Kapitel eins
Es kam geradezu einer Auszeichnung gleich, als die hübscheste und begehrenswerteste Debütantin des Jahrhunderts gefeiert wie auch als verabscheuungswürdigstes Frauenzimmer ganz Englands gehandelt zu werden. Seltsamerweise war es genau das, was Ophelia Reid angestrebt hatte – sowohl in die eine als auch in die andere Richtung. Für sie war es ein Fluch, mit solch atemberaubender Schönheit gesegnet zu sein. Alle naselang führten sich die Menschen in ihrer Nähe wie Narren auf. Und die Gäste, die sich auf Summers Glade, dem Landsitz des Marquis of Birmingdale, eingefunden hatten, bildeten da keine Ausnahme.
An der obersten Stufe der breiten Treppe zum Foyer blieb Ophelia stehen. Insgeheim hatte sie gehofft, sie wäre allein. Doch sie hätte es besser wissen müssen. Es schien sich bereits herumgesprochen zu haben, dass sie mit dem Erben des Marquis gebrochen hatte. Überall wurde getuschelt und geredet. Mit einem Mal kehrte Stille ein, und sämtliche Augenpaare schossen hinauf zum Treppenabsatz.
Es mochte so aussehen, als hätte Ophelia sich durch ihr Erscheinen gekonnt in Szene setzen wollen; etwas, wofür sie sich gewöhnlich auch nicht zu schade war. Doch heute verhielt es sich anders.
„Wann werden Sie mir endlich sagen, was passiert ist?“, raunte Sadie O’Donald, Ophelias Zofe, die neben ihr stand.
„Gar nicht“, entgegnete Ophelia steif, als das Gerede unter ihnen wieder einsetzte.
Wortlos folgte Sadie Ophelia nach unten, die hier und da einige Wortfetzen aufschnappte.
„Erst sind sie verlobt, dann wieder nicht und dann doch. Und jetzt sagt sie die Hochzeit endgültig ab. Ein recht wankelmütiges Frauenzimmer, wenn Sie mich fragen.“
„Der Bräutigam meinte, die Entscheidung sei in beiderseitigem Einverständnis getroffen worden.“
„Wer's glaubt, wird selig. Ihr kann man es eben nicht recht machen. Bei ihrer Schönheit ist das aber auch kein Wunder. Ich wäre vermutlich nicht weniger wählerisch.“
„Von solch exquisiter Schönheit zu sein, kommt einer Sünde gleich.“
„Vorsichtig, meine Liebe, Ihnen ist der Neid förmlich anzusehen.“
„… verzogenes Gör, wenn Sie mich fragen.“
„Leise, sonst hört sie Sie noch. Sie ist nicht nur über die Maßen hübsch, sondern obendrein recht schmähsüchtig. Sie täten besser daran, sie nicht zur Feindin zu haben.“
„Gütiger Gott, wie bestrickend sie ist. Ein Engel, eine …“
„… und wieder auf dem Heiratsmarkt. Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich darüber nicht erfreut wäre. Vielleicht habe ich ja doch noch eine Chance.“
„Ich dachte, sie hätte Ihnen noch vor der offiziellen Eröffnung der Saison einen Korb gegeben.“
„Das stimmt. Mir und zahlreichen anderen. Aber da wussten wir ja nicht, dass sie eigentlich MacTavish versprochen war.“
„Reine Zeitverschwendung. Ihr Titel dürfte nicht genug hergeben. Sie könnte sich einen König angeln, wenn sie wollte.“
„Wundert mich, dass ihre Eltern sie nicht dazu ermutigen. Sie sind entsetzliche Emporkömmlinge, müssen Sie wissen.“
„Aber trifft das streng genommen dann nicht auch auf sie zu?“
„Sie hat gerade erst dem Erben eines Marquis einen Korb gegeben. Was sagt Ihnen das?“
„Dass ihre Eltern außer sich sein werden, genau wie seinerzeit, als …“
„Das steigert die Chancen für Locke dort drüben, den Sohn des Herzogs von Norford. Ich bin überrascht, dass er schon wieder in unserem schönen England weilt.“
„Wenn ihn eines nicht interessiert, dann ist es die Ehe. Jetzt sagen Sie nicht, Ihnen sei nicht zu Ohren gekommen, dass er England aus ebendiesem Grunde verlassen hat. Er hat sich seinerzeit nicht mehr retten können vor heiratswütigen Frauenzimmern …“
Ophelia tat, als höre sie nichts. Als jedoch Lockes Name fiel, wurde ihr Blick wie magisch in seine Richtung gezogen. Bereits vom Treppenabsatz aus war ihr der attraktive Norford-Erbe ins Auge gesprungen. Sie kannten sich flüchtig, und vor einiger Zeit hatte Ophelia ihn sogar als potenziellen Heiratskandidaten in Erwägung gezogen. Das war jedoch, bevor sie sich zum zweiten Mal mit Duncan MacTavish verlobt hatte.
Wie es schien, hatte Locke in das feindliche Lager gewechselt. Jenes Lager, welches das Schlimmste von ihr dachte. Wie hatte er sie doch gleich genannt? Eine „gehässige Klatschbase“. Er hatte sogar gedroht, sie zu ruinieren, wenn sie herumerzählte, er und Sabrina Lambert hätten den fleischlichen Gelüsten gefrönt.
Dabei war sie felsenfest davon überzeugt gewesen. Welchen anderen Grund mochte ein Mann sonst haben, sich mit einem Mauerblümchen wie Sabrina abzugeben?
„Wie kommen wir eigentlich nach Hause?“, flüsterte Sadie, als sie am Fuß der Treppe angelangt waren.
„Mit meiner Kutsche natürlich“, antwortete Ophelia leicht genervt.
„Ohne Kutscher dürfte sich das ein wenig schwierig gestalten.“
Herrje, das war Ophelia vollkommen entfallen. Der Kutscher, der eigentlich im Dienst ihres Vaters stand, hatte sich klammheimlich davongeschlichen, damit er seine Anstellung bei ihrem Vater nicht verlor. Sicher würde er ihm brühwarm erzählen, wo seine Tochter war. Sie hatte sich nämlich von zu Hause entfernt, ohne ihrem Vater eine Nachricht zukommen zu lassen, so sauer war sie auf ihn wegen der Backpfeife gewesen, die er ihr verabreicht hatte.
„Kein Problem, wir leihen uns einfach einen Kutscher aus. Der Bedienstete dort drüben, der gerade meine Truhen trägt, tut es vollkommen. Du gibst ihm Bescheid, während ich im Salon bleibe.“
Ophelia hätte liebend gern draußen gewartet, weit weg von den Gästen, doch der leichte Reiseumhang, den sie sich vor allem deshalb umgelegt hatte, weil er ihrer schlanken Figur schmeichelte, würde sie nicht wärmen. Es war tiefster Winter und viel zu kalt, um unnötig Zeit im Freien zu verbringen. Vielleicht war wenigstens der Salon leer.
Aber wie konnte es anders sein, er war es nicht. Eine andere Person hatte bereits vor ihr dieselbe Idee gehabt. Zu allem Überfluss war es ausgerechnet jene Frau, mit der sie nie wieder etwas zu tun haben wollte. Mavis Newbolt, einst ihre beste Freundin, nun ihre ärgste Feindin. Für einen Rückzieher war es jedoch zu spät; Mavis hatte sie bereits entdeckt.
„Mit eingezogenem Schwanz auf der Flucht?“, stichelte Mavis.
O Gott, nicht schon wieder. Hatte Mavis nicht schon genug Schaden angerichtet, indem sie gekommen war, um sie und Duncan auseinanderzubringen? Anscheinend nicht.
„Du irrst“, antwortete Ophelia gekünstelt, nachdem sie ihre Gefühle wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte. Sie würde nicht zulassen, dass ihre ehemalige Freundin sie noch einmal zum Weinen brachte. „Und, zufrieden mit deinem Werk? Eigentlich müsste ich dir dankbar sein, dass du mir diesen Schotten vom Hals geschafft hast.“
„Wie ich schon sagte, ich habe es nicht für dich getan. Du bist die letzte Person auf Erden, der ich helfen würde.“
„Ja, ja, ich weiß. Du spielst einzig Duncan zuliebe die Heldin.“
„Schluss mit der Scharade, Pheli“, fauchte Mavis mit wippenden Locken. „Wir empfinden nichts als Hass füreinander und …“
„Hör auf!“, fuhr Ophelia sie an, damit keine alten Wunden aufgerissen wurden. „Da wir allein sind, könntest du ausnahmsweise mal bei der Wahrheit bleiben. Du warst die einzige wahrhaftige Freundin, die ich je hatte, und das weißt du auch. Du hattest einen festen Platz in meinem Herzen. Wäre dem nicht so gewesen, hätte ich nicht versucht, dich vor Lawrence zu beschützen, indem ich dir die Wahrheit über ihn aufgezeigt habe. Aber du hast es ja vorgezogen, mir für seine Untreue die Schuld zu geben. Wie hast du es doch gleich formuliert? Dass du dich einzig mit mir abgegeben hast, um meinen Untergang hautnah mitzuerleben. Und du nennst mich gehässig?“
„Wie ich bereits sagte, ich habe mich selbst kaum wiedererkannt“, verteidigte Mavis sich. „Aber das ist einzig dein Fehler. Deinetwegen bin ich so verbittert, dass ich mich selbst nicht mehr ausstehen kann.“
„Das stimmt so nicht. Er hat dir das angetan. Dein ach so wundervoller Lawrence. Er hat dich nur benutzt, um an mich heranzukommen. So, jetzt ist es endlich raus. Ich habe versucht, dir viel Leid zu ersparen. Angefleht hat er mich, ihn zu heiraten, während er nach außen hin dir den Hof gemacht hat. Aber ich sehe keinen Grund, warum ich dich jetzt noch vor der Wahrheit schützen sollte.“
„Du bist eine Lügnerin vor dem Herrn und besitzt die Unverfrorenheit, mich vor unseren Freundinnen als selbige zu beschimpfen.“
„Ach, auf einmal sind sie Freundinnen, diese beiden Blutsauger. Wo du doch erst heute klipp und klar gesagt hast, Jane und Edith wären nicht meine Freundinnen? Als ob ich das nicht selbst wüsste. Außerdem hast du mich an dem Tag, an dem ich dich eine Lügnerin geschimpft habe, bis aufs Blut gereizt, und das weißt du auch. Was dachtest du denn, wie lange ich mir deine boshaften, abfälligen Bemerkungen gefallen lasse, ohne Vergeltung zu üben? Du solltest doch am besten wissen, wie schnell mir der Kragen platzt. Machen wir uns nichts vor, wir wissen beide, dass Jane und Edith sich nur an mich gehängt haben, weil es en vogue ist, mit mir gesehen zu werden. Das hast du heute, als du mich so schändlich verunglimpft hast, zufällig vergessen zu erwähnen“, schnaubte Ophelia. „Du weißt genau, dass das Gegenteil wahr ist, dass alle meine sogenannten Freunde mich und meine Popularität ausgenutzt haben, um sich Vorteile zu verschaffen. Gütiger Gott, du selbst hast mich darauf hingewiesen, damals, als du noch meine Freundin warst.“
„Dachte ich es mir doch, dass du mit Ausflüchten aufwarten würdest“, entgegnete Mavis steif.
„Die Wahrheit ist keine Ausflucht“, hielt Ophelia dagegen. „Ich bin mir meiner Schwächen durchaus bewusst und weiß, dass mein Temperament zuweilen mit mir durchgeht. Und wer ist dafür verantwortlich, dass mir alle naselang der sprichwörtliche Kragen platzt?“
„Was hat das denn mit deiner Gehässigkeit zu tun?“
„Du bist doch diejenige, die davon angefangen hat, Mavis. Du hast gesagt, Jane und Edith hätten sich nur deshalb bei mir angebiedert, damit sie meiner Boshaftigkeit nicht zum Opfer fallen. Eine bodenlose Unterstellung. Möchtest du das Thema hier und jetzt diskutieren, wo du kein Publikum hast, das du mit deiner Rachsucht beeindrucken kannst?“
Mavis schnappte nach Luft. „Nicht ich bin hier die Rachsüchtige, Pheli, sondern du. So sieht es doch aus. Du hast dich gegen die beiden gewandt, und dennoch besitzt du die Frechheit, es zu leugnen.“
„Weil du die Sache aufgebauscht hast. Es stimmt, hier und da ist mein Temperament wohl mit mir durchgegangen, aber du hast leider versäumt zu erwähnen, dass die beiden höchst opportunistisch sind. Wie ihr alle. Wenn sie nicht ständig an meinem Rockzipfel hängen und mich mit falschen Komplimenten überhäufen würden, müsste ich mich nicht so häufig vergessen.“
Mavis schüttelte den Kopf. „Ich weiß gar nicht, warum ich mich überhaupt dazu herabgelassen habe, dir aufzuzeigen, was für ein Scheusal du bist. Du wirst dich nie ändern. Du warst schon immer nur mit dir selbst beschäftigt und wirst es auch immer sein.“
„Jetzt mach aber mal halblang. Wir wissen beide, warum du heute gesagt hast, was du gesagt hast. Du hast selbst zugegeben, dass du nur zum Schein meine Freundin gewesen seist, damit du meinem Untergang beiwohnen kannst. Und, bin ich untergegangen, meine Liebe? Wohl kaum. Ich werde nach London zurückkehren und einen dieser Idioten, die pausenlos beteuern, sie hätten ihr Herz an mich verloren, zum Gemahl nehmen. Aber was wird aus dir, meine Liebe? Wo sind eigentlich deine Verehrer?“
„Scher dich zum Teufel“, fauchte Mavis und stapfte aus dem Zimmer.
Ophelia schloss die Augen und kämpfte gegen die Flut der aufwallenden Tränen an. Sie hätte doch besser daran getan, gleich wieder zu gehen, statt an die entsetzliche Szene anzuknüpfen, die sich vor wenigen Stunden zwischen ihr und ihrer einstigen Freundin zugetragen hatte.
„Soll ich applaudieren? Und ich hätte schwören können, Sie beide hätten Ihren großen Auftritt bereits vorhin absolviert.“
Ophelia erstarrte. Er. O Gott, ausgerechnet er. Und das, wo sie sich in einem schwachen Moment an seiner Schulter ausgeweint hatte.
Ophelia schoss herum und hob pikiert eine Augenbraue.
„Von einem Auftritt zu sprechen, wenn wir uns allein wähnen, ist wohl kaum angemessen. Haben Sie etwa gelauscht, Lord Locke? Pfui, wie niederträchtig von Ihnen.“
Raphael Locke setzte ein unverbesserliches Grinsen auf. „Ich konnte einfach nicht anders. Ihre Wandlungsfähigkeit ist geradezu faszinierend. Vergessen ist die gepeinigte Maid, lang lebe die Eiskönigin.“
„Scheren Sie sich zum Teufel!“, entgegnete sie und bediente sich Mavis’ Abschiedsworten. Und wie ihre einst beste Freundin es vor ihr getan hatte, stapfte sie aus dem Salon.
Kapitel zwei
„Worüber hat sie geredet?“
„Warum fühle ich mich beleidigt?“
„Sie muss mit angehört haben, dass Sie über sie gesprochen haben. Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollten nicht so laut reden.“
„Mit Verlaub, aber ich tratsche nicht“, ertönte eine verächtliche Frauenstimme.
„Doch, genau das haben Sie getan. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Ein hübsches Ding wie sie wird immer Aufmerksamkeit in Form von Tratsch auf sich ziehen.“
Raphael lachte leise in sich hinein, als die entrüsteten Kommentare im Foyer an sein Ohr drangen. Die Eiskönigin – so der Spitzname, den er Ophelia Reid, der ehemaligen Verlobten seines Freundes, gegeben hatte – war so aufgebracht, dass sie der Menge im Foyer zuraunte: „Tun Sie einfach so, als wäre ich nicht anwesend. Sobald ich außer Sichtweite bin, können Sie gern weiter über mich hetzen.“ Mit diesen Worten verschwand sie im oberen Stockwerk.
Im Handumdrehen setzte das Getuschel wieder ein, dieses Mal jedoch ein wenig lauter, da sie außer Hörweite war.
Raphael und Duncan hatten sich erst nach Raphaels Rückkehr nach England kennen und schätzen gelernt. Sie waren beide etwa im selben Alter, Raphael Mitte Zwanzig, Duncan ein wenig jünger. Beide waren von großer, muskulöser Statur und attraktiv. Sah man einmal davon ab, dass sie zudem Anwärter auf einen begehrenswerten Titel waren, hörten hier jedoch die Ähnlichkeiten auch schon auf. Duncans Haar leuchtete in einem nicht eben modischen Dunkelrot, und er hatte tiefblaue Augen, während Raphael mit blonden Locken und strahlend blauen Augen gesegnet war. Anders als Duncan war Raphael nicht auf Brautsuche; er hatte auf absehbare Zeit nicht vor, sich an eine Frau zu binden. Vielleicht hatte er sich gerade deshalb mit seiner Nachbarin Sabrina Lambert angefreundet. Eine bezaubernde junge Dame, wenngleich auch keine klassische Schönheit. Dafür hatte sie andere Attribute, durch die sie bestach. Mit ihrem feinsinnigen Humor schaffte sie es sogar, niedergeschlagene Zeitgenossen wieder aufzurichten.
Mit einem Schmunzeln dachte Raphael über die Ereignisse des Tages nach. Erst hatte Mavis Ophelia in aller Öffentlichkeit die Leviten gelesen, woraufhin Ophelia in Tränen aufgelöst geflohen war. Doch das war noch nicht alles. Wenig später waren er und Ophelia sich im Obergeschoss zufällig über den Weg gelaufen, und ehe er sich versah, hatte er die bitterlich weinende Ophelia getröstet, ein Ereignis, das ihn nachdenklich gestimmt hatte. Bisher hatte er Ophelia für eine Zicke gehalten, doch so langsam zog sie ihn in ihren Bann. Auf der einen Seite war sie eine Kratzbürste vor dem Herrn, auf der anderen verletzlich wie ein Vogeljunges, das aus dem Nest gefallen war.
Als Duncan ihm plötzlich kräftig auf den Rücken klopfte, wurde Raphael aus den Gedanken gerissen.
„Was ist denn hier los?“, fragte Duncan.
„Nur das übliche Trara um Ophelia.“ Noch immer leicht abwesend wies er mit dem Kopf auf den Salon und bedeutete seinem Freund, er möge ihm folgen. „Du wirst nicht glauben, was ich eben erlebt habe“, fuhr er fort, als sie allein waren. „Nachdem Mavis mit deiner Entlobten fertig war, hat Ophelia sich erst einmal kräftig an meiner Schulter ausgeweint.“
Duncan wirkte anders als erwartet nicht sonderlich überrascht, gab aber immerhin ein lautes Schnauben von sich.
„Mir schwant, du hast noch nie etwas von Krokodilstränen gehört?“
„Doch, habe ich, aber ihre schienen mir echt zu sein. Meine Schulter ist immer noch ganz nass. Hier, fühl mal.“
„Nein, danke. Vermutlich nur Spucke“, unkte Duncan, der Raphaels Gehrock mit einem flüchtigen Blick streifte.
Raphael lachte. Schließlich war Duncan nicht dabei gewesen, hatte nicht gesehen, wie ihr die Tränen über das hübsche Antlitz gekullert waren. „Beim Allmächtigen, die sind ja echt?“, hatte er zu Ophelia gesagt und sie auf Armeslänge von sich geschoben, als sie im Flur zusammengeprallt waren. Er hatte sogar ihre nasse Wange berührt, ehe er hinzugefügt hatte: „Und Sie hatten vor, sie mit niemandem zu teilen. Ich bin beeindruckt.“
„Lassen Sie … mich“, hatte Ophelia mit erstickter Stimme geantwortet.
Doch dem Wunsch war er nicht nachgekommen. Überrascht über sein eigenes Handeln, hatte er sie mit einer unbeholfenen Bewegung an sich gezogen, damit sie sich ausweinen konnte. Er hatte geahnt, dass es unter Umständen keine sonderlich gute Idee war, doch er hatte es einfach tun müssen. Ophelias zierlicher Körper hatte vor lauter Erregung gezittert, und es war unglaublich gewesen, wie viele Gefühle sich an seiner Schulter entladen hatten.
An Duncan gerichtet, sagte er nun: „Warum immer so pessimistisch, alter Mann? Wie der Zufall es will, bin ich durchaus in der Lage, echte von falschen Tränen zu unterscheiden. Falsche Tränen lassen mich kalt, echte hingegen gehen mir kräftig an die Nieren. Ich muss nur auf mein Bauchgefühl hören.“
„Wenn Ophelia weint, würde das bedeuten, dass Mavis' verbale Attacke sie verletzt hat, aber ich habe Beweise dafür, dass dem nicht so ist“, frohlockte Duncan.
„Was für Beweise?“
„Als ich dachte, ich müsste den Rest meines Lebens an Ophelia Reids Seite verbringen, habe ich sie mit ihrer Selbstsucht und ihrer intriganten Art konfrontiert und sie unmissverständlich wissen lassen, dass ich so etwas nicht dulde. Ich habe ihr nahegelegt, sich von Grund auf zu ändern, um uns ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen. Meinst du, sie hätte irgendwelche Zugeständnisse gemacht? Nicht die Bohne.“
„Vermutlich ist sie direkt in die Defensive gegangen, weil du es falsch angepackt hast“, gab Raphael zu bedenken.
Duncan schüttelte den Kopf. „Nein, sie hat ausdrücklich betont, dass es an ihrer Art und ihrem Wesen nichts auszusetzen gebe. Das Wort nichts hat sie dabei besonders betont. Da hast du deinen Beweis. Diese zänkische Sirene wird sich niemals ändern. Darauf würde ich mein Hab und Gut verwetten.“
„Es läge mir fern, dich um deine Liegenschaften und dein Geld zu erleichtern, aber für eine kleine Wette unter Freunden bin ich stets zu haben. Ich wette fünfzig Pfund darauf, dass du dich irrst. Jeder kann sich ändern, selbst Ophelia.“
Duncan gluckste. „Sagen wir hundert Pfund. Es gibt nichts Schöneres als eine todsichere Wette. Die Frage ist nur, wie wir das Ergebnis beurteilen wollen. Schließlich reist sie in wenigen Minuten nach London ab, um dort ihr Unwesen zu treiben, und ich hoffe, sie nie wieder sehen zu müssen.“
„Eigentlich hatte ich auch vor, nach London zu reiten …“ Der Gedanke, der Raphael in diesem Augenblick in den Kopf schoss, war so erschütternd, dass er ihn selbst erst einmal begreifen musste, ehe er ihn in Worte kleiden konnte.
„Ja, und?“, brummte Duncan unwirsch.
Raphael zuckte gleichgültig mit den Schultern, um seinen Freund zu besänftigen. „Mir ist gerade etwas in den Sinn gekommen, über das ich erst noch ein wenig nachdenken muss, alter Freund.“
„Jetzt, wo ich meinem Schicksal mit diesem Scheusal entkommen bin, bin ich einfach nur froh, dass ich sie nie wieder zu Gesicht bekommen werde. Ich werde um die Hand der richtigen Frau anhalten - der Frau, die ich wirklich liebe und die ich heiraten werde, auch wenn es meiner Familie bitter aufstoßen wird. Ich lasse mir nicht mehr vorschreiben, wen ich zur Gemahlin nehmen soll.“
Raphael wusste, dass sein Freund von Sabrina Lambert sprach und davon, dass seine beiden Großväter ihn in die Ehe mit Ophelia Reid hatten drängen wollen. Er zweifelte keinen Augenblick daran, dass Sabrina annehmen würde. Duncans breitem Feixen nach zu urteilen, war er sich seiner Sache ebenso sicher. „Da ich in den nächsten Tagen viel unterwegs sein werde, wäre es das Beste, du schickst mir die Einladung nach Norford Hall. Dort wird man wissen, wo ich zu finden bin.“
Duncan nickte und begab sich auf die Suche nach seinen Großvätern, um ihnen reinen Wein einzuschenken. Als Raphael wieder allein war, kehrte er zu seiner verwegenen Idee zurück. Ihm blieben nur wenige Minuten, um eine Entscheidung zu treffen. Ophelias Kutsche konnte jeden Moment vorfahren. Entweder handelte er blitzschnell, oder er ließ es bleiben.
Kapitel drei
Ophelia sah durch das Fenster der Kutsche auf die vorbeiziehende Winterlandschaft. Das Gras war braun und die Bäume kahl bis auf einige wenige, die noch an ihren welken Blättern festhielten. Die Landschaft außerhalb der Kutsche war so trostlos wie die Gedanken innerhalb ihres hübschen Kopfes.
Hatte sie ernsthaft geglaubt, ihre Einführung in die Gesellschaft würde anders ablaufen? Sie hätte wissen müssen, dass die Männer von ihr geblendet waren, dass sie in Heiratsanträgen förmlich ertrank. Aber liebte einer dieser Männer sie? Nein. Wie denn auch, wenn keiner sie nicht richtig kannte und sich Zeit für sie nahm. Sie wollten sich lediglich mit ihr schmücken.
Und ihre Freundinnen waren keinen Deut besser. Allesamt Lügnerinnen und Heuchlerinnen. Auch sie wollten nur, dass ein wenig von ihrem Glanz auf sie abfärbte.
Ophelia hatte ein gespaltenes Verhältnis zu ihrer äußeren Hülle. Auf der einen Seite liebte sie es, dass sich keine Frau in puncto Schönheit mit ihr messen konnte, auf der anderen Seite empfand sie ihre Wirkung auf ihre Mitmenschen teils befremdlich.
Nicht nur Mavis war ihre Feindin, sondern auch die Erfindung des Spiegels, wenngleich sie selbst mehrmals am Tag ihr hellblondes Haar, den makellosen elfenbeinfarbenen Teint, die strahlend blauen Augen und ihre gleichmäßig geschwungenen Brauen studierte, die durch ein wenig Zupfen wie gemalt wirkten. Alles an ihrem Antlitz, die schmale gerade Nase, die hohen Wangenknochen, die Lippen, die nicht zu voll und nicht zu dünn waren, das kleine feste Kinn, das nur hervorstach, wenn sie störrisch war – und das war sie die meiste Zeit hatte bisher noch jeden in seinen Bann gezogen. Männer wie Frauen, wenn auch aus verschiedenen Gründen.
Ophelia warf ihrer Zofe einen flüchtigen Blick zu. Sie saßen in ihrer privaten Kutsche, die zwar nicht so groß und imposant wie die ihres Vaters war, auf dessen Türen das Wappen des Earl of Durwich prangte, doch für ihre Bedürfnisse reichte sie aus, und sie freute sich jedes Mal über die gepolsterten Samtbänke, die sie ihrem Vater abgeschwatzt hatte, und die wärmende Kohlenpfanne. Sadie, die anders als Ophelia nur einen einzigen Unterrock trug, hatte ihre kurzen, stämmigen Beine zum Schutz vor der winterlichen Kälte in eine Schoßdecke eingehüllt.
„Möchten Sie jetzt vielleicht darüber sprechen, was genau sich zugetragen hat?“, versuchte Sadie es ein weiteres Mal.
„Nein“, antwortete Ophelia schroff.
Mit einem Schnalzen fügte Sadie hinzu: „Irgendwann werden Sie es mir doch erzählen, meine Liebe. Wie immer.“
Welch eine Unverschämtheit!, dachte Ophelia bei sich. Auf der anderen Seite wusste sie, was sie an Sadie hatte, und war froh, nach langer Suche endlich eine Zofe gefunden zu haben, die ihr weder mit Ehrfurcht noch mit Angst begegnete wie ihre Vorgängerinnen. Sadie war ein Unikat. Auf harsche Befehle reagierte sie mit einem Lachen, auf strenge Blicke mit Spott. Dennoch trug sie das Herz am rechten Fleck, und als Mutter von sechs Töchtern konnte sie nichts so leicht aus der Bahn werfen, vor allem nicht Ophelias Hang zur Theatralik. Sadie war untersetzt, mittleren Alters, hatte schwarzes Haar, dunkelbraune Augen und nahm so gut wie nie ein Blatt vor den Mund.
Es war das erste Mal, dass Ophelia auf Sadies Schweigen nicht wie sonst reagierte und freiwillig mit der Sprache herausrückte, weil sie die Stille nicht ertrug – ein Makel, den sie selbst an sich verabscheute.
„Soso, Sie haben ihn also fast sprichwörtlich am Altar stehen gelassen“, sagte Sadie schließlich, deren Neugierde mit jeder Radumdrehung wuchs.
„Nein“, sagte Ophelia steif. „Und ich möchte noch immer nicht darüber sprechen.“
Doch dann tat sie genau das, wenn auch mit eisiger Stimme. „Ich habe ihm den Laufpass gegeben, weil er und sein Großvater mich zu einem Leben als Landpomeranze verdonnern wollten. Allein die Vorstellung beschert mir Übelkeit! Keine Unterhaltung, keine Zeit für Geselligkeit. Nichts als Arbeit, Arbeit, Arbeit. Und das mir!“
„Aber das war Ihnen doch schon vorher klar. Wieso haben Sie sich dann ein zweites Mal mit ihm verlobt?“
„Was hätte ich denn tun sollen?“, schoss Ophelia zurück. „Mavis hätte mich ruiniert, wenn ich mich nicht einverstanden erklärt hätte, diesen ungehobelten Rohling nicht zu heiraten.“
„Ich dachte, Sie hätten längst zugegeben, dass er kein Barbar ist. Schließlich haben Sie dieses Gerücht in die Welt gesetzt, ohne dass Sie ihn überhaupt kannten. Und das auch nur, damit es Ihren Eltern zu Ohren kommt und sie der Auflösung der Verlobung zustimmen.“
Ophelia warf ihrer Zofe einen funkelnden Blick zu. „Was hat das denn damit zu tun? Das ist doch Schnee von gestern. Außerdem hat es nicht funktioniert. Du hast mich dennoch nach Summers Glade geschleift, um ihn kennenzulernen. Und jetzt sieh dir an, wohin das alles geführt hat. Eine gedankenlose Bemerkung meinerseits, und er fühlt sich gleich in so hohem Maße beleidigt, dass er die Verlobung auflöst. Dabei stand es gar nicht in meiner Absicht, ihn zu verletzen. Schließlich kann ich ja nichts dafür, wenn er mir den Schock meines Lebens versetzt. Wieso musste er mir auch mit diesem scheußlichen Kilt unter die Augen treten? Der Anblick eines Mannes im Rock ist ein Affront für meine Augen. Es war mein gutes Recht, ihm das zu sagen.“ Ophelia beendete ihre Ausführung mit einem lauten Schnauben.
„Wenn es nicht der Kilt gewesen wäre, wäre es etwas anderes gewesen“, hielt Sadie dagegen, die Ophelia recht gut kannte.
Es fehlte nicht viel, und Ophelia hätte gegrinst. „Ich war mit den Nerven fertig. Es hieß, er hätte den Großteil seines Lebens in den Highlands verbracht. Meine Angst, er könne ein Barbar sein, war also nicht ganz unbegründet.“
„Aber irgendwann sind Sie zu dem Schluss gekommen, dass er dennoch einen passablen Gemahl abgeben würde.“
„Ich muss doch sehr bitten, Sadie. Sonst bist du nicht so schwerfällig“, sagte Ophelia mit einem anklagenden Seufzen. „Ja, eine Zeit lang kam er durchaus in die engere Wahl. Bis sein Großvater mir die Liste mit den endlosen Pflichten aufgezeigt hat, die mir durch die Hochzeit auferlegt würden. Und das ausgerechnet mir, die nichts lieber täte, als die glanzvollsten Bälle ganz Londons auszurichten. Ich bin einfach nicht für das Landleben geschaffen.“
„Soll das heißen, dass wir uns auf der Flucht befinden?“, dachte Sadie laut.
Ophelia verdrehte genervt die Augen. Wäre es in ihrem Pelzmuff nicht so kuschelig warm gewesen, hätte sie vor lauter Empörung die Hände in die Luft gerissen.
Um Sadie endlich zum Schweigen zu bringen, sagte sie: „Wenn du es unbedingt wissen willst, Mavis war diejenige, die mich vor dem größten Fehler meines Lebens bewahrt hat. Ja, wir sind auf dem Weg nach Hause, aber als Flucht würde ich es dennoch nicht bezeichnen.“
Mehr sagte Ophelia nicht, für die das Thema endgültig abgeschlossen war. Unglücklicherweise wusste Sadie genau, dass Mavis für ihre Herrin niemals aus freien Stücken in die Bresche sprang.
Da Ophelia nicht der Sinn danach stand, dieses pikante Thema weiter zu vertiefen, wechselte sie es einfach. „Ich freue mich riesig, nach London zurückzukehren. Auch wenn mein Vater alles andere als erfreut sein dürfte, dass er sich schon wieder damit abfinden muss, nun doch keinen Marquis zum Schwiegersohn zu haben.“
„Das ist noch milde ausgedrückt, meine Liebe. Er war außer sich vor Freude, als Duncans Großvater wegen der Eheanbahnung mit ihm in Verbindung getreten war. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie laut er seinerzeit seiner Freude Ausdruck verliehen hat. Die Wände im Haus haben gewackelt.“
Ophelia registrierte den Hohn in Sadies Stimme sehr wohl. Sadie hatte nicht viel für ihren Vater übrig - genau wie Ophelia. Vielleicht war dies das Geheimnis, warum die beiden Frauen sich so gut verstanden. Mit Schrecken erinnerte Ophelia sich daran, wie aufgebracht er nach der ersten Auflösung der Verlobung mit Duncan gewesen war. Er hatte ihr sogar eine kräftige Backpfeife verabreicht.
„Wenn er auf mich gehört hätte oder wenigstens mit offenen Augen durch die Welt ginge, wären uns diese vielen Unannehmlichkeiten erspart geblieben. Niemand hat ihn schließlich gezwungen, das erstbeste Angebot anzunehmen. Warum überlässt er es nicht mir, ihm einen betuchten Schwiegersohn zu finden? Einen, der sowohl seinen als auch meinen Wünschen entspricht. Aber dieser alte Narr ist viel zu verbohrt.“
„Ich sage es nur ungern, meine Liebe, aber wir wissen beide, warum er zu der Überzeugung gekommen ist, dass Sie sich niemals für einen Gemahl würden entscheiden können.“
„Ja, ja“, antwortete Ophelia zerknirscht. „Aber vergiss nicht, dass er mich seit Jahren wie ein Juwel überall herumgezeigt hat.“
„Mir schwant, seine Geduld neigt sich dem Ende zu.“
Für die Dauer eines Lidschlages sah Ophelia Sadie mit ausdrucksloser Miene an. Dann brach sie in schallendes Gelächter aus. „Und du glaubst, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm?“
„Nun ja, von Ihrer Mutter können Sie es nicht haben. Lady Mary, Gott möge mir verzeihen, braucht für jede Entscheidung rund ein Jahr, wenn man sie nicht an die Hand nimmt.“
Ophelia seufzte. Sie liebte ihre Mutter, obschon sie nicht die Stärke besaß, sich gegen ihren Gemahl aufzulehnen - egal, ob es um Nichtigkeiten oder elementare Entscheidungen wie die Zukunft ihrer Tochter ging.
„Vermutlich weiß mein Vater noch nicht einmal, dass ich mich wieder mit Duncan verlobt hatte“, führte Ophelia leise ins Feld.
„Sie haben ihn nicht darüber unterrichtet, doch ich bin mir sicher, Duncans Familie hat dies übernommen.“
„Mag sein, aber ich bezweifle, dass er einen Brief vom Marquis öffnen würde. Er war sehr ungehalten darüber, dass wir nach der ersten Entlobung geradewegs hinausgeworfen wurden.“
„Sie gehen demnach davon aus, dass unsere Rückkehr friedlich verlaufen dürfte, also ohne Zeter und Mordio?“
„Zumindest so lange, bis mein Vater davon erfährt, dass ich mich ein weiteres Mal mit ihm verlobt und jetzt entlobt habe. Vielleicht wäre es das Beste, wenn ich ihm die Nachrichten selbst überbringe.“
„Warum?“
„Weil nichts von alledem geschehen wäre, wenn er von Anfang an auf mich gehört hätte.“
„An Ihrer Stelle würde ich keine weiteren Züchtigungen riskieren, nur um ihm auf die Nase zu binden, dass Sie es von Anfang an besser wussten.“
„Lass das meine Sorge sein, Sadie.“
Die Zofe schüttelte ungläubig den Kopf und sah aus dem Fenster in die Spätnachmittagssonne, die ihre Strahlen durch eine Lücke in der dunklen Wolkenwand schickte. Ophelia hoffte, Sadie würde endlich Ruhe geben. Doch da hatte sie die Rechnung ohne ihre Zofe gemacht.
„Mavis würde sich eher ein Bein brechen, als Ihnen zu helfen. Sie ist die Verbitterung in Person. Vor allem, seitdem Sie sie als Lügnerin bezichtigt haben.“
„Das hat sie sich ganz allein selbst zuzuschreiben“, merkte Ophelia so leise an, dass Sadie sie fast nicht verstanden hätte. „Es wäre nie so weit gekommen, wenn sie mich nicht bis aufs Blut gereizt hätte.“
„Sie sind mir keine Erklärung schuldig, meine Liebe. Ich weiß nur zu gut, wie ich Mavis einzuschätzen habe. Falls es Ihnen entfallen ist, ich war es, die Sie davor gewarnt hat, dass sie Ihnen nicht wohlgesinnt ist und dass ihre wahren Gefühle eines Tages aus ihr herausplatzen und Ihnen Schaden zufügen würden. Sie haben sich lange genug mit ihr herumgeplagt.“
Als Ophelia antwortete, war ihre Stimme durch die Flut der Gefühle, die in ihrem Innern emporstiegen, noch weicher als sonst. „Sie war meine einzige echte Freundin. Ich hatte inständig gehofft, dass sie mir irgendwann für das, was ich ihr ihrer Meinung nach angetan habe, verzeihen würde. Dabei habe ich doch nur versucht, sie zu schützen.“
„Ich weiß“, antwortete Sadie mitfühlend, beugte sich nach vorn und tätschelte Ophelias Muff, in dem ihre schlanken Hände verborgen waren. „Dieser Mann, an den sie ihr Herz verloren hatte, war ein Schürzenjäger und Lump der übelsten Sorte und hat sie doch nur benutzt, um sich an Sie heranzumachen. Mehr als einmal, wenn ich mich recht entsinne, haben Sie versucht, sie zu warnen. Aber sie wollte ja nicht hören. Unter diesen Umständen hätte ich vermutlich genauso gehandelt, wie Sie es getan haben. Sie brauchte einen handfesten Beweis. Und genau den haben Sie ihr geliefert.“
„Und im Gegenzug ihre Freundschaft verloren.“
„Ob sie in der Zwischenzeit zur Vernunft gekommen ist und Ihnen deshalb zur Hilfe geeilt ist?“
„O nein“, antwortete Ophelia, die mit jeder Silbe verbitterter klang. „Sie hat es Duncan zuliebe getan. Du hättest sie hören müssen, wie sie mich durch den Dreck gezogen hat.“
Und dann erzählte sie Sadie in epischer Breite von Mavis' Verbalattacke auf ihre Persönlichkeit, die sie mehr mitnahm, als ihr lieb war. Nach wenigen Sätzen konnte Ophelia ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Genau wie nach dem Angriff ihrer ehemals besten Freundin. Doch die treue Sadie hatte Verständnis für sie, hörte ihr zu wie sonst auch und spendete ihr den Trost, den sie nötig hatte.
Kapitel vier
Raphael ließ die Zügel kräftig auf die Rücken der Pferde knallen, die vor die prunkvolle Kutsche gespannt waren, um sie zur Höchstleistung anzutreiben. Trotz der eisigen Witterung – der Wind zerrte an seinem blonden Haar und peitschte es ihm ins Gesicht – genoss er es, zur Abwechslung mal keinen Einspänner innerhalb der Stadt zu lenken.
Er war sich noch immer nicht sicher, ob sein Plan brillant oder töricht war. Für eine Umkehr war es zu spät; blieb nur zu hoffen, dass er seinen waghalsigen Entschluss nicht bereuen würde. Noch konnte er seine Meinung ändern. Ophelia war vollauf mit sich und ihrem Selbstmitleid beschäftigt und ahnte nicht einmal, dass sie und ihre Zofe sich gar nicht auf dem Weg nach London befanden, geschweige denn, dass er auf dem Kutschbock saß. Wenn er jedoch ehrlich war, wollte er seine Pläne gar nicht ändern. Zum einen wollte er Ophelia wirklich helfen, denn sie hatte sich offensichtlich in eine Lage katapultiert, aus der sie aus eigenen Kräften nicht mehr herauskam. Auf der anderen Seite hatte er natürlich ein gesteigertes Interesse daran, die Wette mit Duncan zu gewinnen. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass Raphael sich für einen Menschen in Not stark machte.
Natürlich hatte er auch ein gesteigertes Interesse daran, die Wette zu verlieren. Und die einzige Möglichkeit, sie zu bekehren, war, sie an einen abgelegenen Ort zu bringen. In London wäre seine Mission von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Zum einen würde sie ihm nicht glauben, und zum anderen würden sie nur unnötig die Gerüchteküche anheizen, wenn sie zu oft miteinander gesehen würden. Ehe er es sich versah, hieße es, sie wären verlobt.
Raphael war sich im Klaren darüber, dass sich vor ihm eine riesige Herausforderung auftat, doch er liebte es, in unbekannte Gefilde vorzustoßen. Wenn er siegte, wären alle glücklich, Ophelia eingeschlossen.
Ein Blick in den Himmel verriet ihm, dass die Sonne in Kürze untergehen würde. Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Sollte er trotz eines Gefährts, das nur mäßig für Nachtfahrten geeignet war, sein Ziel namens Alder’s Nest im Dunkel zu erreichen versuchen, oder sollte er auf einen Gasthof am Wegesrand hoffen? Das Problem war nur, dass das Domizil, das sein Großvater ihm vermacht hatte, noch Stunden entfernt lag und sie nicht einmal die Grenze von Durham erreicht hatten. Hinzu kam, dass seine Passagiere mittlerweile nicht minder hungrig sein dürften als er. Während er sämtliche Optionen abwog, fiel ihm ein, dass er bei seiner letzten Fahrt nach Northumberland – dort lag Alder’s Nest – bei seiner Tante genächtigt hatte, deren Cottage so gut wie auf dem Weg lag.
Esmeralda war die älteste der zahllosen Schwestern seines Vaters. Sie hatte seinerzeit einen Schotten zum Gemahl genommen, aber darauf bestanden, dass sie in England wohnten. Ihr Gemahl hatte zugestimmt, unter der Bedingung, dass sie sich unweit der schottischen Grenze niederließen – woraufhin sie sich ein Haus in Durham gebaut hatten. Nach dem Ableben ihres Mannes hätte Tante Esmeralda natürlich wieder in die Nähe ihrer Familie ziehen können, doch sie hatte es vorgezogen, in Durham zu bleiben, weil ihr die Gegend in all den Jahren ans Herz gewachsen war. Wie töricht von Raphael, dass er nicht schon früher an Tante Esmeralda gedacht hatte.
Wenn seine Erinnerung ihn nicht trog, war es inzwischen gar nicht mehr allzu weit bis zu ihrem Haus. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr kam er zu der Überzeugung, dass seine Tante eine fabelhafte Gesellschafterin für Ophelia abgab.
Wenn er es geschickt anstellte, konnte er Esmeralda sogar dazu überreden, ihn nach Alder’s Nest zu begleiten. Schließlich war es von nicht unermesslicher Bedeutung, dass sein doch recht impulsiver Plan keinesfalls in einem wie auch immer gearteten Skandal endete.
Zum Glück war er geistesgegenwärtig genug gewesen, sich um das größte Hindernis bei der Umsetzung seines Plans bereits gekümmert zu haben: Ophelias Eltern. Er hatte, nachdem seine Entscheidung gefallen war, in Windeseile einen Brief an das Ehepaar Reid aufgesetzt, sich den Diener geschnappt, der dafür abbestellt gewesen war, Ophelia zu fahren, und ihm aufgetragen, die Zeilen auf dem schnellsten Wege nach London zu befördern. Zugleich hatte er ihm versichert, er werde sich darum kümmern, dass jemand anders Ophelia fuhr.
Da ihre Eltern bekanntermaßen sehr von Adelstiteln angetan waren, hegte er keinerlei Zweifel daran, dass sie ihm ihre uneingeschränkte Zustimmung gäben, Ophelia vorübergehend dem Kreise seiner Familie zu überlassen. Er hatte angedeutet, dass er sie ein wenig unter seine Fittiche nehmen wolle. Sollten sie aus seinen Zeilen schließen, dass er ein tiefergehendes Interesse an ihr hatte, so war das nicht seine Schuld.
Fünf Meilen später bog die Kutsche auf eine Seitenstraße ab, und rund dreißig Minuten später fuhren sie vor dem Haus seiner Tante vor. Durch die lange Fensterfront, hinter der sich der Salon befand, sickerte warmes Licht; der Rest des Hauses war in Dunkelheit gehüllt.
Raphael wappnete sich innerlich dagegen, dass Ophelia ihm eine hässliche Szene machen würde. Erst dann öffnete er die Tür der Kutsche und bot ihr zum Aussteigen die Hand. Einem Diener, so vermutete er, würde sie ohnehin kaum Aufmerksamkeit schenken.
Dennoch erwischte er sich einen Augenblick später dabei, wie er sie angaffte. Stumm seufzte er. Obwohl sie stundenlang durchgerüttelt worden war und ihre Augen ein wenig geschwollen waren – vermutlich hatte sie weitere Tränen vergossen –, raubte ihre Schönheit ihm den Atem. Als er sie das erste Mal auf Summers Glade gesehen hatte, hätte es ihn um ein Haar aus den Schuhen gehauen. Er konnte von Glück sagen, dass er sich am anderen Ende des Salons befunden hatte, als sie denselben betreten hatte. Bis sie zu ihm und Sabrina gestoßen war, um sich vorzustellen – und das ziemlich impertinent –, hatte er sich wieder gefangen.
Just als Ophelia sich zu ihrer Zofe umdrehen wollte, trafen sich Raphaels und ihr Blick. Sie erstarrte.
„Was in Gottes Namen haben Sie denn hier zu suchen?“, platzte es aus ihr heraus. „Sind Sie mir etwa heimlich gefolgt?“
„Mitnichten, Verehrteste. Der Diener des Marquis hätte Sie nämlich lediglich bis nach Oxford gebracht, wo Sie sich auf eigene Faust um die Weiterreise hätten bemühen müssen. Der Marquis schätzt es nicht sonderlich, wenn sein Gesinde im Auftrag Dritter zu lange außer Haus weilt. Und da wir die gleiche Reiseroute haben, habe ich mich kurzerhand als Kutscher verdingt.“
„Sie haben auf dem Kutschbock gesessen?“
„Kaum zu glauben, nicht wahr?“
Ophelia schnaubte – möglicherweise, weil er ihr ein Grinsen offerierte, das an Anmaßung nicht mehr zu überbieten war. „Erwarten Sie jetzt bloß keine Dankbarkeit von mir. Schließlich habe ich Sie nicht darum gebeten, mich zu fahren.“
Es war nicht Raphaels Art zu lügen, und er mochte auch keine Menschen, die es taten. In diesem Fall jedoch gestattete er sich eine Ausnahme. Es war wichtig, dass sie noch immer davon ausging, sie befände sich auf dem Weg gen Süden.
Mit einem weiteren Schnauben steuerte sie auf die Eingangstür des Cottages zu, verlangsamte dann aber die Schritte und blieb schließlich ganz stehen. Ihr musste aufgefallen sein, dass es sich bei dem Haus nicht um einen Gasthof handelte.
Mit einem Schulterblick und Neugier in der Stimme fragte sie: „Wo sind wir?“
Raphael half noch schnell der Zofe aus der Kutsche, ehe er hochzufrieden an Ophelia vorbeischlenderte und laut an die Tür klopfte. Er hatte nicht vor, ihr zu antworten, sondern wollte sie noch ein bisschen zappeln lassen. Da er nicht ahnte, wie ungeduldig Ophelia zuweilen sein konnte, wenn man auf ihre Fragen nicht umgehend antwortete, war er fassungslos, wie vernichtend sie ihn ansah, als er sich wieder umdrehte. Es dauerte einen Augenblick, bis er seine gewohnt lässige Haltung einnahm.
„Ah, ich habe eine ziemlich große Familie, die im ganzen Land verstreut lebt. Das machte das Reisen, zumindest für mich, sehr angenehm. Wir befinden uns vor dem Haus meiner Tante Esmeralda, auch Esme genannt, wo wir die Nacht verbringen werden. Die Betten sind um einiges bequemer als in den Gasthöfen entlang des Weges, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.“
Kaum hatte er seine Ausführung beendet, öffnete sich die Tür. Vor ihnen stand der alte William und blinzelte sie durch sein winziges Sehglas an. William stand seit Esmeraldas Hochzeit vor einer halben Ewigkeit in ihrem Dienst und war so blind, wie Esme schwerhörig war.
„Wer da?“, krächzte William.
Es stimmte Raphael traurig, dass William ihn nicht auf Anhieb erkannte, schließlich verkehrte er regelmäßiger hier.
„Ich bin es, Rafe, und bitte für mich und meine Begleiterinnen um ein Nachtquartier. Wir bräuchten drei Zimmer, und eine Kleinigkeit zu essen wäre auch wunderbar. Ist mein Tantchen noch wach, oder hat sie sich bereits zur Nacht zurückgezogen?“
„Sie haben Glück, Ihre Tante ist noch auf. Sie sitzt im Salon und gibt sich größte Mühe, das Haus in Brand zu setzen, so viele Scheite knistern im Kamin. Soll ich ihr Bescheid sagen, dass Sie da sind?“
Williams Worte entlockten Raphael ein Lächeln. Seine Tante war dafür bekannt, dass sie stets fröstelte. „Bemühen Sie sich nicht, William, ich werde ihr persönlich sagen, dass …“, antwortete Raphael, wurde aber aufs Rüdeste unterbrochen.
„Wenn Sie mir dann jetzt mein Zimmer zeigen würden?“, sagte Ophelia und marschierte hoch erhobenen Hauptes durch die Eingangstür. „Ah ja, bitte servieren Sie mir mein Abendessen ebenfalls dort.“
„Wie Mylady wünschen“, antwortete William pflichtbewusst. Da der Butler Ophelias Geschmeide und prunkvolle Erscheinung wegen seines schlechten Augenlichts nicht sehen konnte, hatte er vermutlich aus ihrem anmaßenden Unterton geschlossen, dass er es mit einer Dame von Stand zu tun hatte.
Kopfschüttelnd sah Raphael Ophelia nach, wie sie die Treppe erklomm. Es wirkte geradeso, als hätte sie seine Anwesenheit vollends vergessen, was Raphael sauer aufstieß. Er war es nicht gewohnt, dass man ihn ignorierte.
„Wir sehen uns morgen früh“, rief er ihr noch nach.
„Spätestens bei Sonnenaufgang“, antwortete sie, ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen. „Ich möchte so schnell wie möglich London erreichen. Ich habe nämlich vor …“
Doch Raphael hörte sie nicht bis zum Ende an, sondern begab sich in den Salon. Insgeheim hoffte er jedoch, dass sie sich noch einmal umdrehte und sah, dass er verschwunden war. Was für eine arrogante Ziege diese Ophelia doch war!