Kapitel 1
„Nein.“ Der Graf von Wrexford starrte die Weste mit kritisch zusammengekniffenen Augen an. „Mitnichten.“
Sein Kammerdiener schnaufte beleidigt. „Sie beabsichtigen doch wohl nicht, auf dem heutigen Galaball von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet zu erscheinen. Sie werden aussehen wie ein Bestatter.“
„Würden Sie es vorziehen, wenn ich aussehe wie das Äffchen eines Straßengauners?“
Tyler zuckte mit den Schultern. „Als würde ich je etwas derart Vulgäres andeuten.“ Er fuhr mit seiner Hand über die exquisit gestrickte Seide. „Dieses Kirschrot verziert mit nachtschwarzem Garn ist sowohl stilvoll als auch raffiniert.“
Der Graf gab ein unhöfliches Geräusch von sich. „Warum tragen Sie es dann nicht? Vorzugsweise im Laboratorium, während Sie die ätzendsten unserer Chemikalien wegschrubben.“
„Sie, Sir, sind ein Esel“, murmelte sein Kammerdiener. „Und ein Modebanause.“
„Und dürfte ich wohl betonen, dass Sie mein bescheidener Diener sind?“
„Fragt sich nur, für wie lange noch, sollten Sie weiterhin auf solch langweilige Garderobe beharren. Ein Mann meines seltenen Talents braucht Herausforderungen.“
„Dann begeben Sie sich in die Bibliothek in meinem Arbeitszimmer“, sagte der Graf affektiert, „und nehmen Sie sich das Buch über Benjamin Silliman zur Hand, damit Sie über seine Experimente mit Mineralen lesen können.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Ich möchte wissen, ob wir seine Ergebnisse mit Säure und Quarz replizieren können. Und dann, sollten die Ergebnisse entsprechend meiner Erwartung ausfallen, habe ich eine Idee, die ich ausprobieren möchte.“ Tylers verärgerter Blick wich einem der Neugier. „Hmmm, Säuren sagen Sie? Denken Sie etwa darüber nach, Vitriolöl zu Sillimans originalen Mischung zu geben?“
Wrexford galt als einer der brillantesten Chemiker Englands, der Großteil seiner Forschung fand jedoch in seinem privaten Laboratorium statt, da er bei den angesehenen wissenschaftlichen Einrichtungen Londons keinen sonderlich guten Ruf genoss. Die Menschen neigten dazu, sich an seinem Sarkasmus zu stören. Tyler, der ihm sowohl als Laborassistent als auch als Kammerdiener treu zur Seite stand, war einer der wenigen, die seine Launen ertragen konnten.
„Womöglich“, antwortete der Graf.
„Ich werde die Zusammenfassung des Gelesenen und das notwendige Material zu morgen vorbereitet haben.“ Der Kammerdiener klemmte die Weste unter seinen Arm und drehte sich Richtung Ankleidezimmer. Doch nach einem Schritt blieb er stehen. „Würden Sie wenigstens die Silber und Ebenholz gestreifte in Erwägung ziehen? Sie weist die Art von subtilen Texturen und Eleganz auf, die Lady Charlotte zu schätzen wissen würde.“
Charlotte Sloane. Wrexford zögerte und wandte seinen Blick in Richtung der Bleiglasfenster ab, wo sich die dunkler werdenden Schatten der Nacht an das Glas schmiegten. Ein Mensch unendlicher Texturen, gewoben aus Komplexitäten und Konflikten. Obwohl das, so gestand er sich ein, auch auf ihn zutraf.
„Ich denke nicht, dass es Lady Charlotte einen feuchten Rattenmist kümmert, wie ich für den Abend gekleidet bin“, erwiderte er.
Schließlich hüllte sie sich in quecksilbrige Schatten. Und Geheimnisse – so unglaublich viele Geheimnisse. Ein widerwilliges Lächeln zerrte an seinen Mundwinkeln. Eines der Geheimnisse, die ihn am meisten überrascht hatten, war die Tatsache, dass sie den Künstlernamen ihres verstorbenen Ehemannes und seine Identität als der berüchtigte A.J. Quill, Londons führender Satiriker, angenommen hatte.
Zum ersten Mal aneinandergeraten waren sie, als Wrexford die Zielscheibe ihrer messerscharfen Feder geworden war – dass man einen hochgeborenen Aristokraten des Mordes bezichtigte, hatte ganz London in Atem gehalten. Doch um den wahren Mörder zu finden, hatten sie schließlich, wenn auch zaghaft, eine Allianz gegründet.
Ganz zu ihrer beider Überraschung hatte sich daraus eine Freundschaft entwickelt, wenngleich das ein zu simples Wort war, um die Bindung zwischen ihnen zu beschreiben. Im Laufe mehrerer darauffolgender Mordermittlungen war diese Bindung auf eine Weise, die sich nicht in Worte fassen ließ, sogar noch komplizierter geworden. Und kürzlich hatte es eine neue Wendung gegeben …
Tyler schnaubte, was den Grafen aus seinen Grübeleien riss. „Sie ist eine begabte Künstlerin sowie eine scharfsichtige Beobachterin. Sicher werden ihr die kleinen Details auffallen, die einer leeren Leinwand Farbe und Struktur verleihen … oder deren Abwesenheit.“ Ein weiteres unhöfliches Geräusch. „Beschuldigen Sie also nicht mich, sollte sie beschließen, dass Sie ein Mann fehlender Vorstellungskraft oder schlechten Geschmacks sind.“
„Ich bitte Sie, Tyler. Vermiesen Sie Wrex bloß nicht die Laune“, erklang eine Stimme aus dem Korridor. Einen Moment später betrat ein hochgewachsener, blonder Gentleman in eleganter Abendgarderobe das Zimmer. Die nicht ganz perfekten Falten in seiner Krawatte und sein schelmisches Lächeln strahlten eine gewisse Unbekümmertheit aus.
„Lady Charlotte wird in Anbetracht ihres ersten Ausflugs in einen Ballsaal Mayfairs auch ohne seinen scharfzüngigen Sarkasmus nervös genug sein.“ Christopher Sheffield, von Wrexford Kit genannt, warf dem Grafen einen argwöhnischen Blick zu. „Bitte versuchen Sie doch, heute Abend von jeglichem Fehlverhalten abzusehen. Zumal Sie dazu neigen, es absichtlich zu tun.“
Wrexford hob eine Augenbraue. „Wollen Sie tatsächlich mir schlechtes Benehmen vorwerfen?“
Sheffield war seit ihren Tagen in Oxford ein enger Freund des Grafen. Als jüngster Sohn eines Marquess überließ man ihm keinerlei Verantwortung über die riesigen Ländereien seiner Vorfahren, und sein herrschsüchtiger Vater ließ den Geldhahn der Familie gerade so weit aufgedreht, dass ihm ein winziges Taschengeld zufloss. Gelangweilt und frustriert übte er an seinem Vater Vergeltung, indem er in exzessiven Mengen trank und spielte – ein Verhaltensmuster, das niemandem guttat.
Mit nachdenklich verzogener Miene überquerte Sheffield den Teppich und nahm in einem der Sessel vor dem Kamin Platz. „Möglicherweise versuche ich ja, mich zu ändern.“
„Wenn das kein Anlass zum Trinken ist“, scherzte Tyler, während er zu dem Beistelltisch ging, auf dem ein Tablett mit Karaffen stand. Sheffield hatte eine Schwäche für den teuren Brandy des Grafen.
Er wies den Vorschlag mit einem gleichgültigen Winken zurück. „Nein, nein. Ich möchte einen klaren Kopf bewahren.“
„Sind Sie krank?“, fragte Wrexford.
„Ha, ha, ha.“ Mit gekränktem Blick ließ sich sein Freund tiefer in die Kissen sinken. „Ehrlich gesagt, wollte ich etwas mit Ihnen besprechen …“ Er hielt kurz inne, als er die Weste unter Tylers Arm entdeckte, und brach dann in heiteres Gelächter aus.
Der Kammerdiener fixierte ihn mit einem gequälten Gesichtsausdruck. „Sagen Sie, was ist so amüsant?“
„Die Vorstellung, dass Wrexford so etwas tragen würde.“ Sheffield verzog das Gesicht. „Gütiger Gott, er würde ja aussehen wie einer dieser Pfauen des Hofes von König Karl I. Sie wissen schon, die von wie-heißt-er-noch, der extravagante, gutaussehende Kerl, der bei den Damen überaus beliebt war.“
„Anthony Van Dyck?“, schlug der Graf vor.
„Ja, den meine ich.“ Sein Freund sah zufrieden mit sich selbst aus. „Wie Sie sehen, habe ich doch nicht jede Vorlesung in Oxford verschlafen.“
Mit einem langen, leidvollen Seufzen schlenderte der Kammerdiener aus dem Raum.
Sheffields Grinsen verweilte einen Augenblick und wich dann einer unsicheren Miene. „Ich wage zu behaupten, dass Lady Charlotte nervös ist, was ihren ersten großen Auftritt in der gehobenen Gesellschaft betrifft.“
Ein weiteres von Charlotte Sloanes Geheimnissen hatte jüngst eine große Veränderung in ihrem Leben bewirkt. Die Tochter eines Grafen war von ihrer Familie verstoßen worden, weil sie mit einem Mann unter ihrem Stand nach Italien durchgebrannt war. Und dann, nachdem sie Witwe geworden war, hatte sie es gewagt, sich durch Talent, Mut und Hingabe ein unabhängiges Leben in der Unterschicht aufzubauen. Doch der jüngste Mord an ihrem Cousin – und die Verhaftung seines Zwillingsbruders für das Verbrechen – hatte sie gezwungen, aus dem Schutz der Schatten heraus und zurück in die glitzernde Welt der Schönen und Reichen zu treten, um den wahren Täter zu finden.
Wrexford begab sich an den Beistelltisch und schenkte sich einen Brandy ein. „Ich wage zu behaupten, dass Sie recht haben.“ Er hob sein Glas. „Sicher, dass Sie mir nicht Gesellschaft leisten wollen?“
Sein Freund winkte schroff ab.
Er zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck, bevor er das flüssige Feuer auf seiner Zunge prickeln ließ.
„Was, wenn sich herausstellt, dass sie ihr neues Leben hasst?“ Sheffield stand auf und begann auf und abzulaufen. „Sie wissen, wie sehr sie die Heuchelei und die Selbstsüchtigkeit des Adels verabscheut. Sie ist bereits einige kleine Kompromisse eingegangen, doch sie wird noch weitaus mehr Veränderungen vornehmen müssen, um in ihre neue Welt zu passen und …“
Sein Freund seufzte besorgt. „Und sobald man sich erst einmal verändert hat, gibt es kein Zurück mehr.“
„Veränderung ist ein unaufhaltsames Element unserer Existenz, Kit“, erwiderte er. „Mit jedem Ticken der Uhr rücken wir unserer Sterblichkeit immer näher. Unsere Leben befinden sich in einem Zustand des stetigen Wandels. So sehr wir es auch versuchen, wir können nicht stillstehen.“
„Danke. Das stimmt mich sehr viel zuversichtlicher für den bevorstehenden Abend.“ Trotz des Witzes schien Sheffield noch verunsicherter.
Der Graf spürte, dass sie von mehr sprachen als Charlottes Herausforderungen. „Die Vorstellung von Veränderung verängstigt uns alle, Kit.“
„Sie nicht.“ Sein Freund blieb stehen. „Sie erschüttert nichts.“
Ach, wenn dem doch nur so wäre, dachte Wrexford.
„Sie haben die Gabe der sardonischen Distanziertheit“, fuhr Sheffield fort. „Sie können über die Absurdität unserer menschlichen Schwächen lachen anstatt sie beängstigend zu finden.“
„Furcht ist ein unaufhaltsames Element unserer Existenz“, sagte er leise. „Etwas anderes zu behaupten, würde bedeuten, dass durch meine Adern kein Blut fließt.“
„Aber wie …“
„Machen Sie sich keine Sorgen um Lady Charlotte“, riet Wrexford. Womöglich eine indirekte Antwort auf die eigentliche Frage, die sein Freund stellte. Doch Sheffield war ein kluger Kerl. „Sie hat Mut, Widerstandsfähigkeit und einen scharfen Sinn für Humor.“ Er hielt inne. „Doch vor allem hat sie Freunde. Die Furcht verliert ihre Macht, wenn man sich ihr nicht allein stellt.“
Ein seltsames Schimmern schien unter Sheffields Wimpern aufzuleuchten. „Bin ich etwa gerade Zeuge davon geworden, wie Sie ein gutes Wort über die Kraft der Freundschaft und Liebe verloren haben?“
„Gott bewahre. Das müssen Sie sich eingebildet haben.“ Wrexford nahm einen weiteren Schluck von seinem Brandy. „Zurück zu dem, was Sie soeben zu sagen begonnen haben …“ Nicht gewillt, das Gespräch über Emotionen weiter auszuführen, lenkte er es in eine andere Richtung. „Sie wünschen, etwas zu besprechen?“
„Ja.“ Sein Freund wandte seinen Blick ab. „Eine überaus wichtige Angelegenheit, um genau zu sein.“
„Ah.“ Die Lippen des Grafen zuckten. „Ich vermute, Sie haben Ihr vierteljähriges Taschengeld erschöpft und hoffen, sich etwas für Brandy und andere Vergnügen leihen zu können.“
Sheffield versteifte sich. „Ich bin mir bewusst, dass ich den zugegebenermaßen wohlverdienten Ruf habe, ein nichtsnutziger Müßiggänger zu sein. Sie haben also allen Grund, sarkastisch zu werden. Doch ich möchte … ich möchte mich ändern.“ Er atmete tief ein. „Daher …“
Wrexford stellte sein Glas ab und verfluchte seine scharfe Zunge.
„Daher habe ich einen Geschäftsvorschlag, den ich Ihnen unterbreiten möchte“, platzte es aus Sheffield heraus, als er ein Bündel Papiere aus der Ledermappe holte, die er unter seinen Arm geklemmt hatte. „Vorausgesetzt natürlich, dass Sie bereit sind, zuzuhören und nicht in spöttisches Gelächter verfallen.“
Bin ich wirklich ein so gefühlloser Freund? Der Gedanke war kein angenehmer.
„Lassen Sie uns nach unten ins Arbeitszimmer gehen, wo wir Ihre Dokumente ausbreiten und sie uns genauer ansehen können“, antwortete er.
„Ich danke Ihnen.“ Sheffields dankbarer Blick ließ ihn sich noch schlechter fühlen.
Der Graf ging voraus die Treppe hinunter und hinein in einen gemütlichen Raum mit verzierten Bücherregalen, Ledersesseln und einem überfüllten Kabinett wissenschaftlicher Kuriositäten. Der massive Schreibtisch, dessen altersgeschwärzte Birnenholzplatte unter den Stapeln wissenschaftlicher Zeitschriften und Chemiebüchern beinahe unsichtbar war, mutete abgenutzt an.
Wrexford räumte rasch etwas Platz für die Papiere seines Freundes frei und setzte sich dann, während Sheffield seine Dokumente in mehrere saubere Stapel anordnete und sich räusperte.
„Angesichts der Tatsache, dass wir in Kürze durch einen Ballsaal tanzen, werde ich mich kurzhalten. Ich möchte Sie um eine Investition bitten, um ein Unternehmen zu gründen.“ Sein Freund deutete auf die Papiere. „Darin finden Sie die Einzelheiten – um was es geht, warum es profitabel sein wird, die finanziellen Prognosen für die erste Phase des Betriebs.“ Eine Pause. „Und die Anzahl der Anteile, die Sie an dem Unternehmen erhalten werden.“
Sheffield zupfte etwas nervös an seiner Manschette. „Lassen Sie sich bitte Zeit dabei, das Material durchzugehen. Sollten Sie Fragen haben, werde ich mich bemühen, sie zu beantworten.“
Stille legte sich über das Arbeitszimmer, hier und da unterbrochen von dem flüsternden Rascheln von Papier und dem gedämpften Knistern der Kohlen im Kamin. Mit jeder Seite, die Wrexford umblätterte, wuchs seine Begeisterung. Die Details des Unternehmens waren in einer klaren und gut begründeten Übersicht dargestellt, die Gewinnprognosen recht konservativ. Alles in allem schien es sich um einen überaus professionellen Vorschlag zu handeln.
Er blickte auf. „Ich nehme an, Sie haben Partner für dieses Vorhaben?“
„Ja“, antwortete Sheffield, ohne seine Antwort näher zu erläutern.
Neugierig erwiderte der Graf: „Dürfte ich fragen, wen?“
Sein Freund zögerte und wich seinem Blick aus. „Ich würde es vorziehen, das für mich zu behalten, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“
Wrexford zog eine Augenbraue hoch.
„Nicht aus unmoralischen Gründen“, fügte Sheffield schnell hinzu. „Ich bin sicher, Sie werden mit ihnen zufrieden sein. Im Augenblick steht es mir jedoch nicht frei, diese Information zu teilen.“
„Nun gut.“ Wrexford beschloss, die Bitte zu respektieren, stellte dann jedoch einige ausführliche Fragen zu Kosten und Gewinn sowie dem tatsächlichen Betrieb des Unternehmens. Er konnte sich die Investition durchaus leisten, es handelte sich nichtsdestominder um eine beträchtliche Summe und er wusste, dass sich sein Freund dafür schämen würde, sollte das Projekt scheitern und er das Geld das Grafen verschwendet haben.
Sheffield beantwortete die Fragen mit gelassener Selbstsicherheit und zeigte dabei ein ausgezeichnetes Verständnis für das geplante Unternehmen einschließlich seiner eigenen Rolle. „Aufgrund meiner familiären Verbindungen und meinem Eintritt in die gehobene Gesellschaft habe ich die Hauptaufgabe, Investitionen einzuholen. Aber ich bin auch an der Auswahl der Importe beteiligt, die für den Adel von Interesse sein könnten. Einer der Partner ist überaus begabt darin, die komplexen finanziellen Prognosen zu erstellen, und ein anderer verfügt über Sachkenntnisse und Kontakte im Bereich der Schifffahrt.“
Nachdem er noch ein wenig weiter nachgehakt hatte, war Wrexford zufrieden. „Es scheint mir ein sehr solider Plan zu sein.“ Er kritzelte eine Notiz nieder und versiegelte sie mit seinem Siegelring. „Bringen Sie das morgen zu meinem Bankier und er wird Ihnen das Geld geben.“
Ein Flimmern der Erleichterung in seinen Augen, stieß sein Freund den Atem aus. „Noch einmal vielen Dank. Ich stehe tief in Ihrer Schuld, Wrex.“
„Das tun Sie nicht“, erwiderte er. „Ich habe nicht die Absicht, Anteile von Ihnen zu übernehmen. Ich bin froh, als Ihr Freund in Ihre Zukunft zu investieren, und wünsche Ihnen viel Erfolg.“
„Nein!“ Sheffield ballte seine Hände zu Fäusten und machte keine Anstalten, den Schuldschein entgegenzunehmen. „Ich bitte Sie nicht um Almosen.“ In der Stimme seines Freundes schwang ein Ton mit, den er noch nie zuvor gehört hatte. „Dies ist ein Übereinkommen zwischen Geschäftspartnern und wird auch als solches abgewickelt – oder gar nicht.“
„Wie Sie wünschen“, willigte Wrexford ein, obgleich ihm dabei ein Schauer des Unbehagens den Rücken hinunterlief. Er hoffte inständig, dass die Partner seines Freundes kompetent waren. Sollte das Unternehmen scheitern, würde das Sheffield, so fürchtete er, schwer treffen.
Sein Freund sammelte die Papiere ein, bevor er den Schein in seine Tasche steckte. „Sie sollten sich jetzt besser ankleiden“, murmelte er mit Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims. „Der Ball beginnt schon bald und Sie haben versprochen, Lady Charlotte zu ihrem ersten Walzer hinauszuführen. Sie können sie nicht stehen lassen wie eine verlassene Blume, die im Schatten der Mauer verwelkt.“
Der Tadel, wenn auch verblümt, saß. „Glauben Sie wirklich, ich würde Lady Charlotte im Stich lassen?“
Sheffield errötete. „Nein, natürlich nicht! Aber …“ Seine Worte wichen einem leisen Rascheln, als er die Dokumente zurück in seine Mappe legte.
„Aber was?“, fragte der Graf leise.
Es folgte ein Herzschlag des Zögerns, bevor sein Freund widerwillig antwortete: „Aber zuweilen sind Ihre Gefühle … schwer zu deuten. Sie schwanken oft zwischen Tag und Nacht … und spiegeln entweder die Wärme der Sonne oder die Kälte des Mondes wider.“
Eine scharfsinnige Beobachtung, räumte der Graf ein. „Möglicherweise ist der innere Widerspruch einfach mein Schicksal. Die dunkle und die helle Seite meines Gemüts sind stets im Krieg miteinander.“
Sheffield warf ihm einen fragenden Blick zu, doch bevor er antworten konnte, lenkte Wrexford das Gespräch zurück auf den Ball. „Lady Charlotte wird es nicht an Unterstützung fehlen, wenn sie in die Beau Monde zurückkehrt. Ich bin mir bewusst, dass Pomp und Glitzer notwendig sein werden, um sie zu beeindrucken und sicherzustellen, dass man Lady Charlotte in der höflichen Gesellschaft akzeptiert … eine ironische Bezeichnung, schließlich handelt es sich bei ihnen zum Großteil um nichts anderes als ein Rudel gepflegter, wilder Katzen mit überaus scharfen Krallen.“
Der Graf zuckte mit den Schultern. „Wie dem auch sei, ich habe die richtigen Partner für sie arrangiert. Und vergessen Sie nicht, dass auch ihr Cousin Nicholas, der neue Lord Chittenden, und ihr guter Freund Lord Sterling da sein werden, um ihr moralischen Beistand zu leisten.“
„Also dann“, murmelte Sheffield. „Es scheint keinen Grund zu geben, sich zu sorgen. Der Abend sollte ohne Ausrutscher und Stolperer verlaufen.“
***
Die Szenerie war von einer zuckersüßen Märchenhaftigkeit geprägt. Die große geschwungene Treppe aus weißem Marmor führte zu einem Absatz hinauf, auf dem zwei massive Vasen mit blassen Rosen einen mit goldenen Fäden verzierten, burgunderroten Läufer flankierten, dessen geschmeidiger Samt die Gäste hineinlockte …
Lady Charlotte Sloane verlangsamte ihren Schritt und atmete tief ein, als sie den verschnörkelten Torbogen betrachtete, der in den Ballsaal führte. Aus den offenen Türen drang Musik, deren Noten einen fröhlichen Tanz mit dem überschäumenden Gelächter und dem diskreten Klirren von Champagnergläsern tanzten. Das strahlende Licht der Kristallleuchter erhellte das juwelenartige Funkeln der Damen in ihren prachtvollen Kleidern und die gedämpfte Eleganz der Gentlemen in ihrer Abendgarderobe.
Es war der Stoff, aus dem die Träume eines jeden hochgeborenen Schulmädchens gewebt waren …
Zu ihrem Schrecken spürte Charlotte ein Brennen in ihren Augen. Verdammt – ich bin bis nach Italien davor geflohen, in einem goldenen Käfig wie diesem zu leben.
„Kopf hoch, Mädchen“, murmelte Alison, die Gräfinwitwe von Peake, und griff Charlottes Arm fester. „Ich bin sicher, du hast dich weitaus furchteinflößenderen Herausforderungen gestellt, als in einen Raum voller überfressener Aristokraten zu treten.“
„Erinnere mich doch freundlicherweise: Warum tue ich das noch gleich?“ Sie kniff die Augen zusammen. Das Glitzern stach in ihren Augen. „Mit siebzehn war ich weise genug, um zu wissen, dass ich als Pappschablone eingezwängt in die Stränge der Gesellschaft, niemals überleben würde.“
„Ja, doch jetzt bist du umso weiser, denn du hast gelernt, deine eigenen Regeln zu schreiben“, antwortete die Gräfinwitwe.
Regeln. Seit sie denken konnte, hatte Charlotte sich zu einem Leben entgegen jeder nur denkbaren blaublütigen Regel entschlossen.
Entscheidungen, Entscheidungen. Ihre jüngste Entscheidung, aus den Schatten herauszutreten und sich wieder in die Welt der Schönen und Reichen zu begeben, hatte es ihr ermöglicht, den Mörder ihres Cousins zu finden. Doch der Triumph hatte seinen Preis, und so gab es für sie bis auf unbestimmte Zeit kein Zurück in ihr altes Leben, wo die Anonymität ihr uneingeschränkte Freiheit und Unabhängigkeit verliehen hatte.
Da war sie nun also – eine weltgewandte Witwe, die sich in den Slums der Stadt und nicht den schicken Salons zu Hause fühlte – und besuchte ihren ersten formellen Ball. Noch deutlicher wurde die Ironie durch die Tatsache, dass sie ihren Lebensunterhalt damit verdiente, die ausgelassenen Exzesse in ihren Karikaturen anzuprangern, einschließlich der Damen und Herren, die heute anwesend waren.
„Und“, fügte Alison hinzu, „du tust es, weil du deine alte, tattrige Großtante sehr gern hast und weißt, wie sehr ich mich darauf freue, unter den aufgeblasenen Wichtigtuern und albernen Hühnern der Beau Monde für Tratsch zu sorgen.“ Ihre blauen Augen bekamen einen scharfsichtigen Glanz. „Bevor du zurück in mein Leben gekommen bist, war es furchtbar fade geworden. Und wo bleibt der Spaß, wenn man seinen Ruf verliert, ein Satansbraten zu sein?“
Charlotte lächelte. Alison war das einzige erwachsene Mitglied ihrer versteiften Familie gewesen, das das eigensinnige Mädchen verstanden und unterstützt hatte, dessen Neugier und Fantasie den Zwängen des konventionellen Denkens getrotzt hatten.
„Du hast mir den Mut gegeben, mich der Konformität zu widersetzen“, murmelte sie.
„Oh, pfft. Es ist ja nicht so, dass du etwas wirklich Unerhörtes getan hättest.“
Ha! Sie und die Gräfinwitwe hatten erst kürzlich wieder zueinandergefunden und ihre Großtante kannte noch nicht das volle Ausmaß von Charlottes … Exzentrizitäten.
Alison klopfte ihren Gehstock auf den Teppich und beendete alle weiteren Grübeleien, bevor sie Charlotte durch die obligatorische Begrüßung ihrer Gastgeberin führte.
„Nun komm, lass uns die Freuden von Wein und Walzer genießen, bis der Morgen anbricht.“ Klopf-klopf. „Nicht vergessen, wir sind hier für eine Nacht der Festlichkeiten.“ Die Gräfinwitwe winkte einen Diener mit einem Tablett Champagner herbei. „Und wir beginnen bei den zwei jungen Fanten am Erfrischungstisch.“
Charlottes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln – einem von Herzen –, als sie ihren Cousin Nicholas und ihren Kindheitsgefährten entdeckte. Jeremy, der durch eine Laune des Schicksals zum überaus reichen Baron Sterling geworden war, sah auf und kreuzte ihren Blick mit einem Grinsen.
„So, so. Da halte ich mich ein paar Monate nicht in London auf und schon bricht die Hölle los“, murmelte er, als er sich vorbeugte, um ihren Handschuh zu küssen.
Ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinab. Es stimmte, der Mord an Nicholas‘ Zwillingsbruder und seine anschließende Verhaftung hatte sie und ihre Freunde in eine dunkle und gefährliche Unterwelt unvorstellbarer Schrecken gestürzt, als sie sich weigerten, die falschen Bezichtigungen hinzunehmen. Ohne die Hilfe von …
„Gott sei Dank für Wrexford“, fügte Jeremy hinzu. „Zugegeben, er ist ein arroganter und jähzorniger Halunke, doch er besitzt die Intelligenz und den eisernen Willen, die nötig sind, um Satan in seinem eigenen Spiel zu schlagen.“
„Wir hatten Glück“, sagte sie leise.
Jegliche Spur des Humors in seinen Augen verschwand. „Das habe ich gehört.“ Charlotte selbst war dem Tod nur gefährlich knapp von der Schippe gesprungen. „Ich hätte aus dem Norden zurückkehren sollen, um zu helfen.“
„Ihre Freunde brauchten Sie“, entgegnete Charlotte. „Und niemand von uns hatte in seinen schlimmsten Albträumen erwartet, dass die Dinge eine solche Wendung nehmen würden.“
„Nun ja, ein Mord hat die Angewohnheit, eine Menge unangenehmer Überraschungen zu offenbaren“, erwiderte Jeremy, der in eine ihrer früheren Ermittlungen involviert gewesen war. „Ich hoffe einfach inständig, dass Sie und der Graf von nun an aufhören, über Leichen zu stolpern …“
Er hielt inne und zog eine Augenbraue hoch. „Ah, wenn man vom Teufel spricht.“
Kapitel 2
Charlotte drehte sich langsam um, das Flattern der feinen Seide an ihrem Körper verursachte eine Gänsehaut auf ihren nackten Armen.
Wrexford war in der Menge leicht zu finden. Groß und breitschultrig, dunkles Haar, das ihm in widerspenstigen Büscheln über den Kragen fiel, ganz in Schwarz gekleidet, bis auf den Hauch von gestärktem weißem Leinen an seinem Hals.
Seine Abendgarderobe, so fiel ihr auf, war exquisit geschneidert. Sein Blick hingegen – ebenfalls finster wie die Nacht – war aus anderem Holz geschnitzt.
Er verabscheute aufgeblasene Wichtigtuer sogar noch mehr als sie es tat.
Eine Schar von Turban tragenden Matronen zerstreute sich mit wippenden Federn bei seiner Näherung und gackerte wie hilflose Küken, in deren Hühnerstall gerade ein Wolf eingedrungen war. Ein Gemurmel ging durch den Raum – Wrexford war für sein sprunghaftes Verhalten bekannt –, als der Graf innehielt und sich umsah.
Ihre Blicke trafen sich.
Ein smaragdgrüner Schimmer funkelte durch seine Wimpern, als seine Miene aufhellte und sich seine Lippen zu einem winzigen Lächeln formten.
Charlotte atmete ein und fühlte sich plötzlich, als hätte sie einen Schwarm Schmetterlinge verschluckt.
Welch seltsames Gefühl, sinnierte sie. Es musste der Champagner sein, der sie so aufgewühlt machte.
„Wrexford!“, rief die Gräfinwitwe und unterbrach ihr Gespräch mit Nicholas, um ihn herüberzuwinken.
„Mylady.“ Der Graf verbeugte sich höflich. „Wie unverschämt von Ihnen, all die jungen Schönheiten in den Schatten zu stellen.“ Er sah auf und offenbarte ein Grinsen, bevor er spöttisch flüsterte: „Intelligenz und Erfahrung machen eine Frau weitaus verlockender als albernes Lächeln und fadenscheinige Konversation.“
Ein Schnaufen. „Was für ein Unfug, Sir.“ Alison wedelte mit ihrem Gehstock. „Wie dem auch sei, in meinem Alter ist das Geschwätz eines charmanten Schurken, Unfug oder nicht, sehr willkommen.“
„Ich, charmant?“ Wrexford zog seine dunklen Brauen hoch. „Gott bewahre.“
Charlotte wurde vollkommen still, als er sich zu ihr drehte, nachdem er Nicholas und Jeremy begrüßt hatte.
„Lady Charlotte.“
Es dauerte einen Moment, bis sie begriffen hatte, dass er seine Hand ausstreckte, um das übliche Ritual eines Kusses auf ihre Hand durchzuführen.
Hastig legte sie ihre Handfläche auf seine Fingerknöchel.
„Du siehst …“
Charlotte wartete auf eine seiner gewohnten sarkastischen Witzeleien.
„… entzückend aus“, beendete er seinen Satz.
Sie schaute entsetzt.
„Die Farbe steht dir“, fügte er hinzu, „sie ist … trügerisch.“
Madame Françoise, Londons exklusivste Modistin, sowie ebenfalls Teil von Charlottes weitreichendem Netzwerk scharfsichtiger Informanten, die sie über alle verborgenen Geheimnisse und Skandale der Beau Monde auf dem Laufenden hielten, hatte für Charlottes Kleid einen rauchigen schieferblauen Ton gewählt und die marmorierte Seide, deren Schattierungen je nach Lichteinfall wechselte, hatte eine mysteriöse Aura.
„Trügerisch“, wiederholte Charlotte trocken und sammelte schnell ihre Gefühle. „Ich wage zu behaupten, dass ich die einzige Dame hier bin, die dieses Wort als Kompliment bekommen wird.“ Eine Pause. „Vorausgesetzt, es war eines.“
„Mittlerweile weißt du sicher, dass du von mir keine Plattitüden erwarten kannst.“
„Das tue ich.“ Sie fühlte sich seltsam sprunghaft, während sie an ihrem Handschuh zupfte, und nahm dann einen weiteren Schluck Champagner. „Als Mann der Wissenschaft bist du darauf bedacht, die Wahrheiten mithilfe von Logik und empirischen Beweisen zu finden, anstelle von Emotionen und Wunschdenken. Also erkennst du natürlich, dass man, so teuer oder verlockend der Stoff auch sein mag, aus dem Ohr einer Sau keine Seidenhandtasche herstellen kann.“
Wrexford nahm ihren Arm und führte sie von den anderen weg an einen abgelegeneren Platz neben der Tür, die zu den Nebensälen führte. Die Musiker, so bemerkte sie, hatten ihr eindrucksvolles Konzert beendet und stimmten jetzt ihre Instrumente für den Beginn des Tanzes.
Ein Anflug der Panik stieg ihr in die Kehle.
„Entspann dich, Lady Charlotte“, riet der Graf. Der feste Griff seiner Hand schien sie zu beruhigen. Er beobachtete, wie der Herzog von Cumberland und einige seiner Kumpanen an ihnen vorbeigingen. „Vergiss nicht, du kennst die tiefsten und dunkelsten Geheimnisse von jedem hier in diesem Raum. Sie sind es, die aus Furcht kurz vor dem Erbrechen sein sollten.“
„Wie beruhigend, Wrexford“, sagte sie affektiert. „Du verstehst es wirklich, die zarten Nerven einer Dame zu beruhigen.“
Ein Glucksen grollte in seiner Kehle. „Wäre es dir lieber, wenn ich an deine gewinnsüchtige Seite appelliere? Denk doch bloß einmal an all die kleinen Details für deine Karikaturen, die du aus erster Hand sammeln wirst, jetzt, wo du Zugang zu den Heiligtümern der Aristokratie hast.“
Der Graf hatte nicht ganz unrecht. Für sie ging es nicht um Schmeicheleien und Frivolitäten. Ja, ihre Arbeit brachte Essen auf den Tisch und gewährte ihr eine Unabhängigkeit, die nur wenige Damen ihres Standes je erreichten. Doch sie tat es, weil es ihre Leidenschaft war, die Heuchelei und den Missbrauch von Macht und Privileg zu bekämpfen.
Gut gegen böse. Sie wusste, dass Wrexford sie dafür, dass sie glaubte, das Licht könnte die Dunkelheit auslöschen, für furchtbar naiv hielt …
Ein unsanfter Ruck weckte sie aus ihrem Grübeln, als er ihr das Glas aus der Hand nahm und es beiseitestellte. „Schluss mit der Tagträumerei. Sie stimmen den ersten Walzer an.“
Charlotte musste sich nicht umsehen, um zu wissen, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. Es fühlte sich an, als tanzten Dolchspitzen über jeden Zentimeter ihrer entblößten Haut.
„Stell dir einfach vor, sie wären alle nackt“, murmelte er.
„Muss ich das?“ Sie stieß ihren Atem aus und der Knoten in ihrem Bauch löste sich plötzlich. Man konnte sich stets darauf verlassen, dass Wrexford etwas derart Ungeheuerliches sagte, dass man nicht anders konnte als zu lachen. „Jetzt bin ich nicht mehr nervös. Mir ist bloß schlecht.“
Er lachte. Und dann, als die ersten Töne der Musik den Raum erfüllten, wirbelte er sie herum und alle rationalen Gedanken waren wie weggeblasen.
***
Das Ohr einer Sau? Wrexford zog Charlotte einen Hauch näher heran und führte sie durch eine weitere komplizierte Figur des Walzers. Betrachtet sie sich etwa selbst als solches? Für ihn besaß sie die flinke Anmut eines Waldgeistes, eine betörende Mischung aus Dunkelheit und Licht, die durch Schatten taucht und springt und sich allen Versuchen entzieht, sie zu bändigen.
Sie verblüffte ihn. Forderte ihn heraus. Und ja, sie brachte ihn zur Weißglut, wenn sie an Orte stürmte, wo Engel zu schreiten fürchteten.
Bei der Erinnerung an ihre letzte Ermittlung stockte ihm der Atem im Hals. Nie zuvor war er so verängstigt gewesen, wie in dem Moment als er die Tür zu einem geheimen Raum geöffnet hatte, ohne zu wissen, ob er sie tot oder lebendig auffinden würde.
„Du schaust finster“, murmelte Charlotte.
Er schüttelte seine bedrückenden Gedanken ab.
„Du sollst mir helfen, einen guten Eindruck auf die Beau Monde zu machen, stattdessen halten sie mich für einen unbeholfenen Trampel, der dir die Zehen zerquetscht.“
„Ich bin berüchtigt für mein finsteres Gesicht.“
Ihr seidenes Kleid, so ätherisch und unstetig wie eine Rauchwolke, wehte um ihre schlanken Hüften, als sie sich vereint zu der Harmonie der Musik bewegten. „Und dafür, ein gefährlicher, launischer Kerl mit einem aufbrausenden Temperament zu sein.“
Ihre Lippen zuckten. „Dein Bellen ist weitaus schlimmer als dein Biss. Nichtsdestominder könntest du der leibhaftige Satan sein, doch die Tatsache, dass du ein Graf bist, verleiht meinem ersten Tanz in der Welt der Schönen und Reichen zusätzlichen Glanz.“ Eine Pause. „Also versuche bitte so zu tun, als würde ich dich nicht ablenken.“
Wrexford konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „So. Ist es jetzt besser?“
Sie nickte unsicher und wandte ihren Blick ab. Die nächsten Drehungen verliefen schweigend.
„Ich bitte um Verzeihung, sollte meine scharfe Zunge Anstoß erregt haben“, sagte er schließlich. „Wie du sehr wohl weißt, sehe ich die Welt durch ein recht zynisches Prisma.“
„Oh, es liegt nicht an dir, Wrexford. Ich habe mich sehr an deinen Sarkasmus gewöhnt.“ Charlotte seufzte. „Das Problem liegt bei mir. Ich …“ Mit unbewusster Anmut schritt sie durch die nächste Drehung. „Ich hätte niemals gedacht, dass ich jemals hier sein werde. Und ich schätze, ich versuche noch immer zu begreifen, wie sehr sich mein Leben verändert hat.“
„Veränderung ist ein fester Bestandteil des Lebens“, sagte er. „Wir wachsen, wir entwickeln uns weiter, und wir lernen die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Und wir beginnen anders über Dinge zu fühlen, als wir es in der Vergangenheit taten.“
Seine Worte schienen sie zu überraschen. „Als wir uns zum ersten Mal begegneten, sagtest du, du hättest keine Gefühle.“
„Womöglich habe ich mich geändert.“
Charlotte kreuzte seinen Blick.
Etwas rührte sich in den Tiefen ihrer Augen, doch er konnte nicht ergründen, was es bedeutete. „Ich glaube, wir beide haben uns verändert.“
Wrexford hielt den Atem an und wartete darauf, dass sie fortfuhr.
„Doch …“ Sie verzog das Gesicht zu einer reumütigen Miene. „Ich könnte nicht sagen, wie.“ Eine weitere Drehung. „Oder warum.“
„Manche Dinge lassen sich nicht in Worte fassen“, stimmte er zu.
„Und dennoch …“
Was auch immer sie sagen wollte, wurde durch das Ende der Musik unterbrochen.
Um sie herum legte sich das flatternde Farbenmeer, als die anderen Paare begannen, die Tanzfläche zu verlassen. Wrexford löste seinen Griff um sie und trat zurück. „Wie ich sehe, sind Sheffield und Lady Cordelia eingetroffen. Sie stehen bei Lady Peake und den anderen. Sollen wir uns ihnen anschließen?“
***
„Lady Charlotte!“ Sheffield begrüßte sie mit einem wertschätzenden Lächeln und legte seine Hand auf sein Herz. „Lasst uns weitertanzen! Möge die Freude ungetrübt sein …“
„Ich bitte Sie, Kit“, unterbrach der Graf. „Wenn Sie schon Poesie falsch zitieren, wählen Sie wenigstens jemand anderen als diesen Esel Lord Byron.“
„Finden Sie Lord Byrons Gedichte denn nicht romantisch, Lord Wrexford?“, fragte Lady Cordelia Mansfield, deren Mundwinkel verräterisch zuckten. Wie der Graf hatte auch sie nichts für Narren übrig.
Er sah mit gehobenem Kinn auf sie herab. „Ich empfinde jegliches Übermaß ungenießbar … Geben Sie eine Tasse Zucker zu Ihrem Tee anstatt einem Teelöffel und Sie werden würgen.“
„Ich trinke meinen Tee ohne Zucker, ich stimme Ihnen also zu“, erwiderte Cordelia.
„Ich habe gedacht, alle Damen schwärmen für Byron“, wandte Sheffield ein, obgleich auch er sich ein Grinsen zu verkneifen schien. „Was ist mit Ihnen, Lady Charlotte?“, fragte er und wandte sich zu ihr.
„Ich enttäusche Sie nur ungern, doch ich befürchte, dass ich mich Ihnen anschließen muss.“
„Gott sei Dank.“ Sheffield seufzte theatralisch. „Jetzt fällt es mir deutlich leichter, mich für den nächsten Tanz anzubieten.“ Seine Augen funkelten schelmisch. „Sie müssen wissen, ich könnte niemals ein Gedicht schreiben. Es erfordert ganz einfach zu viel Denken … und Denken bereitet mir Kopfschmerzen.“
Charlotte lachte und nahm freudig seine Hand entgegen. Sheffield war ein enger Freund geworden und wenngleich er in den gehobenen Kreisen der Gesellschaft als charmanter Müßiggänger galt, wusste Charlotte, dass sich hinter seinem rücksichtslosen Verhalten messerscharfe Intelligenz und unerschütterliche Loyalität verbargen.
„Ich werde versuchen zu vermeiden, dass Ihnen nach dem Tanz die Zehen schmerzen“, entgegnete sie, „ich kann es jedoch nicht versprechen.“
„Schluss mit dem Geplauder. Schwingen Sie die Hüften, Mr. Sheffield“, tadelte Alison. „Die Musik beginnt.“
***
Drehung folgte auf Drehung. Das Gelächter, die Musik, die Farben – der Ballsaal begann zu verschwimmen. Charlotte blinzelte, während sie sich durch die Schritte einer lebhaften Gavotte tanzte und sich plötzlich von den Klängen und dem Gedränge der Menge überwältigt fühlte.
Es kam ihr so vor, als hätte sie stundenlang getanzt. Nachdem Sheffield und ihre Cousine eingetroffen waren, kamen der Herzog von Roxleigh und Lord Winchester, zwei der vornehmsten Aristokraten Londons, gefolgt von einer schwindelerregenden Prozession prominenterer Herren …
„Danke, Sir“, murmelte sie, ein wenig außer Atem als der Tanz schließlich zu Ende ging.
Ihr Partner lächelte und bot seinen Arm an. „Hätten Sie gern etwas Champagner, bevor der nächste Tanz beginnt?“
Das verzweifelte Bedürfnis nach einer Atempause verspürend, flunkerte sie: „Ich befürchte, ich habe einen kleinen Riss in meinem Saum. Ich werde auf das Vergnügen eines weiteren Tanzes verzichten und mich zurückziehen müssen, damit eines der Hausmädchen die Naht reparieren kann.“
„Aber natürlich.“ Er verbeugte sich vornehm und begleitete sie zur Seitentür, die aus dem Ballsaal führte.
Nachdem sie ihm erneut gedankt hatte, verschwand sie in dem Korridor und begab sich in Richtung der Rückseite des Hauses. Doch anstatt nach rechts abzubiegen und sich in das Gesellschaftszimmer zu begeben, bog sie in den dunklen Gang zu ihrer Linken, um ein ruhiges Zimmer zu finden, wo sie sitzen und ihre Gedanken sammeln konnte.
Als sie eine halboffene Tür fand, schlich sie hinein und fand sich in einem unbeleuchteten Foyer wieder. Vor ihr lag ein Torbogen, der in einen Alkoven führte. Der schwache Lichtschein, der die gerahmten Drucke an der Wand beleuchtete, deutete an, dass sich hinter der Ecke ein Hauptraum befinden musste.
Ein Kartenspielzimmer womöglich?
Angezogen von der kühlen Abendbrise – ein Fenster schien geöffnet zu sein – und dem Gedanken an einen komfortablen Sessel, der ihr eine sichere Zuflucht vor dem grellen Schimmer des Ballsaals bot, machte Charlotte einige schnelle Schritte. Ihre seidenen Tanzschuhe bewegten sich geräuschlos über den orientalischen Läufer. Sie war gerade im Begriff, abzubiegen, als ihr ein gedämpftes Schnaufen verriet, dass sie nicht allein war.
„Was fällt dir ein, in einem solchen Zustand hier aufzutauchen und einen Lakaien zu schicken, um mich herzubitten?“
Die Stimme einer Dame.
Gütiger Gott. Das war doch wohl nicht …
„E-es tut mir leid“, antwortete die undeutlich und verwirrt klingende Stimme eines Mannes. „Ich weiß, ich hätte nicht herkommen dürfen, aber …“ Er seufzte zittrig. „Aber ich stehe unter Schock.“
„Du siehst furchtbar aus. Setz dich und komm zur Ruhe, während ich dir ein Glas Brandy einschenke.“
Charlotte drückte sich gegen die Wand und hielt ihren Atem an, als sie das Rascheln von Kleidern gefolgt von klirrendem Glas hörte.
„Hier, trink.“ Der Dame stockte der Atem. „Herr im Himmel, deine Hand ist schwer verletzt und blutet.“
„Das kann ich erklären …“
„Shhh! Nicht so laut!“ warnte die Dame. „Das Letzte, was wir wollen, ist, dass dich jemand in dieser Verfassung sieht.“
Das hastige, aber undeutliche Gemurmel, in das ihre Stimmen jetzt verfallen waren, wurde unterbrochen von dem Geräusch reißenden Stoffes.
„Hör auf, dich zu winden. Ich muss deine Handfläche verbinden.“
Charlotte wagte einen schnellen Blick und spürte, wie ihr Herz gegen ihre Rippen schlug. Es war Cordelia, und das rauchige Licht der kleinen Öllampe offenbarte, dass es sich bei dem Mann um ihren Bruder, Jameson Mansfield, handelte. Er war der neue Graf von Woodbridge, seit sein Vater kürzlich verstorben war.
Im Augenblick sah er jedoch eher wie ein verwahrloster Landstreicher aus. Seine Stiefel waren schmutzig und sein Mantel und die Reithosen mit Mist übersät. Sein Gesicht sah aus, als wäre er in einen Kampf verwickelt gewesen.
Sie wich zurück in die Schatten, als Woodbridge sich mit einer Hand über das zerschrammte Kinn rieb und sich auf seinem Stuhl wandte.
„Was ist passiert?“, fragte Cordelia mit angespannter Stimme. Das Klirren von Glas schien darauf hinzuweisen, dass sie ihrem Bruder ein weiteres Glas Brandy einschenkte.
„Ich habe nicht klar gedacht. Ich … ich habe mich an einen Ort gewagt, an den ich nicht hätte gehen sollen …“ Er hielt inne, um mühsam Luft zu holen, und als er wieder sprach, war es nicht mehr als ein aufgeregtes Flüstern.
Es war allgemein bekannt, dass sich Diebe im Hyde Park und den angrenzenden Straßen herumtrieben, die betrunkenen Gentlemen auflauerten, deren benebelter Verstand sie zu leichter Beute machte. Es schien, als wäre Woodbridge unvorsichtig gewesen und hätte den Preis dafür gezahlt.
„Der Teufel soll dich holen, Jamie. Wie konntest du nur so dumm sein?“, murmelte Cordelia.
Charlotte konnte es ihrer Freundin nicht verübeln, dass sie verzweifelt klang. Sie hatte Jameson Mansfield kennengelernt und er hatte auf sie einen weniger pragmatischen und scharfsinnigen Eindruck als seine Schwester gemacht. Die Begegnung hatte außerdem offenbart, dass das verschwenderische Verhalten des verstorbenen Grafen die beiden Geschwister unter zunehmenden finanziellen Druck gesetzt hatte.
Woodbridge räusperte sich. „Lass mich ausreden, Cordy …“
„Nicht jetzt“, unterbrach Cordelia. „Verschwinde über denselben Weg, über den du gekommen bist. Ich werde in den Ballsaal zurückkehren und mich verabschieden.“ Kleider raschelten. „Und bete, dass niemand bemerkt, dass ein Teil meines Unterrocks fehlt.“
Charlotte verweilte nicht länger. Beschämt, eine solch intime Familienangelegenheit mitgehört zu haben, zog sie sich zurück und eilte durch die dunklen Gänge des Korridors, bis sie den Lichtstrahl erreichte, der aus der Seitentür des Ballsaals schien.
Sie hielt einen Moment inne, um ihren Rock zu glätten und sich zu wappnen, als die Harmonie aus Musik und Gelächter durch die parfümierte Luft wehte.
Eleganz und Zauber. Frohsinn und Ausgelassenheit. Doch gerade sie wusste, dass die Beau Monde unter ihrem Glanz nicht so perfekt war, wie sie schien.
Cordelia und ihr Bruder bewegten sich in den allerhöchsten Rängen der vornehmen Gesellschaft und lebten allem Anschein nach ein prunkvolles Leben. Und doch schienen ihre eleganten Kleider und feine Seide die finanziellen Schwierigkeiten der Familie zu verbergen.
Doch wie gefährlich waren sie?
London bot eine Vielzahl an Sünden. Hatte die Geldnot Woodbridge in eine der Spielhöllen getrieben? Oder …
Charlotte verspürte einen Schauer des Unbehagens. Als Künstlerin, die ihren Lebensunterhalt mit der Aufdeckung von Geheimnissen verdiente, waren ihre Sinne darauf abgestimmt, die kleinsten Details zu vernehmen. Sie konnte also nicht anders, als sich zu fragen, warum es in dem Spielzimmer nach Salzwasser roch und der Schlamm an Woodbridges Stiefeln mit Stücken von Austernschalen gesprenkelt war.