Erstes Kapitel
Es war eine Szene wie aus einem Albtraum. Gideon Westbrook, Viscount St. Justin, der reglos in der Tür verharrte, glaubte auf der Schwelle zur Vorhölle zu stehen.
Gebeine, wohin man auch blickte. Wüst grinsende Schädel, ausgebleichte Rippen, Bruchstücke von Beinknochen, alles lag wie Teufelsunrat überall im Raum verstreut. Steinbrocken mit Einlagerungen von Zähnen, Zehen und anderen Stücken stapelten sich auf dem Fensterbrett. Ein Häufchen Rückenwirbel lag in einer Ecke auf dem Boden.
Inmitten dieses wahrhaft satanischen Durcheinanders sah er eine schlanke Gestalt mit fleckiger Schürze. Ein weißes Musselinhäubchen saß keck auf der ungebändigten, wilden Flut kastanienbrauner Locken. Die allem Anschein nach junge Frau, die an einem wuchtigen Mahagonischreibtisch saß und emsig zu zeichnen schien, kehrte Gideon ihren schmalen, anmutigen Rücken zu. Objekt ihrer Bemühungen war etwas, das aussah wie ein langer, in einen Steinbrocken eingebetteter Knochen.
Gideon konnte sehen, dass ihre schlanken Finger, die den Federkiel geschickt führten, von keinem Ehering geziert wurden. Es musste sich also um eine der Töchter und nicht um die Witwe des verstorbenen Reverend Pomeroy handeln.
Nach dem Hinscheiden Pomeroys vor vier Jahren war es Gideon, der die Verwaltung der Güter seines Vaters übernommen hatte, nicht der Mühe wert erschienen, einen neuen Pfarrherrn zu bestellen. Das Seelenheil der Menschen von Upper Biddleton interessierte Gideon nicht sonderlich.
Eine Vereinbarung, die Pomeroy mit Gideons Vater getroffen hatte, sah vor, dass die Familie Pomeroy auch weiterhin im Pfarrhaus wohnen durfte. Die Miete wurde pünktlich bezahlt, für Gideon das Einzige, was zählte.
Er gönnte sich noch einen Augenblick der Betrachtung der Szene, die sich seinem Blick bot, ehe er nach der Person Ausschau hielt, die die Tür des Pfarrhauses offen gelassen hatte. Als sich niemand zeigte, zog er seinen Zylinderhut mit der aufgebogenen Krempe und betrat die kleine Diele. Die frische Seebrise folgte ihm ins Hausinnere. Es war Ende März, und die Seeluft war trotz des für die Jahreszeit ungewöhnlich warmen Tages noch sehr frisch.
Der Anblick der jungen Frau inmitten der alten, über das Arbeitszimmer verstreuten Gebeine amüsierte Gideon und reizte seine Neugierde, wie er sich eingestehen musste. Lautlos durchschritt er den kleinen Flur, darauf bedacht, dass seine Reitstiefel auf dem Steinboden kein Geräusch hinterließen. Hochgewachsen, nach Meinung vieler sogar von geradezu ungeheurer Größe, hatte er schon vor geraumer Zeit gelernt, sich fast lautlos fortzubewegen. Angestarrt wurde er deshalb nicht weniger. Das Haus schien momentan verlassen zu sein.
Als er zum Arbeitszimmer zurückkam, schaute er wieder fasziniert der jungen Frau bei der Arbeit zu. Erst als es sich zeigte, dass sie in ihre Skizze zu vertieft war, um seine Anwesenheit zu bemerken, brach er widerstrebend den Bann.
»Guten Morgen«, sagte Gideon.
Die junge Frau am Schreibtisch schrie erschrocken auf, sodass der Federkiel ihrer Hand entglitt. Sie schnellte hoch, drehte sich mit einem Ruck um und sah Gideon an, worauf das Entsetzen in ihrer Miene sich noch steigerte.
Für Gideon keine ungewohnte Reaktion. Als schön hatte er nie gegolten, die tiefe Narbe, die seine linke Gesichtshälfte bis zum Kinn gleich einem Blitz spaltete, war nicht eben dazu angetan, sein Aussehen zu heben.
»Wer, zum Teufel, sind Sie?« Die junge Frau hielt beide Hände hinter dem Rücken, ganz offenkundig bemüht, ihre Skizze unter etwas zu schieben, das wie ein Tagebuch aussah. Die Angst, die er in ihren großen, türkisblauen Augen las, verwandelte sich in finsteren Argwohn.
»St. Justin.« Gideon bedachte sie mit einem kühlen Lächeln, wohl wissend, dass dieses Lächeln seine Narbe noch markanter aussehen ließ. Er wartete, dass ihre unglaublich strahlenden Augen sich mit Abscheu füllten.
»St. Justin? Lord St. Justin? Viscount St. Justin?«
»Ja.«
Aus ihrem Blick sprach Erleichterung und nicht Abscheu. »Dem Himmel sei Dank.«
»Mit so viel Begeisterung werde ich selten empfangen«, sagte Gideon halblaut.
Da ließ sich die junge Frau ganz plötzlich auf ihren Stuhl zurückfallen und runzelte die Stirn. »O Gott … Mylord, Sie haben mir einen schönen Schrecken eingejagt. Was denken Sie sich eigentlich dabei … sich so verstohlen an jemanden anzupirschen?«
Gideon warf einen bezeichnenden Blick über die Schulter zur offenen Haustür hin. »Wenn Sie nicht von Eindringlingen überrascht werden möchten, sollten Sie tunlichst die Tür geschlossen und versperrt halten.«
Sie folgte seinem Blick. »Ach Gott, Mrs. Stone muss sie vorhin geöffnet haben. Sie ist die reinste Frischluftfanatikerin.«
Wieder sprang sie auf, hob zwei große Folianten von der einzigen noch im Raum vorhandenen Sitzgelegenheit und blieb auf der Suche nach einem für die Bände geeigneten Fleckchen inmitten des heillosen Durcheinanders ratlos in halbgebückter Stellung stehen. Mit einem kleinen Seufzer gab sie es auf und ließ die Bücher achtlos auf den Boden fallen. »Bitte, nehmen Sie doch Platz, Mylord.«
»Danke.« Gideon trat nun langsam ein und ließ sich vorsichtig auf dem kleinen Sessel mit der schmal zulaufenden Rückenlehne nieder. Die zierlichen Möbelstücke, momentan groß in Mode, waren nicht für seine Größe und sein Gewicht gedacht. Zu Gideons Erleichterung hielt ihn der Sessel aus.
Er warf einen kurzen Blick auf die Bücher, die eben noch auf dem Sessel gelegen hatten. Das erste war Theorie der Erde von James Hutton, das andere Playfairs lllustrationen zur Theorie der Erde von Hutton. Zusammen mit den Gebeinen im Raum erklärten die Titel vieles. Bei seiner Gastgeberin musste es sich um eine passionierte Fossiliensammlerin handeln.
Vielleicht bringt es der vertraute Umgang mit bleichen, grinsenden Schädeln mit sich, dass sie vor meiner Narbenvisage nicht zurückgeschreckt ist, dachte Gideon zynisch. Ein grausiger Anblick ist für sie nichts Ungewohntes. Während er ihr zusah, wie sie ihre Zeichenutensilien und Notizen aufräumte, machte er die Feststellung, dass es sich um eine gelinde gesagt ungewöhnliche junge Frau handelte.
Ihre ungebändigte wilde Haarfülle war dem Häubchen und den spärlichen, willkürlich hineingesteckten Haarnadeln längst entschlüpft, sodass die dichten, weichen Locken ihr Gesicht wie eine duftige Wolke umschwebten.
Sie war nicht schön, ja nicht einmal besonders hübsch, doch ihr strahlendes Lächeln kündete wie das ganze zierliche Persönchen von Energie und Vitalität. Gideon entging nicht, dass sich zwei ihrer weißen Schneidezähne eine Spur übereinander schoben, ein Detail, das er aus irgendeinem unerfindlichen Grund bezaubernd fand.
Ihr markantes Näschen, die hohen Wangenknochen und die wache Intelligenz, die aus ihren hinreißenden Augen sprach, verliehen ihr einen Hauch von Unternehmungslust und Wissbegierde. Das ist kein schüchternes, affektiertes und zimperliches Ding, dachte Gideon. Bei dieser Frau würde man immer wissen, woran man mit ihr war. Das gefiel ihm. Ihr Gesicht erinnerte Gideon an ein kluges Kätzchen, sodass sich in ihm plötzlich das Verlangen regte, die junge Dame zu streicheln, ein Verlangen, das er entschlossen zügelte. Schmerzliche Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass Pfarrerstöchter oft gefährlicher sein konnten, als es zunächst den Anschein hatte. Er war einmal gebissen worden, und das reichte.
Gideon schätzte die Dame des Hauses auf Anfang zwanzig, wobei sich ihm unwillkürlich die Frage aufdrängte, ob sie unverheiratet geblieben war, weil sie keine Aussicht auf ein nennenswertes Erbe hatte oder ob potenzielle Freier sich von ihrer Begeisterung für alte Gerippe hatten abschrecken lassen. Nur wenige Männer würden bei einem weiblichen Wesen, das mehr Interesse für Fossilien als für einen Flirt zeigte, ernste Absichten erkennen lassen.
Gideon streifte alles Übrige an ihr mit einem flüchtigen Blick, registrierte das Musselinkleid mit der hohen Taille, das einstmals rostfarben zu einem unbestimmbaren Braunton verblichen war. Ein gefältelter Spitzeneinsatz zierte den züchtigen Ausschnitt.
Obschon der Bereich zwischen Spitzeneinsatz und umhüllender Schürze größtenteils der Fantasie des Betrachters überlassen blieb, gewann Gideon den Eindruck von runden Brüsten und zierlicher Taille. Als sie hinter den Schreibtisch lief und sich wieder setzte, ließ er sie keinen Moment aus den Augen, sodass ihm auch nicht entging, dass sich der duftige Musselin kurz an das schmiegte, was er als üppig gerundete Kehrseite einstufte.
»Wie Sie sehen, haben Sie mich überrascht, Mylord.« Die Frau schob ein paar Zeichnungen unter eine Nummer der Sitzungsberichte der Gesellschaft für Fossilien und Altertümer. Sie blickte Gideon mit vorwurfsvoll gerunzelter Stirn an. »Sie müssen mein Äußeres entschuldigen, aber da ich Sie heute nicht erwartet habe, kann ich nichts dafür, dass ich für den Anlass nicht passend gekleidet bin.« »Machen Sie sich keine Gedanken über Ihre äußere Erscheinung, Miss Pomeroy. Seien Sie versichert, dass sie keineswegs störend wirkt.« Gideon gestattete sich ein leicht ironisches Hochziehen einer Braue. »Sie sind doch Miss Harriet Pomeroy?«
Sie hatte so viel Anstand zu erröten. »Ja, natürlich, Mylord. Wer sonst? Sie müssen wirklich glauben, ich hätte keine Kinderstube. Meine Tante hält mir auch andauernd vor, mir fehle es an gesellschaftlichem Schliff. Aber eine Frau in meiner Lage kann nie vorsichtig genug sein, müssen Sie wissen.«
»Ich verstehe«, sagte Gideon kühl. »Der Ruf einer Dame ist ein zartes Pflänzchen, und eine Pfarrerstochter ist in diesem Punkt wohl besonders gefährdet, finden Sie nicht auch?«
Harriets Blick verriet, dass sie ihn nicht verstanden hatte. »Wie bitte?«
»Vielleicht sollten Sie eine Angehörige oder Ihre Haushälterin rufen, damit sie uns Gesellschaft leistet. Ihrem Ruf zuliebe, Miss Pomeroy.«
Harriet sah ihn groß an. »Meinem Ruf zuliebe? Um Himmels willen, ich habe nicht meinen Ruf gemeint, Mylord. Mein ganzes Leben war ich noch nie in Gefahr, kompromittiert zu werden, und da ich fast fünfundzwanzig bin, sieht es nicht so aus, als müsste ich mir in Zukunft diesbezüglich Sorgen machen.«
»Ihre Mutter hat Sie nie vor Fremden gewarnt?«
»Niemals.« Die Erinnerung entlockte Harriet ein Lächeln. »Mein Vater nannte meine Mutter, die jedermann mit Güte und Gastfreundlichkeit begegnete, eine Heilige. Leider kam sie zwei Jahre, bevor wir nach Upper Biddleton zogen, bei einem Unfall mit dem Wagen ums Leben. Es war mitten im Winter, und sie war unterwegs, um den Armen warme Kleidung zu bringen. Wir haben sie sehr lange betrauert. Besonders Papa.«
»Ich verstehe.« »Wenn Sie also um den Anstand besorgt sind, Mylord, kann ich Ihnen leider nicht helfen«, fuhr Harriet in ungezwungenem Plauderton fort. »Meine Tante und meine Schwester machen im Dorf Einkäufe. Meine Haushälterin muss zwar irgendwo in der Nähe sein, doch steht zu bezweifeln, ob sie von Nutzen wäre, falls Sie versuchen sollten, meiner Ehre nahezutreten, da sie schon bei den leisesten Anzeichen einer Krise der Ohnmacht nahe ist.«
»In diesem Punkt haben Sie recht«, gab Gideon zurück. »Sie war der jungen Dame, die vor Ihnen in diesem Haus wohnte, keine große Hilfe.«
Harriets Interesse an dieser Wendung des Gespräches regte sich flüchtig. »Ach, Sie kennen Mrs. Stone also?«
»Vor einigen Jahren, als ich hier in der Gegend lebte, habe ich ihre Bekanntschaft gemacht.«
»Ach, natürlich. Sie war ja auch die Haushälterin des vorigen Pfarrherrn. Wir haben sie zusammen mit dem Haus übernommen. Tante Effie sagt, es sei bedrückend, sie um sich zu haben, und ich muss ihr darin zustimmen, aber Papa hat immer gepredigt, wir müssten Gutes tun. Wir dürfen sie nicht vor die Tür setzen, weil sie hier in der Gegend kaum eine andere Stelle finden würde.«
»Eine höchst lobenswerte Einstellung, die jedoch zur Folge hat, dass Sie mit einer Haushälterin von grimmigem Naturell geschlagen sind, es sei denn, Mrs. Stone hätte sich im Laufe der Jahre grundlegend geändert.«
»Das hat sie nicht. Im Gegenteil, man könnte sie geradezu als Stimme des jüngsten Gerichtes bezeichnen. Aber Papa war ein gütiger Mensch, wenn es ihm auch am Sinn fürs Praktische fehlte. Ich versuche, in seinem Sinn zu wirken, wiewohl dies zuweilen sehr schwierig sein kann.« Harriet beugte sich vor und faltete die Hände. »Aber das ist jetzt unwichtig. Dürfte ich auf das vorliegende Thema zurückkommen?«
»Tun Sie das.« Gideons Gefallen an der Unterhaltung wuchs.
»Als ich sagte, ich könne gar nicht vorsichtig genug sein, da meinte ich damit die Notwendigkeit, etwas weitaus Wichtigeres schützen zu müssen als meinen Ruf.«
»Sie setzen mich in Erstaunen. Was könnte wichtiger sein als Ihr Ruf, Miss Pomeroy?«
»Meine Arbeit natürlich.« Sie lehnte sich zurück und bedachte ihn mit einem wissenden Blick. »Sie sind ein Mann von Welt, Sir, ein Mann, der zweifellos weit gereist ist. Der sozusagen das Leben kennt. Sie müssten doch wissen, dass überall finstere Bösewichte lauern.«
»Ach, wirklich?«
»Absolut. Ich kann Ihnen versichern, dass bestimmte Halunken bedenkenlos meine Fossilien rauben und sie als ihre eigenen Funde ausgeben würden. Einem wohlgeborenen, ehrenhaften Mann mag es unglaublich erscheinen, dass es Menschen gibt, die so tief sinken können, aber so ist es nun mal. Es sind Tatsachen, die sich nicht leugnen lassen. Ich muss ständig auf der Hut sein.«
»Ich verstehe.«
»Also … ich möchte ja nicht ungebührlich misstrauisch erscheinen, Mylord, aber haben Sie einen Beweis für Ihre Identität?«
Gideon hätte nicht verdutzter sein können. Seine Gesichtsnarbe genügte den meisten Menschen als Erkennungszeichen, besonders hier in Upper Biddleton. »Ich habe Ihnen gesagt, dass ich St. Justin bin.«
»Leider muss ich auf einem Beweis bestehen, Sir. Wie gesagt, man kann gar nicht vorsichtig genug sein.«
Gideon, der nicht wusste, ob ihm zum Lachen oder Fluchen zumute war, überlegte. Da er zu keinem Entschluss gelangte, griff er in seine Tasche und zog einen Brief hervor. »Miss Pomeroy, ich glaube, Sie haben mir diesen Brief geschickt. Die Tatsache, dass er sich in meinem Besitz befindet, ist wohl Beweis genug, dass ich St. Justin bin.«
»Ach ja, mein Brief.« Ihr Lächeln drückte Erleichterung aus. »Sie haben ihn also erhalten und sind sofort zu mir gekommen. Ich wusste es ja. Alle Welt behauptet, die Vorgänge hier in Upper Biddleton kümmerten Sie nicht, aber ich wusste, dass dies nicht stimmen kann. Schließlich wurden Sie hier geboren, oder nicht?«
»Ich darf mich dessen rühmen, ja«, lautete Gideons trockene Antwort.
»Eine gewisse Beziehung zur Heimat muss also noch vorhanden sein. Ihre Wurzeln werden für immer hier liegen, auch wenn Sie sich entschlossen haben, nun auf einem Ihrer anderen Güter zu leben. Sie müssen sich für diese Gegend ein Gefühl der Pflicht und Verantwortung bewahrt haben.«
»Miss Pomeroy …«
»Sie können Ihrem Heimatdorf nicht einfach den Rücken kehren. Als Viscount und Erbe eines Grafentitels wissen Sie, was es heißt, Verantwortung zu tragen und …«
»Miss Pomeroy.« Gideon versuchte, sie mit einer Handbewegung zum Schweigen zu bringen. Dass es ihm tatsächlich glückte, setzte ihn nicht wenig in Erstaunen. »Miss Pomeroy, über eines wollen wir uns im Klaren sein: Das Schicksal Upper Biddletons liegt mir nur insofern am Herzen, als mich interessiert, ob die hiesigen Besitzungen meiner Familie Ertrag liefern. Seien Sie versichert, dass ich sie auf der Stelle veräußern werde, wenn sie kein angemessenes Einkommen mehr abwerfen.«
»Aber in dieser Gegend hängt der Lebensunterhalt der meisten Menschen irgendwie von Ihnen ab. Als größter Grundbesitzer weit und breit tragen Sie die Verantwortung für das wirtschaftliche Wohl der Region. Das müsste Ihnen klar sein.«
»Mein Interesse an Upper Biddleton ist finanzieller und nicht emotionaler Natur.«
Diese Äußerung war nicht nach Harriets Geschmack, doch sie fasste sich rasch. »Sie scherzen, Mylord. Natürlich liegt Ihnen das Schicksal unseres Dorfes am Herzen. Sie sind doch auf meinen Brief hin gekommen. Das ist der treffendste Beweis.«
»Ich bin aus reiner Neugierde gekommen, Miss Pomeroy. Immerhin war Ihr Brief wie ein königlicher Befehl abgefasst. Da ich es nicht gewohnt bin, mir von unbekannten jungen Dingern Befehle erteilen zu lassen, geschweige denn von ihnen über Pflicht und Verantwortung belehrt zu werden, muss ich gestehen, dass es mich reizte, jenes weibliche Wesen kennenzulernen, das meinte, sich dieses Recht herausnehmen zu dürfen.«
»Ach.« Harriets Miene verriet zunehmende Wachsamkeit. Zum ersten Mal seit seinem Eintreten schien ihr zu dämmern, dass Gideon über das von ihr geforderte Zusammentreffen nicht allzu begeistert war. Sie wagte ein zaghaftes Lächeln. »Verzeihung, Mylord. War mein Brief im Ton etwa zu anmaßend?«
»Das ist noch untertrieben, Miss Pomeroy.«
Sie nagte kurz an ihrer Unterlippe, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Ich gebe ja zu, dass ich ein wenig unverblümt bin.«
»Aufdringlich kommt der Sache näher. Vielleicht auch herausfordernd. Sogar befehlsgewohnt wäre noch zutreffend.«
Harriet seufzte. »Das kommt davon, wenn man ständig Entscheidungen treffen muss. Papa war ein wundervoller Mensch, aber er beschäftigte sich lieber mit den religiösen Belangen seiner Schäfchen als mit den praktischen Problemen des täglichen Lebens. Tante Effie ist ein Schatz, wurde aber nicht dazu erzogen, Verantwortung zu übernehmen, wenn Sie wissen, was ich meine. Und meine Schwester ist fast noch ein Schulmädchen und entsprechend naiv.«
»Sie also sind es, die diesem Haushalt vorsteht und es sich zur Gewohnheit gemacht hat, auch in anderen Belangen das Kommando zu führen«, folgerte Gideon. »Wollten Sie das zum Ausdruck bringen, Miss Pomeroy?«
Seine rasche Auffassungsgabe entlockte ihr ein Lächeln. »Genau. Ich sehe, dass Sie begriffen haben. Sicher verstehen Sie, dass es immer jemanden geben muss, der entscheidet und die Richtung vorgibt.«
»Wie an Bord eines Schiffes?« Gideon unterdrückte bei der Vorstellung, Harriet Pomeroy stünde auf der Kommandobrücke eines Schiffes, ein Lächeln. In Marineuniform muss sie sich reizend machen, dachte er. Aufgrund dessen, was er bis jetzt mitbekommen hatte, war er gewillt, eine stattliche Summe darauf zu verwetten, dass Miss Pomeroys Kehrseite imstande war, in Männerhosen höchst aufreizend zu wirken.
»Ja, wie auf einem Schiff«, sagte Harriet. »In diesem Haus ist der Jemand, der Entscheidungen trifft, meist ich.«
»Ich verstehe.«
»Nun gut. Ich möchte aber bezweifeln, dass Sie den ganzen Weg von Ihrem Gut im Norden gekommen sind, um Ihre Neugierde hinsichtlich eines weiblichen Wesens zu stillen, das Ihnen einen Brief in einem möglicherweise etwas zu aufdringlichen Ton geschrieben hat. Sie sind gekommen, weil Ihnen Upper Biddleton am Herzen liegt, Mylord. Geben Sie es ruhig zu.«
Gideon steckte den Brief achselzuckend in die Tasche. »Miss Pomeroy, eine Debatte darüber halte ich für müßig. Ich bin da, also lassen Sie uns zur Sache kommen. Vielleicht hätten Sie die Güte, mir zu erklären, was diese finstere Bedrohung ist, die Sie in Ihrem Brief andeuteten, und warum die Sache mit äußerster Vorsicht behandelt werden muss?«
Harriets weicher Mund verzog sich spöttisch. »Meine Güte, ich habe also nicht nur einen falschen Ton angeschlagen, sondern mich auch noch ziemlich undeutlich ausgedrückt, so ist es doch? Mein Brief muss Ihnen ja wie eine Stelle aus einem von Mrs. Radcliffes Gruselromanen vorgekommen sein.«
»Ja, Miss Pomeroy, so war es.« Gideon hielt die Erwähnung für unnötig, dass er den Brief mehrmals gelesen hatte. Der dringende Hilferuf und der lebendige, wenn auch übertrieben dramatische Stil hatte in ihm Neugierde auf die Verfasserin geweckt.
»Die Sache ist so, Sir, dass ich sicher sein wollte, Ihre Aufmerksamkeit zu fesseln.«
»Seien Sie versichert, dass es Ihnen gelang.«
Wieder beugte Harriet sich vor und verschränkte die Finger, eine Geste, die sehr geschäftsmäßig und nüchtern wirkte. »Rundheraus gesagt, Mylord, ich habe vor Kurzem erfahren, dass Upper Biddleton einer Bande gefährlicher Schurken und Diebe als Hauptsitz dient.«
Gideons spöttische Belustigung verflog jäh. Er fragte sich allen Ernstes, ob er es mit einer Verrückten zu tun hätte. »Vielleicht könnten Sie mir dies näher erläutern, Miss Pomeroy?«
»Die Höhlen, Mylord. Sie kennen doch sicher das ausgedehnte Höhlensystem in den Klippen? Es liegt unterhalb Ihres Grund und Bodens.« Mit einer Handbewegung wies sie auf die offene Haustür und damit auf die schroffen Klippen unterhalb des Pfarrhauses, die das Land entlang der Küste schützten. »Diese Schurken benutzen eine der Klippenhöhlen oberhalb des Strandes.«
»Ich weiß sehr wohl von den Höhlen. Sie waren für unser Gut nutzlos. Meine Familie hat Fossilienjägern und Liebhabern von Altertümern immer schon gestattet, sich dort nach Belieben zu betätigen.« Er runzelte die Stirn. »Wollen Sie damit sagen, jemand macht sie sich für ungesetzliches Tun zunutze?«
»So ist es, Mylord. Als ich vor einigen Wochen einen neuen Gang durch die Klippen erkundete, entdeckte ich diese Tatsache.« In Harriets Augen blitzte es auf. »Es handelt sich um einen Gang, in dem ich vielversprechende Entdeckungen machen konnte. Unter anderem einen herrlichen Beinknochen …« Sie hielt inne.
»Ist etwas?«
»Nein, nein, natürlich nicht.« Harriet rümpfte ihre Nase, als müsse sie sich selbst tadeln. »Verzeihung, Mylord, ich schweife ab. Aber wenn die Rede auf meine Fossilien kommt, dann geht es mir immer so. Meine Entdeckungen können Sie unmöglich interessieren. Also, zurück zur Tatsache, dass die Höhlen für verbrecherische Zwecke genutzt werden.«
»Bitte, fahren Sie fort«, murmelte Gideon. »Es wird von Sekunde zu Sekunde interessanter.«
»Also, wie gesagt, ich war dabei, einen neuen Durchgang zu erkunden und …«
»Ist das nicht ein ziemlich gefährlicher Zeitvertreib, Miss Pomeroy? In diesen Höhlen sind Menschen oft tagelang umhergeirrt. Einige sind sogar ums Leben gekommen.«
»Seien Sie versichert, dass ich sehr vorsichtig bin. Ich habe immer ein Licht dabei und kennzeichne meine Route. Mein Vater hat mir beigebracht, wie man Höhlen richtig erforscht. Also, bei einer meiner letzten Erkundungsgänge stieß ich auf eine wundervolle Höhle, groß wie ein Haus und voll vielversprechender Formationen.« Harriet kniff die Augen zusammen. »Aber auch voll unverkennbarer Schätze.«
»Schätze?«
»Ja, Schätze, Beute oder wie immer Sie es nennen wollen. Gestohlene Dinge eben.«
»Ach so, natürlich.« Gideon wurde es immer gleichgültiger, ob sie verrückt war. Die Dame war das anregendste weibliche Wesen, dem er seit ewigen Zeiten begegnet war. »Was für Sachen, Miss Pomeroy?«
Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Lassen Sie mich überlegen. Nun … einige herrliche Stücke Tafelsilber. Kostbare alte Kerzenleuchter. Etwas Schmuck. Ich argwöhnte sofort, dass die Dinge nicht aus unserer Gegend stammen können.«
»Was veranlasste Sie zu dieser Meinung?«
»Es gibt hier wohl ein oder zwei Häuser, die sich solcher Kostbarkeiten rühmen können, aber der Diebstahl so wertvoller Dinge hätte hier für großes Aufsehen gesorgt. Und mir ist nichts davon bekannt.«
»Ich verstehe.«
»Ich vermute, dass die Sachen nachts von anderswo herbeigeschafft und in den Höhlen gelagert werden, bis die Eigentümer die Suche aufgegeben haben. Wie ich hörte, sollen die vielgerühmten Bow Street Runners die Diebe oft in dem Moment fassen, wenn diese versuchen, ihre Beute loszuschlagen.«
»Sie sind ja sehr gut informiert.«
»Ja … also … es ist klar, dass ein paar besonders gerissene Halunken auf die Idee gekommen sind, ihr Diebesgut in meinen Höhlen zu lagern, bis Aufregung und Interesse sich gelegt haben. Dann werden die Sachen zweifellos geholt und nach Bath oder London geschafft, um dort an Pfandleiher oder Juweliere verhökert zu werden.«
»Miss Pomeroy, darf ich fragen, wieso Sie diese Sache nicht mit meinem Verwalter und dem örtlichen Friedensrichter besprochen haben?« Nun erst regte sich in Gideon der Verdacht, an der Sache könnte etwas dran sein.
»Unser Friedensrichter ist schon ziemlich betagt, Sir. Er wäre dieser Situation nicht mehr gewachsen, und zu Ihrem neuen Verwalter, Mr. Crane, habe ich ehrlich gesagt nicht viel Vertrauen.« Harriet schürzte die Lippen. »Ich sage es sehr ungern, aber ich habe das Gefühl, dass er von den Aktivitäten weiß und die Diebe gewähren lässt.«
Gideon kniff die Augen zusammen. »Das ist eine sehr ernste Anschuldigung, Miss Pomeroy.«
»Ja, ich weiß. Aber ich traue dem Mann nicht über den Weg. Wieso Sie ihn anstellen konnten, ist mir unverständlich.«
»Er war der erste Bewerber, nachdem die Stelle vakant wurde«, sagte Gideon und tat die Sache damit ab. »Und er hatte erstklassige Empfehlungen.«
»Das mag ja sein, trotzdem gefällt er mir nicht. Also weiter mit den Tatsachen. Mindestens zweimal habe ich beobachtet, dass abends Männer in die Höhlen gingen. Sie schleppten Pakete hinein und kamen mit leeren Händen wieder heraus.«
»Abends?«
»Nach Mitternacht, um genau zu sein. Natürlich nur bei Ebbe. Bei Flut sind die Höhlen unzugänglich.«
Gideon überlegte. Eine sehr beunruhigende Tatsache. Und die Vorstellung, dass Miss Pomeroy mitten in der Nacht schutzlos umherlief, war alles andere als angenehm, insbesondere, wenn sie mit ihren Vermutungen über die Vorgänge in den Höhlen recht hatte. Die Dame wurde ungenügend beaufsichtigt.
»Und was hatten Sie mitten in der Nacht unten am Strand zu suchen, Miss Pomeroy?«
»Ich habe natürlich Wache gehalten. Von meinem Schlafzimmerfenster aus kann ich einen Teil des Strandes überblicken. Nachdem ich die gestohlenen Sachen in meinen Höhlen entdeckte, lag ich regelmäßig auf der Lauer. Und als ich eines Nachts unten am Strand Lichter sah, wurde ich misstrauisch und ging hinaus, um mir die Sache näher anzusehen.«
Gideon konnte es nicht fassen. »Sie haben zu später Stunde den Schutz des Hauses verlassen, um Männern zu folgen, die Sie für Diebe hielten?«
Sie bedachte ihn mit einem ungeduldigen Blick. »Wie sonst hätte ich herausbekommen sollen, was da vor sich ging?«
»Weiß Ihre Tante von diesen Vorgängen?«, fragte Gideon rundheraus.
»Natürlich nicht. Sie würde sich nur Sorgen machen, wenn sie wüsste, dass sich hier Halunken herumtreiben. Tante Effie neigt zur Ängstlichkeit.«
»Mit dieser Reaktion steht sie nicht allein. Ich kann ihre Gefühle in dieser Angelegenheit verstehen.«
Harriet ging nicht darauf ein. »Und außerdem hat sie im Moment andere Sorgen. Sie müssen wissen, dass ich versprochen habe, eine Möglichkeit zu finden, dass meine Schwester Felicity eine Saison in London mitmachen kann, und Tante Effie hat sich voll und ganz in dieses Projekt gestürzt.«
Gideon zog die Brauen hoch. »Sie wollen versuchen, für Ihre Schwester eine Saison in London zu finanzieren? Allein?«
Harriet stieß einen kleinen Seufzer aus. »Allein wohl kaum. Mit dem kleinen Einkommen, das mein Vater hinterließ, kann man keine großen Sprünge machen. Ich bessere es zwar hin und wieder auf, indem ich etwas von meinen Fossilien verkaufe, aber mit dem Erlös aus diesen Verkäufen könnte ich niemals eine Saison für Felicity bestreiten. Deshalb habe ich mir einen Plan ausgedacht.«
»Das wundert mich überhaupt nicht.«
Sie strahlte ihn an. »Ich hoffe sehr, Tante Adelaide lässt sich zur Mithilfe überreden. Ihr kürzlich verblichener Geizkragen von Ehemann empfängt nun seinen gerechten Lohn, da er sein Vermögen entgegen seinen Erwartungen nicht mitnehmen konnte und Tante Adelaide bald die Verfügung über alles zugesprochen wird.«
»Ich verstehe. Und Sie hoffen nun, dass sie die Saison für Ihre Schwester finanziert?«
Harriet kicherte, offensichtlich sehr angetan von ihrem Plan. »Wenn Felicity nach London geht, werden wir sie mit Sicherheit unter die Haube bringen können. Meine Schwester ähnelt mir nämlich überhaupt nicht. Sie ist einfach hinreißend, sodass sie sich vor Heiratsanträgen nicht wird retten können. Aber um dies zu erreichen, muss sie nach London, auf den Heiratsmarkt.«
»Ich weiß.«
»Ja.« Harriets Miene nahm einen gewitzten Ausdruck an. »Wir müssen Felicity wie eine reife Frucht vor der Beau Monde baumeln lassen, in der Hoffnung, dass irgendein williger Herr sie vom Baum pflückt.« Gideon dachte zähneknirschend an seine eigenen, flüchtigen und nun schon einige Jahre zurückliegenden Erfahrungen mit der Londoner Saison. »Mir ist bekannt, wie das System funktioniert.«
Harriet errötete. »Ja, das kann ich mir denken, Mylord. Reden wir lieber wieder von den Höhlen.«
»Sagen Sie, Miss Pomeroy, haben Sie mit jemandem über Ihre Entdeckung gesprochen?«
»Nein. Sobald ich merkte, dass Mr. Crane wenig vertrauenswürdig ist, habe ich mich gehütet, etwas von meinen Beobachtungen laut werden zu lassen, aus Angst, dass jemand, den ich ins Vertrauen zöge, sich in aller Unschuld verpflichtet fühlen würde, direkt zu Crane zu gehen. Wäre dies geschehen, dann hätte er die Beweismittel rasch verschwinden lassen können. Und um ehrlich zu sein, legte ich keinen besonderen Wert darauf, dass noch jemand die Höhle betritt.«
»Hmmm.« Gideon betrachtete sie schweigend, während er sich durch den Kopf gehen ließ, was sie eben gesagt hatte. Kein Zweifel, Harriet Pomeroy war es ernst. Als Verrückte oder Exzentrikerin konnte er sie nicht mehr abtun. »Sie sind also überzeugt, in der Höhle Diebesgut entdeckt zu haben?«
»Absolut.« Harriet streckte ihr Kinn vor. »Sir, es wäre für mich sehr wichtig, dass Sie unverzüglich handeln und in den Höhlen Ordnung schaffen. Ich muss darauf bestehen, dass es ganz rasch geschieht. Es fällt in Ihre Verantwortung.«
Gideon schlug nun einen samtweichen Ton an, für diejenigen, die ihn gut kannten, ein Zeichen, in Deckung zu gehen. »Sie bestehen darauf, Miss Pomeroy?«
»Ich fürchte, ja.« Harriet schien den drohenden Unterton seiner Worte nicht zu bemerken. »Diese Schurken sind mir im Weg.«
Gideon fragte sich, ob er wieder im Begriff stünde, den Faden zu verlieren. »Im Weg? Ich verstehe wohl nicht ganz.« Aus ihrem Blick sprach Ungeduld. »Sie stehen meiner Forschungsarbeit im Weg. Ich kann es kaum erwarten, diese Höhle nach Fossilien abzusuchen, aber ich schrecke davor zurück, solange die Diebe nicht verhaftet sind. Wenn ich mich dort mit Meißel und Hammer betätige, würde ihnen nicht verborgen bleiben, dass ich ihren Schlupfwinkel entdeckt habe.«
»Allmächtiger.« Gideon vergaß seinen Ärger darüber, dass sie ihm praktisch befohlen hatte, er solle einschreiten. Ihr ungestümer Tatendrang war jetzt seine größte Sorge. »Wenn auch nur die Hälfte dessen, was Sie mir sagen, stimmt, dann werden Sie sich in der Nähe dieser Höhle nicht mehr blicken lassen, Miss Pomeroy.«
»Ach, tagsüber kann nichts passieren. Die Diebe kommen ja nur in der Nacht. Nun also zu unseren Plänen, wie wir diesen Verbrecherring am besten zerschlagen. Ich habe mir etwas ausgedacht, das Sie vielleicht interessieren könnte. Natürlich haben Sie vermutlich schon eigene Ideen … aber ich halte es für besser, wenn wir in dieser Sache zusammenarbeiten.«
»Miss Pomeroy, Sie haben mich wohl nicht verstanden.« Gideon erhob sich und trat einen Schritt vor, sodass er direkt vor ihrem Schreibtisch aufragte.
Sich mit beiden Händen auf die Mahagoniplatte stützend, beugte er sich in einer Weise vor, die, wie er wusste, sehr einschüchternd wirken musste. Harriet war gezwungen, direkt in sein vernarbtes Gesicht aufzublicken. Sie riss die Augen ob seiner unerwarteten Taktik auf, schien aber nicht über Gebühr beunruhigt.
»Ich habe verstanden, Mylord.« Sie wich ein Stück zurück.
Gideon gebot dem Rückzugsversuch Einhalt, indem er ihr unters Kinn fasste. Voller Wohlgefallen registrierte er, dass ihre Haut seidenweich und glatt war. Und er spürte, wie zart Harriet war. Ihre feinen Kieferknochen fühlten sich in seiner wuchtigen Hand zerbrechlich an.
»Eines lassen Sie sich gesagt sein«, knurrte er, ohne sich die Mühe zu geben, seine Absicht hinter einer höflichen Fassade zu verbergen, von der Harriet Pomeroy sich vermutlich nicht beeindrucken lassen würde. »Sie werden diese Klippen so lange meiden, bis ich mir die ganze Sache in allen Einzelheiten gründlich überlegt und mich zu einer Vorgehensweise entschlossen habe. Ist das klar, Miss Pomeroy?«
Harriet öffnete den Mund, um einen Protest zu äußern, aber noch ehe sie ein Wort sagen konnte, ertönte ein markerschütternder Schrei. Harriet sprang auf und drehte sich zur Tür um; Gideon folgte ihrem Blick.
»Mrs. Stone«, gab nun Harriet im Ton höchster Missbilligung von sich.
»Gott im Himmel, er ist es. Das Ungeheuer von Blackthorne Hall.« Mrs. Stone fasste sich mit bebender Hand an die Kehle, den Blick voll Entsetzen und Abscheu auf Gideon richtend. »Sie sind also wieder da, Sie lüsterner Mordbube. Wie können Sie es wagen, abermals Hand an ein unschuldiges Mädchen zu legen? Laufen Sie davon, Miss Harriet! Laufen Sie um Ihr Leben!«
Gideon spürte, wie sich in seinem Inneren etwas zusammenkrampfte. Er ließ Harriet los und trat entschlossen auf die Frau zu. »Still jetzt, Sie alte Krähe.«
»Fassen Sie mich ja nicht an«, kreischte Mrs. Stone. »Kommen Sie mir nicht zu nahe, Sie Unhold. Oooh …« Damit verdrehte sie die Augen und sank schwerfällig zu Boden, um ohnmächtig liegen zu bleiben.
Gideon starrte die auf dem Boden Liegende angewidert an. Dann warf er Harriet über die Schulter hinweg einen Blick zu, um zu sehen, wie sie reagierte. Sie saß da und sah die reglose Gestalt der Haushälterin mit einem Ausdruck der Verzweiflung an.
»Guter Gott«, sagte sie schließlich.
»Jetzt sehen Sie, warum ich mich in der Gegend von Upper Biddleton nur selten blicken lasse, Miss Pomeroy«, sagte Gideon finster. »Ich bin hier nicht wohlgelitten. Tatsächlich gibt es ein, zwei Leute wie Mrs. Stone, die mich am liebsten tot sehen möchten.«
Zweites Kapitel
»Dieses Frauenzimmer ist doch wirklich eine echte Landplage.« Harriet stand auf und lief an Mrs. Stones Seite. Dort ließ sie sich neben der ausgestreckt daliegenden Haushälterin auf die Knie nieder. »Zum Glück hat sie meist ihr Riechsalz bei sich. Ach, da ist es ja.«
Harriet zog das winzige Fläschchen aus einer voluminösen Tasche von Mrs. Stones grauem Gewand. Sie hielt zu Gideon aufblickend inne, ehe sie der Frau das Riechsalz unter die Nase hielt. »Vielleicht wäre es besser, Sie stünden nicht direkt neben ihr, wenn sie zu sich kommt. Diesmal war es offensichtlich Ihr Anblick, der sie ohnmächtig werden ließ.«
Gideon starrte voller Ingrimm auf die Haushälterin hinunter. »Sie haben zweifellos recht. Ich werde mich empfehlen, Miss Pomeroy. Aber ehe ich gehe, wiederhole ich, was ich vorhin gesagt habe: Sie lassen sich in der Nähe der Klippen nicht blicken, bis ich die Sache mit den Dieben in Ordnung gebracht habe. Ist das klar?«
»Ganz klar«, sagte Harriet ungeduldig. »Aber nicht sehr praktisch. Ich muss Sie in die Höhlen begleiten, um Ihnen die spezielle Höhle zu zeigen, die als Lagerraum verwendet wird. Dass Sie sie auf eigene Faust entdecken, ist höchst unwahrscheinlich, auch wenn Sie jahrelang danach suchen sollten. Ich selbst bin erst vor Kurzem darauf gestoßen.«
»Miss Pomeroy …«
Sie sah das entschlossene Aufblitzen seiner braunen Augen und versuchte ihr gewinnendstes Lächeln, um gegen seinen Blick aufzukommen. Unwillkürlich musste sie daran denken, wie sie früher mit ihrem Vater umgegangen war, und dies wiederum machte ihr bewusst, wie lange es her war, seitdem sie es im Haus mit einem Mann zu tun gehabt hatte. Männer können so stur sein, dachte sie. Und bei diesem Exemplar der Gattung schien die Anlage zur Sturheit noch ausgeprägter zu sein als bei den meisten anderen.
»So nehmen Sie doch Vernunft an, Sir«, sagte Harriet nun in beschwichtigendem Ton. »Tagsüber ist es am Strand völlig sicher. Die Diebe kommen und gehen nur in der Nacht, und das nur ein-, zweimal im Monat. Die Gezeiten, Sie wissen schon. Es ist also absolut nichts dabei, wenn ich Ihnen morgen die Höhle zeige.«
»Sie könnten mir einen Plan zeichnen«, gab Gideon kühl zurück.
Allmählich regte sich Ärger in Harriet. Glaubt er denn wirklich, ich würde ein Unternehmen dieser Tragweite ihm allein überlassen?, dachte sie. Immerhin standen ihre kostbaren Fossilien auf dem Spiel.
»Ich kann zwar ganz gut zeichnen, aber ich fürchte, dass es um meinen Orientierungssinn schlecht bestellt ist«, zog sie sich aus der Affäre. »Und jetzt zu meinem Plan: Ich werde morgen meinen gewohnten Vormittagsspaziergang entlang des Ufers unternehmen. Sie können es doch sicher einrichten, zur gleichen Zeit hinzukommen, oder?«
»Das ist nicht der Punkt.«
»Wir werden einander so zufällig begegnen, dass ein eventueller Beobachter sich nichts dabei denken wird. Ich werde Ihnen den Gang zeigen, der zu der von den Dieben benutzten Höhle führt. Dann können wir besprechen, wie man den Halunken am besten eine Falle stellt. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss nach Mrs. Stone sehen.« »Verdammtes Frauenzimmer!« Gideons schwarze Brauen zogen sich finster zusammen. »Auch wenn Sie es sich zur Gewohnheit gemacht haben, alle herumzukommandieren, so tun Sie gut daran, es mit mir nicht zu versuchen.«
Mrs. Stone stöhnte in diesem Moment wie bestellt auf. »Oooh … oooh … du lieber Himmel… wie elend mir ist.« Ihre Lider zuckten.
Harriet, die ihr den Riechsalzflakon wieder unter die Nase hielt, scheuchte zugleich den Viscount mit einer Handbewegung zur Tür. »Bitte, gehen Sie, Mylord«, sagte sie über die Schulter hinweg. »Ich muss leider darauf bestehen, Mrs. Stone bekommt sicher einen hysterischen Anfall, wenn sie zu sich kommt und sieht, dass Sie noch hier sind. Wir treffen uns morgen um zehn Uhr am Strand. Glauben Sie mir, es ist für Sie die einzige Möglichkeit, in die richtige Höhle zu gelangen.«
Gideon zögerte, sichtlich verärgert, dass er gezwungen war, sich in das Unvermeidliche zu fügen. Er kniff die braunen Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Nun gut. Morgen um zehn am Strand. Aber damit endet Ihr Engagement in dieser Sache, Miss Pomeroy. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
»Sehr klar, Mylord.«
Aus seinem abschätzenden Seitenblick sprach tiefer Argwohn. Vielleicht war mein beruhigendes Lächeln nicht ganz überzeugend, dachte Harriet, als er an ihr vorüber aus dem Arbeitszimmer hinaus in den Flur ging.
»Guten Tag, Miss Pomeroy.« Damit setzte er entschlossen den Hut auf.
»Guten Tag, Mylord«, rief sie ihm nach. »Vielen Dank, dass Sie so rasch auf meinen Brief reagiert haben. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie sich dieser Angelegenheit annehmen wollen. Sie werden Ihre Sache sehr gut machen.«
»Ich bin entzückt, dass Sie in mir einen passenden Kandidaten für jene Position gefunden haben, die es offensichtlich zu besetzen gilt«, knurrte er. »Wir werden sehen, wie weit Ihre Wertschätzung geht, wenn ich meine Aufgabe beendet habe und meinen Lohn fordere.«
Sein eiskalter Hohn ließ Harriet zusammenzucken. Nachdenklich blickte sie ihm nach, als er durch die offene Tür hinaus in den kalten Märzsonnenschein trat, ohne sich ein einziges Mal nach ihr umzudrehen.
Harriet konnte einen kurzen Blick auf einen riesigen rötlichbraunen Hengst werfen, der draußen wartete, ein gewaltiges Ross, in den Dimensionen seinem Begleiter nicht unähnlich, mit massiven Hufen, ausgeprägten Muskeln und eigensinniger Nasenwölbung. Dieses Pferd, das nichts Verfeinertes oder Elegantes an sich hatte, wirkte so stark und robust wie ein Schlachtross, imstande, einen Ritter in voller Rüstung in den Kampf zu tragen.
Als der Viscount den Klippenrand entlangsprengte, lauschte Harriet, die noch immer neben der ausgestreckt daliegenden Haushälterin kniete, dem Hufschlag nach. Wie angenehm geräumig der Flur nun wieder wirkte! St. Justins Anwesenheit hatte den Raum spürbar verkleinert.
Harriet registrierte mit leisem Erschrecken, wie intensiv sich St. Justins narbige, wüste Züge in ihrem Gedächtnis eingeprägt hatten. Einem Mann wie ihm war sie noch nie begegnet.
Er war unglaublich groß. Wie sein Pferd war auch er mächtig und solide gebaut und mit breiten, muskulösen Schultern und Schenkeln ausgestattet. Selbst Hände und Füße waren von ungewöhnlichem Format. Harriet fragte sich unwillkürlich, ob St. Justins Handschuhmacher und Schuster für das zusätzliche Material, das zur Anfertigung jedes einzelnen Paares notwendig war, einen Aufpreis berechneten.
Alles an St. Justin, der etwa Mitte dreißig sein mochte, war hart, stark und ungestüm.
Sein Antlitz erinnerte Harriet an den prächtigen Löwen, den sie vor drei Jahren in Mr. Peterhams Menagerie gesehen hatte. Sogar seine Augen riefen die Erinnerung an das wilde Tier wach. Was für wundervolle Augen, dachte Harriet, von goldbraunem Ton und von bezwingender Wachsamkeit und kühler Intelligenz.
St. Justins pechschwarzes Haar, seine breiten Wangenknochen, die kühne Nase und das markante Kinn trugen ebenfalls dazu bei, ihn löwenhaft aussehen zu lassen. Die Narbe erhöhte noch den Eindruck eines kraftstrotzenden Raubtieres, eines Geschöpfes, dem Gewalt nicht fremd war.
Harriet hätte zu gern gewusst, wo und wie St. Justin sich die bösartig aussehende Narbe zugezogen hatte, die sich in Längsrichtung über die ganze Wange bis zum Kinn hinzog, und aussah, als wäre sie ihm schon vor einigen Jahren zugefügt worden. Er konnte von Glück reden, dass er dabei nicht sein Auge verloren hatte.
Nun rührte sich Mrs. Stone wieder und stöhnte auf. Harriet zwang sich, ihre Aufmerksamkeit auf das vorliegende Problem zu konzentrieren. »Können Sie mich hören, Mrs. Stone?«, fragte sie, das Fläschchen unter der Nase der Frau schwenkend.
»Was? Ja, ja, ich kann Sie hören.« Mrs. Stone schlug die Augen auf und blickte in Harriets Gesicht. Nur mit Mühe brachte sie ein Stirnrunzeln zustande. »Was um alles in der Welt …? Du lieber Gott … jetzt weiß ich wieder alles. Er war hier, nicht wahr? Es war also kein Albtraum. Das Ungeheuer war hier. Wie es leibt und lebt.«
»Beruhigen Sie sich, Mrs. Stone. Er ist schon gegangen.«
Mrs. Stones Augen weiteten sich vor neuem Entsetzen. Sie umklammerte Harriets Handgelenk mit ihren knochigen Fingern fest wie ein Schraubstock. »Sind Sie wohlauf, Miss Harriet? Hat diese elende Ausgeburt der Hölle Sie etwa angerührt? Ich habe gesehen, dass er sich bedrohlich wie eine gewaltige, grässliche Giftschlange vor Ihnen aufrichtete.«
Harriet zügelte ihren Unmut. »Mrs. Stone, es liegt kein Grund zur Besorgnis vor. Er hat nur einen kurzen Augenblick seine Hand unter mein Kinn gelegt.«
»Der Herr schütze uns.« Mrs. Stones Lider senkten sich bebend.
In diesem Moment hörte Harriet Schritte auf den Eingangsstufen, gleich darauf wurde die Tür geöffnet, die der Viscount so fest hinter sich geschlossen hatte. Im Eingang erschienen Euphemia Pomeroy und Harriets zauberhafte Schwester Felicity.
Felicity galt in Upper Biddleton und Umgebung mit gutem Grund als sensationelle Schönheit, denn zu ihrem außerordentlichen Liebreiz gesellte sich ein angeborenes Gefühl für Stil und Eleganz, das auch unter den finanziell beengten Verhältnissen, in denen die Schwestern Pomeroy lebten, zur Geltung kam.
In ihrem rüschenbesetzten, grün-weiß gestreiften Laufkleid bot Felicity heute ein Bild bezaubernder jugendlicher Frische. Ein dunkelgrüner Umhang und ein grüner, federngeschmückter Hut ergänzten ihre Aufmachung. Sie hatte hellgrüne Augen und goldbraunes Haar, beides ein Erbteil ihrer Mutter. Der Schnitt ihres Kleides unterstrich einen weiteren Pluspunkt, den sie ihrer Mutter zu verdanken hatte, nämlich einen köstlich vollen Busen.
Euphemia Pomeroy Ashecombe, die als Erste eintrat, streifte ihre Handschuhe ab. Kurz vor dem Tod Reverend Pomeroys, ihres Bruders, war sie zur Witwe geworden. Sie hatte nicht lange gezögert und sich bei ihren Nichten häuslich eingerichtet. Die einst gefeierte Schönheit, die nun schon auf die Fünfzig zuging, war nach Harriets Ansicht noch immer sehr ansehnlich.
Als Tante Effie ihren Hut abnahm, wurde das Silber in ihrem einst dunklen Haar sichtbar. Das auffallende Türkisblau ihrer Augen stammte wie jenes Harriets von den Pomeroys.
Als Effies Blick auf die Haushälterin fiel, erschrak sie. »O Gott, nein, nicht schon wieder.« Felicity, die hinter ihrer Tante eintrat und die Tür schloss, sah auf den ersten Blick, was los war. »O Himmel … wieder eine Ohnmacht. Was ist diesmal die Ursache? Hoffentlich etwas Interessanteres als letztes Mal. Damals, glaube ich, genügte die Neuigkeit, dass Lady Barkers Älteste sich einen reichen Kaufmann als Ehemann geangelt hat, um Mrs. Stone niederzustrecken.«
»Nun ja, er war doch nur ein Händler«, rief Tante Effie ihr in Erinnerung. »Und du weißt sehr gut, dass Mrs. Stone große Stücke auf ein ausgeprägtes Standesbewusstsein hält. Annabelle Barker kommt aus einer sehr guten Familie. Mrs. Stone hatte also nicht unrecht, als sie ihrem Gefühl Luft machte, das Mädchen hätte etwas Besseres verdient als einen Krämer.«
»Wenn du mich fragst, hat Annabelle gar nichts Besseres tun können«, erklärte die praktisch veranlagte Felicity. »Ihr Mann betet sie an und stellt ihr unbegrenzte Mittel zur Verfügung. Sie bewohnen ein vornehmes Haus in London, besitzen zwei Kutschen und Gott weiß wie viele Dienstboten. Annabelle hat fürs Leben ausgesorgt.«
Harriet konnte sich ein verstohlenes Lächeln nicht verkneifen, während sie Mrs. Stone wieder das Riechsalzfläschchen unter die Nase hielt. »Und es heißt außerdem, dass Annabelle in ihren reichen Kaufmann glühend verliebt ist. Felicity, ich gebe dir recht, sie hat es nicht schlecht getroffen. Aber du kannst nicht erwarten, dass Tante Effie und Mrs. Stone unseren Standpunkt teilen.«
»Diese Verbindung kann nichts Gutes bringen«, prophezeite Tante Effie. »Es macht sich nie bezahlt, wenn man zulässt, dass ein junges Mädchen seinem Herzen folgt. Schon gar nicht, wenn es damit die gesellschaftliche Stufenleiter hinunterfällt.«
»Das hast du uns schon oft gesagt, Tante Effie.« Felicity sah Mrs. Stone fragend an. »Also, was war es diesmal?«
Ehe Harriet antworten konnte, blinzelte Mrs. Stone und setzte sich unter schmerzlichen Mühen auf. »Das Ungeheuer von Blackthorne Hall ist zurückgekehrt«, stimmte sie ihr Klagelied an.
»Du liebe Güte«, äußerte Effie erstaunt. »Was redet sie da?«
»Der Dämon kehrt an den Schauplatz seines Verbrechens zurück«, fuhr Mrs. Stone fort.
»Wer um alles in der Welt ist das Ungeheuer von Blackthorne Hall?«, wollte Felicity wissen.
»St. Justin.« Mrs. Stone ließ ein Stöhnen hören. »Wie kann er es wagen? Wie kann er es wagen, zurückzukommen? Und wie kann er es wagen, Miss Harriet zu bedrohen?«
Felicity sah Harriet mit großen Augen an. Ihr Interesse hätte nicht größer sein können. »St. Justin war hier?«
»Ja«, gestand Harriet.
Tante Effie klappte der Mund vor Überraschung herunter. »Der Viscount war hier? Hier im Haus?«
»So ist es«, sagte Harriet. »Tante Effie, wenn du und Felicity eure Neugierde liebenswürdigerweise zügeln würdet, könnten wir vielleicht darangehen, Mrs. Stone wieder auf die Beine zu helfen.«
»Harriet, das will ich nicht glauben«, gab Tante Effie fassungslos von sich. »Willst du damit sagen, dass der größte Gutsbesitzer der Gegend, ein echter Viscount, der einmal den Grafentitel seines Vaters erben wird, uns besucht hat und von dir in diesem Aufzug empfangen wurde? In einer schmutzigen alten Schürze und dem hässlichen Kleid, das man schon vor Monaten frisch hätte färben müssen?«
»Er ist nur zufällig vorbeigekommen«, erklärte Harriet, um einen leichten Ton bemüht.
»Nur zufällig vorbeigekommen?« Felicity wollte sich ausschütten vor Lachen. »Also wirklich, Harriet, wenn ein Viscount oder seinesgleichen unser bescheidenes kleines Haus mit seinem Besuch beehrt, ist es nie zufällig.«
»Warum nicht?« Harriet war sichtlich verärgert. »Blackthorne Hall, sein Vaterhaus, liegt nicht weit von hier.«
»In den ganzen fünf Jahren, die wir hier wohnen, hat sich Viscount St. Justin nie bemüht, nach Upper Biddleton zu kommen, geschweige denn unserem Haus einen Besuch abzustatten. Papa hat gesagt, dass er St. Justins Vater, dem Earl, persönlich nur ein einziges Mal begegnet ist. Das war in London, als Hardcastle ihn zum Pfarrherrn ernannte und ihn mit dieser Pfarrei betraute.«
»Felicity, mein Wort darauf, St. Justin war hier. Es war ein ganz gewöhnlicher Besuch«, sagte Harriet mit Nachdruck. »Mir erscheint es ganz natürlich, dass er die Familienbesitzungen in dieser Gegend besucht.«
»Im Dorf heißt es, dass St. Justin nie nach Upper Biddleton kommt. Dass er den Ort hasst.« Tante Effie fächelte sich mit der Hand Kühlung zu. »Du lieber Himmel, ich glaube wirklich, mir wird auch ein wenig schwindlig. Ein Viscount hier im Haus. Man stelle sich das vor.«
»An Ihrer Stelle, Mrs. Ashecombe, würde ich mich nicht so geehrt fühlen.« Mrs. Stone sah Effie mit einem düsteren Blick, quasi von Frau zu Frau, an. »Er hat Hand an Miss Harriet gelegt, das habe ich selbst gesehen. Dem lieben Gott sei Dank, dass ich noch zur rechten Zeit eintrat.«
»Zur rechten Zeit wofür?« Felicitys Interesse meldete sich wieder.
»Miss Felicity, das geht Sie nichts an. Sie sind zu jung, um über dergleichen Dinge Bescheid zu wissen. Seien Sie bloß froh, dass ich diesmal nicht zu spät kam.«
»Zu spät wofür?«, fragte Felicity.
Harriet seufzte.
Tante Effie sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Harriet, Liebes, was hat sich zugetragen? Es ist doch nicht etwa der Tee ausgegangen oder etwas ähnlich Schreckliches?«
»Nein, Tee war vorhanden, obwohl ich gar nicht daran dachte, ihm eine Tasse anzubieten«, gab Harriet zu.
»Du hast ihm keinen Tee angeboten? Ein Viscount stattet diesem Haus einen Besuch ab, und du hast ihm keine Erfrischung angeboten?« Tante Effies Miene verriet tiefste Fassungslosigkeit. »Harriet, was soll ich nur mit dir machen? Hast du denn gar keine Manieren?«
»Ich möchte wissen, was passiert ist«, unterbrach Felicity sie rasch. »Was heißt das, dass der Mann Hand an dich gelegt hat, Harriet?«
»Nichts ist passiert, und es wäre auch weiterhin nichts passiert«, fuhr Harriet sie an. »Der Mann hat nicht Hand an mich gelegt.« Zu spät fiel ihr ein, dass ihr Kinn auf der Faust des Viscounts gelegen hatte. Sie sah den grimmigen Blick seiner goldbraunen Augen vor sich. »Nun, er mag Hand an mich gelegt haben, aber nur kurz. Nicht der Rede wert, mein Wort darauf.«
»Harriet.« Felicity war nun völlig gebannt. »Erzähle uns alles.«
Es war Mrs. Stone, die antwortete. »Unverschämt wie der Teufel, ja, das war er.« Ihre abgearbeiteten Hände verkrampften sich in die Falten ihrer Schürze, in ihren Augen blitzte ehrliche Entrüstung. »Der glaubt wohl, er könne sich alles erlauben. Dieses Ungeheuer kennt keine Scham.« Sie schniefte indigniert.
Harriet sah die Haushälterin an. »Mrs. Stone, bitte keine Tränen.«
»Tut mir leid, Miss Harriet.« Mrs. Stone, die wieder ein leises Schniefen hören ließ, wischte sich mit dem Schürzenzipfel über die Augen. »Aber das Wiedersehen nach so vielen Jahren ließ alle schrecklichen Erinnerungen wieder aufleben.«
»Welche Erinnerungen?«, fragte Felicity begierig.
»Erinnerungen an meine liebreizende kleine Miss Deirdre.« Mrs. Stone betupfte ihre Augen.
»Wer war Deirdre?«, wollte Tante Effie wissen. »Ihre Tochter?«
Mrs. Stone verschluckte ihre Tränen. »Nein, sie war nicht mit mir verwandt. Sie war viel zu vornehm, um mit so jemandem wie mir verwandt zu sein. Sie war Reverend Rushtons einziges Kind. Ich habe sie aufgezogen.«
»Rushton.« Tante Effie überlegte hastig. »Ach ja, der ehemalige Pfarrherr. Der Vorgänger meines lieben Bruders.«
Mrs. Stone nickte. Ihr schmaler Mund zuckte. »Miss Deirdre war das Einzige, was dem Reverend nach dem Tod ihrer teuren Mama geblieben war. Sie hat viel Freude und Sonnenschein in dieses Haus gebracht, bis dieses Ungeheuer ihr zum Untergang wurde.«
»Ungeheuer?« Felicitys Miene glich jener, die sie zur Schau trug, wenn sie sich der Lektüre von Schauerromanen, ihrer Lieblingsbeschäftigung, hingab. »Sie meinen Viscount St. Justin? Er war Deirdre Rushtons Untergang? Wie das?«
»Dieses lüsterne Ungeheuer«, murmelte Mrs. Stone und betupfte abermals ihre Augen.
»Allmächtiger.« Tante Effie war außer sich. »Der Viscount hat das Mädchen ruiniert? Also wirklich, Mrs. Stone, das ist unglaublich. Der Mann ist schließlich ein Gentleman, Erbe eines Grafentitels. Und sie war die Tochter des Pfarrers.«
»Er war kein Gentleman«, lautete Mrs. Stones Feststellung.
Harriets Geduld war am Ende. Barsch fuhr sie ihre Haushälterin an: »Mrs. Stone, für heute reichen uns Ihre dramatischen Enthüllungen. Sie dürfen in Ihr Küchenrevier zurückkehren.«
Mrs. Stones wässrige Augen blickten sie gequält an. »Es ist wahr, Miss Harriet. Dieser Mann hat meine kleine Miss Deirdre getötet, so sicher, als hätte er die Pistole selbst abgedrückt.«
»Pistole?« Harriet starrte sie an.
Einen Augenblick herrschte schockiertes Schweigen im Flur. Effie war sprachlos. Sogar Felicity brachte keine weitere Frage über die Lippen.
Harriets Mund war wie ausgedörrt. »Mrs. Stone«, setzte sie schließlich behutsam an, »wollen Sie damit sagen, dass Viscount St. Justin eine ehemalige Bewohnerin dieses Hauses getötet hat? Wenn ja, dann muss ich leider sagen, dass Sie hier nicht weiter arbeiten können, weil Sie so schreckliche Dinge behaupten.«
»Aber es ist die Wahrheit, Miss Harriet, das schwöre ich bei meinem Leben. Ja, alle nannten es Selbstmord. Gott schenke ihrer Seele Frieden, aber ich weiß, dass er sie dazu getrieben hat. Das Ungeheuer von Blackthorne Hall ist so schuldig wie die Sünde, wie jedermann im Dorf weiß.«
»Guter Gott«, hauchte Felicity.
»Das muss ein Irrtum sein«, flüsterte Tante Effie.
Aber Harriet, die in Mrs. Stones Augen sah, erkannte, dass die Frau die Wahrheit sprach, zumindest soweit sie davon Kenntnis hatte. Harriet wurde übel. »Wie um alles in der Welt hat St. Justin es geschafft, Deirdre Rushton in den Selbstmord zu treiben?«
»Sie waren verlobt«, sagte Mrs. Stone leise. »Das war, ehe er seinen Titel bekam. Gideon Westbrooks älterer Bruder Randal war noch am Leben, müssen Sie wissen. Damals war natürlich Randal der Erbe des alten Earls. Ein so feiner Herr … ein echter und vornehmer Erbe des Earls of Hardcastle. Ein Mann, der es wert war, in die Fußstapfen Seiner Lordschaft zu treten.«
»Anders als das Ungeheuer?«, fragte Felicity.
Mrs. Stone warf ihr einen merkwürdigen Blick zu und fuhr im Flüsterton fort: »Man munkelt sogar, Gideon Westbrook habe seinen eigenen Bruder getötet, um Titel und Besitz zu erben.«
»Faszinierend«, murmelte Felicity.
»Unglaublich.« Tante Effie war wie betäubt.
»Wenn Sie meine Meinung hören wollen … ich halte es für Humbug«, verkündete Harriet. Aber innerlich spürte sie, wie sich etwas Kaltes in ihrer Magengrube zusammenkrampfte. Mrs. Stone glaubte jedes Wort, das sie sagte. Die Frau hatte einen Hang zur Dramatik, aber Harriet kannte die Haushälterin lange genug, um sicher zu sein, dass sie im Grunde eine ehrliche Haut war.
»Es ist die reine Wahrheit«, sagte Mrs. Stone voll Ingrimm. »Mein Ehrenwort.«
»Weiter, Mrs. Stone. Sagen Sie uns, wie dieses Ungeheuer – ich meine, der Viscount – die Dame in den Selbstmord trieb«, drängte Felicity.
Harriet gab es auf, ihre Haushälterin am Erzählen zu hindern, und richtete sich auf. Es war immer besser, die Wahrheit zu kennen, tröstete sie sich. »Ja, Mrs. Stone, da Sie uns schon so viel verraten haben, können Sie uns gleich den Rest anvertrauen. Also, was ist Deirdre Rushton zugestoßen?«
Mrs. Stone ballte die Hände zu Fäusten. »Er hat ihr Gewalt angetan. Hat sie entehrt, ja, das hat er, diese Bestie. Hat sie seinen Gelüsten unterworfen. Aber anstatt nachher das Richtige zu tun und sie zu heiraten, hat er sie weggeworfen. Das war kein Geheimnis. Fragen Sie hier in der Gegend, wen Sie wollen.«
Tante Effie und Felicity waren vor Entsetzen verstummt.
»O mein Gott.« Harriet ließ sich unvermittelt auf eine schmale Polsterbank fallen. Sie spürte, dass sie die Hände zusammenkrampfte, bis es schmerzte. Dann zwang sie sich, ruhig durchzuatmen. »Sind Sie sicher, Mrs. Stone? Er hat mir nicht danach ausgesehen … Mir … mir hat er eigentlich gefallen.«
»Woher willst du wissen, wie ein Mann beschaffen sein muss, der so etwas tut?«, fragte Tante Effie mit unwiderlegbarer Logik. »Du hattest nie Gelegenheit, einen dieser Sorte kennenzulernen. Du hast ja nicht einmal eine Saison in London mitgemacht, weil mein Bruder, Gott hab ihn selig, für ein Debüt nicht genug Geld hinterließ. Wenn du in London gewesen wärst und mehr von der Welt wüsstest, dann hättest du auch mitbekommen, dass man diese Sorte Mann nicht immer auf den ersten Blick erkennt.«
»Tante Effie, du magst ganz recht haben.« Harriet musste zugeben, dass ihre Tante die reine Wahrheit sagte. Sie wusste tatsächlich nichts von jener Sorte Männer, die unschuldige junge Frauen entehrten und sie dann wegwarfen. »Natürlich hört man so mancherlei, aber das ist doch nicht dasselbe, als wenn man selbst Erfahrungen mit diesem Männertyp gemacht hat.«
»Du kannst dir doch nicht ernsthaft solche Erfahrungen wünschen«, stieß Felicity hervor. Sie wandte sich an Mrs. Stone. »Bitte, fahren Sie fort.«
»Ja«, sagte Harriet. »Erzählen Sie uns alles, Mrs. Stone.«
Mrs. Stone schob ihr Kinn vor und sah Harriet und Felicity mit feuchten Augen an. »Wie ich schon sagte, war Gideon Westbrook der zweite Sohn des Earls of Hardcastle.«
»Damals war er noch nicht Viscount«, murmelte Felicity.
»Natürlich nicht«, warf Tante Effie mit ihrer üblichen Autorität in diesen Dingen ein. »Als zweiter Sohn führte er damals keinen Titel. Sein älterer Bruder war Viscount.«
»Ich weiß, Tante Effie. Fahren Sie fort, Mrs. Stone.«
»Dieses Ungeheuer begehrte meine reizende Miss Deirdre von Anfang an … seit er sie bei ihrem Debüt in London kennengelernt hatte. Reverend Rushton hatte seinen letzten Penny zusammengekratzt, um ihr eine Saison zu ermöglichen, und Westbrook war der erste Bewerber, der sich ihr anbot.«
»Deshalb entschied Rushton wohl, es sei besser zuzugreifen?«, fragte Harriet.
Mrs. Stone funkelte sie an. »Der Reverend sagte zu Miss Deirdre, sie müsse den Antrag annehmen. Westbrook hatte zwar keinen Titel, dafür besaß er aber Geld und kam aus einer vornehmen Familie. Er sei eine blendende Partie, sagte der Reverend.«
»Alles in allem sah es wohl so aus«, murmelte Effie.
»Mit anderen Worten, sie wollte ihn seines Geldes wegen nehmen, und weil sie in eine vornehme Familie eingeheiratet hätte«, folgerte Harriet. »Meine Miss Deirdre war immer eine gute und gehorsame Tochter«, sagte Mrs. Stone wehmütig. »Sie gab den Wünschen ihres Papas nach, obwohl Westbrook nur ein zweiter Sohn war und dazu hässlich wie der Teufel. Sie hätte es noch besser treffen können, aber ihr Vater hatte Angst, länger zu warten. Er konnte es sich nicht leisten, sie über längere Zeit in London auszuhalten.«
Harriet blickte unwillig auf. »Mir ist er überhaupt nicht hässlich vorgekommen.«
Mrs. Stone schnitt eine Grimasse. »Ein großer, ungeschlachter Kerl. Und mit der schrecklichen Narbe sieht er aus wie ein Dämon aus der finstersten Hölle. So hat er immer schon ausgesehen, schon ehe sein Gesicht vollends ruiniert wurde. Sein Anblick jagte meiner armen Miss Deirdre Schauer über den Rücken. Aber sie kam ihrer Verpflichtung nach.«
»Und noch ein bisschen mehr, so wie es sich anhört«, murmelte Harriet.
Tante Effie schüttelte traurig den Kopf. »Diese jungen Dinger, die ihrem Herzen anstatt ihrem Kopf folgen. Welche Torheit. Wann werden sie je begreifen, dass sie, wollen sie einem schlimmen Schicksal entgehen, ihren Verstand und ihre Jungfräulichkeit bewahren müssen, bis sie sicher im Hafen der Ehe gelandet sind?«
»Miss Deirdre war ein gutes Kind«, erklärte die getreue Mrs. Stone. »Er hat sie entehrt, sage ich Ihnen. Sie war ein Unschuldslamm, das nichts von fleischlichen Dingen wusste, und er hat dies ausgenutzt. Und schließlich kam es zur Verlobung. Sie baute darauf, er würde das Richtige tun, als sie entdeckte … als sie das mit dem Kind entdeckte.«
»Zweifellos glaubte sie, ein echter Gentleman würde eine Verlobung nie lösen«, sagte Harriet nachdenklich.
»Nun, ein echter Gentleman hätte sie nicht gelöst«, erklärte Tante Effie spitz. »Aber eine Frau kann sich in einer solchen Situation nicht immer auf das Ehrgefühl eines Mannes verlassen. Deshalb muss sie darauf achten, erst gar nicht kompromittiert zu werden. Wenn wir dich nach London bringen, Felicity, tust du gut daran, dir diese traurige Geschichte vor Augen zu halten.«
»Ja, Tante Effie.«
Felicity sah Harriet mit verzweifelt verdrehten Augen an. Und Harriet verkniff sich ein mattes Lächeln. Es war nicht das erste Mal, dass sie und ihre Schwester die gut gemeinten Ratschläge ihrer Tante zu hören bekamen.
Was Fragen der Etikette und des Anstands anging, hielt Effie sich für die oberste Instanz im Pfarrhaus und hatte sich als Ratgeberin und Anstandsdame fest etabliert, obwohl Harriet ihr schon oft zu verstehen gegeben hatte, dass es in Upper Biddleton nichts gab, was den Anstand bedrohte.
»Wie gesagt, St. Justin ist kein Gentleman. Er ist eine grausame, herzlose, lüsterne Bestie.« Mrs. Stone fuhr sich mit ihrem knochigen roten Handrücken über die Augen. »Kurz bevor Miss Deirdre ihre Schwangerschaft entdeckte, kam der ältere Sohn des Earls ums Leben, als er die Klippen entlangritt. Ganz in der Nähe wurde er abgeworfen, fiel über den Klippenrand und stürzte in die Tiefe. Hat sich den Hals gebrochen. Ein Unfall, hieß es damals. Aber später tauchten Zweifel auf, als man sah, wie der neue Viscount Miss Deirdre behandelte.«
»Wie schrecklich.« Felicity hörte mit großen Augen zu.
»Als Gideon Westbrook wusste, dass er den Titel erben würde, löste er die Verlobung mit Miss Deirdre.«
»Ach, wirklich?« Felicitys Spannung wuchs.
Mrs. Stone nickte bekümmert. »Hat sie fallen gelassen, obwohl er wusste, dass sie sein Kind trug. Sagte zu ihr, dass er nun Viscount St. Justin sei und eines Tages Earl of Hardcastle sein würde und etwas Besseres bekommen könnte als die Tochter eines armen Geistlichen.«
»Du liebe Güte.« Harriet dachte an die berechnende Intelligenz in Gideons braunen Augen. Wenn sie es sich recht überlegte, musste sie sich eingestehen, dass man ihn sich schwer als einen Mann vorstellen konnte, der sich von sanfteren Gefühlen lenken ließ, zumindest nicht, wenn er andere Ziele vor Augen hatte. Er hatte durchaus etwas Unnachgiebiges an sich. Sie schauderte. »Sie sagen, er habe gewusst, dass Deirdre guter Hoffnung war?«
»Ja, verdammt sei seine Seele. Er hat es gewusst.« Mrs. Stones Hände ballten sich zu Fäusten und öffneten sich wieder. »An dem Abend, nachdem sie gemerkt hatte, dass sie schwanger war, blieb ich mit ihr auf. Ich hielt sie in den Armen, als sie die ganze Nacht weinte, und am Morgen, da ging sie zu ihm. Und als sie aus dem großen Haus zurückkam, konnte ich es ihr vom Gesicht ablesen, dass er sie verstoßen hatte.« Tränen traten in Mrs. Stones Augen und liefen ihr über die flächigen Wangen.
»Was geschah dann?«, fragte Felicity zaghaft.
»Miss Deirdre ging ins Arbeitszimmer, nahm die Pistole ihres Vaters von der Wand und erschoss sich. Reverend Rushton, der Ärmste, hat sie gefunden.«
»Das arme, unglückliche Kind«, flüsterte Tante Effie. »Wenn sie nur vorsichtiger gewesen wäre. Wenn sie nur an ihren Ruf gedacht und nicht einem Mann ihr Vertrauen geschenkt hätte. Du wirst in London hoffentlich an diese Geschichte denken, nicht wahr, Felicity, mein Liebes?«
»Ja, Tante Effie, ich werde sie nicht vergessen.« Felicity war von der schrecklichen Geschichte ehrlich beeindruckt.
»Mein Gott«, murmelte Harriet halblaut. »Das alles ist unglaublich.« Sie warf einen Blick in das mit Fossilien übersäte Arbeitszimmer und schluckte schwer, als sie sich in Erinnerung rief, wo St. Justin sich über den Schreibtisch gebeugt und ihr seine mächtige Hand unters Kinn geschoben hatte. »Mrs. Stone, sind Sie absolut sicher, dass dies alles der Wahrheit entspricht?«
»Absolut. Wäre Ihr Papa noch am Leben, er würde es bestätigen. Er wusste, was Reverend Rushtons Tochter zugestoßen war. Aber er behielt es für sich, weil er es nicht für richtig gefunden hätte, das Thema vor euch jungen Mädchen zu erörtern. Als er mir sagte, ich könne hier im Haus bleiben, ersuchte er mich, ich solle nicht davon sprechen, und ich habe geschwiegen. Aber jetzt nicht mehr.«
Tante Effie nickt beifällig. »Nein, natürlich nicht, Mrs. Stone. Nun, da St. Justin zurückgekehrt ist, müssen alle ehrbaren jungen Damen auf der Hut sein.«
»Entehrt und verlassen.« Felicity schüttelte den Kopf. »Man stelle sich das vor.«
»Schrecklich«, sagte Tante Effie. »Absolut schrecklich. Junge Damen müssen sehr, sehr vorsichtig sein. Felicity, du wirst mir nicht allein ausgehen, solange der Viscount sich hier in der Gegend aufhält. Hast du mich verstanden?«
»Ach, Unsinn.« Felicity wandte sich an Harriet. »Man kann mich nicht wie eine Gefangene im Haus halten, nur weil St. Justin zufällig hier im Ort war.«
Harriet runzelte die Stirn. »Nein, natürlich nicht.«
Tante Effie wurde streng. »Harriet, Felicity muss vorsichtig sein. Sicher siehst du das ein.«
Harriet blickte auf. »Felicity ist ein sehr besonnenes weibliches Wesen, Tante Effie. Sie wird schon keine Dummheiten machen. Stimmt's, Felicity?«
Felicity lächelte schalkhaft. »Und mir meine Chancen für eine Saison in London verderben? Harriet, du kannst sicher sein, dass ich nicht so dumm sein werde.«
Um Mrs. Stones Lippen legte sich ein verkniffener Zug. »St. Justin steht der Geschmack nach schönen jungen unschuldigen Mädchen … dieses unersättliche wilde Tier. Jetzt ist Ihr Papa nicht mehr da, um Sie zu beschützen, deshalb müssen Sie doppelt vorsichtig sein, Miss Felicity.«
»Ganz recht«, pflichtete Tante Effie ihr bei.
Harriet zog eine Braue hoch. »Ich nehme an, dass ihr euch um meinen Ruf längst nicht so sorgt wie um den Felicitys.«
Tante Effie zeigte sich gebührend zerknirscht. »Aber meine Liebe, du weißt, dass es nicht so ist. Aber du bist immerhin fast fünfundzwanzig. Und die Sorte unersättlicher Wüstlinge, von der Mrs. Stone spricht, hat nun mal eine Vorliebe für blutjunge Unschuldslämmer.«
»Und gehen alten Unschuldslämmern, wie ich eines bin, aus dem Weg«, murmelte Harriet, ohne Felicitys spitzbübisches Lächeln zu beachten. »Ja, ich glaube, du hast recht, Tante Effie. Mir droht wohl kaum Gefahr, von St. Justin entehrt zu werden.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich glaube, mich zu erinnern, dass ich mich in diesem Sinn eben zu ihm äußerte.«
»Was um alles in der Welt …?« Tante Effie starrte sie an.
»Schon gut, Tante Effie.« Harriet ging auf die offene Tür des Arbeitszimmers zu. »Sicher wird Felicity ihren Kopf und alles, was sonst an ihr wichtig ist, bewahren, sollte sie sich jemals in Gesellschaft St. Justins befinden. Sie ist ja nicht dumm. Und jetzt entschuldigt mich, ich muss meine Arbeit zu Ende bringen.«
Harriet zwang sich, gemessen ihr kleines Refugium zu betreten, und schloss ruhig die Tür. Dann ließ sie sich mit einem aus tiefstem Herzen kommenden Seufzer auf ihren Stuhl fallen, stützte ihre Ellbogen auf den Schreibtisch und begrub ihr Gesicht in ihren Händen, während ihr Körper von Schauern geschüttelt wurde.
Nicht Felicity ist dumm, sondern ich bin es, dachte sie. Ja, sie, Harriet, war die Törin gewesen. Sie hatte das Ungeheuer von Blackthorne Hall zurück nach Upper Biddleton geholt.