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Entfernter Donner grollt über die Ebene. Der Himmel über dem Waldrand hat sich in ein dunkelgraues Ungetüm verwandelt. Regen prasselt an mein Fenster, und durch die nasse Scheibe wirkt die Umgebung von Wolfberry leicht verschwommen.
Ich beobachte, wie meine Mutter ins Haus eilt, den Schirm schützend vor sich haltend, weil der Wind ihr die Nässe regelrecht ins Gesicht bläst. Als sie unter das Vordach läuft, verliere ich sie aus den Augen.
Ich werfe einen Blick auf meinen Schreibtisch, wo die Unterlagen der Universität von Calgary liegen. Wüsste mein Vater, dass ich sie noch nicht einmal ausgefüllt habe …
Mit einem Seufzen wende ich mich ab, gehe zu meiner Schminkkommode, die einst meiner Tante gehört hat. Ich setze mich auf den Stuhl davor, zeichne mit dem Zeigefinger die Verschnörkelungen im Holz nach. Um mich abzulenken, sortiere ich meine Pastellnagellacke, puste den Staub von der Ablage, schiebe mein Schminktäschchen von einer Seite zur anderen, weil ich dafür einfach nie einen Platz finde, an dem es mich nicht stört. Denn ich nutze die Kommode nur selten, um mich aufzuhübschen. Eigentlich fertige ich hier Traumfänger und Schmuck an.
Ich schrecke auf, als ich höre, wie jemand die Treppe hochkommt. Rasch klaube ich die Dokumente der Universität zusammen, verberge sie in einer Schublade meines Schreibtisches, der vor Lernbüchern überquillt.
Ich lausche in Richtung Korridor, doch meine Mutter geht an meinem Zimmer vorbei. Ich erkenne sie an ihren klackernden High Heels. Mir entschlüpft ein erleichtertes Aufatmen, und ich gehe zurück an die Kommode.
Meine Eltern wollen, dass ich Ärztin werde, am besten eine preisgekrönte Chirurgin. Unwillig schnaufe ich auf. Niemand hat gefragt, was ich eigentlich möchte.
Ich werfe einen Blick in den Spiegel vor mir. Mein unglücklicher Gesichtsausdruck betrübt mich noch mehr.
Obwohl es immer noch regnet, bahnt sich die Sonne einen Weg bis in mein Zimmer. Mein glattes Haar leuchtet in Kupfergold auf, für einen Moment scheint sogar das Grün meiner Augen intensiviert zu sein.
Ich schaue hinaus, erkenne schemenhaft einen Regenbogen, der sich über das Feld zieht. Als ich nun erneut in den Spiegel sehe, zeichnet sich ein feines Lächeln auf meinen Lippen ab.
Ich stehe auf und öffne das Fenster. Der Duft des nahen Waldes umweht mich. Tief schöpfe ich Atem, um die frische Luft aufzunehmen. Mit geschlossenen Lidern genieße ich die Gerüche, träume davon, zwischen den hohen Bäumen zu stehen.
Ich höre, wie jemand ohne anzuklopfen die Tür aufreißt und wirble herum.
„Hey, Rebecca, kommst du nachher mit in die Bibliothek? Ich soll dich von Mom fragen. Sie sagt, du musst dort noch Bücher abgeben.“ Mein Bruder George sieht mich abwartend an, er ist zwei Jahre jünger als ich.
Ich beäuge den Bücherstapel auf meinem Schreibtisch. „Ja, das muss ich wohl.“
„Ich geh so in einer Stunde. Komm mit oder nicht.“
„Ich komm dann runter.“
Er zieht die Tür mit einem lauten Geräusch zu und poltert die Stufen zu Küche und Wohnzimmer hinunter.
Für Wolfberry haben wir ein recht großes Anwesen. Meine Familie bewohnt ein zweistöckiges Haus mit großem Gartengrundstück, das mein Vater zu einem japanischen Ziergarten gestaltet hat. Etwas, das in einer kanadischen Kleinstadt schon außergewöhnlich ist. Meine Eltern lieben es aufzufallen.
Hier im oberen Bereich haben mein Bruder und ich unsere Zimmer. Das Schlafzimmer meiner Eltern ist am Ende des Flurs.
Missmutig sehe ich auf die Schublade, in der ich die Aufnahmepapiere der Uni verborgen habe. Ich könnte sie endlich ausfüllen, würde sich nicht alles in mir dagegen sträuben. Stattdessen schließe ich das Fenster, gehe erneut zu meiner Schminkkommode und hole die unvollständige Kette hervor, die ich gestern Abend noch nicht fertigstellen konnte.
Geduldig ziehe ich türkisfarbene Perlen auf, den Abschluss bildet ein einfacher Verschluss, den ich geschickt mit Ösen an dem Lederband befestige. Ich lege mir den Anhänger auf die Handfläche. Eine kleine Eule schaut mich an. Ihre Augen bestehen aus dunklen Kristallen. Links und rechts wird der Vogel von zwei länglichen Silberfedern eingerahmt, an die sich die Perlen reihen.
Oft verschenke ich meinen Schmuck, ich verkaufe ihn allerdings auch an Freunde und Bekannte, um mir etwas dazuzuverdienen. Die Traumfänger hingegen mache ich auf Bestellung. Die Leute hier in der Gegend mögen die hübsche Dekoration, die ich für sie nach ihren Wünschen herstelle.
Diese Eulenkette fühlt sich besonders an. Kurzerhand lege ich mir den Schmuck selbst um den Hals und betrachte mich im Spiegel. Zart streiche ich über den kleinen Vogel.
„Ja, da gehörst du hin“, flüstere ich.
Ich überlege, ob ich meine Sommersprossen mit Make-up abdecken soll, damit mich mein Bruder deswegen nicht wieder aufzieht, aber ich lasse es sein. Soll er doch darüber witzeln. Ich habe zumindest nicht die Knollennase unseres Vaters geerbt wie er.
Die eine Stunde vergeht rasch, und ich schaffe es gerade noch, mich umzuziehen, denn ich würde ungern mit Jogginghose in die City gehen.
Als ich die Treppe in den unteren Wohnbereich herunterkomme, wartet George schon auf mich. Ich werfe einen Blick in unser elegantes Wohnzimmer, das mit der offenen Küche aus weißem Holz verbunden ist. Mein Vater ist noch nicht zu Hause. Wäre es anders, hätte ich ihn zuerst begrüßen müssen. Niemand begeht den Frevel, ihn zu übergehen.
„Ist Mom noch oben im Schlafzimmer?“, fragt mich mein Bruder und zieht sich eine leichte Jacke über.
„Ich glaube schon. Zumindest habe ich nicht gehört, dass sie runtergegangen ist.“
„Nimmt wahrscheinlich ein Bad. Ihr Arbeitstag war wohl ziemlich übel.“
Das verheißt nichts Gutes.
Meine Eltern haben hinter ihrem Schlafzimmer ein eigenes Bad, das George und ich nicht benutzen dürfen. Es ist sozusagen der heilige Bereich meiner Mutter, in dem man sie auf keinen Fall stören darf.
„Kommst du jetzt endlich?“, murrt mein Bruder und hat schon die Hand an der Türklinke.
„Jaah.“
Ich schlüpfe in meine Sneakers, da geht die Tür auf. George kann gerade noch zurücktreten.
„Was steht ihr denn hier im Eingang rum?“, fragt unser Vater in genervtem Ton. Er drängelt sich an meinem Bruder vorbei, um seine Aktentasche abzustellen.
„Hallo Dad.“ Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf die Wange zu hauchen. „Entschuldige, wir wollen zur Bücherei.“
Er nickt und wendet sich George zu, der ihn ähnlich wie ich begrüßt. Auf Vaters Gesicht stiehlt sich ein Lächeln. Er wuschelt ihm durch das braune Haar. „Dann viel Spaß euch beiden. Ist eure Mutter schon da?“
„Ist oben im Bad“, antwortet mein Bruder.
„Oha. Dann gibt es wohl später Abendessen.“
„Soll ich dir was vom Imbiss mitbringen?“, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits kenne.
„Du könntest vielleicht mal lernen, vernünftig zu kochen. Aber wenn ich mir den Stapel Bücher ansehe, der wahrscheinlich schon überfällig ist, geh besser in die Bibliothek.“
Ich möchte ihm sagen, dass ich bereits kochen kann, doch ich halte mich zurück. Gegen die Kochkünste meiner Mutter komme ich nicht an. Sie zaubert die ausgefallensten Gerichte, immer perfekt dekoriert, und verbringt manchmal Stunden in der Küche.
„Komm jetzt!“ George packt mich am Arm und zieht mich nach draußen.
„Bist du verabredet, oder warum hast du es so eilig?“ Sonst ist immer er derjenige, der alle Zeit der Welt zu haben scheint.
„Kann sein.“
Also wird er mir nichts Näheres verraten.
Ich schließe die Haustür, denn mein Vater ist schon längst nicht mehr im Korridor. Im Schnellschritt gehen wir die Straße rauf, bis wir zu einer Kreuzung kommen, an der wir uns nach rechts wenden.
Das Wetter hat sich zum Glück gebessert. Der Himmel ist zwar noch bedeckt, aber zwischenzeitlich lässt sich sogar die Sonne blicken. Die Pfützen schimmern silbern auf dem teils rissigen Asphalt. Die Straßen in Wolfberry sind nur mäßig befahren, und das Überqueren ist recht problemlos. Wir gehen an niedrigen Einfamilienhäusern vorbei, die ausschließlich mit Holz verkleidet wurden. Manche sind in Pastelltönen gestrichen, andere sind weiß wie unseres.
Wir lassen den Supermarkt hinter uns und biegen an der eher unscheinbaren Kirche in die City ein. Es gibt eine Einkaufspassage mit kleinen Shops, Cafés und einer Bar, die erst um zwanzig Uhr öffnet. Den Mittelpunkt bildet die große Bibliothek. Das alleinstehende Bauwerk überragt alle anderen Häuser. Durch den Vorbau, der mit Säulen gestützt ist, und die verzierten Giebel wirkt die Bücherei wie das Sommerhaus einer Königin.
George hastet regelrecht hinein und lässt mich zurück. Er scheint wirklich verabredet zu sein.
Ich betrete langsam das Gebäude. Kühle umfängt mich, und ich fröstle leicht. Der Duft der Bücher strömt mir entgegen, erinnert mich für einen Moment an all die Stunden, die ich hier lernend verbracht habe, um meinen Abschluss zu schaffen. Das unangenehme Gefühl schiebe ich beiseite, denn ich freue mich darauf, in den Büchern stöbern zu dürfen.
An der Abgabe wartet Ms Douglas schon auf mich. Sie ist eine liebenswürdige Dame, die geduldig alle Bücher kontrolliert, sie abscannt und in ihrem PC nachprüft, ob noch Gebühren fällig sind.
„Oh, Liebes …“, sagt sie bedauernd.
Ich senke den Blick, kaue nervös auf meiner Unterlippe herum. „Ja, ich weiß“, erwidere ich leise.
In diesem Augenblick bin ich froh, dass hinter mir nicht so viele Leute stehen, denn ich muss Mahngebühren bezahlen.
„Es tut mir leid, Ms Douglas, ich habe vergessen, sie rechtzeitig abzugeben.“
„Und dabei haben wir doch jetzt diese tolle Webseite, auf der ihr die Bücher selbst verlängern könnt.“
„Das wusste ich nicht!“
Sie kramt auf ihrem Schreibtisch herum und hält triumphierend einen Info-Flyer in der Hand. Ich nehme ihn und verkneife mir ein Schmunzeln. Er sieht aus, als hätte Mr. Bridges, der Verwalter der Bücherei, selbst mit seinem Fotoprogramm herumgebastelt.
„Das nächste Mal verlängerst du einfach, Liebes. Dann wird es nicht so teuer für dich.“
Ms Douglas nennt mir mit einem entschuldigenden Lächeln den Preis, und ich schlucke. Von meinem Geld wird nicht mehr viel übrig bleiben, aber ich sage nichts, sondern bezahle meine Gebühren. Ich bin ja selbst schuld.
Jemand zieht mir von hinten überraschend an den Haaren, und ich zucke leicht zusammen.
„Na, Schwesterchen, da hast du richtig zahlen müssen, was?“
Ich verdrehe die Augen und sehe mich zu George um. Neben ihm steht die Tochter von Constable Murphy. Heather schaut mich mit einem falschen Lächeln an.
„Hallo Rebecca“, sagt sie und betont dabei meinen Namen eigentümlich. Sie streicht sich die hellblonden Locken zurück und hakt sich bei George unter.
Ist sie seine neue Freundin?
„Hi Heather.“
Sie ist nach mir dran, und ich mache ihr Platz.
Auch Harry Patel ist mit seiner Clique in der Nähe, Heather gehört zu seinem Freundeskreis und geht nun mit George zu der kleinen Gruppe. Ich stehle mich davon.
Ein hoher Torbogen trennt das Foyer von den Büchern, die in dunklen Regalen stehen. Die Wände sind mit Holz getäfelt, was dem Raum Behaglichkeit schenkt. Es gibt unterschiedliche Abteilungen, und jede ist gut gekennzeichnet.
Ich schlendere durch die Gänge, überfliege die Themen. Was möchte ich mir nach all dem Lernen ausleihen?
Schritte lassen mich aufmerksam werden, und ich drehe mich um. Es ist Dylan Franklin, der mich scheu anlächelt. Trotzdem gehe ich ihm lieber aus dem Weg. Auch er gehört zu Harrys Freunden, und diese Clique ist mir nicht geheuer, schon mal gar nicht, wenn George nun dazugehört.
Eher unbewusst streiche ich über meine Eulenkette und steuere den mystischen Bereich an. Hier lagern viele alte Werke. Mein Herz beginnt schneller zu pochen, während ich sachte über die antiquierten Buchrücken streiche. Einige Titel fallen mir ins Auge, doch nur einer spricht mich an.
„Krafttiere“, murmle ich.
Ich ziehe die Lektüre hervor und will sie an mich nehmen, dabei rutscht sie mir aus der Hand. Leise zische ich einen Fluch und beuge mich vor, um sie aufzuheben. Mein langes Haar fällt mir ins Gesicht und versperrt mir jede Sicht. Ich streiche es nach hinten, richte mich auf. Rasch kontrolliere ich den empfindlichen Einband.
„Ist sicher nichts passiert“, höre ich eine Stimme und sehe mich um.
Ich entdecke Noah Mikaels auf einem der Lesesessel. Ich presse das Buch an meine Brust. Es hat mir die Sprache verschlagen. Unschlüssig bleibe ich stehen, denn er beobachtet mich.
Noah ist auf dieselbe Highschool gegangen und war eine Klasse über mir. Ich weiß nicht viel über ihn, die meisten nennen ihn den Indianerjungen.
Sein schwarzes Haar liegt ihm über den Schultern, er hat es hinter die Ohren gestrichen. Die schlanke Figur harmoniert gut mit der gebräunten Haut.
Zögerlich trete ich näher.
„Der andere Sessel ist noch frei“, sagt er freundlich.
Es klingt wie eine Einladung, die ich erwäge, anzunehmen. Ich gehe um das hohe Regal, das mir den Blick versperrt, und nun sehe ich den freien Platz. Ich überlege kurz und setze mich ihm gegenüber. In der Schule ist mir Noah wie ein geheimnisvoller Einzelgänger vorgekommen. Schon damals wirkte er sehr anziehend auf mich. Ihn jetzt so nah vor mir zu wissen, entfacht eine seltsame Empfindung in mir. Unsicherheit mischt sich dazwischen. Erneut hebe ich die Hand zu meinem Dekolleté und umfasse meinen Eulenanhänger.
Auf dem Tischchen, das uns voneinander trennt, liegt der Schutzumschlag seines Buches. Ich linse auf den Titel. Es geht um die Kultur der Shawnee.
Er muss meinen interessierten Blick bemerkt haben, reagiert aber zunächst nicht darauf, und ich wage nicht, ihn darauf anzusprechen.
„Du heißt Rebecca, oder?“
„Ja, und du bist Noah.“
Er scheint überrascht, dass auch ich weiß, wie er heißt. Er nickt und legt sein Buch beiseite. „Du hast da wirklich eine sehr schöne Kette. Wo bekommt man so was hier?“
Sein Lob lässt mich tatsächlich erröten, und ich wünschte, dass ich doch Make-up aufgetragen hätte.
„Ich habe sie selbst gemacht“, antworte ich verlegen.
„Ist wirklich etwas Besonderes.“
„Vielen Dank.“
„Deshalb das Buch über Krafttiere?“
Verdutzt schaue ich auf meine Leselektüre. Habe ich sie wegen der Eule ausgesucht? „Wenn, dann war es wohl eher unbewusst.“
Noah beugt sich etwas vor. „Die Eule ist sehr weise und begleitet gerne Menschen, die wissbegierig sind.“
„Und das sagt wer?“
Seine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. „Das sagt mein Dad immer, wahrscheinlich wegen Holly.“ Er lehnt sich wieder zurück in das Polster.
„Holly?“
„Mein Steinkauz.“
Für einen Augenblick fürchte ich, dass er sich einen Scherz mit mir erlaubt, aber er scheint es völlig ernst zu meinen.
„Du hast einen Steinkauz?“
„Ja, hab ich wirklich. Sie ist als Jungvogel aus dem Nest gefallen und hat sich den Flügel gebrochen. Ich habe sie gefunden und gesund gepflegt. Sie kann fliegen, allerdings nur kurze Strecken, dann versagen ihre Kräfte.“
Nun beuge ich mich interessiert vor. „Machst du das öfter? Wildtieren helfen?“
„Ja, schon.“
„Wow, das finde ich toll.“
Noah lacht leise auf. „Ich weiß nicht, ob dir das kleine Stinktier letztens auch gefallen hätte.“
„Ist passiert, was ich befürchte?“
„Oh ja, es war zuerst nicht begeistert von seiner Rettung. Hinterher war es aber recht kooperativ.“
„Was ist mit ihm passiert?“
„Es ist von einem Auto angefahren worden und hat sehr viel Glück gehabt. Weil es noch jung war, konnte ich es recht gut händeln.“
„Hast du es noch?“
„Nein, mittlerweile streift der Kleine wieder durch die Wälder.“
Fast unauffällig spähe ich auf das Buch, das er vorhin durchgeschaut hat. „Darf ich dich was fragen?“
„Ja, sicher.“
„Aber sei mir bitte nicht böse.“
„Ach Unsinn, wieso denn?“
Ich lecke mir nervös über die Lippen. „Stimmen die …“
„Hey, Rebecca, wo bist du?“, ruft mein Bruder laut durch die Bücherei.
Es folgen Psst-Laute und ärgerliches Gemurmel der Bibliotheksleser.
„Entschuldige“, sage ich zu Noah und richte mich auf.
George hat mich schon entdeckt und mustert meinen Gesprächspartner skeptisch. „Mom hat angerufen. Sie sagt, wir sollen nach Hause kommen, wenn wir etwas zu essen haben wollen.“
Ich zögere, würde viel lieber noch mit Noah weiterreden, möchte mehr über die Arbeit mit den Wildtieren wissen. Auf einmal habe ich tausend Fragen an ihn!
„Jetzt schon?“
Auch George wirkt nicht glücklich darüber. Heather scheint bereits fort zu sein. Er zuckt mit den Schultern. „Kommst du jetzt?“, drängelt er.
Meine Mutter tut immer so, als hätten wir eine Wahl, wenn es um das Abendessen geht. In Wirklichkeit würde sie uns tagelang wie Luft behandeln und nicht mit uns reden, kämen wir nicht.
„Bist du öfter hier?“, fragt mich Noah plötzlich.
Fast erschrecke ich, denn Georges Kopf ruckt in seine Richtung, und ich weiß, wie er manchmal mit seinen Freunden über Noah redet. Der ignoriert meinen Bruder schlichtweg.
„Morgen?“, frage ich trotzdem.
„Ich bin zur gleichen Zeit hier.“
Da George ihn wie ein Pitbull anfunkelt, öffnet Noah sein Buch und blättert in den Seiten herum. Mein Bruder zieht mich förmlich fort von ihm. Als wir draußen auf der Straße stehen, hält er mich auf.
„Bist du bescheuert? Warum quatschst du mit dem?“
„Mit Noah?“, tue ich unschuldig.
„Mit der Indianerfresse!“
„George!“
„Ist doch so!“
„Der Einzige, der hier bescheuert ist, das bist du!“
„Das werden wir sehen, wenn ich es Dad erzähle.“
Ich packe ihn unsanft am Ärmel. „Das tust du nicht!“
„Und ob.“
„George, bitte.“
„Was denn? Soll er dein neuer Freund werden?“
„Ich hab mich bloß unterhalten. Und Dad wird sich wieder aufregen.“
George löst meine Hand von seiner Jacke und stiefelt vorneweg. Mich überkommt leichte Übelkeit. Anscheinend darf ich mir noch nicht einmal meine Freunde selbst aussuchen. Ich habe sogar das Buch über Krafttiere auf dem Tisch liegen gelassen.
Nach einer Weile bemerkt mein Bruder, dass ich ihm nicht wie sonst folge.
„Was ist denn jetzt?“, fragt er unwirsch.
In mir flammt Wut auf, und ich kämpfe mit mir. Ich bin neunzehn Jahre alt und lasse mich von meiner Familie rumkommandieren, als wäre ich zehn!
George stemmt die Hände in die Hüften und seufzt ungeduldig auf.
Etwas in mir begehrt auf. Soll er doch zu unserem Vater rennen und mich verpetzen. Was soll’s! Dann redet meine Mutter eben ein paar Tage nicht mit mir. Ich wende abrupt und gehe zurück zur Bibliothek.
„Was soll das denn jetzt, Rebecca?“
Ich drehe mich noch einmal halb zu ihm um. „Mach was du willst, George. Ich bleibe noch in der Bibliothek.“
„Aber Mom …“
„Dann ist das so!“
Ich nehme einen tiefen Atemzug und gehe zurück in die mystische Abteilung. Noah blickt auf, sieht mich überrascht an.
„Das war ein schnelles Abendessen“, scherzt er.
Ich setze mich wieder auf den Sessel ihm gegenüber. „Ach, das lasse ich heute ausfallen.“
Mit einem schelmischen Grinsen schlägt er die Beine übereinander. Mir fällt auf, dass er zur Jeans graue Mokassins trägt. Das lässt wieder meine Frage aufkeimen. Da mir seine Herkunft irgendwie unwichtig geworden ist, werde ich ihn später mal danach fragen.
„Vielleicht gehen wir ins Forest Creek?“, schlägt er vor.
Ich liebe das außergewöhnliche Café in der Einkaufspassage. „Das klingt perfekt.“
Wir stehen auf, greifen zeitgleich nach unseren Büchern, als mein Handy klingelt. Ich hole es aus meinem kleinen Rucksack, den ich als Handtasche nutze und schaue auf das Display. Es ist meine Mutter. Also hat George sie sofort angerufen. Mich erfasst ein nervöses Gefühl in der Magengegend. Trotzdem lehne ich den Anruf ab, schreibe ihr eine Nachricht, um ihr zu sagen, dass ich heute nicht zum Essen kommen werde. Über die Konsequenzen denke ich besser noch nicht nach. Entschieden schalte ich das Smartphone auf lautlos und verstaue es wieder.
„Alles in Ordnung?“
Mein erster Impuls ist, einfach Ja zu sagen, aber Noahs Frage ist ehrlich gemeint, ich erkenne es an seinem Blick. „Meine Mutter wird ausrasten und mich wahrscheinlich tagelang anschweigen, weil ich ihr Festmahl verpasse.“
„Meine Mom füttert wahrscheinlich gerade das Grauhörnchen, und mein Dad bekommt nachher nur ein Sandwich“, erwidert er lächelnd.
„Ein Grauhörnchen hast du also auch?“
„Ein sehr kleines.“
„Irgendwann musst du mir deine Tierwelt mal zeigen.“
Er scheint überrascht, dass ich wirkliches Interesse zeige. „Gerne, komm vorbei, wann du möchtest. Ich wohne drüben im Pond-Viertel, es ist das letzte Haus mit dem chaotischen Garten.“
Seine Einladung löst ein angenehmes Kribbeln in mir aus.
Wir leihen unsere Bücher aus und schlendern in die Passage mit den Boutiquen. Für den Augenblick ist mein Familienproblem vergessen.
Das Forest Creek befindet sich am Rand von Wolfberry. Die Häuser werden in diesem Viertel teils von hohen Tannen verdeckt. Das Café verbirgt sich zwischen Mary’s Market, einem kleinen Laden, der selbst angebautes Gemüse und allerlei anderes Zeug verkauft, und dem Geschäft vom alten Nelson, der Angelzubehör und Ruderboote vermietet.
Allein die Fassade vom Forest Creek ist einen Besuch wert. In das dunkle Holz ist eine Landschaft geschnitzt, ein von Bäumen umrahmter Bach, an dem mehrere Tiere trinken.
Wir bleiben stehen. Mir fällt auf, dass auch Noah das lebensgroße Bild betrachtet.
„Gehen wir rein?“
Er nickt und wir betreten das außergewöhnliche Café. Leises Plätschern empfängt uns, und automatisch huscht mir ein Lächeln über die Lippen, wie jedes Mal, wenn ich hier eintrete. Schon die unzähligen Pflanzen geben mir immer das Gefühl, ich sei mitten im Wald. Der kleine, künstliche Bachlauf, den sie letztes Jahr integriert haben, rundet das Bild perfekt ab.
„Wenn sie jetzt noch Fische reinsetzen, könnte sogar der alte Nelson noch was dran verdienen“, sage ich verschmitzt.
Noah braucht einen Augenblick, um meine Anspielung zu verstehen und lacht dann leise auf.
Das Café ist recht voll, im unteren Bereich sind fast alle Plätze besetzt, nur in der Nähe der Toiletten ist noch ein kleiner Tisch frei. Ich bemerke, dass sich einige zu uns umschauen. Unauffällig werfe ich Noah einen Blick zu, auch er bemerkt es.
„Sollen wir nach oben gehen?“
Ich stimme ihm zu, und wir gehen die Wendeltreppe rauf in den ersten Stock. Mir fällt es immer schwer, mich zu entscheiden, wo ich lieber sitze. Bin ich jedoch erst einmal oben und schaue aus den Panoramafenstern, weiß ich, wo mein Platz ist, denn in Richtung Nationalpark ist alles komplett verglast. Auf der anderen Seite sind großflächige Wandgemälde, die eine Berglandschaft zeigen. Wir setzen uns an einen freien Tisch, und ich schaue zu der weiten Grasfläche, auf der Rinder weiden, zu den hohen Tannen und den Hügeln, die sich in der Ferne zu Bergen erheben.
„Macht es dir gar nichts aus, mit mir gesehen zu werden?“
Ich schaue ihn verwundert an. „Wie meinst du das?“
Seine Lippen verziehen sich zu einem schiefen Lächeln, er zuckt mit den Schultern. „Ich weiß, wie sie mich nennen. Bei den meisten bin ich nur der Indianerjunge.“
„Ja, ich weiß“, antworte ich betreten. „Ist mir aber egal.“
Die Bedienung kommt die Wendeltreppe hoch, es ist Diane, wie ich erleichtert feststelle. Sie ist etwa in meinem Alter, und ich fand sie schon immer sympathisch. Sie kommt an unseren Tisch. Von ihr kommen keine schiefen Blicke in Richtung Noah.
„Hallo, ihr beiden. Was möchtet ihr denn?“
„Nur Kaffee“, sagt Noah.
„Wie immer, hm? Soll ich dir wieder Erdnussbuttercookies beilegen?“
Noah grinst schelmisch. „Du kennst mich zu gut.“
„Und du, Rebecca?“ Diane schaut mich abwartend an. Ich muss meine Überraschung ein wenig verbergen. Ich bin oft im Forest Creek. Warum habe ich Noah noch nie hier gesehen? Er scheint ja öfter hierherzukommen.
Ich verschiebe die Überlegung auf später und bestelle Kaffee und einen Beaver Tail, eine leckere Mischung aus Waffel und Donut.
Noah scheint mich zu durchschauen. „Hast du dich gerade gefragt, warum du mich hier noch nie gesehen hast?“
„Du kannst also Gedanken lesen, sehr interessant“, witzele ich.
„Eigentlich findest du mich hinten in der Küche. Ich helfe hier manchmal aus, und nach Feierabend trinken wir gerne noch einen Kaffee zusammen.“
Er hat also einen Job und kümmert sich zusätzlich um Wildtiere. Ich hingegen schiebe seit meinem Abschluss alles nur vor mir her. Das stimmt mich nachdenklich. Und wieder sieht er mir irgendwie an, was ich gerade denke. Das ist schon fast unheimlich.
„Ich arbeite gern hier, und meiner Familie hilft es. Du willst Medizin studieren, oder?“
„Sagt man das über mich?“
„Ja, schon.“
Ich seufze leise. „Es ist wohl eher so, dass meine Eltern wollen, dass ich studiere.“
Nun habe ich ihn anscheinend überrascht, wenn ich seinen Ausdruck richtig deute.
Ich streiche mir das lange Haar hinter die Ohren.
„Du wolltest mich in der Bibliothek was fragen.“ Noah sieht mich neugierig an.
„Ach, ist schon gut.“ Auf einmal kommt es mir blöd vor, ihn wegen seiner Abstammung auszuhorchen. Er fragt ja auch nicht, woher meine Vorfahren stammen.
„Nein, frag ruhig.“
Wahrscheinlich ahnt er bereits, worüber ich nachdenke. Verlegen schüttle ich den Kopf.
Noah lehnt sich mit einem Schmunzeln zurück. „Denkst du, ich bin sauer, wenn du mich nach meiner Herkunft fragst?“
„Warum weißt du ständig, was ich denke?“
„Irgendwie kann man alles ziemlich gut in deinem Gesicht ablesen.“
Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Okay, wenn du eh alles weißt“, erwidere ich etwas pikiert. „Von welchem Native-Stamm bist du?“
„Meine leiblichen Eltern gehörten den Shawnee an. Sie wuchsen in einem Reservat nahe der Grenze auf, aber ich weiß, dass sie versucht haben, aus diesem Leben auszubrechen und deshalb nach Kanada gingen. Leider kamen sie bei einem Autounfall ums Leben.“
„Noah, das …“ Ich stocke, weiß gar nicht, was ich sagen soll. „Das tut mir leid“, bringe ich nur hervor.
„Schon gut. Ich erinnere mich nicht an sie. Als sie starben, war ich elf Monate alt.“
„Und du hast den Unfall unverletzt überlebt?“
„Ich war nicht mit im Auto, sie hatten mich bei Freunden untergebracht.“
Diane unterbricht unser Gespräch. Sie bringt unseren Kaffee und mein Beaver Tail, der lecker nach Zimt duftet. Ich nippe an meinem Heißgetränk und beobachte Noah verstohlen. Er umfasst die Tasse mit einer Hand. Sein Blick schweift zum Nationalpark.
„Ich habe es lieber, wenn man offen über alles spricht“, sagt er plötzlich.
„Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen, … weil ich ja weiß, wie sie dich nennen.“
Aufmerksam schaut er mich an. „Aber bin ich nicht genau das?“
„Ich mag das Wort Indianer nicht besonders.“
Meine Worte lassen ihn lächeln. „Ich auch nicht.“
Ich probiere mein Gebäck, das wirklich verdammt lecker ist. „Wie bist du zu den Mikaels gekommen?“
Er zieht den Zuckertopf zu sich heran und wirft zwei Stücke in seinen Kaffee. „Das ist eine längere Geschichte.“
„Nun, ich bin eine gute Zuhörerin.“
„Ich glaube, das sollte dir meine Mom erzählen.“
Will er die Umstände seiner Adoption nicht preisgeben, oder möchte er seiner Mutter den Vortritt lassen? Sein Gesichtsausdruck sagt mir nur wenig, er wirkt eher verschlossen.
„Okay“, antworte ich und esse schweigend meinen Beaver Tail, dessen Form tatsächlich irgendwie an einen Biberschwanz erinnert.
Etwas später kommt jemand die Wendeltreppe rauf, und ich schaue unwillkürlich zu dem Aufgang. Mir rutscht förmlich das Herz in die Hose, als ich Heather erkenne. Sie setzt sich mit ihrer Freundin Lindsay Franklin und deren Bruder Dylan an einen Nebentisch. Heather ist vorhin mit meinem Bruder zusammen in der Bibliothek gewesen, und noch kann ich nicht sagen, was sie miteinander verbindet. Ich fürchte, dass sie George sofort erzählen wird, dass sie mich mit Noah im Forest Creek gesehen hat. Außerdem ist Heather eine falsche Schlange. Alle drei sehen nun zu uns rüber und starren uns an, dann beginnt das Getuschel. Noah folgt kurz meinem Blick und beobachtet mich.
„Du magst sie nicht besonders“, stellt er fest und trinkt einen Schluck Kaffee.
„Wir haben nicht so ein tolles Verhältnis.“
Fast meine ich Erleichterung über Noahs Züge huschen zu sehen.
„Sollen wir gehen?“
Ich presse die Lippen zusammen, überlege. Eigentlich würde ich viel lieber noch hierbleiben. Doch durch Heathers Auftauchen fühle ich mich unsicher, also nicke ich. Wir legen beide für Diane etwas Trinkgeld auf den Tisch und gehen runter zur Kasse, die sich am Ausgang befindet.
Draußen dämmert es bereits.
Wind kommt auf, weht uns beiden das Haar vors Gesicht. Wir lachen auf, weil wir beide darum kämpfen, die widerspenstigen Strähnen zu bändigen. Ich halte meine etwas unbeholfen fest, die Böen machen es mir nicht leicht. Schließlich stopfe ich meine Mähne in den Kragen. Noah holt rasch ein Zopfband aus seiner Jeans und bindet seine dunkle Flut zusammen.
„Ich muss jetzt nach Hause“, sagt Noah. „Ich habe Mom versprochen, nicht zu lange fort zu sein. Sie muss gleich zur Arbeit und das Grauhörnchen muss zurzeit alle zwei Stunden gefüttert werden.“
„Das würde ich wirklich gerne mal sehen.“
„Dann komm morgen vorbei, wenn du möchtest.“
„Vielleicht mache ich das wirklich.“
„Ich würde mich freuen.“ Sein Lächeln wirkt absolut echt.
„Dann bis morgen.“
Er wendet sich ab und nimmt die Querstraße in Richtung Pond-Viertel. Ich reiße mich los und schlendere in die entgegengesetzte Richtung. Aus einer Ahnung heraus schaue ich auf mein Smartphone. Drei verpasste Anrufe und eine Nachricht meines Bruders, die ich öffne.
Du bist so was von am Arsch, hat er geschrieben.
„Der Abend dürfte interessant werden“, murmele ich.
2
Bevor ich ins Haus gehe, flüchte ich mich in Dads japanischen Garten. Ich denke an den Aufruhr, als mein Vater nach seiner Japan-Reise das ganze Gelände hinter unserem Haus hat umgestalten lassen. Wir sind ein halbes Jahr lang das Gespräch von Wolfberry gewesen, was mich nun zum Schmunzeln bringt.
Was Noah wohl zu diesem besonderen Ort sagen würde? Dürfte ich ihn überhaupt mal mit hierherbringen, oder würde Vater das untersagen? Meist hat er kein gutes Wort für die kanadischen First Nation übrig. Sicher macht es keinen Unterschied, dass Noah von den Shawnees abstammt, die eher zu den Native American zählen.
Mit einem Seufzen gehe ich über die kleine Holzbrücke, nehme den schmalen Pfad zum hochgewachsenen Fächerahorn, meinem Lieblingsplatz, an dem mich eigentlich keiner stört.
Ich setze mich auf den flachen Stein, beobachte die Kois in dem Teich, der wirklich hübsch gestaltet ist. Mittlerweile ist alles so gewachsen, wie Dad es sich vorgestellt hat, und er gibt furchtbar gerne damit an. Wahrscheinlich würde er am liebsten Eintritt verlangen. Ich schnaufe belustigt auf.
Trotzdem mag ich diesen Ort. Vögel hüpfen über mir in den Zweigen, zwitschern immer wieder leise. Der Wind flaut ab, rauscht noch sacht in den Blättern. Einzelne Lichtstrahlen dringen bis zu mir durch, zeichnen Sonnenflecken auf den steinigen Boden. Feiner Regen setzt ein. Ich bleibe dennoch sitzen, das Laub des Ahorns schützt mich. Ich schaue in das Blätterdach über mir, das sich im Sommer von Rot nach Grün umfärbt, und der Wechsel beginnt bereits. Im Herbst werden sie wieder dunkelrot, bevor sie schließlich abfallen.
Ich lehne mich gegen den Stamm, sehe den Wolken zu, wie sie über Wolfberry ziehen und jede freie Lücke am Himmel vereinnahmen, sodass sich die Umgebung merklich verdunkelt. Sogar die ersten Solarlichter glimmen auf.
Mit einem tiefen Atemzug erhebe ich mich und gehe ins Haus. Ich höre bis in den Flur, dass George irgendein PC-Game zockt. Mom finde ich in der Küche. Sie spült immer noch Geschirr ab. Ich grüße sie leise und nehme mir wie selbstverständlich ein Trockentuch, um ihr zu helfen.
Sie hält inne, sieht mich eisig an.
„Entschuldige, dass ich nicht zum Essen kommen konnte.“
Sie schmeißt nur den Spülschwamm ins Wasser und verlässt wortlos die Küche.
Nun, das bedeutet wohl, dass ich die restliche Arbeit erledigen darf. Ich zucke mit den Schultern. Mich stört es nicht, im Haushalt zu helfen, im Gegenteil. Ich möchte mich nicht nutzlos fühlen.
Mom knallt hinter mir die Tür zu, was mich zusammenzucken lässt. Ihre Wut lässt mich nicht kalt. Ich wünschte, sie würde wie Dad herummotzen. Ihre Art, mich zu ignorieren, nicht mit mir zu sprechen, rührt etwas Unangenehmes in mir auf. Ein kleiner Stich fährt mir regelrecht ins Herz. Eigentlich sollte es mir nichts mehr ausmachen, aber dieser Liebesentzug hat mich als Kind immer tief getroffen, und wenn meine Mutter wieder damit anfängt, keimen unwillkürlich Erinnerungen auf.
Ich versuche, die Gefühle abzuschütteln und beende, was Mom angefangen hat, stelle mich gedanklich auf eine Strafpredigt ein. Ich mag zwar neunzehn sein, aber meine Eltern scheinen das noch nicht wirklich realisiert zu haben. Für sie bin ich immer noch ihr kleines Mädchen, das gefälligst parieren soll. Und wenn ich weiter hier wohnen bleiben möchte, bleibt mir eigentlich keine andere Wahl, als genau das zu tun.
Ich denke an Noah. Ob ich mir einen Job suchen sollte?
Für den Moment klingt es verlockend. Leider gibt es in Wolfberry nicht sonderlich viel, was infrage käme.
Ich räume noch das Geschirr ein und stelle mich meinem Vater, der im Wohnzimmer sitzt. Sein Kopf ruckt herum. Langsam beugt er sich vor, um den Fernseher auszuschalten.
„Das nächste Mal sag bitte eher Bescheid, wenn du nicht zum Essen kommst“, sagt Dad mit eisiger Stimme.
„Mach ich, tut mir leid. Das war recht spontan.“
„Ja, George erzählte uns schon, was sich da ergeben hat.“ Er dreht sich auf der Couch etwas herum, um sich mir komplett zuzuwenden. „Ist das wahr?“
„Was denn genau?“, erwidere ich schnippisch.
„Du gibst dich nicht ernsthaft mit diesem Noah ab, oder?“
Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Und wenn es so wäre?“
„Mädchen, die Familie wohnt im Pond-Viertel, und er ist ja nicht mal ein … ein Kanadier.“
„Aha? Ist er nicht? Ich würde sagen, als seine Eltern ihn adoptiert haben, hat er sicher einen kanadischen Pass bekommen.“
„Das meine ich nicht, und das weißt du auch.“
Ich verenge die Augen zu Schlitzen. Und wie ich weiß, was er meint!
Dad steht auf, geht auf mich zu.
„Schatz, du weißt, dass ich bestimmt nicht rassistisch bin …“
„Du sieht also Menschen mit einer anderen Herkunft oder einer anderen Hautfarbe als absolut gleichwertig an?“
„Das kann man so doch nicht sagen.“
„Und warum nicht? Ich sehe es so.“
Er presst die Lippen aufeinander, etwas, das ich auch gern tue.
„Rebecca …“
Ich horche auf, er nennt mich selten bei meinem vollen Namen, am liebsten sagt er Becca zu mir. Also wird es jetzt ernster.
„Ich habe nichts gegen Indianer oder Schwarze, sie sind halt anders, und ich möchte nicht, dass du dich mit ihnen abgibst. Seit ich als Bürgermeister kandidiere, müssen wir noch mehr darauf achten, wie wir uns verhalten und mit wem wir gesehen werden.“
„Ach, ist das so? Du weißt aber, dass ich keine fünfzehn mehr bin?“
„Und deshalb darf ich dir keinen Rat geben?“
„Wenn das nur ein Rat sein soll, ist es ja okay.“
„Ich meine … Verdammt, Rebecca!“
Ich versuche, absolut ruhig zu bleiben. „Ja?“
„Hmpf“, gibt er von sich und geht wieder zur Couch.
Ich linse zu ihm rüber. Das war es schon? Ich habe mit mehr Theater gerechnet.
„Hast du schon die Unterlagen für die Uni eingereicht?“
Seine Frage wirft mich aus der Bahn. „Noch nicht“, antworte ich kleinlaut.
„Und warum nicht?“
Mit einem Seufzen setze ich mich neben ihn. „Dad, wir müssen noch mal darüber reden.“
„Das haben wir schon zur Genüge.“
„Ich glaube einfach, dass Human-Medizin nichts für mich ist.“
„Hast du dich denn jetzt mal damit beschäftigt?“
„Nun ja, ich weiß, was eine Ärztin ungefähr zu tun hat, Dad“, antworte ich bissig.
„Und was willst du stattdessen machen? Im Forest Creek kellnern?“
Überrascht sehe ich ihn an. Weiß er, wo ich mit Noah gewesen bin, oder weiß er, dass er dort arbeitet? Ich bin etwas sprachlos.
„Rebecca, wir haben fast zwei Jahrzehnte für dich gespart, damit du dir ein Medizinstudium leisten kannst. Ich akzeptiere es nicht, dass du das aus einer Laune heraus wegwirfst. Glaube ja nicht, dass wir dir das Geld für irgendeine unsinnige Job-Idee oder womöglich für Urlaubsreisen oder fürs Shopping geben werden.“
„Wer sagt denn, dass ich verreisen will? Und du weißt sehr genau, dass ich keine Shoppingqueen wie Mom bin!“
Es ist mir einfach herausgerutscht, und ich kann es nicht zurücknehmen. Dad erbleicht sichtlich, dann ändert sich schlagartig sein Gesichtsausdruck.
„Deine Mutter arbeitet jeden Tag für jedes Teil, das sie sich kauft. Maße dir nicht an, über sie zu urteilen!“
„Das tue ich nicht! Du wirfst mir aber vor, ich wolle von dem Geld irgendeinen Unfug kaufen.“ Ich lege in einer entschuldigenden Geste meine Hand auf seinen Arm. „Dad, ich wollte nicht …“
Er schüttelt mich barsch ab. „Geh mir aus den Augen! Ich will jetzt in Ruhe meinen Krimi gucken. Mach, was du willst. Aber ich werde dir keinen Cent von dem Sparbuch geben, es sei denn, du besinnst dich und studierst etwas Ordentliches.“
„Dad, mir geht es nicht um das Geld.“
Er schaltet den Fernseher ein und schraubt die Lautstärke höher. An seiner Körperhaltung erkenne ich, dass er kein Wort mehr mit mir reden wird. Ich wende mich abrupt ab und eile hoch in mein Zimmer. Tränen verschleiern mir die Sicht. Ich versuche vehement, sie wegzublinzeln.
Ich liebe meine Eltern, und es tut einfach weh, dass sie mich so falsch einschätzen. Ich wünsche mir doch nur, dass sie stolz auf mich sind, egal, was ich für einen Beruf ergreife.
In dieser Nacht mache ich kaum ein Auge zu. Meine Gedanken rotieren, und sie driften ständig zu Noah. Erst am frühen Morgen schlummere ich ein und schrecke nach knapp einer Stunde wieder auf, weil Mom mit High Heels an meinem Zimmer vorbeiläuft.
Oh, ich hasse diese Schuhe. Ihr Klackern hallt immer durch das ganze Haus. Missmutig drehe ich mich auf die andere Seite, an Schlaf ist trotzdem nicht mehr zu denken. Als ich zudem höre, dass meine Mutter unten mit dem Geschirr klappert, raffe ich mich auf. Besser, ich bleibe heute nicht zu lange im Bett, sonst werfen sie mir noch Faulheit vor. In Schlafanzug und Pantoffeln tappe ich ins Erdgeschoss. Ich grüße Mom. Wie erwartet, behandelt sie mich wie Luft. Nichtsdestotrotz helfe ich bei den Frühstücksvorbereitungen. Ich weiß, dass Dad schon auf der Arbeit ist und dort in der Pause frühstückt, deshalb decke ich für drei Personen.
George kommt frisch geduscht und fertig angezogen herunter. Meine Mutter schenkt ihm ein Lächeln und einen Gutenmorgengruß, küsst ihn sogar auf die Wange. Er nickt mir zu und setzt sich auf seinen Platz.
Ich fühle mich furchtbar, sage aber kein Wort. Einmal habe ich versucht, ein Gespräch zu beginnen, allerdings ohne Erfolg. George grinst frech und lobt die Hash Browns, ein Kartoffelgericht, das Mom morgens gerne mit Ei und Schinken zubereitet. Die beiden reden leise über die Schule, ich bin völlig außen vor. Mir ist der Appetit vergangen. Ich nehme mir trotzdem von dem Gericht, bringe aber kaum etwas davon hinunter, was meiner Mutter auffällt, wie ich anhand ihres Blickes registriere.
Rebecca, du kennst das doch, stell dich nicht so an, versuche ich mich selber zu beruhigen. Doch ihr Verhalten dringt wie ein Dorn tief in mein Herz. Ich stochere in den Kartoffeln herum. Dann geht George zur Schule, und Mom zieht kommentarlos ihre Jacke an, verlässt das Haus, um ins Büro zu gehen. Sie ist Architektin. Ich lausche den Geräuschen ihrer Absätze, höre, wie sie mit dem Zweitwagen davonfährt.
Ich stelle den Rest der Hash Browns in den Kühlschrank und beginne, die Küche aufzuräumen. Wieder stehlen sich verflixte Tränen in meine Augen. Unwirsch wische ich sie fort, atme tief durch.
Am liebsten würde ich mit Noah sprechen, leider haben wir noch keine Handynummern ausgetauscht. Ob ich zu ihm gehen soll? Alles in mir ruft ein lautes Ja! Ich finde es allerdings unhöflich, jemanden um kurz nach acht zu besuchen. Darum beschäftige ich mich, nach einer ausgiebigen Dusche und nachdem ich in bequeme Kleidung geschlüpft bin, endlich mit den Universitätsunterlagen der University of Calgary. Lustlos blättere ich die Dokumente durch und bleibe bei dem Infozettel mit den Studiengängen hängen. Nun doch interessiert durchforste ich die Fächer und bleibe abrupt bei einem stehen. Ich starre auf die Worte Veterinary Medicine.
Wäre Tiermedizin eine Lösung? Zumindest sträubt sich da nichts in meinem Inneren, wenn ich es mir vorstelle. Ich frage mich, was meine Eltern wohl davon halten würden und kenne die Antwort. Mom hasst Tiere aller Art, und Dad interessiert sich schlicht nicht dafür. Sie würden mich auslachen, mir wahrscheinlich sagen, es wäre nicht vergleichbar mit der Humanmedizin. Ich höre innerlich schon Dads pikierte Stimme, wie er sagt: Das ist nur ein Pseudo-Studium, da kannst du auch auf einer verdammten Farm arbeiten.
Vielleicht sind meine Gedanken gerade übertrieben, aber Ähnliches habe ich schon von ihm gehört, als ich mit meinen Eltern über Berufswünsche gesprochen habe.
Ich lege die Dokumente zur Seite, wieder einmal.
Es ist mein Leben, ich sollte darüber entscheiden dürfen!
Ich schlucke schwer, wenn ich an die Reaktion meiner Mutter denke, nur weil ich nicht zum Abendessen erschienen bin. Was würde sie tun, wenn ich etwas so Wichtiges in dem Wissen entscheiden würde, sie wäre strikt dagegen? Mich schaudert es.
Ich schüttle vorerst meine Überlegungen ab und werfe einen Blick auf die Uhr. Wenn ich sehr langsam zum Pond-Viertel ginge, wäre es sicher schon nach halb zehn. Entschlossen schlüpfe ich in eine leichte Jacke und meine Sneakers und verlasse das Haus.
Herrlicher Sonnenschein empfängt mich. Die Luft riecht nach Sommer, und mir huscht ein Lächeln übers Gesicht. Ich liebe den Juni. Alles ist erblüht, die Bäume erstrahlen in sattem Grün, und ich fühle mich lebendiger.
Während ich durch Wolfberry laufe, frage ich mich, was mein Vater gegen das Pond-Viertel hat. Bisher bin ich nie direkt dort gewesen, nur vorbeigegangen. Ich biege in die Pond Street ein und sehe mich um. Es ist ärmlicher als bei uns, die Fassaden der Häuser sind etwas abgeblättert und vor einem Haus liegt eine Menge Gerümpel. Die Gärten sind teilweise gepflegt, andere wirken verwildert. Ein Geräusch lässt mich aufmerksam werden. Etwas tappt im Schatten um die Müllbehälter herum. Ich gehe ein Stück näher heran. Ein Waschbär?
Schmunzelnd beobachte ich, wie das Tier an einem Plastiksack zupft, wahrscheinlich, um Essensreste zu stehlen.
Ich höre leise Schritte hinter mir.
„Er wird es nie lernen, seinen Müll ordentlich wegzupacken“, höre ich auf einmal Noahs Stimme.
Ich wirbele herum. Sein plötzliches Auftauchen macht mich kurz sprachlos, und mir ist es ein bisschen peinlich, dass ich schon so früh hier auftauche. Da registriere ich den Hund. Der Husky sitzt an Noahs Seite und beobachtet mich hechelnd.
„Das ist meine Hündin Rani“, sagt Noah lächelnd.
Mit einer Geste zeigt er dem Hund etwas an. Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber Rani läuft auf den Waschbären zu. Sie vertreibt das Wildtier nicht, sondern stupst es so lange an, bis es davon trottet.
„Moment“, bittet Noah und geht auf das Haus zu, in die Richtung, in die das Wildtier flüchtet. „Pepples!“ Bei Noahs Ruf bleibt der Waschbär stehen und schaut ihn abwartend an. Noah wirft ihm etwas zu, was er gierig aufnimmt und davoneilt. Rani kommt an seine Seite, beide nähern sich mir. Noah trägt nur eine Jeans und eine Wildlederweste.
„Hast du deine Schuhe verloren?“, frage ich scherzhaft.
„Ich lauf gerne barfuß.“ Er lächelt. „Schön, dass du schon hier bist.“
„Ich bin ein bisschen spazieren gegangen, und da dachte ich … na ja …“
Noah lacht leise auf. „Dass du dir das kleine Grauhörnchen ansehen könntest.“
„Ist das so ein Shawnee-Talent? Immer alle zu durchschauen?“
„Kann schon sein“, erwidert er mit einem amüsierten Ausdruck. Er widmet sich Rani, streichelt der Hündin über den Kopf.
„Der Waschbär heißt also Pepples?“
„Ja. Ausnahmsweise hab ich ihn nicht unter meinen Fittichen gehabt. Er ist hier im Viertel bekannt, und die meisten mögen ihn, aber Mr. Hatfield hasst den kleinen Kerl.“ Noah zeigt auf das Haus, vor dem wir stehen. „Mein Nachbar holt auch schon mal seine alte Schrotflinte heraus, wenn er das Tier sieht. Trotzdem lässt er ständig seinen Hausmüll draußen liegen.“ Resigniert zuckt er mit den Schultern. „Magst du mitkommen? Die Kleine hier braucht dringend Auslauf.“ Er neigt den Kopf zu dem Hund.
„Darf ich sie streicheln?“
„Ja, sicher.“
Ich halte ihr die Hand hin, damit sie an mir schnuppern kann. Rani nimmt das als Aufforderung, um mich anzustupsen, lässt sich daraufhin auf meine Füße fallen und dreht sich auf den Rücken. Schmunzelnd hocke ich mich hin, um sie zu kraulen.
„Sie ist ein furchtbarer Wachhund“, sagt Noah belustigt.
„Rani ist ein schöner Name.“
„Meine Mom hat ihn aus irgendeinem Roman.“
Ihr Fell ist so weich und dicht, ich genieße es, meine Finger darin zu versenken. „Ich komme gerne mit auf einen Spaziergang.“
„Den du ja sowieso machen wolltest.“
Ich schaue zu ihm auf, und er zwinkert mir verschmitzt zu.
„Meine Mom hat mich heute wie Luft behandelt“, gebe ich zu und richte mich wieder auf, „und nachdem ich die Unterlagen für die Uni vor mir hatte, wollte ich eigentlich nur noch raus.“
„Dann komm, das wird dich ablenken.“
Wir gehen ein Stück zurück, und Noah führt mich zwischen zwei Häusern hindurch. Weites Brachland, von einigen Sträuchern durchbrochen, liegt vor uns. Er gibt Rani mit einer Geste frei, und der Hund rennt über die Grasfläche, die mich ein bisschen an die Prärie erinnert.
„Warum hat dich deine Mom wie Luft behandelt? Weil du mit mir im Café warst?“
„Das ist nicht wegen dir. Sie hasst es, wenn wir nicht zum Essen erscheinen. Kochen ist ihre Leidenschaft.“
Wir laufen über die Ebene.
Noah blickt nachdenklich zum Waldrand. „Sie will euch etwas Gutes tun“, sinniert er. „Aber du bist keine zwölf mehr.“
„Das hat Mom noch nicht mitbekommen.“
Mit einem Schmunzeln sieht er mich an. „Das kenne ich auch.“
Er führt mich in westliche Richtung zum Wald, der an den Banff Nationalpark grenzt. Rani folgt uns in einem weiten Bogen, sie bellt aufgeregt. Nach einer Weile nähern wir uns den ersten Laubbäumen.
„Erschreck dich jetzt nicht“, sagt Noah.
Verwundert sehe ich ihn an. Er legt die Hände wie zum Ruf an den Mund und stößt einen seltsamen Schrei aus. Recht schnell kommt aus dem Wald eine Antwort, die sich fast wie eine Katze anhört. Ich versuche, den Vogelruf einzuordnen, brauche jedoch nicht lange überlegen, denn etwas kommt auf uns zugeflogen. Zuerst ist der Flug sicher und elegant, dann wird er unsicher, und das Tier muss zwischenlanden.
„Das ist dein Steinkauz!“
„Ja, das ist Holly“, stellt Noah vor.
Wir gehen ein Stück auf sie zu, Noah gibt mir mit einer Geste zu verstehen, dass wir stehenbleiben sollen. Gespannt beobachte ich die kleine Eule, die nun mit langbeinigen Schritten auf Noah zuläuft. Ich trete einen Schritt zurück, um sie nicht zu verschrecken, da stößt sie sich mit einem Sprung vom Boden ab, breitet die Flügel aus, um auf Noahs ausgestrecktem Arm zu landen.
„Guten Morgen, Holly“, säuselt er.
Er dreht sich mit einem Lächeln zu mir um, während der Kauz auf seine Schulter klettert. „Sie hat bei uns ein offenes Gehege, da verbringt sie am liebsten den Tag. Nachts ist sie unterwegs.“
„Du hast erzählt, dass sie nicht richtig fliegen kann, oder?“
„Ja, ein alter Bruch am Flügel. Sie schafft nur kurze Strecken.“ Während er spricht, krault er sie am Hals, was ihr offensichtlich sehr gefällt. „Sie jagt trotzdem selbst. Steinkäuze machen das gern zu Fuß. Sie ist dabei so schnell wie eine Maus.“
„Wow.“
Rani bellt auffordernd, sie will weiter, also erfüllen wir ihr den Wunsch und gehen am Waldsaum entlang. Holly bleibt dabei auf Noahs Schulter. Sie krallt sich an seiner Wildlederweste fest, und nun verstehe ich, warum er nicht einfach ein T-Shirt angezogen hat.
„Eigentlich ist es nicht richtig, dass sie so zahm ist. Zum Glück bezieht sich das ausschließlich auf mich. Eulen sind schwierig aufzuziehen, wenn sie richtig ausgewildert werden sollen. Das hat bei Holly nicht geklappt, weil ich sie lange gesundpflegen musste.“
„Ist es denn ein Problem für sie?“
„Bisher nicht. Wir wohnen ja auch recht abgelegen.“
Holly zupft an Noahs Weste herum. Ich finde sie wunderschön mit ihrem gesprenkelten Gefieder und den Knopfaugen, mit denen sie jede meiner Bewegungen beobachtet.
„Wo hast du sie gefunden?“
„Weiter hinten im Wald. Es ist nach einem Sturm gewesen. Sie muss aus dem Nest gefallen sein. Daher auch die Verletzung. Der Tierarzt wollte sie deshalb einschläfern, und ich hab um sie gekämpft.“
Rani kommt auf uns zugestürmt, ich locke sie ein wenig, und der Hund lässt sich nicht lange bitten. Ich streichle sie ausgiebig. „Ist das ein reinrassiger Husky?“
„Nein, sie ist ein Mischling. Sie kommt aber aus einer Zucht. Ihre Mutter hat sich mit dem Retriever vom Nachbarn vergnügt.“
„Darüber war der Züchter bestimmt nicht erfreut.“
„Er wollte die Welpen unbedingt loswerden und hat sie verschenkt. Da mein Dad mit ihm arbeitet, kam er irgendwann mit Rani nach Hause.“
„Den Retriever sieht man gar nicht“, sage ich zu Rani, die sich an mein Bein drückt. „Du siehst aus wie ein kleiner Wolf.“
Überrascht sieht mich Noah an. „Das sage ich auch immer, deshalb nenne ich sie auch gerne mal Little Wolf.“
„Das klingt sogar indianisch.“ Im gleichen Moment merke ich, wie unpassend der Ausdruck ist. Ich weiß, dass die Native American und auch die First Nation es nicht mögen, so genannt zu werden. „Tut mir leid!“
„Was tut dir leid?“
„Na ja, das … indianisch.“
Er braucht einen Moment, um zu verstehen, was ich meine. Noah winkt ab. „Ich finde, es kommt darauf an, wer es sagt und wie man es sagt. Wenn du mich so nennst, ist es okay für mich.“
Ich fühle mich trotzdem nicht wohl dabei, äußere mich aber nicht mehr dazu.
„Hast du auch einen … also … so einen Namen?“
„Einen indianischen?“, hakt er schelmisch nach.
„Mmh.“
„Den hab ich tatsächlich. Mom hat ihn mir gegeben.“
Ich platze vor Neugier, möchte trotzdem nicht weiter nachhaken.
Mir fällt auf, dass wir uns nun wieder dem Pond-Viertel nähern. Ich erinnere mich an seine Worte von gestern, als er gesagt hat, dass er im letzten Haus wohnt. Das ist allerdings aufgrund des Pflanzenbewuchses kaum auszumachen. Obstbäume und Sträucher verbergen den Garteneingang, das Brachland geht quasi fließend in den Bereich der Mikaels über. Ein großes Gehege dominiert den hinteren Bereich. Holly flattert zu Boden und geht mit langbeinigen Schritten auf ihr Zuhause zu. Geschickt klettert sie ins Innere und verschwindet in einer kleinen Höhle. Ich habe selten so etwas Süßes wie sie gesehen. Es entlockt mir ein versonnenes Lächeln, das Noah erwidert, als sich unsere Blicke begegnen.
Rani rennt ins Haus, das ich nun endlich erkennen kann. Die Fassade ist im hinteren Teil von Ranken zugewuchert, die bis aufs Dach wachsen. Im Garten sehe ich hohe Wildblumen, ich erkenne auch einen Gemüse- und einen Kräutergarten.
„Bist du bereit für ein Grauhörnchen-Baby?“
„Oh Gott, ja!“
Noah lacht leise auf und zeigt mir mit einer Geste an, ihm zu folgen. Ein Steinweg führt uns durch den verwilderten Garten. Wir gehen zur Hintertür, um ins Haus zu gelangen. Drinnen ist alles aus hellem Holz gefertigt, es riecht nach Pancakes. Ich atme den leckeren Duft genießerisch ein. Bei uns zu Hause ist alles mit sehr viel Weiß eingerichtet, ich mag das gemütliche Flair der Mikaels.
„Ist es in Ordnung, wenn wir erst zu meiner Mutter gehen? Sie weiß gern, wen ich mitbringe.“
„Ja, natürlich.“
Ich höre Küchengeklapper. Ms Mikaels dreht sich zu uns um. „Oh, hallo.“
Sie scheint überrascht zu sein. Ob sie mich kennt? Sie wirft Noah einen Blick zu, den ich nicht deuten kann.
„Guten Morgen, ich bin Rebecca Maywood“, stelle ich mich vor.
„Ja, das weiß ich, schön, dass du hier bist.“
Sie kennt mich also wirklich.
„Rebecca, magst du vielleicht mit uns frühstücken?“
Da ich von Moms Hash Browns kaum was gegessen habe, sage ich zu. Wie selbstverständlich helfe ich, das Geschirr zum Esstisch zu tragen, und wundere mich, als ich Noah bis auf die Terrasse folge. Wir essen grundsätzlich im Essbereich von Moms luxuriöser Küche, Ausnahmen gibt es nicht. Aber der Raum ist auch so groß, dass man darin tanzen könnte.
„Es ist so schön heute“, schwärmt Ms Mikaels und stellt einen großen Teller mit Pancakes in die Mitte des Tisches. Sie setzt sich, lächelt fast ein wenig scheu. „Du bist bestimmt Besseres gewohnt. Ich weiß, was für eine fabelhafte Köchin deine Mom ist. Vielleicht schmeckt es dir trotzdem.“
„Mir schmeckt es bestimmt, die Pancakes riechen unglaublich lecker.“
Noch nie habe ich an so einem ungezwungenen Essen teilgenommen. Bei uns geht es immer sehr vornehm zu, nicht einmal leise Gespräche sind erlaubt. Bei den Mikaels wird gelacht, erzählt und zwanglos gegessen. Auch Rani wird nicht fortgejagt, sondern bekommt ihr Leckerchen. Die Atmosphäre bringt mich zum Lächeln. Wenn ich an mein Frühstück zu Hause denke, ist das hier eine andere Welt. Nach einer Weile taue ich etwas auf.
„Ms Mikaels, ich wusste gar nicht, dass Sie meine Mom kennen?“
„Ach, nenn mich einfach Donna, du brauchst mich nicht zu siezen.“
„Vielen Dank.“
„Ich kenne deine Mom von dem Kochwettbewerb letztes Jahr. Sie ist wirklich eine außergewöhnliche Köchin.“
Ich erinnere mich noch gut an diesen Tag. Mom war angespannt und aufgeregt gewesen, sie wollte unbedingt gewinnen, was ihr auch gelungen ist.
„Dafür machst du die besten Pancakes“, mischt sich Noah ein.
Ich nehme mir noch etwas Ahornsirup. „Da kann ich nur zustimmen.“
„Lass das nicht deine Mom hören“, sagte Donna verschwörerisch.
„Ha, ha, nein, besser nicht.“
Ich schaue in den Garten. Mir gefallen die hoch gewachsenen Wildblumen, die Kräuter und der junge Zucker-Ahorn, der seine Zweige schützend über Hollys Gehege ausbreitet.
„Bist du fertig?“, unterbricht Noah meine Beobachtung.
„Ja, es war wirklich sehr lecker, Donna.“
„Dann komm, ich muss die Milch für Hörnchen fertig machen.“
Wir nehmen auf dem Weg zur Küche einiges an Geschirr mit, das wir an die Spüle legen. Interessiert sehe ich zu, wie er die spezielle Aufzuchtmilch zubereitet.
Noahs Zimmer habe ich mir genau so vorgestellt. Er hat einfache Holzmöbel, an den Wänden hängen unterschiedliche Dinge der Native American als Dekoration, die Sonne taucht alles in ein goldenes Licht. Staubfunken tanzen darin umher. Ich verharre vor einem großen, eingerahmten Foto, auf dem Noah zu Pferde zu sehen ist. Er reitet mit freiem Oberkörper und ohne Sattel. Das lange Haar weht offen im Wind, eine Feder ist in der Frisur befestigt.
„Wow“, bringe ich nur hervor.
„Darf ich vorstellen?“, sagt er theatralisch. „Black Fox.“
„Aber … das bist du, … oder?“
„Ja, das bin ich“, antwortet er lachend. „Mom nennt mich manchmal so, weil ich früher wie ein dunkler Fuchs durch das hohe Gras gestreift bin.“
„Mann, das sieht aus wie aus einem Film.“
„Meine Eltern haben mir zum Geburtstag so ein besonderes Fotoshooting geschenkt. Eigentlich reite ich nicht besonders gut. Zum Glück war der Schecke unglaublich lieb und geduldig, also sind die Fotos wirklich nett geworden.“
Ich bin überrascht, als ich einen meiner Traumfänger erkenne. Noah folgt meinem Blick.
„Wann hast du den denn gekauft?“
„Der ist von dir, oder?“
Ich nicke und sehe den tanzenden Federn zu. Ich weiß noch, wie ich sie bei einer Wanderung mühsam zusammengesucht habe.
„Ich hab ihn letztes Jahr auf dem Schulflohmarkt gekauft. Du warst gerade nicht am Stand.“
Es gefällt mir, dass etwas, das ich selbst gefertigt habe, hier über ihn wacht. Es mag verrückt klingen, aber insgeheim glaube ich wirklich daran, dass die guten Träume durch das Netz gehen, die schlechten darin hängen bleiben und sich später in der Morgensonne auflösen.
Noah hebt die Hand und berührt die Federn. „Seitdem hatte ich keinen schlechten Traum mehr.“ Er lächelt geheimnisvoll.
Mir hingegen fehlen erneut die Worte.
Er winkt mich zu sich, zu einer Kleintierbox, in der ich etwas Kuscheliges sehe, das wohl als Nest dient. Noah greift vorsichtig hinein und holt ein winziges Grauhörnchen hervor, das gerade das erste Fell bekommen hat.
Es ist so klein!
Noah setzt sich auf den abgewetzten Sessel daneben und bietet dem Jungtier eine Flasche mit einem Aufzuchtsauger an. Er ist geübt darin, weiß genau, was er tut. Das erkenne ich an den sicheren Handgriffen.
„Wie kann so etwas so niedlich sein“, sage ich und beobachte völlig fasziniert die Fütterung.
„Willst du es gleich mal halten?“
„Oh ja, bitte!“
„Du müsstest dir nur vorher die Hände waschen, die Babys sind etwas empfindlich.“
„Alles klar.“
Nachdem Noah das Jungtier versorgt hat, gehe ich in das Badezimmer nebenan. Als Noah mir dann das süße Wesen in die Hände legt, versinke ich in dem Anblick. Es schmiegt sich vertrauensvoll in meine Hand, sein Fell fühlt sich ganz seidig an.
„Wo hast du es gefunden?“, frage ich leise und kann meinen Blick nicht abwenden.
„Es wurde von Wanderern im Nationalpark gefunden. Das Nest lag am Boden, seine beiden Geschwister waren leider schon tot, aber Hörnchen lebte. Sie brachten es zu einer Wildtierstation. Die Leute dort kennen mich und baten um meine Hilfe.“
„Konnten sie es nicht selbst aufziehen?“, hake ich neugierig nach.
„Wenn sie so klein sind, ist die Aufzucht ziemlich schwierig, und ich habe schon mal ein so junges Grauhörnchen durchgekriegt.“
„Wie wilderst du es aus?“
„Wenn es älter ist, geht es zurück zur Wildtierstation, die haben da große Auswilderungsgehege, und es wird auch noch ein weiteres Jungtier aus Canmore gebracht, damit es nicht allein ist. Artgenossen sind wichtig.“
„Tut mir leid, dass ich so neugierig bin.“
„Nein, ich finde es schön, dass sich mal jemand dafür interessiert.“
Das Kleine bewegt sich sachte in meiner Hand, es gähnt, was wirklich zuckersüß aussieht. Ich möchte es am liebsten gar nicht mehr hergeben.
Gedämpft höre ich, wie das Telefon in einem anderen Raum klingelt. Noah horcht auf.
„Erwartest du einen Anruf?“
„Eigentlich nicht. Aber wenn jemand anruft, ist es oft die Wildtierstation.“
Nur wenig später klopft es an Noahs Zimmertür.
„Komm rein, Mom.“
Donna öffnet die Tür und späht zu uns herein. „Ich störe euch nur ungern, aber Will braucht deine Hilfe, es geht um einen Schwarzbären.“
„Oh nein, sag mir nicht, dass schon wieder jemand den Müllcontainer offen gelassen hat.“
„Ich fürchte doch.“
„Holt er mich ab?“
„Ja, das würde er machen. Ich wollte dich zuerst fragen, ob du Zeit hast. Er ist noch am Telefon.“
Noah sieht mich entschuldigend an.
„Es ist okay, geh ruhig. Was ist denn passiert?“
Noah nickt seiner Mutter zu. „An manchen Parkplätzen des Nationalparks steht ein großer Müllcontainer für die Touristen. Es stehen überall Schilder, dass man ihn ordentlich verschließen muss. Das machen einige aber nicht. Es kommt dann immer wieder vor …“ Er hält inne, sieht mich prüfend an, wie ich da mit dem winzigen Grauhörnchen sitze. „Hast du schon mal einen Bären gesehen?“
„Von Weitem bei einer Wanderung.“
„Möchtest du mit? Dann siehst du selbst, was passiert ist.“
„Ja! Das wäre toll!“
Noah lächelt und nimmt mir das Grauhörnchen ab, legt es vorsichtig in sein kuscheliges Nest zurück. Die kurze Berührung unserer Hände lässt ein Gefühl in mir aufkeimen, das ich noch nicht einordnen kann.
„Du musst mir allerdings versprechen, unbedingt darauf zu hören, was Will und ich sagen. Schwarzbären können gefährlich sein. Zwar nicht so wie Grizzlys, aber wenn sie Junge haben, sind sie schwer einzuschätzen.“
„Versprochen!“
Noah sucht sich einige Sachen zusammen, schlüpft nun doch in Schuhe, dann gehen wir aus dem Haus, laufen rauf zur Hauptstraße und warten auf diesen Will.
„Ist Will einer der Wildhüter?“
„Nein, er ist für den Bereich der Parkplätze zuständig, und wenn er mich anruft, sind die Wildhüter im Nationalpark mit anderen Dingen beschäftigt und bräuchten zu lange, um vor Ort zu sein.“
„Machst du das öfter? Im Nationalpark aushelfen?“
„Ab und zu mal. Es hat sich herumgesprochen, dass ich gut mit Tieren umgehen kann.“
„Möchtest du dann nicht beruflich etwas mit Tieren machen?“
„Würde ich gerne. Nur das Studium, das ich mir wünschen würde, können wir uns nicht leisten. Deshalb habe ich mich erst mal im Park als Saisonarbeiter beworben. Leider kam bisher noch keine Antwort. Das läuft wohl alles über die Parks Canada Agency. Dann müsste ich zwar den Job im Forest Creek auf Eis legen, doch da habe ich das Okay vom Chef bekommen.“
Bei mir meldet sich das schlechte Gewissen. Ich wiederum würde genug Geld für ein Studium bekommen und kann mich nicht dazu aufraffen. Zwischen uns entsteht das erste Mal ein eher unangenehmes Schweigen, das ich unbedingt durchbrechen will.
„Magst du mir nicht erzählen, was mit dem Bären passiert ist? Ist er verletzt?“
„Das will ich nicht hoffen. Ich glaube viel eher, dass seine Jungen im Container gelandet sind.“
„Im Müllcontainer?!“
„Da gibt es für Bären ziemlich leckere Sachen, bei all dem, was die Besucher so wegwerfen.“
Jetzt beginne ich zu verstehen, die Essensreste müssen für manche Wildtiere sehr verführerisch sein.
Kurze Zeit später kommt Will mit einem Pick-up vorgefahren, der Wagen ist voller Schlammspritzer.
„Geh ruhig auf den Beifahrersitz“, sagt Noah zu mir. Er wendet sich an Will, einen älteren Mann mit Rauschebart und Arbeitshose. „Das ist Rebecca, sie kann doch mitkommen?“
„Wenn sie im Auto bleibt, ja.“
Ich nicke zustimmend. Noah setzt sich auf den Rücksitz. Als Will rasant anfährt und ich mich spontan am Haltegriff festhalte, lacht er mit tiefer Stimme.
Ich kenne die offizielle Strecke zum Parkplatz des Nationalparks. Will hingegen fährt völlig anders, nimmt Feld- und Waldwege. Binnen kurzer Zeit sind wir vor Ort. Und ich sehe das erste Mal einen Schwarzbären aus der Nähe. Das Tier stellt sich auf die Hinterbeine, wahrscheinlich, um uns besser wittern zu können.
„Normalerweise hätte ich es allein hingekriegt, aber sie ist ziemlich sauer.“ Will zuckt mit den Schultern.
Sogar durch das geschlossene Fenster höre ich den verzweifelten Ruf des Bärenjungen. Mir ist es vorher nie aufgefallen, tatsächlich kann der offene Container zur Todesfalle werden, denn die Rückwand schließt direkt an eine kleine Anhöhe an, wo Wildtiere problemlos hochklettern können. In den hohen Container hineinzukommen ist also recht problemlos.
„Was werdet ihr jetzt tun?“
„Ich werde die Bärin ein bisschen ablenken, und Will versucht, ein Brett in den Container zu stellen, damit das Kleine rausklettern kann.“ Er schaut Will an. „Oder sind es mehrere?“
„Das Biest lässt mich nicht mal in die Nähe, ich weiß es nicht. Hast du dein Bärenspray dabei?“
„Hab ich.“
„Geh keine unnötigen Risiken ein, ja?“
Noah lächelt schief. „Ich geb mir Mühe.“
„Und du, Mädchen, bleib bitte im Wagen, ja?“ Der ältere Mann sieht mich beschwörend an.
„Okay.“
Sie steigen aus dem Pick-up. Will klopft Noah auf die Schulter, sieht jedoch mich an. „Ich würde so was nicht jedem zutrauen, aber unser Shawnee hat ein Talent dafür, mit Tieren umzugehen.“
Ich höre tatsächlich väterlichen Stolz aus Wills Worten und frage mich, wie gut er Noah kennt. Der geht in einem großen Bogen um den Schwarzbären herum. Wenn ich es richtig verstanden habe, geht es hauptsächlich darum, das Muttertier kurz abzulenken. Trotzdem steigt Sorge in mir auf.
Will sieht mich prüfend an. „Sag mal, kannst du schon fahren?“
„Ja.“
„Schaffst du es, das Auto rückwärts an den Container zu lenken?“
„Ich denke schon.“
„Gut, das erleichtert die Sache ungemein. Ich gehe dann auf die Ladefläche und stell das Brett in den Container.“
Die Bärin hat sich wieder auf alle Viere fallen lassen. Argwöhnisch sieht sie auf den Pick-up, gibt einen drohenden Laut von sich. Noah steht etwas entfernt und ruft ihr etwas zu. Das Tier sieht sich verwirrt um, entdeckt ihn, scheint hin- und hergerissen zu sein. In Noahs Händen sehe ich das Bärenspray, das man im Notfall bei einem Angriff verwendet. Es wehrt nur ab, ähnlich wie ein Pfefferspray.
Noah macht nun auf sich aufmerksam, indem er die Arme auf- und ab bewegt.
Will schleicht sich auf die Ladefläche, ich rutsche umständlich auf den Fahrersitz, das Fenster kurble ich runter, um zu hören, was Will oder Noah mir vielleicht sagen wollen.
Ich schaue auf den Bären, der zwar den Bereich um den Müllcontainer nicht verlässt, Noah jedoch aufmerksam beobachtet. Er läuft in Richtung Wald, wagt sogar, sich dem Bären etwas zu nähern.
Mir klopft das Herz bis zum Hals. Schwarzbären sind nicht so gefährlich wie Grizzlys, in Ausnahmefällen kann es trotzdem vorkommen, dass sie Menschen als Beute ansehen. Ich sorge mich um Noah.
Er wiederum schafft es, dass sich die Bärin umdreht, sodass sie uns den Rücken zukehrt.
„Fahr jetzt langsam zum Container“, raunt Will mir zu und ich tue, was er sagt.
Langsam wende ich den Pick-Up, fahre in die Nähe des Bären. Vor Aufregung klopft mein Herz wie wild und meine Hände schwitzen. Im Augenwinkel sehe ich, dass sich Noah noch näher an das große Raubtier herantraut.
„Geh nicht so nah ran“, höre ich Will murmeln.
Erst fühle ich mich angesprochen, aber durch das Rückfenster sehe ich, dass er seine Augen auf Noah gerichtet hat. Wir sind nun am Container und ich stoppe das Fahrzeug. Will hat das speziell präparierte Brett schon in der Hand und hievt es nun in den großen Metallbehälter.
Mein Blick ist auf Noah gerichtet. Ich kann nicht verstehen, was er zu dem Tier sagt, doch er spricht zu ihm. Die Bärin hat die Ohren aufgestellt, bleibt ruhig, beobachtet aufmerksam. Sie kriegt gar nicht mit, dass wir uns so nah an ihr Junges gewagt haben.
Will klopft gegen die Scheibe, ich schaue zu ihm hin, und er gibt mir mit einer Geste zu verstehen, dass ich vorfahren soll. Ich zögere nicht und lenke den Pick-up auf die andere Seite des Parkplatzes, näher zu Noah hin. Der geht nun langsam rückwärts auf uns zu und fort von dem Schwarzbären. Ich atme auf, als er sich wohlbehalten auf den Beifahrersitz setzt. Spontan greife ich nach seinem Unterarm, bin einfach froh, dass nichts weiter passiert ist. Er lächelt, in seinen dunklen Augen blitzt etwas auf.
„Da! Jetzt kommt es hoch“, ruft Will.
Ich nehme rasch meine Hand fort und beobachte den Müllcontainer. Das Bärenkind kommt herausgeklettert, schafft es auf die Anhöhe und läuft zu seiner Mutter. Die schnuppert an ihrem Jungen, scheint noch immer aufgeregt zu sein. Nach einer kurzen Wartezeit richtet sie sich auf, stellt die Pranken an den Rand des Containers, schaut hinein.
„Da stimmt was nicht, Will“, sagt Noah mit besorgter Stimme.
„Ich hab nur schnell das Brett reingestellt, gesehen habe ich nicht viel.“
Noah öffnet die Wagentür.
„Was hast du vor?!“
„Ich muss nachsehen.“
Will und ich rufen beide erschrocken seinen Namen.
„Ich kenne die Bärin. Auf meinen Wanderungen bin ich ihr schon oft begegnet. Sie hat diese helle Stelle im Fell, an der Flanke.“
„Und deshalb kennst du sie?“, zischt Will und schaut ihn von der Ladefläche ungläubig an.
Unwillig schüttelt Noah den Kopf. „Vertrau mir.“
Bevor wir protestieren können, geht Noah erneut auf die Bärin zu.
„Die Wildhüter hätten eventuell schon längst andere Maßnahmen ergreifen müssen, weil sie ständig an die Container geht“, brummt Will. „Es ist gefährlich, wenn sich die Bären daran gewöhnen, dass Menschen Futter übriglassen, gewollt oder ungewollt.“
Ich weiß, wie streng die Regeln diesbezüglich sind und bin froh, dass Will dies hier anscheinend eher inoffiziell handhabt. Doch das, was Noah gerade vorhat, ist gefährlich.
Wieder spricht er zu dem großen Muttertier, und sie antwortet ihm sogar, was sogar Will verwundert den Kopf schütteln lässt.
„Wären wir in einer anderen Zeit, wäre er bestimmt bald Medizinmann oder so“, grummelt Will in seinen Bart.
Zu unserem Erstaunen tritt die Bärin zurück, als sich Noah dem Container weiter nähert. Mit seltsamen Lauten geht sie zu ihrem Jungen, das etwas abseits wartet. Noah nutzt die Chance und klettert auf der anderen Seite die Anhöre rauf.
„Dieser verrückte Kerl“, schimpft Will leise.
Ich vergesse fast zu atmen, denn Noah schaut in den Müllcontainer und springt kurzerhand hinein. Ich schaue zu der Bärenmutter, die sich nicht von der Stelle rührt. Auf einmal kommt ungelenk ein zweites Bärenkind hervor. Noah hilft ihm über das präparierte Brett, und es stolpert den Hang hinunter. Seine Mutter beschnuppert es. Sie hebt den Kopf, sieht Noah direkt an. Der steht bewegungslos auf dem schräg gestellten Brett. Die Bärin senkt schließlich den Kopf zu ihren Jungen, stupst es an. Zusammen verschwinden sie zwischen den Bäumen.
„Fahr zu ihm hin“, sagt Will leise.
Ich höre ihn vage durch das offene Seitenfenster, aber es holt mich aus der Starre, die mich irgendwie befallen hat. Noah kommt uns bereits entgegen, reicht Will das Brett und setzt sich gelassen auf den Rücksitz. Den Container hat er ordentlich verschlossen.
Will klettert von der Ladefläche. „Mach das nie wieder!“, blafft er ihn an.
Ich husche vom Fahrersitz auf den Rücksitz, um mich neben Noah zu setzen.
„Das zweite Bärenjunge saß total im Müll fest. Ohne Hilfe wäre es nie da rausgekommen“, verteidigt er sich.
Will brummelt etwas Unverständliches in seinen Bart, setzt sich ins Auto und wendet sich zu uns um. „Man sollte dich Der mit dem Bär tanzt nennen.“
Noah lacht über die Aussage, lässt sich von dem älteren Mann überhaupt nicht einschüchtern. Ich kann nicht sagen, ob ich gutheiße, was er getan hat. Einerseits bewundere ich ihn. Andererseits hat er sein Leben riskiert, was mir gar nicht gefällt. Ich schaue ihn von der Seite an, erkenne, dass er für seine Tat keinen Ruhm möchte. Er wollte schlicht helfen.
Sein Blick streift mich. Ich erkenne plötzlich, dass noch viel mehr dahintersteckt. An seinem Ausdruck sehe ich, dass er dem Tier helfen musste. Als bliebe ihm gar keine Wahl.
Nachdenklich sehe ich aus dem Seitenfenster.