben. Worauf sie jedoch um seinetwillen niemals eingegangen war. Er war ein guter, anständiger Mann und hatte etwas Besseres als sie verdient. Trotzdem setzte sie – da er ein guter, anständiger Mann war – ein warmes Lächeln auf und reichte ihm die in einen langen, leuchtend roten Handschuh gehüllte rechte Hand.

»Sehr gut, Lord Carrington. Und Ihnen?«

Der alte gesellschaftliche Tanz. Sie konnte gar nicht sagen, wie leid sie dieses dümmliche Geplänkel war. Beinahe so leid wie ihr momentanes Leben.

Tapfer kämpfte sie gegen die Langeweile an.

Sie war hier, um einen neuen Liebhaber zu wählen. Schließlich konnte sie nicht ewig bei dem armen Perry bleiben, obwohl er kein Geheimnis daraus machte, dass er überglücklich über ihren Aufenthalt in seinem Stadthaus war. Auch jetzt stand er wie eine besorgte Gouvernante direkt neben ihr.

Olivia wünschte sich, es wäre ihr nicht vollkommen egal, wer als Nächster mit ihr schliefe. Sie brachte einfach nicht das mindeste Interesse dafür auf. Doch sie musste sich entscheiden. Schließlich hing ihr hart erarbeiteter Ruf als Beherrscherin des männlichen Geschlechts von ihrer Auswahl ab.

Auch diesen Ruf war sie inzwischen leid.

»Bestens, vielen Dank.« Carrington küsste ihr die Hand. »Darf ich Ihnen den Earl of Erith vorstellen, der vor Kurzem aus dem Ausland zurückgekommen ist und die Saison über in London bleibt?«

Ohne auch nur das mindeste Interesse – schließlich war der Earl trotz seines Titels ein Mann wie alle anderen auch – zog sie ihre Hand zurück und hob den Kopf, um sich Carringtons Begleiter anzusehen.

Ein riesengroßer Mann. Sie riss die Augen auf, und ihr Blick wanderte an einem schlanken, muskulösen, hoch modisch gekleideten Leib hinauf, bis sie in zwei stahlgraue Augen sah. Vielleicht rührte ihre Farbe aber auch nur von der Kälte, die in diesen Augen blitzte, her. Wenn sie auch nur einen Bruchteil weniger selbstbewusst wäre, wäre sie unter dem eisigen Blick dieses Fremden sicherlich erbleicht.

Aber sie war Olivia Raines, Londons berühmteste Kurtisane, und auch wenn sie ihren Ruf zum Teufel wünschte, wusste sie doch ganz genau, wie sie ihn am besten nutzte, um einen potenziellen Gönner anzuziehen.

Sie behielt ihre gebieterische Miene bei. »Mylord.«

»Miss Raines.«

Wie zuvor Lord Carrington küsste ihr auch der Earl galant die Hand, und selbst durch den Stoff des Handschuhs spürte sie die Kühle seiner Haut. Während eines seltsamen Moments nahm sie nur noch seine starken Finger wahr und seinen schimmernd dunklen Schopf, dessen leicht geneigte Haltung eher dominant als höflich war.

Ihr Puls fing an zu rasen, und das feine Haar in ihrem Nacken sträubte sich.

Was in aller Welt war plötzlich mit ihr los? Blinzelnd zwang sie sämtliche Gedanken in die Wirklichkeit zurück.

Sie musste sich einen neuen Gönner suchen. Das war die Wirklichkeit.

Lord Erith, das hatte sie sofort erkannt, wäre sicherlich kein schlechter Kandidat.

Er hielt ihre Hand nicht länger, als der Anstand es gebot.

Er ließ seinen Blick nicht lüstern an ihr hinunterwandern, und in seinen Augen blitzten weder glühendes Verlangen noch Besitzgier oder Verachtung auf. Manche Männer sahen sie verächtlich an, als wäre es verachtenswert, dass sie über sich selbst bestimmte, während gleichzeitig die Freiheit dieser Männer Grund zum Feiern war.

Nein, der Earl of Erith sah sie völlig reglos an.

Nichts wies darauf hin, dass er entschlossen war, ihr Liebhaber zu werden. Weshalb also war sie fest davon überzeugt?

Mit seinem kantigen Kinn, der erhabenen Nase und dem dichten, schwarzen Haar war er ein Bild von einem Mann. Weshalb war er ihr nicht schon viel früher aufgefallen? Er war ohne jeden Zweifel schwer zu übersehen. Bereits aufgrund seiner beeindruckenden Größe sowie seines guten Aussehens hätte sie den Mann bemerken müssen, und dank der Autorität, die er verströmte, zog er sicher überall sämtliche Blicke auf sich.

Ob es etwas gab, was er hinter der Fassade der Autorität verbarg?

Sofort unterdrückte sie die aufsteigende Neugier. Weshalb sollte es sie interessieren, was dieser verwöhnte Gesellschaftslöwe verbarg? Er war nur ein weiterer Mann, den sie benutzen und dann fallen lassen würde. Dieses Muster änderte sich nie.

Mit einer Lässigkeit, die der Königin der Kurtisanen würdig war, hob sie ihren Fächer wieder an und schwenkte ihn sanft vor ihrem Gesicht. Dabei achtete sie sorgsam darauf, dass das Bild der beiden nackten Männer, die die Nymphe oben und unten gleichzeitig befriedigten, in seine Richtung wies. Ein Schachzug, der wahrscheinlich ziemlich kindisch war, doch irgendetwas an dem Earl forderte sie geradezu heraus, dafür zu sorgen, dass er aus dem Gleichgewicht geriet.

Lord Carrington errötete und blickte eilig fort. Lord Eriths Blick jedoch fiel erst auf den Fächer und dann wieder auf ihr Gesicht. Obwohl ihre demonstrative Geste ihn eindeutig amüsierte, zeigten seine silbrig grauen Augen unter den schweren Lidern keine Reaktion.

»Nun, Mylord, wie gefällt es Ihnen in der Hauptstadt?«, fragte sie in ruhigem Ton.

»Ich stelle gerade fest, dass es hier unerwartete Schönheiten zu entdecken gibt«, gab er tonlos zurück.

Aha. Das Spiel begann.

»Wie nett von Ihnen«, antwortete sie. Sie würde gar nicht erst so tun, als würde sie ihn nicht verstehen, denn falsche Scham hatte noch nie zu ihrem Handwerkszeug gehört. »Ich hoffe, Sie bekommen noch Gelegenheit, sie näher zu erforschen.«

»Das ist mein größter Wunsch, Miss Raines. Darf ich Sie vielleicht einmal besuchen?«

»Olivia ist sehr beschäftigt«, erklärte Perry scharf und legte eine Hand auf ihre nackte Schulter.

Sie bedachte ihren Freund und Gastgeber mit einem überraschten Blick. Wie feindselig er klang! Offen gestanden hatte sie über ihrem stummen Duell mit dem Earl of Erith beinahe vergessen, dass er in der Nähe stand.

»Ich glaube nicht, dass ich das Vergnügen schon hatte«, erklärte der Earl in demselben neutralen Ton und wandte seinen kalten Blick endlich von ihr ab.

»Lord Peregrine Montjoy«, Carrington sah unbehaglich zwischen beiden Männern hin und her. »Lord Peregrine, der Earl of Erith.«

Perry verstärkte seinen Griff um ihre Schulter und fuhr den unglücklichen Mittler an: »Ich weiß schon, wer das ist.«

Was war nur mit ihm los? Er wusste ganz genau, was der Zweck dieser Versammlung war. Sie hatten sogar über potenzielle Kandidaten diskutiert. Der Name Erith war dabei nicht aufgetaucht, aber schließlich hatte sie auch bis vor wenigen Minuten nichts von seiner Existenz gewusst.

»Lord Peregrine.« Eriths Stimme blieb vollkommen ruhig, doch die beiden Worte kamen ihr trotzdem wie eine Warnung vor.

Sie fasste einen plötzlichen Entschluss. »Ich werde morgen Nachmittag um vier zum Tee hier sein.«

»Zum Tee.« Das Gesicht des Earls blieb völlig ausdruckslos, doch sie wusste ganz genau, dass sie den Kerl endlich aus dem Konzept gebracht hatte.

»Ja, zum Tee.«

Hatte er gedacht, er brauchte nur darum zu bitten, und schon ginge sie mit ihm ins Bett? Aber schließlich war er erst seit Kurzem wieder hier und wusste deshalb vielleicht nicht, dass immer sie es war, die ihre Bettgenossen wählte, die die Regeln festlegte und die Verhältnisse beendete, wenn ihr danach zumute war. Sie war geradezu berüchtigt für ihr Maß an Unabhängigkeit. Gerade deshalb war sie auch so begehrt.

Es war nicht zu übersehen, dass auch Lord Carrington gern von ihr eingeladen worden wäre, doch sie ignorierte ihn. Er war für eine Frau wie sie einfach nicht gemacht. Wohingegen dieser Erith eindeutig ein völlig anderes Kaliber war.

»Vielen Dank. Da schließe ich mich gerne an«, meinte er mit einer Stimme, die so ausdruckslos wie seine Miene war, doch Olivia wusste instinktiv, dass er hinter der gelassenen Fassade ein Triumphgefühl verbarg.

»Dann also bis morgen.«

»Dann also bis morgen«, wiederholte er und beugte sich noch einmal über ihre Hand. »Miss Raines.«

»Mylord.«

Mit beeindruckender Leichtigkeit bahnte er sich einen Weg durch das Gewühl. In dem Saal drängte sich die Creme der Londoner Gesellschaft oder wenigstens die männliche Hälfte dieser Creme. Dem Earl of Erith machten selbst die Reichsten und die Mächtigsten von ihnen eilig Platz.

 

»Wie kannst du auch nur in Erwägung ziehen, dir diesen Schuft zu angeln?« Der in einen violetten Hausmantel gehüllte Perry warf sich auf ihr Bett und starrte die mit tanzenden Liebesgöttern verzierte Stuckdecke des Zimmers an.

»Ich habe mich ja noch gar nicht entschieden.« Olivia legte die schwere Silberbürste auf ihrem Frisiertisch ab und sah Perry im Spiegel an. Sie brauchte nicht zu fragen, wen er meinte, weil der Earl of Erith bereits unsichtbar im Raum zu schweben schien, seit ihr Freund vor wenigen Minuten durch die Tür gestürmt war.

»Er denkt aber, dass er dich für sich gewonnen hat«, stellte Perry schmollend fest.

»Auch wenn er das vielleicht denkt, ist das noch lange nicht der Fall.« Sie blickte forschend auf den attraktiven jungen Mann, der sich auf ihrem Laken räkelte und der aussah wie ein zum Leben erwachtes Gemälde von Caravaggio. »Warum magst du Erith nicht?«

»Er ist ein arroganter Arsch.«

»Stimmt. Aber das sind die meisten Männer der so genannten besseren Gesellschaft. Was weißt du über ihn?«

»Ich weiß, dass er entsetzlich eingebildet ist und dass er mehr als seinen Teil der Petticoat-Brigade verschlissen hat. Er ist seit sechzehn Jahren im diplomatischen Dienst im Ausland unterwegs und war seither nur selten hier. Wohin er auch geht, wählt er die populärste Kurtisane als seine Mätresse aus und lässt sie dann einfach sitzen, wenn er weiterzieht.«

»Das ist mir egal«, meinte Olivia ruhig. »Schließlich habe ich auch nicht die Absicht, diesem Typen bis ans Lebensende treu zu sein.«

»Er behandelt Frauen wie Trophäen.« Perry runzelte die Stirn, weil er mit seiner Empörung über den Mann offenbar alleine war. »Das schmeichelt seiner Eitelkeit. Jetzt ist er wegen der Hochzeit seiner Tochter hier …«

»Der Hochzeit seiner Tochter?« Ihr Griff um die Haarbürste verstärkte sich. Aus irgendeinem Grund hatte sie noch nicht an eine Ehefrau gedacht. Wie dumm. Schließlich ging Lord Erith auf die vierzig zu, und in dem Alter gab es kaum noch einen ungebundenen Mann. »Dann ist er also verheiratet?«

Vielleicht ließe sie sich doch nicht mit ihm ein. Das einzige Prinzip, von dem sie bisher niemals abgewichen war, war, dass sie nur Geliebte ohne Ehefrauen nahm. Trotz vieler extravaganter Angebote auch von verheirateten Herren hielt sie sich an ihren Schwur, niemals wissentlich das Herz einer anderen Frau zu brechen.

Perry verzog unglücklich die vollen Lippen. »Nein, das ist er leider nicht.« Er kannte ihr Prinzip genauso gut wie sie. »Er hat jung geheiratet, aber seine Frau ist bei einem Reitunfall gestorben, nachdem sie ihm zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, geboren hat. Die geplante Hochzeit seiner Tochter ist eins der Hauptthemen der Saison. Ich weiß, dass du dich in den letzten Monaten von allem zurückgezogen hast, aber du hast doch sicher schon gehört, dass Lady Roma Southwood Thomas Renton, den Erben des alten Wainfleet, heiraten soll.«

»Nein, davon habe ich noch nichts gehört.« Sie hatte das Gefühl, als käme ihre Stimme irgendwo aus weiter Ferne, und atmete tief ein. War es etwa Erleichterung, was sie empfand? Schließlich waren alle Männer gleich, obwohl selbst sie gestehen musste, dass der Earl of Erith deutlich interessanter als die meisten anderen Männer war. Wenn auch vielleicht nur, weil er ein Fremder war.

Sie blickte in den Spiegel und bemerkte ihren sorgenvollen Blick. Vielleicht.

Sie ließ die Bürste los und drehte sich zu Perry um. »Du hast mir noch nicht gesagt, ob er vermögend ist.«

Obwohl sich Perrys unglückliche Miene noch verstärkte, log er nicht. »Er ist reich wie Krösus.«

»Dann ist er perfekt.«

Doch am Nachmittag hatte er noch nicht perfekt auf sie gewirkt. Seine attraktiven Züge mit den kalten grauen Augen und der zynische Gesichtsausdruck hatten sie aus dem Gleichgewicht gebracht.

Er hatte ausgesehen wie ein Mann, der schon alles erlebt hat, doch niemals irgendetwas empfand.

»Er ist alles andere als perfekt«, stieß Perry wütend aus. »Er ist ein fürchterlicher Grobian, der einer Frau nicht die geringste Freundlichkeit zu bieten hat. Er steht in dem Ruf, gnadenlos zu sein. Auf dem Kontinent hat er sich regelmäßig duelliert und dabei mindestens drei Männer umgebracht. Wäre er nicht so verdammt brillant, hätte ihn das Außenministerium schon lange nach Hause geholt. Er ist eine Schande für sein Land und für seinen Namen. Großer Gott, Olivia, er hat seine eigenen Kinder seiner Schwester aufgehalst, kaum dass seine Frau unter der Erde war, und hat sie seither kaum gesehen. Er interessiert sich nur für sein eigenes Vergnügen, und Gnade jedem, der ihm dabei in die Quere kommt. Klingt das etwa nach einem Mann, dem du dich anvertrauen willst?«

Sie hatte Perry nie zuvor derart erbost erlebt. »Warum regst du dich so auf? Schließlich hältst du selbst dich auch nicht gerade an die herrschende Moral.«

Er presste die Lippen aufeinander und starrte sie böse an. »Aber ich kümmere mich zumindest um die Menschen, die mir wichtig sind. Früher hattest du einen größeren Selbsterhaltungstrieb. Nimm doch einfach Carrington, wenn du überhaupt jemanden nehmen musst. Er ist total verrückt nach dir und alles andere als arm. Oder bleib am besten einfach hier.«

»Ich kann nicht bis an mein Lebensende bei dir unterkriechen, Perry.« Sie hatten diesen Streit bereits des Öfteren ausgefochten. Doch auch wenn ihre gelegentlichen Aufenthalte in dem opulenten Stadthaus ihres Freundes ihnen beiden nützlich waren, zöge sie auf keinen Fall für immer bei ihm ein. Sie fing an, sich das Haar zu flechten, um ins Bett zu gehen. »Ich würde Carrington das Herz brechen, wohingegen dieser Erith sicher gar keins hat. Keine Angst, ich komme ganz bestimmt mit ihm zurecht.«

»Er ist clever, gnadenlos und egozentrisch, am Ende tut er dir wahrscheinlich furchtbar weh.«

Sie hielt im Flechten ihrer Haare inne. »Ist er etwa gewalttätig?« So hatte Erith nicht auf sie gewirkt, aber vielleicht hatte Perry – diese Klatschtante – ja wieder einmal irgendetwas aufgeschnappt, was ihr entgangen war.

»Nein«, räumte er widerstrebend ein. »Zumindest habe ich davon noch nichts gehört. Doch es gibt auch Möglichkeiten, Frauen zu verletzen, ohne sie zu schlagen.«

War sie dafür nicht der lebende Beweis? Bevor die grausame Erinnerung die Krallen in ihre Seele schlagen konnte, erwiderte sie eilig: »Ich kann schon auf mich aufpassen. Du schreibst dem Mann eine Macht zu, die er nicht hat.«

Der Ärger in Perrys Gesicht wurde durch einen Ausdruck schmerzlicher Sorge ersetzt. Sie liebte nur zwei Männer auf der Welt, und da er einer dieser beiden war, tat es ihr weh, ihn ihretwegen unglücklich zu sehen. Aber sie entschied allein, mit wem sie schlief.

»Was ich sage, stößt bei dir ja sowieso auf taube Ohren«, stellte Perry traurig fest. »Du hast dich schon entschieden, stimmt’s?«

Zumindest ging sie davon aus. Obwohl die letztendliche Entscheidung davon abhing, wie das morgige Gespräch beim Tee verlief. Unweigerlich musste sie lächeln, als sie daran dachte, wie schockiert der Earl von ihrer Einladung zu diesem harmlosen Getränk gewesen war.

»Ja.« Sie band das Ende ihres Zopfs und schüttelte den Morgenmantel ab, unter dem sie noch das schlichte, weiße Nachthemd trug, in dem sie in ihren freien Nächten schlief. »Mein nächster Geliebter wird der Earl of Erith.«

»Dann bleibt mir nur noch zu sagen, behüte dich Gott.« Perry rollte sich vom Bett, küsste sie zärtlich auf die Wange und wandte sich zum Gehen. »Gute Nacht, Darling.«

»Gute Nacht«, murmelte sie und starrte ins Feuer, als Perry die Tür des Schlafzimmers hinter sich schloss.

Sie hoffte ebenfalls, Gott würde sie behüten, obwohl ihr Instinkt ihr bereits sagte, dass sowohl sie selbst als auch der Earl of Erith bereits unrettbar verloren war.

Sie hatte ihrem Freund den wahren Grund dafür verschwiegen, dass die Wahl des nächsten Gönners ausgerechnet auf den Earl gefallen war.

Als sie in seine kalten Augen gesehen hatte, hatte sie darin einen seelenlosen Mann entdeckt. Weshalb er für sie als seelenlose Frau eindeutig der passendste Geliebte war.

 

Punkt vier Uhr am nächsten Nachmittag tauchte Erith in Lord Peregrine Montjoys opulentem Stadthaus auf. Während er Hut, Handschuhe und Stock dem Butler überließ, sah er sich in der protzig dekorierten Eingangshalle um. Überall hingen und standen Spiegel, goldene Kandelaber, vergoldete und bunt bemalter Stuck sowie nackte, klassische, ausnahmslos männliche Statuen ohne auch nur ein Feigenblatt vor ihren übertrieben ausgeprägten Genitalien.

Hatte Lord Peregrine dieses Dekor vielleicht gewählt, um auf den Beruf seines weiblichen Gastes hinzuweisen? Falls ja, hätte er sich diese Mühe sparen können. Weil jeder Mann, der auch nur eine Spur von Leben in sich hatte, sowieso sofort von Olivia Raines’ Sinnlichkeit gefangen war.

Mit seiner prachtvollen, wenn auch eindeutig übertriebenen Ausstattung hätte das Haus auch ein Bordell sein können, nur dass sämtliche Stücke eindeutig von höchster Qualität und deshalb sicher derart kostspielig gewesen waren, dass eine Puffmutter sie niemals hätte bezahlen können, egal, wie gut der Laden lief. Seltsamerweise hatte Erith angenommen, seine zukünftige Mätresse hätte einen etwas dezenteren Geschmack. Aber vielleicht hatte sie sich bei der Wahl des schlichten, roten Kleides, in dem er sie am Vortag angetroffen hatte, ja auch einfach nur vertan.

Während er eine halbe Ewigkeit auf einem teuflisch unbequemen Stuhl in der Eingangshalle saß – das Weib versuchte ganz eindeutig nicht seiner Eitelkeit zu schmeicheln, indem es ihm deutlich machte, dass er bereits sehnsüchtig erwartet wurde dachte er weiter über die berühmte Kurtisane nach.

Weshalb lebte sie hier bei Lord Peregrine? Weshalb stand sie offenkundig unter seinem Schutz? Und falls Montjoy ihr langjähriger Geliebter war, weshalb sah sie sich dann überhaupt nach einem anderen Gönner um?

Nach allem, was er gehört hatte, kehrte sie nach Ende jeder Liaison in dieses Haus zurück. Fungierte Montjoy etwa als ihr wohltätiger Zuhälter? Was hatte Lord Peregrine zu bieten, dass sie immer wieder zu ihm kam? Wonach suchte sie, dass sie ihn jedes Mal nach ein paar Wochen oder Monaten wieder verließ?

Vielleicht hielt sie ja einfach nichts von Treue? Obwohl sie den Gerüchten nach dem Mann, den sie als ihren Geliebten akzeptierte, gegenüber vollkommen loyal war, bis sie ihm den Laufpass gab. Bisher hatte er noch von keinem Mann gehört, von dem sie verlassen worden war.

Er hatte ein paar der Glücklichen getroffen, denen ihre Gunst zuteil geworden war. Wobei vielleicht der Ausdruck Glückliche nicht ganz richtig war. Eindeutig hätten alle diese Männer ihre Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod gegen die Chance, noch eine Nacht in ihrem Bett zu liegen, eingetauscht. All ihre bisherigen Liebhaber hatten derart ehrfürchtig von ihr gesprochen, als besäße sie übernatürliche Kräfte, und ein sentimentalerer Mensch als Erith hätte wahrscheinlich gesagt, dass sie ihre Geliebten ein für alle Mal für andere Frauen verdarb.

Ihm war aufgefallen, dass anscheinend keiner dieser armen Tropfe Mann genug für sie gewesen war. Entweder hatte ihre Unersättlichkeit die armen Teufel ihrer Männlichkeit beraubt oder aber sie hatte von vornherein ein paar rückgratlose Exemplare seiner Gattung ausgewählt.

Falls Letzteres der Fall war, machte sie sich, falls sie ihn als Gönner akzeptierte, besser auf einiges gefasst. Er entdeckte sein grinsendes Gesicht in einem goldgerahmten Spiegel an der gegenüberliegenden Wand und richtete sich kerzengerade auf. Julian Southwood war ein durchaus selbstbewusster Mann, aber er feixte nie.

Trotzdem geriet sein Blut angenehm in Wallung, als er daran dachte, wie herausfordernd sie gestern aufgetreten war. Bei ihrer Begegnung hatten bereits Funken gesprüht. Bis er mit diesem Fräulein fertig wäre, hätte er auf alle Fälle jede Menge Spaß.

»Hier entlang, Euer Lordschaft.« Der Butler tauchte wieder auf und führte ihn in einen kleinen Raum im ersten Stock, der genauso kitschig eingerichtet war wie der große Salon, in dem Erith am Vortag gewesen war.

Erith erblickte einen von unzähligen zügellosen jungen Männern, die nackt und übertrieben gut bestückt durch die klassische Landschaft sprangen, die ihn als ausladendes Wandgemälde von drei Seiten umgab. Die vierte Wand bestand fast ausnahmslos aus bodentiefen Fenstern, durch die man in einen tadellos gepflegten Garten sah.

»Lord Erith.« Olivia Raines erhob sich elegant von ihrem Stuhl und machte einen Knicks, der einer Prinzessin würdig war.

Er trat höflich auf sie zu, ergriff ihre, wie er freudig bemerkte, nackte Hand und hob sie an seinen Mund. Ihre Haut war zart und kühl und verströmte einen schwachen Duft. Wahrscheinlich Seife, dachte er. Unter der blumigen Süße aber roch er ihre weibliche Essenz und sog sie begierig in sich ein. Auch wenn er nicht bereit wäre, das Leben nach dem Tod gegen eine Nacht in ihren Armen einzutauschen, duftete sie wie das Paradies.

»Miss Raines. Kein Lord Peregrine?«

»Diese Gespräche führe ich immer allein«, erklärte sie ihm kühl, zog ihre Hand zurück, glitt in Richtung eines voll beladenen Teetabletts und beraubte ihn auf diese Weise ihres wunderbaren Dufts. »Oder brauchen Sie vielleicht einen Anstandswauwau, Mylord?«

Er musste ein Lachen unterdrücken. Er hatte sie eindeutig richtig eingeschätzt. Sie war eine selbstbewusste Frau ohne jeglichen Respekt vor seinem gesellschaftlichen Rang. Sein Interesse nahm noch zu. Für eine solche Beute lohnte es sich, auf die Jagd zu gehen.

»Mein Ruf wird es wahrscheinlich überleben, wenn ich eine halbe Stunde in Ihrer Gesellschaft zubringe.«

Eine halbe Stunde jetzt. Dekadente Tage später. Bei diesem Gedanken wogte freudige Erwartung in ihm auf.

»Das freut mich zu hören.«

Sie verzog den vollen Mund zu einem kurzen Lächeln. Himmel, dieser Mund hatte ihn bereits in seinen Träumen heimgesucht. Dabei konnte er sich nicht erinnern, wann er überhaupt zum letzten Mal von einer Frau geträumt hatte. Das hieß von einer Frau, die noch am Leben war.

Sie drehte sich geschmeidig zu ihm um und wies auf einen Stuhl. »Bitte nehmen Sie doch Platz, Mylord.«

Er setzte sich auf den ihm angebotenen Stuhl, beantwortete ihre Fragen, wie er seinen Tee am liebsten trank und ob er ein Sandwich oder ein Stück Kuchen dazu wollte, und sah sie reglos an. Gestern hatte er sich noch gefragt, ob die Einladung zum Tee vielleicht eine Umschreibung für etwas Aufregenderes war. Offenkundig nicht. Ihm war klar, dass er in diesem beinahe bedrückend überladenen Raum sicher nicht einmal einen Kuss von ihr bekam.

Es war, als tränke er mit seiner Schwester Tee. Auch wenn die sexuelle Spannung in der Luft mit Händen greifbar war.

Sie war weniger förmlich gekleidet als am Vortag, aber durch das helle Grün des Musselinkleids, das sie trug, wurden ihre seidig weiche Haut und das lohfarbene Haar äußerst vorteilhaft betont. Auch bezüglich ihrer Größe hatte er eindeutig recht gehabt. Als sie zu seiner Begrüßung aufgestanden war, hatte sie ihm bis zum Kinn gereicht. Es war außergewöhnlich, dass ihm eine Frau praktisch in die Augen sehen konnte.

Aber schließlich war sie auch eine außergewöhnliche Frau.

»Sie wissen, weshalb ich hier bin«, begann er, als er wusste, dass er ihre Aufmerksamkeit besaß. Die meisten Frauen, die dem Earl gefielen, arbeiteten hart, damit es auch so blieb. Olivia Raines hingegen saß ihm gegenüber wie eine taube alte Jungfer bei einem Wohltätigkeitskonzert. »Ich möchte Sie zu meiner Geliebten machen.«

Für gewöhnlich war er weniger direkt, aber etwas sagte ihm, dass diese Frau für heuchlerisches Werben nicht empfänglich war. Er erinnerte sich daran, wie sie ihm am Vortag geradezu herausfordernd den lächerlichen Fächer unter die Nase gehalten hatte. Sie wollte ihn schockieren, diese schamlose Person.

Zwar war er nicht schockiert gewesen, dafür aber fasziniert.

Wieder zuckten ihre Lippen, und er sah das kleine Muttermal direkt neben ihrem Mund. Glühendes Verlangen, diese samtig weiche Stelle zu liebkosen und ihr dann die Zunge in den Mund zu schieben, wogte in ihm auf.

Zum Teufel noch einmal. Der Gedanke an nicht mehr als einen Kuss hatte ihn zum letzten Mal erregt, als er als heranwachsender Junge lüstern hinter den Zimmermädchen hergestiefelt war.

Jetzt aber war er eindeutig erregt. Gott sei Dank verbarg der Tisch, wie erregend ihre kühle Distanziertheit für ihn war.

»Wie ich sehe, reden Sie nicht lange um den heißen Brei herum«, stellte sie nachdenklich fest.

Mit völlig ruhiger Hand hob sie ihre Teetasse an ihren Mund. Sie schien von dem großen Earl nicht beeindruckt zu sein. Eine ungewohnte Situation. Vor allem im Zusammensein mit einer halbseidenen Frau. Wenn auch vielleicht nicht seine Person, so hatte ihm bisher auf jeden Fall sein Reichtum das Interesse dieser Damen garantiert.

»Wäre Ihnen das etwa lieber?«

Er hasste es, dass ihm seine Verärgerung so deutlich anzuhören war. Was hatte dieses Weibsbild an sich, das ihn derart die Balance verlieren ließ? Denn obwohl er es sich nur sehr ungern eingestand, hatte sie ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht.

»Nein. Ich finde Ihre Offenheit … erfrischend.« Sie stellte ihre Tasse wieder auf der Untertasse ab und bedachte ihn mit einem beiläufig interessierten Blick. Er war deshalb ein brillanter Diplomat, weil er die Fähigkeit besaß, auch noch subtilste Hinweise zu deuten. Diese Frau jedoch war vollkommen unmöglich zu durchschauen. »Wie stellen Sie sich den Ablauf vor?«

Am liebsten hätte er mit einem langen, harten Fick gleich hier auf dem teuren Teppich angefangen. Wegen seiner Erektion rutschte er unbehaglich auf dem filigranen Mahagonistuhl herum. Wie zum Teufel hatte dieses Weib ihn derart erregt? Außer bei dem Handkuss hatte er sie bisher nicht berührt, und sie hatte nichts Zweideutiges gesagt. Trotzdem war sein Schwanz härter als eine Eisenstange, musste er sich eingestehen.

Er schluckte und kämpfte um seine berühmte Gelassenheit, doch seine Stimme klang ein wenig heiser, als er endlich sprach. »Ich werde bis Juli hier in London sein. Dann kehre ich wieder auf meinen diplomatischen Posten in Wien zurück. Solange ich vor Ort bin, miete ich Ihnen ein Haus, zahle das Personal und eine Kutsche sowie einen wöchentlichen Unterhalt an Sie.«

»Und im Gegenzug stehe ich Ihnen zur Verfügung.«

Ihm war nicht ganz klar, weshalb ihre Stimme bei dem Satz derart ironisch klang, deshalb ging er achtlos darüber hinweg.

»Und zwar ausschließlich mir.« Sie musste wissen, dass er niemals teilte, bevor sie weiter verhandelten.

Was, wenn sie damit nicht einverstanden war? Im Normalfall hätte er sich dann einfach der nächsten Kandidatin zugewandt. Nicht aber bei dieser Frau.

Verdammt. Wie stellte sie das an? Während eines kurzen Augenblicks sehnte er sich nach dem friedfertigen, willigen Gretchen aus Wien zurück. Sie war zwar strohdumm, hatte ihm aber nie auch nur die geringsten Scherereien gemacht.

Ihm war jetzt schon klar, dass Olivia Raines ein völlig anderes Kaliber als das gute Gretchen war. Anders als all seine bisherigen Geliebten, dachte er, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass es in einer Katastrophe enden würde, ließe er sich tatsächlich auf dieses Wesen ein. Dann könnte er paddeln und strampeln, wie er wollte, würde schließlich aber untergehen.

Weshalb stand er nicht einfach auf und ging? Die Tatsache, dass er darauf keine schnelle Antwort fand, verstärkte seinen Ärger noch.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie gestern hierhergekommen sind, ohne sich vorher über mich erkundigt zu haben«, erwiderte sie kühl. Ihre klaren, ungewöhnlich hellen blauen Augen gaben nichts von ihren Gedanken preis. »Dann haben Sie sicher auch gehört, dass ich meinen Liebhabern bisher immer treu war.«

»Ja.« Himmel, er reagierte wie ein grüner Junge, aber als sie mit ihrer vollen Altstimme von ihren Liebhabern sprach, fing er an zu schwitzen und hätte um ein Haar an seinem plötzlich viel zu eng sitzenden Halstuch herumgezerrt.

»Natürlich nur, solange die Verbindung währt.« Mit einer Gelassenheit, um die er sie beneidete, stellte sie abermals die Tasse auf der Untertasse ab und sah ihn kritisch an.

Bisher hatte der Earl of Erith ganz eindeutig keinen allzu großen Eindruck auf dieses leichte Mädchen gemacht. Der distanzierte, abwägende Blick aus ihren blauen Augen war ganz sicher nicht verführerisch gemeint.

Trotzdem zog sie ihn damit in ihren Bann. Und zwar so stark wie keine andere Frau zuvor. Gott stehe ihm bei, falls sie je absichtlich etwas täte, um ihn zu bezaubern, dachte er. Dann brächte sein Verlangen ihn wahrscheinlich um.

Sie sprach noch immer so, als ginge es um irgendein gewöhnliches Geschäft. Was es für sie bestimmt auch war. Verdammt, er wünschte sich, er wäre auch nur halb so distanziert wie sie. »Außerdem haben Sie bestimmt gehört, dass ich alle Freiheiten behalte, wenn ich einen Beschützer akzeptiere. Ich entscheide, wann die Liaison beginnt und wann sie endet, und in meiner Freizeit kann ich tun und lassen, was ich will. Das einzige Versprechen, das ich gebe, ist, dass ich treu bin, solange die Affäre währt.«

»Klingt, als würde ich eine ganze Menge Geld dafür zahlen, dass Sie weiter tun und lassen können, was Sie wollen, Madam«, stellte er sarkastisch fest.

Sie zuckte mit den Schultern. »Die Entscheidung liegt bei Ihnen, Mylord. Es gibt in London schließlich jede Menge anderer Frauen.«

Aber keine wie Olivia Raines. Das wusste sie offenbar genauso gut wie er. Der Schmerz in seinen Eiern wurde unerträglich, denn durch ihre fürchterliche Gleichmut wurde sein Verlangen nicht geschmälert, sondern sogar noch verstärkt.

Als sie die Hände in ihrem Schoß zusammenlegte, hätte diese Geste züchtig wirken können, doch sie verströmte eine geradezu glühende Sinnlichkeit. Niemals vorher hatte eine Frau ihn derart gereizt. Von ihrem perfekt frisierten Haar bis hin zu den zartgrünen, seidenen Pantoffeln, deren Spitzen unter ihrem Kleid zu sehen waren, forderte dieses Weibsbild ihn heraus.

Er hoffte, sie bemerkte nicht, dass seine Finger zitterten, als er in die Innentasche seiner Jacke griff. »Ich habe Ihnen ein Zeichen meiner Wertschätzung mitgebracht.«

Er legte eine schmale Schachtel auf den Tisch, sie klappte sie auf und sah sich ihren Inhalt schweigend an.

Vielleicht hatte er ja jetzt endlich Eindruck auf sie gemacht. Er hatte am Morgen fast zwei Stunden bei Rundell und Bridge mit der Auswahl dieses Armreifs zugebracht. Sobald er die prachtvolle Reihe wie Blüten geformter Rubine auf dem diamantbesetzten Band gesehen hatte, hatte er gewusst, dass er fündig geworden war.

Der Armreif war genauso ungewöhnlich und spektakulär wie diese Frau. Seine anfänglichen Zweifel an Olivias Schönheit waren längst verflogen. Sie war eindeutig die schönste Frau der Welt.

Ihre Miene blieb vollkommen ausdruckslos, aber eine Kurtisane mit ihrer Erfahrung wusste ganz genau, wie teuer dieser Glitzerkram gewesen war.

Die Botschaft dieses Armbandes war klar. Er war ein reicher und auch großzügiger Mann. Wenn sie ihn als ihren Gönner akzeptierte, würde sie von ihm mit Schätzen überhäuft.

Vorsichtig klappte sie die Schachtel wieder zu und sah ihn reglos an. »Ja, Lord Erith, ich werde Ihre Mätresse.«

2

Noch während sie die Worte sagte, die sie für die nächste Zeit zu seiner Bettgenossin machten, lehnten sich all ihre Instinkte vehement dagegen auf. Auch wenn ihr Verstand behauptete, dass das Risiko bei diesem Mann auch nicht größer als bei allen anderen Männern war, beharrte ihr Gefühl darauf, dass der Earl eine Gefahr für alles war, was sie sich erschaffen hatte, seit sie akzeptieren musste, dass die Hurerei ihr unausweichliches Schicksal war.

Vor lauter Furcht spannten sich ihre Muskeln an.

Furcht war ihr ältester und arglistigster Feind. Sie war mächtiger als jeder Mann.

Ich werde mich der Furcht auf keinen Fall ergeben.

Vor allem, da sie völlig grundlos war. Seit sie erwachsen war, hatte sie keinen Mann getroffen, der sich nicht von ihr beherrschen ließ. Auch Lord Erith würde ihr verfallen. Es wäre ihr eine Freude, das zu beweisen. Der Welt, ihm und auch sich selbst. Ihr momentanes Widerstreben rührte sicher einzig von der seltsamen Stimmung her, von der sie nach Beendigung ihrer letzten Affäre vor ein paar Monaten
befallen worden war.

Ein stechender Schmerz in ihrem Handgelenk machte ihr deutlich, wie fest sie ihren Arm umklammert hielt. Sie lockerte den Griff, obwohl sie bereits wusste, dass ihm die verräterische Geste aufgefallen war.

Etwas – Befriedigung, Triumph, Besitzstolz – blitzte unter seinen schweren Lidern auf.

»Gut.« Er stand auf und blickte reglos auf sie herab. Zum ersten Mal wurde ihr seine beeindruckende Größe bewusst. »Dann sehen wir uns also heute Abend, Olivia.«

Es war das erste Mal, dass er sie mit ihrem Vornamen ansprach. Angesichts der Dinge, die sie miteinander treiben würden, sollte ihr diese kleine Vertraulichkeit vollkommen gleichgültig sein. Doch aus irgendeinem Grund war sie das nicht. Die dunkle Stimme, die Olivia sagte, zerstörte die schützende Förmlichkeit, sie hatte das Gefühl, als säße sie plötzlich vollkommen nackt auf ihrem Stuhl.

Ich werde mich der Furcht auf keinen Fall ergeben.

Sie reckte herausfordernd das Kinn und sah ihn böse an. »Ich unterhalte meine Liebhaber nicht in diesem Haus«, erklärte sie ihm kalt.

»Das habe ich auch nicht erwartet.« Er verzog seinen verführerischen Mund zu einem sarkastischen Lächeln. »Ich möchte, dass jeder Mann in London weiß, dass Sie mir gehören. Aber heute Abend möchte ich Sie einfach sehen. Dadurch wird die … Vorfreude … noch gesteigert.«

Wie stellte er es an, dass dieses harmlose Wort dekadenter als sämtliche Obszönitäten, die sie im Verlauf ihrer Karriere als Prostituierte vernommen hatte, klang? Die Temperatur ihrer Stimme nahm noch um ein paar Grad ab. »Ich gehöre keinem Mann, Lord Erith.«

»Mir werden Sie gehören«, erwiderte er ruhig, bevor sie sich bewegen konnte, beugte er sich bereits über den Tisch und legte eine Hand unter ihr Kinn.

Mit einem Mal nahm sie verschiedene Dinge wahr. Seinen frischen, sauberen Geruch. Die Wärme seiner Finger auf ihrer Haut. Die beinahe femininen Wimpern, die seine kalten grauen Augen rahmten. Das Beben seiner Nasenflügel, als er ihren Duft so tief wie möglich in sich einsog wie ein Hengst, der auf eine heiße Stute traf.

Sein fester Griff erstickte jeglichen Protest und jede Gegenwehr. Keuchend wie ein gefangenes Tier wartete sie darauf, dass sein Mund auf ihre Lippen niederkam. Ihr Herz klopfte so schnell, dass sie die Befürchtung hatte, es sprenge ihr die Brust. Während eines blinden, grässlichen Moments fühlte sie sich wie ein naives junges Mädchen, das im Netz eines Wüstlings gefangen war.

Dann umfingen seine festen, beinahe grausamen Lippen ihren vollen Mund. Der Druck war heiß wie Feuer und so hart wie Stahl.

Dann brach der schmerzliche Kontakt genauso plötzlich wieder ab.

Er zog seine Hand zurück, verbeugte sich und trat einen Schritt zurück. »Dann also bis heute Abend.«

Bevor sie irgendeine Antwort geben konnte, machte er schon auf dem Absatz kehrt und marschierte aus dem Raum.

Zitternd und verwirrt öffnete und schloss sie ihre Fäuste. Als sie sich spontan die Lippen leckte, hätte sie am liebsten laut gestöhnt. Sie hatte ihren Mund während des aufdringlichen Kusses keinen Millimeter aufgemacht. Trotzdem schmeckte sie ihn noch. Voll. Verführerisch. Beinahe beschwörend.

Wieder wogte heiße Furcht in ihrem Innern auf.

»Fahr zur Hölle, Erith. Fahr zur Hölle«, wisperte sie in dem leeren Raum.

 

Erith blieb in der Tür des Raumes stehen, in dem er Olivia Raines zum ersten Mal begegnet war. Es war schon spät, nach Mitternacht. Der Salon war beinahe leer und kam ihm, da nur zwei Kandelaber angezündet waren, beinahe wie eine dunkle Höhle vor. Ein halbes Dutzend Männer lungerten dort mit ihren Zigarren und ihren Brandygläsern auf den beiden vergoldeten Sofas oder lehnten lässig am Sims des Kamins. Als sie jedoch seinen Namen hörten, richteten sie sich schlagartig auf.

Wo war Olivia? Der trotz seines mürrischen Gesichts unleugbar hübsche Peregrine bedachte ihn mit einem bösen Blick, die vier jungen Männer, die bei ihm gesessen hatten, sprangen alle eilig auf. Sie alle waren jung und derart attraktiv, dass sie für den schmollenden, nackten Ganymed hätten Modell stehen können, der auf einer der Fresken abgebildet war. Den jungen Herrn, der etwas abseits von der Gruppe stand, bedachte Erith nur mit einem beiläufigen Blick.

Dann aber trat der junge Mann mit einer geschmeidigen Bewegung aus dem Schatten. Er sah Erith aus schräg stehenden, strahlend blauen Augen an.

Schock rang mit Bewunderung, und während ihm der Atem stockte, ballte er die Fäuste, als müsse er sich gewaltsam dazu zwingen, nicht einfach auf seine Geliebte zuzutreten und sie eng an seine Brust zu ziehen.

Mein Gott, sie sieht einfach fantastisch aus.

Olivia war wie ein junger Mann der besseren Gesellschaft gekleidet. Sie trug eine beigefarbene Hose, einen eng sit zenden, extrafeinen Frack, eine weiße Brokatweste und ein reich besticktes Tuch. Ihre langen Haare waren eng um ihren Kopf geschlungen, weshalb sie nicht sofort als Frau zu erkennen war. Wie hätte er sie auch sofort erkennen sollen? Die Frauen in seinem Bekanntenkreis zogen sich niemals wie Männer an.

Das reine, weiße Halstuch brachte ihre makellose, leicht olivfarbene Haut vorteilhaft zur Geltung, und der gut geschnittene Frack lag so eng an ihrem Leib wie eine Männerhand. Erith spürte die aufsteigende Erregung und das wilde Pochen seines Herzens und ballte abermals die Fäuste. Er wollte sie endlich unter sich. Er wollte sie nackt und keuchend unter sich, während er sie kraftvoll nahm.

Du gehörst mir.

Beinahe hätte er die Worte laut geknurrt.

»Lord Erith«, grüßte sie ihn ruhig, bevor sie an einer schlanken Zigarre zog. Er musste ein Stöhnen unterdrücken, als sie ihre vollen Lippen um den Stumpen schloss. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, denn vor seinem geistigen Auge stiegen dekadente Bilder davon auf, wie sie seinen Schwanz zwischen die Lippen nahm.

Das herausfordernde Blitzen ihrer Augen machte deutlich, dass sie wusste, wie er litt.

Natürlich wusste sie es, schließlich war sie ein verruchtes Weib.

Mit Mühe unterdrückte er das begehrliche Rauschen seines Bluts, verbeugte sich und grüßte mit etwas rauer Stimme: »Miss Raines. Meine Herren.«

Lord Peregrine wirkte noch feindseliger als am Tag zuvor. Olivia hatte ihm also erzählt, dass von jetzt an er ihr Gönner war. Erith hätte allzu gern gewusst, welcher Art ihre Beziehung zu dem hübschen Jungen war. Er spürte eine große Nähe zwischen ihnen beiden, aber nicht den Hauch von sexueller Spannung, wenn er sie zusammen sah.

Er blickte noch einmal auf die jungen Männer und dann auf die Wandmalereien. Nirgendwo war eine weibliche Gestalt zu sehen. Nirgendwo im ganzen Haus, abgesehen von der Frau, die seine Mätresse war. Ihm kam ein Verdacht, den ein behüteter englischer Gentleman nicht haben sollte, der ihm, der in Europa und in weiten Teilen Asiens herumgekommen war, jedoch nicht allzu abwegig erschien. Wenn stimmte, was er dachte, erklärte das sehr viel.

»Brandy, Lord Erith?«, fragte ihn Olivia, als wären sie Mitglieder im selben Herrenclub und hätten sich zufällig dort getroffen. »Perry hat heute Abend eine wirklich gute Flasche aufgemacht.«

Am liebsten hätte er über ihr theatralisches Gebaren laut gelacht. Sie hoffte offenbar, dass er vor Empörung explodieren würde, wenn er sie in diesem Aufzug sähe, doch da hatte sie sich eindeutig den Falschen ausgesucht. Er konnte jedes Spiel mitspielen, deshalb war er ein so brillanter Diplomat.

»Warum nicht?«, meinte er gutgelaunt. »Lord Peregrine, ich glaube nicht, dass ich Ihren Freunden schon einmal begegnet bin.«

Während Montjoy die Vorstellung übernahm, verfolgte Erith aus den Augenwinkeln, wie Olivia nach der Karaffe auf dem Sideboard griff. Weshalb nur sah sie in dem strengen, maskulinen Aufzug beinahe noch femininer aus als sonst? Sein Blick wanderte in Richtung ihrer Beine. Seine Vermutung war richtig gewesen – sie waren lang und schlank. Er genoss die Vorfreude darauf, dass sie ihm diese Beine um die Hüften schlingen würde, wenn sie endlich unter ihm auf der Matratze lag.

Dann tauchte er aus seinem kurzen Tagtraum wieder auf, denn sie reichte ihm sein Glas und strich dabei absichtlich
sanft mit ihren Fingern über seine Hand. Es war das erste Mal, dass sie vorsätzlich etwas Verführerisches tat, wie geplant rief ihre Berührung ein heißes Kribbeln in ihm wach.

Er wollte sie sofort. Er verzehrte sich nach ihr, seit er ihr zum ersten Mal begegnet war. Jetzt steigerte sich sein Verlangen ins Unerträgliche.

Doch er müsste es noch eine Weile ertragen.

Wieder schob sie sich ihre Zigarre in den Mund, zog daran und blies eine blaue Rauchwolke um ihr kantiges Gesicht. Ein Gesicht, das wesentlich verführerischer als das jeder konventionellen Schönheit war. Kein Wunder, dass ihr die gesamte Männerwelt zu Füßen lag.

»Lord Erith, dies hier ist Sir Percival Martineau«, schnauzte ihn Lord Perry an. Er hatte eindeutig bereits gesprochen, während Erith in den Tiefen der Augen seiner Mätresse versunken war.

»Sir Percival.« Gott stehe ihm bei, falls er sich jemals an einen anderen Namen als den von Olivia erinnern müsste. Sie hatte ihn eindeutig verzaubert.

Verzaubert?

Verdammt, was war mit ihm los? Sie war nur eine von unzähligen Frauen. Er würde sie sich schnappen, sie flachlegen und feststellen, dass es weder zwischen ihren Beinen noch in ihrem Kopf irgendetwas Neues zu entdecken gab. Seit dem Tod seiner Frau hatte er Dutzende von Frauen gehabt, und keine hatte jemals an sein Herz gerührt. Egal, wie sehr sein Körper von ihnen entzückt gewesen war. Ein Körper, der augenblicklich derart summte, als hätte ein Kurpfuscher einen Zitteraal an seinen Arm gelegt. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass seit seiner ersten Ballsaison irgendein weibliches Wesen eine derartige Reaktion bei ihm hervorgerufen hätte. Zu einer Zeit, als seine männliche Erregung noch von zärtlichen Empfindungen wie Liebe und Respekt gemildert worden war.

Großer Gott, wie konnte er diese Hure mit Joanna in Verbindung bringen? Diese hinterlistige Hexe riefe niemals zärtliche Gefühle in ihm wach. Sie sollte und sie würde seine Fleischeslust befriedigen.

Das allerdings auf jeden Fall.

Während ihm ein erwartungsvoller Schauder über den Rücken rann, wies sie kühl in Richtung einer Couch. »Würden Sie sich vielleicht gerne setzen?«

»Nein, ich will mit Ihnen reden. Und zwar unter vier Augen.«

Sie zuckte mit den Schultern, stellte ihr Glas auf dem Kaminsims ab und drückte die Zigarre in einem Aschenbecher aus. »Wie Sie wollen. Hier entlang.«

Er folgte ihr durch einen Flur in eine Bibliothek. Das warme Licht der Lampen tauchte die teuren Ledereinbände und die goldenen Lettern auf den unzähligen Büchern in ein weiches, gelbes Licht.

Olivia lehnte sich mit einer Grazie, die ihm den Atem raubte, rücklings gegen einen Schreibtisch und sah ihn fragend an. »Was ist?«

Er merkte, dass er lächelte. »Dieser Raum. Er ist der Einzige in diesem Haus, den ich ehrlich bewundere.«

Zu seiner Überraschung setzte auch Olivia ein Lächeln auf. Ein echtes Lächeln, das das Ausmaß ihrer Zuneigung zum Eigentümer dieses Raums verriet. Ein ungutes Gefühl stieg in Erith auf. Doch es war sicher keine Eifersucht. Denn er war niemals eifersüchtig. Weshalb sollte er auch eifersüchtig sein, nachdem seine Vermutung über ihren Gastgeber inzwischen Gewissheit war.

»Perry liest nicht gern, nur hat er es bisher ganz einfach nicht geschafft, auch dieses Zimmer umzudekorieren.«

»Aber Sie mögen diesen Raum so, wie er ist«, stellte er leise fest. Es war der erste Raum, der nicht in deutlichem Kontrast zu seinem Eindruck von ihr stand. Er lehnte sich lässig in den Türrahmen und sah sie fragend an.

»Ja.«

Als sie nickte, erhellte das Licht der Lampen ein paar bronzefarbene Strähnen in ihrem dichten Haar. Sie war wirklich eine ungewöhnlich schöne Frau. In diesem Augenblick noch schöner als sonst, denn sie war weniger gehemmt.

»In dem Haus, das ich gefunden habe, gibt es auch eine Bibliothek.« Als er den Raum voller Bücher in der York Street gesehen hatte, war er davon ausgegangen, dass seine Mätresse keine Verwendung dafür hätte. Aber vielleicht hatte er sich ja geirrt.

Sie hob den Kopf, sofort war der alte Argwohn wieder da. Das Bedauern, das er deswegen empfand, kam völlig überraschend. Während eines kurzen Augenblicks hatte er eine richtige Verbindung zu der Frau verspürt. Unabhängig von dem körperlichen Verlangen, das er empfand. Während eines flüchtigen Moments hatte die Ahnung einer anderen Verbindung zwischen ihr und ihm im Raum geschwebt, einer Verbindung, die zu einer wahren Freundschaft hätte erblühen können, nur dass eine Freundschaft unter den gegebenen Umständen und zwischen zwei Personen, deren Seelen jeweils hinter einem dicken Schutzpanzer verborgen waren, vollkommen unmöglich war.

»Sie haben bereits ein Haus gefunden?« Sie klang nicht gerade erfreut.

»Ich bin zufällig auf etwas Passendes gestoßen.« Er würde ihr ganz sicher nicht erzählen, dass er eine ganze Armee von Angestellten London nach einer passenden Residenz hatte durchforsten lassen, und zwar bereits, seit er ihr gestern zum ersten Mal begegnet war.

Das Haus, das er gemietet hatte, war einfach perfekt. Klein, luxuriös, ein wenig abgeschieden und vor allem nah genug bei seinem eigenen Haus, um ein Doppelleben führen zu können, ohne dass seine Familie etwas davon mitbekam. Nach dem jahrelangen Junggesellenleben war er es nicht mehr gewohnt, diskret zu sein. Doch auch wenn sie wirklich reizvoll war, sollte Olivia Raines nicht mehr als eine nette Abwechslung während seines Aufenthalts in London sein. Hauptsächlich war er hier, um sich mit seinen Kindern zu versöhnen, und das Vorhaben brächte er durch eine allzu offene Affäre in Gefahr.

Er fragte sich, ob die von ihm getroffene Wahl wohl klug war. Die Neuigkeit, dass Olivia Raines ihn als ihren Gönner auserkoren hatte, hatte sich schon überall herumgesprochen, und über dem Portwein nach dem Dinner in Erith House hatten seine Kumpane neiderfüllte Kommentare abgegeben, während er von Carrington mit vorwurfsvollen Blicken bedacht worden war. Wie lange würde es wohl dauern, bis die Geschichte von seinem Verhältnis auch an ehrenwertere Ohren drang?

Doch für einen Rückzieher war es bereits zu spät. Vor allem brächte er ganz sicher nicht den Willen auf, sich von diesem verführerischen Weibsbild zu befreien.

»Ich hoffe, dass Sie morgen dort einziehen werden«, durchbrach er die Stille.

Wenn möglich, hätte er sie auf der Stelle in das hübsche kleine Haus verfrachtet und die unpraktische Faszination, die von ihr ausging, noch in dieser Nacht enttarnt. Aber seine Männer nahmen noch ein paar kleinere Veränderungen an dem Häuschen vor, und deshalb wäre es erst morgen früh für sie bereit.

Sie riss überrascht die Augen auf. »Morgen?«

»Haben Sie etwas dagegen?«

»Ich hätte nicht gedacht, dass es so eilig ist.«

Sie sprach im weichen Tonfall und mit der Ironie einer gebildeten Frau. Stammte sie allen Ernstes aus der Gosse? Falls ja, ahmte sie das Gebaren der Frauen der besseren Gesellschaft geradezu vortrefflich nach.

Er zuckte mit den Schultern und bemühte sich um eine Distanziertheit, die er keineswegs empfand. »Ich liebe schnelle Entscheidungen.«

»Sieht so aus.« Wieder setzte sie das inzwischen vertraute ironische Lächeln auf.

»Morgen früh schicke ich meine Kutsche, um Sie in Ihr neues Haus zu bringen, und dann komme ich am Abend vorbei, um zu besprechen, wie es weitergehen soll. Vielleicht könnten wir dann übermorgen Tattersalls besuchen, damit Sie sich Ihre Pferde aussuchen. Ich dachte an eins zum Reiten und an zwei für Ihr Gefährt. Außerdem habe ich einen offenen Zweispänner für Sie bestellt, der sicher Ihre Zustimmung findet.«

»Sehr effizient, Mylord«, stellte sie abermals ironisch fest. »Werden Sie morgen Abend auch zum Essen bleiben?«

Sie wussten beide, dass sie mehr als bloßes Essen damit anbot. Hitze wogte in ihm auf, die ihn hart wie eine Eiche werden ließ. »Danke. Es wird mir ein Vergnügen sein.«

Oh, auf jeden Fall.

Aber weshalb sollte er so lange warten? Bisher hätten nicht einmal die heiratswütigen jungen Mädchen, die man auf den Bällen traf, die Augenbrauen angesichts der Freiheiten, die ihm seine berüchtigte Geliebte gestattete, hochgezogen. Oder vielleicht doch. Sie hatte eindeutig das Talent, alles zweideutig wirken zu lassen, was sie sagte oder tat. Und der eine Kuss, den er ihr bisher aufgezwungen hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Ein heißer, besitzergreifender, vor allem aber viel zu kurzer Kuss.

Als er sie geküsst hatte, hatte er heißen Zorn geschmeckt und ihr die Überraschung angemerkt. Sie wollte ihn nicht küssen, doch der kurze Augenblick hatte alle seine Zweifel und auch seine Unzufriedenheit mit sich und seinem Leben kurzfristig zerstreut. Selbst der beständige, dumpfe Schmerz über die alte Trauer und die alten Schuldgefühle hatte sich gelegt, und nur mit allergrößten Schwierigkeiten hatte er sich nach dem kurzen Kuss wieder von ihr gelöst.

Seither war ihr Schicksal besiegelt. Er würde sie bekommen, da sie allein ihm Ablass von den alten Sünden bot.

Er straffte seine Schultern, stapfte über den teuren rotblauen Teppich auf sie zu, und sie spannte sich an, als wäre sie ein Reh, dem der grässliche Geruch eines Raubtiers in die Nase stieg.

»Mylord, ich habe Ihnen meine Prinzipien in Bezug auf dieses Haus erklärt.« Sie umklammerte den Rand des Schreibtischs und sah ihn mit großen Augen an. Wie schön, dass sie nicht einmal annähernd so ruhig war, wie sie wirken wollten, dachte er. Dadurch war er ihren Reizen nicht mehr ganz so hilflos ausgeliefert.

Er lief weiter auf sie zu. »Ich kann es kaum erwarten, dass Sie mich morgen Abend endlich … befriedigen«, erklärte er und hätte dabei beinahe gesummt. »Aber vielleicht bekomme ich ja jetzt schon einen Kuss?«

Ihr trotzig gerecktes Kinn machte überdeutlich, was sie von dem Vorschlag hielt. »Ich hätte heute Nachmittag vielleicht genauer erklären sollen, was meine Liebhaber von mir bekommen und was nicht.«

»Ich bin ganz Ohr, Madam«, wisperte er, stützte seine Hände links und rechts von ihr auf der Schreibtischplatte ab und fing sie, auch wenn er sie nicht direkt berührte, wie in einem Käfig ein. »Sie genießen meine ungeteilte Aufmerksamkeit.«

Ohne auch nur zu erröten, blickte sie an ihm hinab, dorthin, wo sein erigiertes Glied in seiner Hose lag. Sie war ganz eindeutig keine unschuldige Frau. Was ihm durchaus gefiel. Er selbst war einmal unschuldig gewesen, und die Tragik dieser Unschuld hätte ihn beinahe zerstört.

Zugleich war sie unsicher und gereizt, was ihm ebenfalls gefiel. Er kämpfte gegen das Bedürfnis an, sich an sie zu pressen, als ihm der zarte Duft von ihrer Haut entgegenschlug. Sie duftete nach Veilchen. Rosen. Honig. Es war ein warmer, weiblicher Geruch, der nicht aus einem gläsernen Flakon, sondern aus ihr selbst kam. Seine Nasenflügel bebten, er sog den wunderbaren Duft so tief es ging in seine Lungen ein.

»Ich küsse nicht, Lord Erith.« Ihre raue Stimme hallte warm in seinem Inneren nach. »Zumindest nicht auf den Mund.«

Er beugte sich noch etwas weiter vor und sog ihren Duft noch einmal ein. Oh, sie war wirklich eine wunderbare Frau. »Mich werden Sie ganz sicher küssen.«

Ihr Mund bildete einen schmalen, starrsinnigen Strich. »Das werde ich ganz sicher nicht. Ich werde Ihnen erklären, wie eine Liaison mit mir vonstattengeht, Mylord: Ich bin vollkommen treu, aber in meiner freien Zeit kann ich tun und lassen, was ich will, und ich küsse nicht.«

Er war nur noch zwei Zentimeter von ihrer seidig weichen Haut entfernt. Eine Strähne hatte sich aus ihrer strengen Frisur gelöst, und als er sie mit einer Hand von ihrer Wange strich, spannte sie sich an.

»So viele Regeln, Olivia«, murmelte er missbilligend. »Aber Regeln sind vor allem dazu da, dass man sie bricht.«

»Meine nicht«, wollte sie nachdrücklich erklären, wobei ihre unsichere Stimme sie verriet. Er war ihr nah genug, dass ihr warmer Atem ihm entgegenschlug. Sie roch nach teurem Brandy und exklusivem Tabak. »Falls Ihnen meine Ansprüche zu hoch erscheinen, ist es früh genug, um alles rückgängig zu machen«, bot sie ihm mit ruhiger Stimme an.

»Das wäre wirklich schade.« Er strich mit seinen Fingern über ihren Hals. »Schließlich habe ich mir Ihretwegen bereits erhebliche Umstände gemacht.«

Er neigte seinen Kopf und legte seinen Mund an ihren Hals. Ihre Haut war weich wie Seide, und der süße Honigduft, den sie verströmte, hinterließ auf seinen Lippen einen zartsüßen Geschmack. Sie war einfach köstlich, er hatte noch keine Frau derart begehrt. Sein Herz setzte zu einem regelrechten Trommelwirbel an.

Er würde sich mit einer kleinen Kostprobe begnügen. Obwohl das Rauschen seines Bluts ihn dazu drängte, dass er dieses wunderbare Wesen ganz verschlang.

Er hob den Kopf und sah ihr ins Gesicht. Ihre leuchtend blauen Augen waren völlig ausdruckslos, doch ihre leicht geöffneten Lippen ließen die heiße Dunkelheit erahnen, die sich dahinter verbarg, und als er ihr leises Keuchen hörte, richtete sein Schwanz sich schmerzlich in der engen Hose auf.

Er umfasste ihren Hinterkopf.

»Ich habe noch nie eine Frau geküsst, die eine Hose trägt. Diese Dekadenz ist ungemein erregend.«

Er sah, wie sich ihr schlanker Hals bewegte, als sie mühsam schluckte. »Sie werden auch jetzt keine Frau küssen, die eine Hose trägt. Wie gesagt, ich küsse niemals auf den Mund. Und ich kann nicht glauben, dass Ihnen meine Wünsche gleichgültig sind.«

»Ah, Ihre Wünsche, Olivia. Ich freue mich bereits, mehr darüber zu erfahren.« Er lächelte, denn das Vergnügen an der Frau nahm wie seine Erregung tatsächlich noch zu. »Morgen Abend werde ich Sie ganz für mich allein haben. Was kann es also schaden, mir jetzt schon eine kleine Kostprobe von Ihrer Gunst zu geben, damit ich, wenn ich nachher nach Hause komme, von Ihnen träumen kann?«

In ihren bemerkenswerten Augen nahm er ein vielleicht furchtsames Blitzen wahr. Doch dieser flüchtige Gedanke hielt ihn nicht von seinem Vorhaben ab. Zum Teufel mit ihren Regeln, dachte er. Irgendwie hatte sie es geschafft, sämtliche Männer Londons nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Aber er war der Earl of Erith. Keine Frau nähme ihm je die Zügel aus der Hand.

Er presste seine Lippen fest auf ihren Mund. Er war herrlich süß, himmlisch weich und … fest verschlossen. Als hätte jemand ihm die Tür des Paradieses vor der Nase zugeknallt.

Nun, es gäbe mehrere Wege ins Paradies als den durch die Vordertür.

 

Obwohl sie innerlich vor Panik und Entsetzen schrie, blieb Olivia, während er sie küsste, völlig reglos stehen. Es wäre einfach zu erniedrigend, dem Kerl zu zeigen, welche Angst für sie mit diesem Kuss verbunden war. Tapfer kämpfte sie gegen die aufkommende Schwärze an. Sie könnte und sie würde diesen Kuss wie alles andere überleben. Und auch ihr Stolz bliebe intakt.

Dieser Mann würde sie nicht besiegen.

Großer Gott, sie war kein wehrloses Kind, sondern eine große, starke Frau. Aber gegenüber seiner überwältigenden Größe und seinem muskulösen Körper kam sie sich so klein und so verletzlich wie vor vielen Jahren vor. Der moschusartige Geruch des erregten Mannes raubte ihr die Luft. Sein Kuss quälte sie, machte ihr Angst, erinnerte sie an Ereignisse, die sie verzweifelt zu vergessen trachtete.

Die grauenhafte Atemnot hielt nur ein paar Sekunden an. Doch ihr Hirn erkannte das Gefühl, und ihr Herz zog sich mit dem Eindruck zusammen, dass sie wieder in einem endlosen Albtraum gefangen war.

Dabei tat er ihr noch nicht mal weh. Sein Mund war nicht brutal, die Hand an ihrem Hinterkopf fuhr beinahe zärtlich durch ihr Haar. Sein Griff war unerbittlich, aber sanft. Er nutzte seine Kraft nicht aus, um ihr die Hose herunterzuzerren und in sie einzudringen, während sie wehrlos auf dem Schreibtisch lag.

Doch das war vollkommen egal. Das Einzige, was zählte, war das Gefühl, dass sie von ihm überwältigt und gegen ihren Willen zu diesem Kuss gezwungen wurde. Ihr starrsinniger Stolz, der sie seit Jahren aufrecht hielt, bekam den ersten Riss, sie stand kurz davor zu schreien, doch plötzlich nahm der Druck des Kusses ab.

Plötzlich glitten seine Lippen zärtlich und anscheinend unschuldig über ihren Mund. Obwohl der Begriff der Unschuld für den Earl of Erith eindeutig ein Fremdwort war.

Nein, die sanfte Knabberei gehörte ganz einfach zur Taktik eines hartgesottenen Verführers. Eines Mannes, der genügend Selbstbewusstsein hatte, um zu wissen, dass er sich nur etwas Zeit zu lassen und sein Opfer in einem falschen Gefühl von Sicherheit zu wiegen brauchte, damit er alles von ihm bekam.

Nun, er hatte keine Ahnung, mit wem er sich hier eingelassen hatte.

Kein Mann machte ein hilfloses Opfer aus Olivia Raines. Plötzlich wogte heißer Zorn in ihrem Innern auf, sie hob beide Hände an, um ihn von sich fortzuschieben, und entwand ihm ihren Mund. »Nein!«

Sie drückte kraftvoll gegen seine breite Brust, doch erst nach einem letzten sanften Kuss auf ihren Mund trat er einen Schritt zurück und gab ihr dadurch zu verstehen, dass er nicht eher von ihr abließ, als es ihm selbst gefiel. Er atmete keuchend ein und aus, seine Augen glitzerten wie frisch poliertes Silber. Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, war sein Blick nicht kalt. Denn er war immer noch erregt.

Dann begehrte er sie also. Natürlich tat er das. Schließlich zahlte er ein Vermögen, damit sie ihm als Bettgenossin zur Verfügung stand. Die Männer hatten sie immer schon begehrt. Sogar, als sie noch ein Kind war. Aber sie hatte die Macht. Sie war es, die entschied.

»Dazu hatten Sie kein Recht«, fauchte sie ihn an.

Ihr Zorn kratzte noch nicht einmal an seiner Arroganz. »Regen Sie sich nicht unnötig auf«, bat er sie in ruhigem Ton. »Schließlich muss Ihnen doch klar sein, dass ich die Absicht habe, noch viel mehr zu tun, als Sie zu küssen, Olivia. Diese aufgesetzte Schüchternheit steht Ihnen gar nicht gut.«

»Es ist keine Schüchternheit«, erwiderte sie scharf und atmete tief ein, da die Panik immer noch nicht völlig über wunden war. Dann senkte sie ihre Stimme absichtlich ein wenig, damit sie wieder wie Olivia Raines, die Königin der Kurtisanen, und nicht mehr wie das verängstigte kleine Mädchen klang. »Ich küsse niemals auf den Mund. Dafür erfülle ich meinen Liebhabern in allen anderen Bereichen jeden Wunsch.«

 

Ihre verführerische Antwort konnte ihn nicht täuschen. Sie war ungewöhnlich bleich, und ihr voller, von den Küssen roter Mund bildete einen verletzlichen schmalen Strich. Der Kuss hatte große Wirkung auf sie gehabt. Auch wenn sie unglücklicherweise nicht von glühendem Verlangen überwältigt worden war.

Nein, es war etwas anderes passiert.

Er wünschte sich, er wüsste, was.

Würde sie wohl ähnlich reagieren, wenn er mit ihr schlief? Oh nein, ganz sicher nicht. Ihre bisherigen Gönner hatten in den höchsten Tönen von den Freuden ihres Leibs geschwärmt.

Aber unter seinem Kuss hatte sie sich wie eine warme, duftende Statue angefühlt. Sie hatte noch weniger auf die Liebkosung reagiert als am Nachmittag.

Er beugte sich ein wenig vor und sog ihr Aroma ein, berührte sie dabei aber nicht. Denn er konnte warten. Selbst wenn sein Schwanz in Flammen stand. »Wir sehen uns morgen, Olivia.«

Er stand ihr nahe genug, um das unsichere Flackern in ihrem Blick zu sehen. »Lord Erith …«

Sie hielt ihn am Arm zurück, und trotz der dicken Wolle und des Leinens, das dazwischenlag, spürte er die Hitze ihrer Hand. Bevor sie sie wieder zurückziehen konnte, hielt er sie entschlossen fest. »Ja?«

»Ich fürchte, dass ich etwas übereilt auf Ihren Vorschlag eingegangen bin.«

Beinahe geistesabwesend strich er mit den Fingern über ihren Handrücken und sah sie reglos an. »Ich hätte angenommen, dass Sie ein bisschen zäher sind, Miss Raines. Scheuen Sie etwa immer bereits vor dem ersten Hindernis zurück?«

Sie sah ihn aus dunklen, unglücklichen Augen an. Hinter der gelassenen Fassade toste eindeutig ein wilder Sturm.

»Dies ist kein Jagdausflug auf Ihrem Gut, Lord Erith«, antwortete sie schroff. »Sie bilden sich ein, Sie könnten mich kaufen wie ein Pferd oder ein Paar neuer Stiefel. Aber dabei geht es um mehr, das wissen Sie genauso gut wie ich. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir beide nicht zueinanderpassen.«

Ah, sie kam allmählich wieder zu sich, Gott sei Dank. Er hatte schon befürchtet, er hätte sie erschreckt. Obwohl eine solche Reaktion bei einer starken Frau wie ihr verwirrend gewesen wäre. Schließlich war es nur ein Kuss gewesen, weiter nichts. Obwohl ihm die Berührung ihrer Lippen alles andere als harmlos vorgekommen war.

»Wir passen sogar ausgezeichnet zueinander«, widersprach er ihr.

»Das zu entscheiden, liegt bei mir.«

Er legte eine Hand unter ihr Kinn, sah ihr in die Augen und bewunderte sie dafür, dass sie seinem Blick nicht auswich und noch nicht einmal zusammenfuhr. »Sind Sie denn gar nicht neugierig darauf zu sehen, was ich Ihnen bieten kann?«

Wieder umspielte das bekannte ironische Lächeln ihren Mund. »Eine Frau mit meinem Beruf verliert sehr schnell die Neugier auf derartige Dinge, Mylord.«

»Dann führen Sie die Beziehung fort, weil Sie Frau genug sind, um mich zu zähmen. Es wäre ein Armutszeugnis, unsere Affäre zu beenden, bevor sie auch nur richtig angefangen hat.«

Ihr Lächeln wurde breiter, wieder fiel sein Blick auf das verführerische kleine Muttermal direkt neben ihrem Mund. Wieder spürte er das geradezu verzweifelte Verlangen, es zu küssen. Nur ihre eisige Reaktion auf seinen letzten Kuss hielt ihn davon ab. »Dies ist auch kein Ringkampf.«

Er lachte leise auf, doch selbst als er sie losließ, spürten seine Finger noch die Wärme ihrer Haut. »Ich habe durchaus die Absicht, ein bisschen mit Ihnen zu ringen.«

»Und zu fechten.«

»Auf jeden Fall. Mein Degen ist schon gezückt.«

»Das ist er wahrscheinlich immer.«

»Wenn ich auf einen würdigen Gegner treffe, ganz bestimmt. Aber die Gegnerin, die ich mir wünsche, gibt vor, dass sie nicht in meine Gewichtsklasse gehört.«

»Reden Sie jetzt wieder vom Ringen?«

»Vom Boxen, Olivia. Ich möchte dafür sorgen, dass Sie Sterne sehen.«

»Sie verlieren keine Zeit mit falscher Bescheidenheit, nicht wahr?«

»Ich verliere niemals Zeit.« Er machte eine Pause. »Also, werden Sie morgen zu mir kommen oder gibt die unabhängigste und kapriziöseste Frau von London zu, dass sie einem Mann begegnet ist, den sie nicht beherrschen kann?«

Sie zog verächtlich ihre Brauen in die Höhe. »Glauben Sie etwa, dass Sie mich mit kindischen Sticheleien ködern können?«

»Ich glaube, dass ich Sie ködern kann. Egal, auf welche Art. Nach allem, was ich sehe, haben Sie bisher nur einen Haufen Weichlinge dazu gebracht, sich Ihrem Willen zu beugen. Versuchen Sie doch mal Ihr Glück bei einem würdigeren Gegner. Zwingen Sie den berüchtigten Earl of Erith in die Knie.«

Sie stieß ein amüsiertes Schnauben aus. »Ich glaube, die Chance, dass mir das gelingt, ist genauso groß wie meine Chance auf einen Flug zum Mond.«

»Aber ich freue mich bereits darauf zu sehen, wie Sie es versuchen. Sind Sie die leichten Eroberungen nicht allmählich leid?«

»Sie bilden sich ein, Sie wüssten über die Männer Bescheid, die bisher in meinem Bett gelandet sind.«

»Ein guter Sportler informiert sich eben über seine Konkurrenz.«

»Ich schwöre Ihnen, wenn Sie mir jetzt noch erzählen, wie gut Sie reiten können, bekommen Sie eine Ohrfeige von mir verpasst.«

Abermals lachte er auf. Seine Bewunderung für diese Frau nahm von Sekunde zu Sekunde zu. »So krass würde ich es niemals formulieren, Miss Raines.«

»Da Sie schließlich ein Ausbund an Tugend sind«, fügte sie trocken hinzu.

»Nicht immer. Wie ich Ihnen hoffentlich in Bälde demonstrieren darf.« Er zögerte, denn ihre Antwort auf die nächste Frage war ihm wichtiger, als er vor einem Tag oder auch nur vor einer Stunde angenommen hätte. »Also, werden Sie morgen kommen?«

In ihre Augen trat ein herausforderndes Blitzen. »Ja.«