Leseprobe Die Familie

Kapitel eins

Laura

Vorher

Ängste. Wir alle haben sie. Dieses schleichende Unbehagen. Eine Abneigung gegen etwas. Für mich sind es Spinnen. Diese Angst kam von einem Dokumentarfilm über Kellerspinnen, den ich vor vielen Jahren gesehen hatte. Diese matriphage Art weckt die kannibalischen Instinkte ihrer Kinder, indem sie diese dazu anregt, sie zu fressen. Ich hatte mich nicht losreißen können und durch gespreizte Finger zugeschaut, wie die Mutter ihren Unterschlupf umkreiste, am Netz zupfte und wackelte, um die Ur-Instinkte ihrer Nachkommen anzuregen, bis diese sie in einem rasenden Schwarm angriffen. Hunderte wuselnde Beine. Blitzende Reißzähne. Das Geräusch, wie das ausgewachsene Tier verschlungen wurde, nachdem Gift es von innen her aufgelöst hatte, hat mich nicht losgelassen. Was bewegte eine Mutter dazu, sich so zu opfern? Wie konnten ihre Kinder sich derart gegen sie wenden? Das war natürlich lange, bevor ich selbst Mutter wurde.

Von dem ersten Moment an, in dem ich Tilly sah, mit ihren winzigen Händen zu Fäusten geballt und die Augen gegen das ungewohnte Licht zusammengekniffen, wurde ich von einer Liebe verschlungen, die allumfassend war. Von einem heftigen mütterlichen Verlangen, sie, so gut ich es konnte, vor der Welt zu beschützen. Denn sie brauchte Schutz. Ich wusste, wie schädlich es da draußen sein konnte.

Ich war selbst beschädigt worden.

An diesem Morgen hatte ich aber keine Ahnung, wie ich sie vor dem Inhalt des Briefes beschützen sollte. Als ich in Richtung der Schule fuhr, schloss ich meine Finger enger um das Lenkrad, als könnte ich so das Gefühl aufhalten, dass mir alles entglitt. Konnte ich nicht.

Was sollte ich nur tun?

Ich parkte meinen rostigen Volvo zwischen zwei glänzenden Geländewagen. Horden von Kindern zogen trödelnd am Auto vorbei zu den schwarzen schmiedeeisernen Toren, die Rücken unter dem Gewicht ihrer Bücher gekrümmt. Ich rieb mir die Schläfen in dem Versuch, das Pochen hinter meinen Augen loszuwerden.

„Muss ich wirklich wieder in die Schule, Mama?“

Ich hörte die Traurigkeit in ihrer Stimme. Ich hörte sie auch in meiner eigenen, als ich sagte: „Es ist jetzt sechs Wochen her, Tilly.“ Als wäre das lange genug, um alles wieder in Ordnung zu bringen.

Das war es nicht.

Sie ging nicht gut damit um. Das tat ich auch nicht, aber ihr zuliebe gab ich mich so, als würden wir da durchkommen. Wir würden es schaffen, auch wenn ich nicht wusste, wie.

„Wir haben das doch besprochen“, sagte ich nicht ohne Wärme in der Stimme. „Es war deine Idee, an einem Freitag wieder hinzugehen, um den Einstieg leichter zu machen. Es ist nur ein Tag, Tilly.“

Sie schob sich ihre widerspenstigen dunklen Haare hinter die Ohren und blickte ängstlich aus dem Fenster. Ihr Gesicht sah kleiner aus, ihre Haut war aschfahl, dunkle Ringe lagen unter ihren blutunterlaufenen Augen. Sie hatte das Angebot einer Beratung abgelehnt und sich so lange in ihrem Zimmer verkrochen, dass es jetzt überwältigend für sie war, wieder in der Außenwelt zu sein.

„Du hast jetzt schon so viel Stoff nachzuholen. Aber wenn du es wirklich nicht schaffst, werde ich dich nicht zwingen. Du kannst stattdessen mit mir kommen und im Laden helfen. Es ist Zeit, sich wieder in die echte Welt zu begeben.“ Ich sprach langsam, bedacht, als wären die Worte rau und würden mir den Mund wundscheuern. Unser Opferschutzbeauftragter hatte gesagt, es wäre am besten, eine Routine zu formen, um wieder so etwas wie Normalität zu finden, aber stimmte das? Manchmal war das Elterndasein reine Folter. Ich drehte mich im Kreis wie ein Vogel mit einem gebrochenen Flügel. Aber Tilly lernte gerade für ihren Abschluss. Es war ein so wichtiges Jahr. Außerdem wäre sie in der Schule mit Rhianon zusammen. Und auch wenn ich wusste, dass die beiden Cousinen nicht mehr untrennbar waren, hoffte ich, dass sie, fernab von all dem Familiendrama, anfangen könnte, zu heilen.

Das hatten wir alle bitter nötig.

Na gut.

Es war schwindelerregend, wie schnell sie zwischen Traurigkeit und Wut hin und her wechselte, aber ich wusste, dass das zu der Trauer, die sie durchmachte, dazugehörte.

Sie stieß die Autotür auf. Ein langes Seufzen entwich den Lippen, die aufgehört hatten, zu lächeln.

„Warte“, rief ich und schnappte ihr Mittagessen vom Rücksitz. „Wenn es zu viel wird, kannst du mich jederzeit anrufen.“ Sie riss mir die Tupperwaredose aus den Händen, ihre Miene so hart wie das Plastik.

„Versuch, einen guten Tag …“, das Zuknallen der Autotür riss meinen Satz auseinander, „… zu haben.“ Ein Kloß in meinem Hals hinderte mich daran, sie zurückzurufen. Was hätte ich sagen können, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen? Sie stapfte davon, ohne sich noch einmal umzusehen, von ihrem schwarzen Wintermantel erdrückt, der sich beim Gehen um ihre Knöchel wickelte. Sie hatte an Gewicht verloren. Ich hatte ihr halb gegessenes Frühstück wieder im Mülleimer gefunden. Die braun anlaufende Bananenschale war mit Staub der Rice Krispies bedeckt, die sie mit dem Löffel zerdrückt hatte. Sie hatte Milch noch nie ausstehen können.

Sie ging gebeugt unter dem Gewicht ihres Rucksacks und der Welt auf ihren Schultern, als sie die Straße überquerte, ohne auf das Aufleuchten des grünen Mannes auf der Fußgängerampel zu warten. Ich überlegte, sie zurückzurufen, aber ich wusste, dass sie sich nicht für immer verstecken konnte. Sollte sie mich anrufen, konnte ich im Handumdrehen wieder da sein, aber ich wusste, dass sich manchmal selbst nur sechzig Sekunden wie eine ganze Ewigkeit anfühlen konnten. Der Wunsch, sie zu beschützen, wie ich in ihrem Alter nicht beschützt worden war, war heftig und stechend, schien aber nach dem Brief heute Morgen noch unerreichbarer als zuvor.

Tilly mischte sich in die Schar der Kinder, die über die orangefarbenen Herbstblätter auf dem Bürgersteig liefen. Ich musste an die Zeiten zurückdenken, in denen Gavan und ich auf der Suche nach schimmernden Kastanien durch den Wald streiften, Tilly mit ihren Gummistiefeln und kleinen Handschuhen an uns gekuschelt. Der Geruch von Moos und Erde. Es war noch immer alles ganz klar für mich, die Freude daran greifbar.

Eins, zwei, drei, hoch! Wir schaukelten sie vor und zurück und sie klammerte sich fest wie ein Baby-Affe. Ihr ansteckendes Kichern brachte Gavan und mich zum Lachen. Auch als sie irgendwann älter und zu schwer wurde, zog sie die Knie an die Brust, damit ihre Füße nicht auf dem Boden schleiften, als könnte sie selbst nicht ganz akzeptieren, wie groß sie geworden war. Ich sah ihr jetzt zu, wie sie die trostlose graue Treppe hinaufging, und hatte Mühe, dieses unbekümmerte, lachende Kind von vor scheinbar fünf Minuten mit dieser ernsthaften Siebzehnjährigen in Verbindung zu bringen. Sie war jetzt eine junge Frau, für mich fast verloren. Die Zeiten, in denen ich ihre Welt mit einer Tasse heißer Schokolade und einer Umarmung wieder heil machen konnte, waren lange vorbei, und ich sehnte mich nach ihnen zurück.

Der Schulpolizist mit dem ungleichmäßigen Bart und struppigen Pferdeschwanz, der vor der weiterführenden Schule jeden Tag um 8.45 Uhr und 15.15 Uhr mit einer Leidenschaftlichkeit patrouillierte, die selbst eine Löwenmutter in den Schatten stellte, rannte halb auf mich zu. Rational wusste ich, dass er mich nur zurechtweisen würde, weil ich im Halteverbot stand, aber trotzdem zitterten meine Hände, als ich die Handbremse löste. Eine Polizeiuniform zu sehen, löste in mir jedes Mal eine heftige körperliche Reaktion aus, wie eine Schlange stieg die Übelkeit in mir hoch. Ich raste davon, bevor er das Auto erreichte, und erst, als er im Rückspiegel nicht mehr zu sehen war, beruhigte sich mein Atem.

Polizisten würde ich immer mit schlechten Neuigkeiten verbinden.

Mit endlosen, endlosen Fragen.

Manchmal vermischte sich alles zu einer einzigen wirbelnden Masse. Die Vergangenheit. Die Gegenwart. Unmöglich voneinander zu trennen.

Die Angst hatte mich nie wirklich verlassen. Im Moment verbarg sie sich in der Schicht zwischen Haut und Fleisch und wartete geduldig auf den nächsten Auslöser. Auf die Gelegenheit, zuzuschlagen.

Ich weiß es nicht mehr.

Und manchmal konnte ich mich bewusst wirklich nicht mehr erinnern. Die Lüge wurde zu meiner Wahrheit und der Druck in meinem Kopf unerträglich.

Und dann, verborgen im Schatten der Nacht, zerrte mich die Vergangenheit mit knochigen Fingern zu sich und ich schrie und trat um mich, bevor ich aufwachte. Die Decke zerknüllt auf dem Boden. Der Schlafanzug nass geschwitzt. Und allein.

Immer allein.

Die Narbe auf meiner Stirn pochte als Erinnerung an meine Hilflosigkeit.

Auf dem Weg zur Arbeit war ich wieder erfüllt von Gedanken an den Brief.

Was sollte ich nur tun?

Kapitel zwei

Laura

Die Erkenntnis, dass ich die Tür nur noch wenige Male aufschließen würde, brannte wie Desinfektionsmittel auf einer offenen Wunde.

Ich saugte alles auf. Das Licht, das durch die Fenster hereinschien, als der Tag an Kraft gewann. Der Wind, der das Schild mit der Aufschrift „Lauras Blumen“ küsste und es vergnügt knarren ließ. Der Schlüssel, der sich perfekt in meine Hand schmiegte, als sollte er für immer mir gehören. Aber schon bald würde er der Schlüssel eines anderen sein. Das alles der Traum eines anderen.

Die Tür war mit trockenem Eigelb verschmiert. Ich beschloss, dass es von den Kindern stammen musste, die gestern für Süßes oder Saures durch die Straßen gewandert waren, gehüllt in schwarze Umhänge und mit Plastikzähnen, die gegen blutverschmierte Lippen drückten. Ich sollte wirklich aufhören, so viel in alles hineinzuinterpretieren.

Aber die Nervosität ließ mich nicht los, trotz des tröstenden Geruches nach Blumen, der mich nach dem Eintreten umgab wie eine Umarmung.

Ich konnte nicht glauben, dass es vorbei war.

Als ich den Laden vor zehn Jahren eröffnete, hatte ich geglaubt, dass ich ihn eines Tages an Tilly vererben würde oder vielleicht sogar an meine Nichte Rhianon, die so viel Zeit bei uns zu Hause verbrachte wie Tilly bei ihr. Sie liebten es, zu gärtnern, nebeneinander kniend, Dreck unter den Fingernägeln, den Spaten in der Hand. Sie hatten ein eigenes Blumenbeet in einer Ecke unseres Gartens, das sie stets umgruben. Sie pflanzten Löwenzahn und Primeln, weil sie so sonnengelb strahlten; rupften Anemonen und Astern aus, die noch nicht geblüht hatten; schenkten mir ein zahnlückiges Lächeln, wenn ich Kirsch-Eis verteilte. Als sie zu Teenagern heranwuchsen, verwilderte ihre Ecke des Gartens nach und nach, ihr Begeisterung für Blumen schien verloren. Zum ersten Mal war ich froh darüber, dass sie nicht in meine Fußstapfen folgen und den immerwährend sorgenvollen Weg eines Einzelhändlers gehen wollten – schleppende Geschäfte und zu viele Rechnungen.

Ich sammelte ein Bündel brauner Umschläge von der Fußmatte auf und bemerkte einen roten Stempel: Letzte Mahnung. Ich ließ alles auf die Theke fallen. Einst glänzend poliert, war sie jetzt von einer dünnen Staubschicht bedeckt. In den letzten sechs Wochen war ich mehr zu Hause gewesen als im Laden, ich wollte für Tilly da sein. Aber es war nicht leicht, zu wissen, wie ich das tun sollte, wenn sie sagte, dass sie ihre Ruhe brauchte. Ich war durch das Haus gewandert wie ein Geist. Hatte Gavans Dinge berührt wie einst sein Gesicht und mich gefragt, wer ich war, wenn nicht die Frau von jemandem. Jemandes Tochter war ich schon seit langer Zeit nicht mehr.

Seit Wochen war mir schlecht, als säße ich in einem schaukelnden Boot auf stürmischer See, aber als ich den Laden betrat, war es für einen kurzen Moment so, als hätte ich die Ruhe gefunden, die nach dem Sturm kommt. Der Laden gab mir den Raum, meine Tränen fließen zu lassen – ungefiltert und echt, ohne stark für Tilly sein zu müssen.

Hier konnte ich fühlen.

Wie jeden Morgen sah ich in den Terminkalender, obwohl ich wusste, dass nichts drinstand. Der Schmerz hinter meiner Stirn pulsierte heftiger. Es war nicht nur die Tatsache, dass ich in letzter Zeit öfter geschlossen als offen gehabt hatte, die dem Geschäft schadete. Vor zehn Monaten war der Skandal herausgekommen und die Lokalzeitungen hatten ihre sorgfältig formulierten Schmähungen gedruckt, voll mit „angeblich“ und „möglicherweise“, die meine Familie in die Knie zwangen. Sie druckten, dass Gavan zwar aus Wales war, meine Mutter aber aus England, als würde das etwas ausmachen. Sie wollten sagen, dass ich nicht nach Portgellech gehörte, diesen einst so belebten Fischerort, in dem Fischer heute ein so seltener Anblick waren wie die Rotmilane, die früher über der grauen, kargen Küste durch die Lüfte glitten. Die Menschen rückten enger zusammen, manche nannten mich sogar „die Engländerin“, obwohl ich mein ganzes Leben hier gewohnt hatte. Sie begannen, ihre Blumen im Supermarkt zu holen, an der Tankstelle – egal wo, schien es, nur nicht bei mir.

Aber das war nicht ganz fair. Wenn man die dicke Schicht Selbstmitleid abkratzte, die ich wie eine zweite Haut trug, musste ich anerkennen, dass ich mit den Preisen eines Supermarktes oder der Bequemlichkeit und Schnelligkeit von Online-Bestellungen einfach nicht mithalten konnte. Vielleicht war der Laden immer zum Scheitern verurteilt gewesen und die ganze Sache mit Gavan hatte alles nur beschleunigt. Aber wahrscheinlich interpretierte ich gerade wieder zu viel in alles hinein. Diese Zeit des Jahres war bekanntermaßen ruhig. Die Hochzeitssaison war vorbei und bis Dezember gab es immer eine Flaute.

Da werde ich aber nicht mehr hier sein.

Ich durchwühlte die mit Geschenkband und gepunktetem Zellophan vollgestopften Schubladen auf der Suche nach Tabletten gegen meine Kopfschmerzen. Dann bimmelte die Glocke, weil sich die Tür öffnete. Ich sah auf. Mein Optimismus verflog, als ich sah, dass es kein Kunde war, sondern zum dritten Mal diese Woche Saffron.

„Es tut mir sehr leid.“ Ich drückte zwei Paracetamol aus ihrer Verpackung. „Ich habe nicht viele verkauft.“ In Wahrheit hatte ich von den Oak-Leaf-Farm-Biogemüsebeuteln, die Saffron mir als Versuch mitgebracht und mir zwanzig Prozent des Gewinns versprochen hatte, noch keinen einzigen verkauft, aber wegen meines schlechten Gewissens hatte ich wieder zwei für mich selbst genommen. Die Gemüseschublade meines Kühlschranks war mit laschen Karotten und braun werdenden Pastinaken gefüllt.

„Nicht schlimm. Eine Floristin ist wohl nicht der erste Hafen, den man anläuft, wenn man Essen kaufen möchte.“ Ihre Mundwinkel hoben sich kurz zu einem angespannten Lächeln.

„Heutzutage ist es nicht einmal der erste Hafen, den man zum Blumenkaufen anläuft.“ Ich verzog das Gesicht, als ich die Tabletten trocken hinunterschluckte.

„Solange Amazon nicht anfängt, Bouquets zu verkaufen, kommst du schon klar.“

„Die verkaufen schon Blumen.“

„Dann bist du am Arsch.“ Ihr Haar, eine Masse dichter schwarzer Locken, wippte im Takt ihres hohlklingenden Lachens auf und ab. Sie sah so müde aus, wie ich mich fühlte, und ich wusste, dass sie trotz ihrer Witze genauso besorgt war wie ich. Es war schwer, ein kleines Unternehmen zu führen.

„Es gibt keine Hoffnung für unabhängige Geschäfte, oder? Nicht, wenn die Kunden wollen, dass alles rund um die Uhr verfügbar ist“, sagte ich.

„Ist es das denn nicht?“ Sie hob das Kinn und tat so, als würde sie ihre Augen gegen die Sonne abschirmen, um den Himmel nach etwas abzusuchen. „Ist es ein Vogel? Ist es ein Flugzeug? Nein, es ist eine Lieferdrohne.“

Ich lachte nicht.

„Danke für den Tipp, den du mir letzte Woche gegeben hast, Laura.“ Sie pflückte eine weiße Rose aus dem Eimer neben der Theke und atmete tief ein. „Das neue Café um die Ecke hat eine Dauerbestellung für Kartoffeln aufgegeben. Ich esse nur zu gerne eine gute gefüllte Ofenkartoffel.“ Sie tätschelte ihren unglaublich flachen Bauch. In zehn Jahren würden sich die Kohlenhydrate auf ihren Hüften bemerkbar machen, so wie sie es bei mir getan hatten, als ich dreißig wurde.

Saffron plapperte munter weiter und ich versuchte, meinen Teil des Gesprächs zu erfüllen. Normal. Ich konnte normal sein, aber meine Gedanken wanderten immer wieder zu dem Brief zurück. Adrenalin kochte in mir hoch und wieder herunter. Saffrons Sätze wurden bruchstückhaft. Ihre Worte entglitten mir.

„Laura?“ An der Art, wie sie meinen Namen sagte, wurde mir klar, dass sie mich etwas gefragt hatte. Ihre Stimme klang, als wäre sie sehr weit weg. Ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, aber sie hatte eine seltsame Tönung. Trotzdem schrieb ich meine Desorientierung dem Stress zu. Meiner Trauer. Erst, als ein ekelhaft süßer Geruch meine Nase kitzelte, kam mir der Gedanke, dass es wieder passierte, aber die Vorstellung war unmöglich, das letzte Mal war so lang her. Aber ich wusste, dass ich recht hatte, als der Schwindel einsetzte, meine Arme und Beine wild um sich schlugen. Ich wusste nicht, wann die Dunkelheit mich verschlang und ich auf den Boden fiel, ich erfuhr erst später, dass es passiert war. Zeit wurde unwichtig. Es konnten Sekunden, Minuten, Stunden vergangen sein, bevor ich mir einer weit entfernten Stimme bewusst wurde. Ein seltsames Rasseln dröhnte mir in den Ohren – meine eigenen panischen Atemzüge. Ein Engel – ein verschwommenes strahlend weißes Licht. Ich dachte, ich würde sterben.

Ich dachte, ich würde schon wieder sterben.

Aber als sich mein Blick fokussierte, sah ich, dass es Saffron mit ihrer weißen Jeans und ihrem weißen Pullover war. Ihr besorgtes Gesicht schwebte über meinem.

„Geht es dir gut?“ Ihre Hand lag auf meiner Schulter.

Ich versuchte zu sprechen, aber mein Mund war voller metallischem Blut. Ich hatte mir auf die Zunge gebissen.

„Ich rufe einen Krankenwagen.“ Irgendwie beruhigte mich die Panik in ihrer Stimme.

„Nein.“ Ich setzte mich hin. „Bitte nicht.“ Behutsam betastete ich meinen Hinterkopf an der Stelle, an der ich auf den Boden aufgeschlagen war. Ich wusste aus Erfahrung, dass ich später Schmerzen und blaue Flecke haben würde, aber im Moment fühlte ich hauptsächlich Scham, als ich versuchte, wieder auf die Füße zu kommen. „Das war ein Krampfanfall. Die hatte ich früher schon.“ Aber das war Jahre her, noch bevor meine Eltern mich verstoßen hatten. Als hätte mein Körper mit einem umgekehrten Schock reagiert, statt weiter auseinanderzufallen, hatte er sich wieder repariert. Vielleicht war Gavans Tod der Grund dafür, dass die Anfälle zurückkamen. Er war der Grund für so viele Dinge gewesen. Ich musste wieder an den Brief denken und das brachte das Fass zum Überlaufen. Ich begann zu weinen.

„Es tut mir so leid.“ Saffron schaute mich betroffen an. „Das sah furchtbar aus. Ich wusste nicht, ob ich erst den Notruf wählen, oder dir helfen sollte. Es ging alles so schnell.“

Ich war benebelt und desorientiert. Es fühlte sich an, als wäre ich stundenlang bewusstlos gewesen, aber in Wirklichkeit war es wahrscheinlich weniger als eine Minute.

„Wie geht es dir?“, fragte sie zweifelnd. Sie hielt immer noch ihr Handy fest umklammert.

Krank. Erschöpft. Verängstigt.

„Gut. Ehrlich, im Krankenhaus können sie auch nichts für mich tun.“ Eine Pause entstand und ich fürchtete, sie würde auf einem Arzt bestehen, mit allen Konsequenzen, die das mit sich bringen würde. „Du könntest mir aber etwas Wasser bringen.“ Ich setzte mich auf den Hocker, die Ellenbogen auf die Theke gestützt, den Kopf in meinen Händen. Sekunden später stellte sie ein Glas vor mir ab und es fühlte sich an wie eine schwere Last, als ich es an meine trockenen Lippen hob und trank. Ich wischte das Rinnsal, das mir das Kinn hinunterlief, mit dem Ärmel weg. „Du kannst fahren. Ich schließe hier alles ab und mache mich auch auf den Weg nach Hause.“ Ich war vollkommen ausgelaugt, als wäre ich von Elektrizität angetrieben und mir hätte jemand den Stecker gezogen.

Saffron blieb unsicher stehen. „Ich könnte dich nach Hause bringen?“

Ich zögerte. Ich hatte Saffron erst ein paar Mal getroffen und wollte ihr keine Unannehmlichkeiten bereiten, wäre aber selbst eine Gefahr im Straßenverkehr. „Ich rufe eine Freundin an, dass sie mich abholt.“

Ich brauchte nicht lange, um durch meine Kontaktliste zu scrollen. Selbst wenn man über die aktuellen Ereignisse hinwegsah, Gavan und ich waren ein Paar gewesen, das all seine freie Zeit nur miteinander verbrachte, deshalb hatte ich nicht viele Freunde. Ich zögerte, als ich bei Anwyns Namen ankam. Meine Schwägerin und ich waren uns einst sehr nahe gewesen, aber mittlerweile sprach unsere zerbrochene Familie kaum noch miteinander. Trotzdem rief ich sie an, und es klingelte und klingelte, bevor ihr Anrufbeantworter ansprang. Ich stellte mir vor, wie sie meinen Namen auf dem Display aufleuchten sah und sich entschied, nicht ranzugehen.

Ich hinterließ keine Nachricht.

Die Ladenglocke bimmelte. Ich hob meinen schweren Kopf. Saffron hatte die Tür leicht geöffnet, ich hatte fast vergessen, dass sie noch hier war.

„Bist du sicher, dass es dir gut geht? Ich könnte mit deinem Auto fahren und meins später hier abholen. Es macht mir wirklich nichts aus.“

Es ging mir so schlecht, dass ich gar nicht darüber nachdenken wollte, den Bus zu nehmen, und ein Taxi konnte ich mir sicher nicht leisten.

„Ja, bitte“, sagte ich. „Das wäre gut.“

Aber es war überhaupt nicht gut.

Drei ist eine mächtige Zahl. Auch wenn ich es damals noch nicht wusste, lernte ich es später. Drei Männer mussten drei Dinge beobachten: eine Schöpfung, eine Zerstörung und einen Wiederaufbau – Noah, Daniel und Hiob. Das Römische Reich hatte drei Gründer. Es waren drei Entscheidungen, die mein Leben ruinierten.

Manchmal, wenn etwas Schreckliches passiert, durchforstet man seine Erinnerungen in dem verzweifelten Versuch, den einen Moment zu finden, in dem alles so fürchterlich, fürchterlich schiefging.

Dass ich Ja sagte, war der erste Fehler, den ich machte.

Zwei weitere sollten folgen.

Kapitel drei

Tilly

Sie hatten in den sechs Wochen, in denen ich nicht da gewesen war, die Klassenzimmer gewechselt. Als ich herausgefunden hatte, wo mein Englischkurs stattfand, war ich zu spät.

„Entschuldigung“, murmelte ich Mr Cranford zu.

Und statt mich wie sonst mit seinem Atem, der nach abgestandenem Kaffee roch, anzuschnauzen, sagte er: „Kein Problem, Tilly. Es ist schön, dich wieder hier zu haben.“ Seine Worte trieften vor Mitgefühl und irgendwie war das schwerer auszuhalten, als wenn er mich anschreien würde.

Alle guten Plätze waren schon weg. Rhianon saß mit Ashleigh, Katie und Kieron hinten. Katie und Kieron saßen aneinandergelehnt da, die Köpfe einander zugewandt, und ich wusste, dass sie mittlerweile mehr als nur Freunde waren. Der Gedanke an seine Lippen auf ihren brach mir das Herz von Neuem. Erst vor ein paar Monaten war ich es gewesen, der er sagte, dass er mich liebte, während seine Finger unter meine Bluse und in meinen BH wanderten.

Meine Güte, Tilly, reiß dich zusammen.

Ich ließ meinen Rucksack neben einem Tisch in der ersten Reihe fallen. Der Stuhl schrammte laut über den Boden, als ich ihn zu mir heranzog. Mr Cranford wartete mit dem Filzstift in der Hand, bis ich mich gesetzt hatte, bevor er weitermachte.

„In diesem Halbjahr werden wir uns mit Othello beschäftigen.“ Allgemeines Gemurre brach aus. „Aber, aber, das muss doch nicht sein. Theater ist eine der ältesten Formen von Unterhaltung.“ Sein Stift quietschte, als er „Shakespeare“ an die Tafel schrieb. „Nichts geht über eine gute Tragödie …“ Er hielt inne. Unsere Blicke begegneten sich. Seiner war entschuldigend. Ich merkte, wie meine Augen sich mit Tränen füllten. Schnell redete er weiter. „Theaterstücke waren für alle zugänglich und günstig …“

Ich hörte nicht mehr zu. Meine Gedanken wanderten zu dem „Theater“, das Papa mir und Rhianon gebaut hatte, indem er zwei große Stücke aus einem Pappkarton ausschnitt und sie rot anmalte. Mamma hatte zwei vergilbte Gardinen an einen Draht gehängt. Unser Publikum, bestehend aus Onkel Iwan, Tante Anwyn, Mama und Papa, stand an der Tür Schlange und Rhianon kassierte die glänzenden Fünzig-Cent-Stücke. Die Hauptdarsteller waren die Stoffaffen Dick und Doof – meiner war türkis-weiß gestreift, Rhianons rot gepunktet –, die wir von einer Seite zur anderen wandern ließen, während wir irgendwelchen Unsinn plapperten, den wir urkomisch fanden. Es gab nie ein Skript.

Ich warf einen Blick über meine Schulter, davon überzeugt, dass Rhianon gerade an dieselbe Erinnerung zurückdachte, aber ich sah nur ihren Hinterkopf. Ihr langes blondes Haar floss seidig über ihre Schultern. Sie hatte sich umgedreht, um Katie und Kieron in der letzten Reihe etwas zuzuflüstern. Mein Magen drehte sich um bei dem Gedanken, dass es etwas über mich sein könnte.

Es war schwer zu sagen, wann genau wir uns aus den Augen verloren hatten. In letzter Zeit war sie nicht mehr vorbeigekommen, aber schon die Male davor hatte sie mehr Zeit in der Küche mit Mama verbracht als mit mir. Wenn ich Mama beim Abendessen anblaffte, weil sie mich mit endlosen Fragen zu meinem Tag löcherte, rollte Rhianon mit ihren Augen. Einmal sagte sie sogar: „Sprich nicht so mit deiner Mutter.“ Sie hatte es schwer zu Hause, das wusste ich. Ihre Eltern stritten sich immer und bei uns war es ruhiger. Mama hörte Rhianon zu. Mama hörte immer allen geduldig zu. Manchmal dachte ich, dass Rhianon neidisch auf meine Beziehung zu Mama war, weil ihre eigene mit Tante Anwyn so angespannt und schwierig schien. Aber Teenager hatten eben nicht immer ein enges Verhältnis mit ihren Müttern, oder? Aber sogar ich konnte sehen, dass Tante Anwyn sich verändert hatte. Sie war wütender geworden, geradezu hasserfüllt. Ich glaube, es hatte mit dem Shitstorm wegen Papas und Onkel Iwans Baufirma angefangen. Irgendwie hing alles damit zusammen. Ich wusste nicht alle Einzelheiten, weil meine Eltern mir nur die Informationen gaben, von denen sie dachten, dass ich sie wissen musste, aber Ashleighs Eltern hatten eines ihrer Häuser auf einem neuen Anwesen gekauft. Das Problem war, dass es auf dem Gelände einer ehemaligen Müllhalde gebaut worden war. Ashleigh wurde krank. Sie hatte nicht eine einfache Erkältung, sondern sie wurde richtig krank. Leukämie. Das brachte alles ins Rollen. Es war Monate her, aber ich hatte die Erinnerung noch klar vor Augen: Katie, die auf einem Stuhl stand und sowohl ihre Stimme als auch ihre fein gezupften Augenbrauen hob.

„Hört alle mal zu. Ashleigh ist im Krankenhaus, weil Tillys Vater auf giftigem Land gebaut hat. Es ist seine Schuld, dass Ashleigh krank ist. Vielleicht stirbt sie. So richtig.

Die anderen Kinder fingen an, mich zu beschimpfen. Ich hob die Hände.

„Es war doch kein giftiges Land. Also, es gibt doch diese ganzen Sicherheitschecks, bevor man anfangen kann zu bauen, oder, Rhianon?“ Ich drehte mich zu meiner Cousine, unsere Väter führten die Firma immerhin gemeinsam.

„Weiß nicht. Mein Vater hatte aber keine Ahnung von der Geschichte des Grundstückes. Er kümmert sich nur um die Finanzen.“ Ich glaube, ich war die Einzige, die die Angst in ihrer Stimme hören konnte, die Unsicherheit in ihren Worten, aber das war‘s. Ich wurde ausgeschlossen. Isoliert. Ignoriert, und das von allen, außer ironischerweise Ashleigh. Als die nach ihrer Behandlung zurückkam, war sie zwar nicht gerade freundlich, aber auch nicht unfreundlich zu mir. Mit ihrer Krankheit und der Tatsache, dass sie und ihre Eltern sich mit ihren Großeltern in ein Haus quetschen mussten, während der Neubau umfassend geprüft wurde, hatte sie bessere Gründe, mich zu hassen, als irgendjemand sonst, aber sie behandelte mich genau so wie davor auch schon. Wenn wir an den Spinden gelegentlich nebeneinander standen, grüßte sie mich und sie nickte mir zu, wenn wir uns in der Stadt begegneten. Es waren ihre Eltern, die wütend waren und einen Sündenbock suchten, das war mir klar. Dass die Lokalzeitungen etwas brauchten, über das sie berichten konnten, war mir auch klar. Meine Schulkameraden, die ich für meine Freunde gehalten hatte, und ihre Eltern zu verstehen, fiel mir schwerer. Die Gemeinde veranstaltete einen Sitzstreik auf der halbfertigen Baustelle und verteilte Petitionen. In Sozialkunde hatten wir einmal untersucht, was Menschen dazu bewegte, an Protesten teilzunehmen. Oft fühlten sich solche Leute durch irgendetwas benachteiligt oder ihnen war ein Unrecht geschehen. Es musste noch nicht einmal etwas mit dem Protest zu tun haben, an dem sie teilnahmen. Das Teilen von Gefühlen wie Mitleid und Empörung ließ sie zueinanderfinden. Gab ihnen den Eindruck, Teil von etwas Größerem zu sein, das vielleicht Dinge zum Guten verändern konnte. Vielleicht waren sie aber auch nur verdammt wütend. Oder, im Falle unserer Schule, sie hatten Angst vor Katie. Aber was ich einfach nicht verstehen konnte, war, was für eine Kluft sich in unserer Familie aufgetan hatte. Tante Anwyn und Onkel Iwan gaben Mama und Papa die Schuld daran, dass sie das Land gekauft hatten, als hätten die beiden gar kein Mitspracherecht gehabt.

„Ich bin nur für das Geld zuständig, sagte Onkel Iwan. „Du suchst die Grundstücke aus und ich berechne die Kosten.“

Und je schlechter es dem Geschäft ging, desto schlechter ging es uns allen. Niemand wollte mehr von Papa kaufen oder an ihn verkaufen, und seine Bauprojekte blieben unfertig. Onkel Iwan nahm einen Job bei einer Firma der Konkurrenz an. Der Spalt zwischen uns wuchs, bis es schien, als wären Mama, Papa und ich allein gegen die Welt. Meine Achtung vor Papa war erschüttert, aber nicht gebrochen. Damals zumindest.

Der Gong läutete zur Mittagspause. Ich bemerkte, dass ich im Unterricht überhaupt nicht aufgepasst hatte. Um beschäftigt zu wirken, öffnete und schloss ich meinen Rucksack, bis Rhianon an meinem Tisch vorbeikam.

„Hi.“ Ich passte mich ihren Schritten an. Sie hatte mich nie vollkommen ignoriert und ich hoffte, dass sie nicht jetzt damit anfangen würde.

„Tilly.“ Mr Cranford winkte mich zu sich. „Ich möchte kurz mit dir darüber reden, was du alles nachzuholen hast.“

Ich ging zu seinem Schreibtisch, in der Hoffnung, dass Rhianon vielleicht auf mich warten würde. Aber stattdessen schlüpfte sie mit ihrer neuen Freundesgruppe aus dem Klassenzimmer. Katie grinste, als sie Kierons Hand ergriff. Mit der anderen Hand tat sie so, als würde sie sich mit dem Finger die Kehle durchschneiden, und ich wusste genau, wie ich dastand.

Allein.