Leseprobe Die flammende Leidenschaft des Highlanders

Prolog

Ellyson Towers im schottischen Grenzland, Juli 1541

Lady Anne Ellyson blickte verzweifelt auf ihren sterbenden Vater, den dritten Grafen von Armadale, der soeben kraftlos versuchte, sich im Bett aufzurichten. Die Schlafkammer war stickig, zu warm und von den mannigfaltigen Gerüchen eines Krankenzimmers erfüllt. Sie gab dem Diener des Grafen ein Zeichen, dass er seinem Herrn behilflich sein sollte.

Zierlich wie sie war, fühlte sich Anne neben dem riesigen Bett ihres Vaters noch kleiner und verletzlicher als gewöhnlich. Als ihre Zofe sie geweckt hatte, hatte sich Anne ein altes Kleid über ihr Nachthemd gezogen und war in pelzgefütterte Pantoffeln geschlüpft. Ihr kastanienbraunes Haar fiel ihr in wildem Lockengewirr über den Rücken und ihre grauen Augen blickten traurig. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt, und als sie einen Blick auf den Grafen warf, krampfte sich ihr vor Angst der Magen zusammen.

„Kissen“, flüsterte Armadale.

Ohne Widerrede, doch mit deutlicher Missbilligung half ihm sein Diener, sich ein wenig aufzurichten, und schob ihm ein dickes Kissen in den Rücken.

„Er ermüdet schnell, Mylady“, sagte der Mann mit einem vielsagenden Blick.

Mit matter, aber etwas kräftigerer Stimme als zuvor sagte der Graf: „Geh hinaus, John. Ich möchte unter vier Augen mit der Lady sprechen.“

„Jawohl Mylord.“ Im Hinausgehen fügte der Diener hinzu: „Ich werde vor der Tür warten, Lady Anne.“

Sie nickte, ohne die Augen von der hinfälligen Gestalt im Bett abzuwenden.

Es war vier Uhr morgens und in den zwei kurzen Stunden, seit sie ihn verlassen hatte, schien er noch mehr an Gewicht, Kraft und Farbe eingebüßt zu haben. Sein normalerweise rötlicher Teint war grau, die Augenlider hingen schwer herab. Doch die hellblauen Augen dahinter funkelten noch beinahe so wild wie früher.

Wie die meisten Männer aus dem schottischen Grenzland war auch Armadale nur knapp mittelgroß, doch ein vorzüglicher Reiter. Und er besaß einen ausgeprägten Sinn für Unabhängigkeit. Bis vor vierzehn Tagen war er noch ein gesunder, handfester und lebensvoller Mann gewesen. Seine legendäre Kraft beruhte nicht alleine auf seinem Rang und seiner Energie, sondern ebenso auf seinem überlegenen Auftreten und seinem sprichwörtlich aufbrausenden Temperament. Alles, was ihm von dieser Kraft und Überlegenheit geblieben war, lag in dem grimmigen Blick, den er seinem einzigen überlebenden Kind zuwarf, sobald der Diener die Tür hinter sich zugezogen hatte.

Unwillkürlich wappnete Anne sich, doch schon seine ersten Worte machten deutlich, dass sich sein Zorn nicht gegen sie richtete.

„Ich lasse dich schmählich im Stich, Mädchen. Bei Gott, das tue ich wahrhaftig.“

Das unverhoffte Eingeständnis löste in ihr ein ungewohntes Gefühl der Zuneigung für ihn aus und sie antwortete: „Ihr tut nichts dergleichen, Sir. Und Ihr solltet Euch nicht mit solchen Gedanken belasten, sondern versuchen, wieder einzuschlafen. Ich bin sicher, Ihr werdet Euch viel besser fühlen, wenn Ihr ein wenig geruht habt.“

„Ach was, ich gehe nun dahin, wie deine Mutter und deine beiden kleinen Schwestern vor mir. Und bald genug werde ich die ewige Ruhe finden. Ob ich mich dann allerdings besser fühlen werde, hängt davon ab, wohin der Allmächtige mich schickt. Ich habe nicht viel Hoffnung, in den Himmel zu kommen, denn ich habe kein sehr frommes Leben geführt. Aber das lässt sich jetzt auch nicht mehr ändern. Aber ein Gutes hat die Sache doch. Wo auch immer ich hingehe, ich werde dort die meisten der Männer treffen, mit denen ich im Laufe der Jahre zu tun hatte und die mir vorausgegangen sind. Wir waren alle vom gleichen Schlag, egal auf welcher Seite wir standen.“

Anne bekreuzigte sich hastig und sagte: „So dürft Ihr nicht reden!“

Der Hauch eines Lächelns trat auf seine trockenen, rissigen Lippen. „Gott kennt mich durch und durch, Anne, mein Mädchen. Er wird sich schon nicht daran stören, was ich jetzt noch sage.“

„Aber …“

„Still, Mädchen. Ich habe weder die Zeit noch die Kraft, mich mit dir zu zanken. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich es schaffe, mit dir zu reden, denn gerade eben noch hätte ich kaum den Mund öffnen können, um einen Schluck Wasser zu trinken. Doch ich muss die Gelegenheit nutzen, denn es gibt noch einiges, das du wissen musst, bevor ich dich verlasse.“

„Das kann ich doch alles von Eurem Vertrauensmann in Hawick erfahren“, widersprach sie. „Ich nehme an, er kennt Eure Verfügungen, oder nicht?“

„Ja, Scott weiß Bescheid. Doch in einigen Angelegenheiten wusste ich mir auch keinen Rat, jetzt, da dein Bruder nicht mehr da ist.“

Er verstummte und seine Augen nahmen diesen abwesenden Ausdruck an, den Anne seit jenem Tag vor fast einem Jahr so oft an ihm bemerkt hatte. Damals hatten sie die entsetzliche Nachricht erhalten, dass Sir Andrew Ellyson in einem kurzen, aber blutigen Scharmützel an der Grenze bei Carter Bar gefallen war. Zu den Kämpfen war es gekommen, nachdem englische Soldaten König Heinrichs VIII. im Zuge ihrer Zermürbungstaktik einen Überfall auf schottisches Gebiet unternommen hatten.

Von diesem Tag an hatte sich der Graf innerlich immer mehr zurückgezogen und immer weniger Interesse an seinen Ländereien und Leuten gezeigt. Er war auch weiterhin seinen Pflichten nachgekommen, doch Andrews Tod schien auch die Lebensflamme seines Vaters zum Erlöschen gebracht zu haben.

Vor zwei Monaten dann hatte die Nachricht, dass die Gräfin wieder ein Kind erwartete, seine Lebensgeister noch einmal ein wenig geweckt. Doch der schwache Hoffnungsschimmer war nicht von langer Dauer gewesen, denn bereits sechs Wochen später waren seine Lady und ihr ungeborenes Kind ebenfalls gestorben.

Im Grenzland, und hier besonders in Roxburghshire, wütete zu der Zeit ein schreckliches Fieber, das Familien dahinraffte und ganze Dörfer entvölkerte. Die Seuche hatte bereits nachgelassen und die Familie des Grafen hoffte schon, das Schlimmste überstanden zu haben, da schlug die Krankheit auch auf Ellyson Towers zu.

Um den Grafen wieder in die Gegenwart zurückzuholen, sagte Anne: „Was soll ich tun?“

„Du darfst nicht hierbleiben“, erwiderte er mit kraftloser Stimme.

„Aber ich dachte …“ Es fiel ihr schwer, in diesem Augenblick über die Verfügungen ihres Vaters zu sprechen.

„In zwei Jahren, wenn du einundzwanzig wirst, gehört Ellyson Towers dir. Bis dahin wirst du von den Pachtgeldern auskömmlich leben können, auch wenn der vermaledeite König Heinrich Unheil stiftet, wo er nur kann.“

Sie nickte. Das hatte die Gräfin vor ihrem Tod auch erwähnt. Bei der Erinnerung an ihre Mutter kamen Anne die Tränen. Sie schluckte sie hinunter und richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf die Worte ihres Vaters, dessen Stimme jetzt rasch schwächer wurde.

„Scott wird einen Brief an Thomas schreiben …“

„Thomas Ellyson?“

„Ja. Er erbt meine Titel und die Ländereien der Armadales in Stirlingshire.“ Er tat einen rasselnden Atemzug. „Er wird ganz schön überrascht sein.“

„Aber du hast ihn doch sicher von Andrews Tod unterrichtet, oder?“

„Ja, schon, aber damals hat er sich nicht einmal die Mühe gemacht zu antworten. Wahrscheinlich glaubte er, mir bliebe noch genügend Zeit, eine ganze Schar von Söhnen in die Welt zu setzen. Du musst ihm ebenfalls schreiben, Mädchen. Das gehört sich so; immerhin wird er nach meinem Tod das Familienoberhaupt sein.“

„Aber er muss sich doch gewiss nicht um mich kümmern, oder?“, fragte Anne. Aus den Tagen der Kindheit und von seinen wenigen späteren Besuchen hegte sie durchaus freundliche Erinnerungen an den entfernten Cousin, doch der Gedanke, dass ein praktisch Fremder über ihr Leben bestimmen sollte, war nicht sehr verlockend.

Die ausgedörrten Lippen des Grafen verzogen sich ein wenig. „Du musst meinen Anordnungen folgen, Mädchen.“

„Ja, Sir, aber ich würde doch lieber hierbleiben.“

„Das geht nicht, da wir hier nur drei Meilen von der Grenze und Heinrichs Armee entfernt sind. Außerdem stellen die adeligen Befehlshaber unseres Königs Jakob ebenfalls ein Heer zur Verteidigung Schottlands auf und als schutzloses Mädchen darfst du auf keinen Fall zwischen die Fronten geraten, wenn der Kampf losgeht. Du kannst auch nicht damit rechnen, dass Jakob dich beschützt, denn zum einen ist er gar nicht hier und zum anderen hat er genug damit zu tun, jeden Tag von Neuem herauszufinden, wer für ihn und wer gegen ihn ist.“

„Aber ich …“

„Keine Widerrede“, sagte ihr Vater. „Du gehst zu deiner Tante Olivia nach Mute Hill House.“

„Mute Hill House?“ Daran konnte sich Anne kaum noch erinnern, denn der Wohnsitz ihrer Tante Olivia, Lady Carmichael, lag ziemlich weit entfernt und Anne war zuletzt als kleines Kind dort gewesen.

„Das ist keine schlechte Lösung“, fuhr der Graf fort. „Dort bist du nur zehn Meilen von zu Hause fort und außerdem ist das Haus groß und wohlbefestigt und es lässt sich behaglich und sicher darin leben. Du könntest auch versuchen, deine Tante ein wenig aufzuheitern, da sie immer noch ihrem vor zwei Jahren verstorbenen Gatten nachtrauert. Ihre Gesellschaft mag ja nicht sehr anregend sein, aber vielleicht freundest du dich mit deiner Cousine an. Du bist zwar ein wenig älter als sie, doch habt ihr beide einiges gemeinsam, nicht zuletzt den Namen meiner Mutter, Fiona Anne.“

„Aber ich …“

„Es ist beschlossene Sache“, knurrte ihr Vater. „Du gehst zu Olivia.“

Anne nickte seufzend. „Auf jeden Fall würde ich lieber auf Mute Hill leben als weit weg in Stirlingshire bei meinem Cousin Thomas.“

„Falls Thomas Ellyson mittlerweile geheiratet haben sollte, so hat er es zumindest nicht für nötig gehalten, mich davon in Kenntnis zu setzen“, sagte der Graf mit einem leisen Anflug seiner alten Gereiztheit. „Und wenn er noch ledig ist, wäre es sowieso höchst unschicklich für dich, bei ihm zu leben, auch wenn er Jahre älter ist als du.“

„Ja, da werdet Ihr wohl recht haben.“

„Ich bin überzeugt davon, dass du sowieso nicht lange bei Olivia bleiben wirst, mein Mädchen. Als Erbin von Ellyson Towers und mit dem Vermögen deiner Mutter und dem, was ich dir hinterlasse, wirst du eine reiche Frau sein und eine gute Partie machen können, egal ob Heinrich nun das Grenzland oder womöglich ganz Schottland erobert.“

„Wenn es so ist, Sir, habt Ihr mich doch nicht mittellos im Stich gelassen.“

„Mein liebes Kind, du bist nun fast neunzehn Jahre alt und solltest längst verheiratet sein. Aber ich bin sicher, deine Tante Olivia wird im Handumdrehen eine Ehe für dich einfädeln. Sie ist zwar eine törichte Person, die zu viel an sich selbst denkt, aber immerhin hat sie eine Verlobung zwischen ihrer Tochter und Sir Christopher Chisholm von Ashkirk und Torness arrangiert. Das war kein schlechter Schachzug und ich möchte meinen …“

Doch was er meinte, sollte sie nie erfahren, denn da packte ihn ein heftiger Hustenanfall und es ging mit ihm zu Ende. Sein Blick erstarrte, sein hinfälliger Körper verfiel in einen Krampf, er tat noch einen letzten keuchenden Atemzug, dann schloss er für immer die Augen.

Die Verzweiflung schlug über Anne zusammen. Noch vor kaum zwei Wochen war sie Mitglied einer glücklichen, lebhaften Familie gewesen und nun stand sie ganz allein in der Welt. Zwar gefiel es ihr nicht, wie selbstherrlich ihr Vater über ihre Zukunft verfügt hatte, dennoch war es sein gutes Recht gewesen und sie musste gehorchen. Und außerdem brachte sie noch nicht einmal jetzt, da er tot war, den Mut auf, sich gegen seine Wünsche aufzulehnen.

Sobald er auf dem kleinen Friedhof vor der Burgmauer lag, würde sie ihre Sachen packen und nach Mute Hill House ziehen.

1

Sechs Wochen später

Der achtundzwanzigjährige Kit Chisholm musste hart schlucken, als er und seine beiden schweigenden Gefährten den Gipfel eines Hügels einige Meilen südlich von Moffat erklommen hatten. Denn der Salzgeruch, den die sanfte Brise herantrug, löste sehnsüchtige Erinnerungen in ihm aus. Die drei waren an diesem ersten sonnigen Morgen seit einer Woche in aller Frühe von Lanark aufgebrochen und hatten bereits acht Stunden im Sattel hinter sich. Während der vergangenen vier Tage, die gleichermaßen lang, regnerisch und trübsinnig verlaufen waren, hatten sie sich vom Hochland aus immer nach Süden gehalten. Jetzt waren die Männer müde, doch Kit wusste, dass Tam und Willie als Abkömmlinge des Grenzlandes in diesem Augenblick dasselbe empfanden wie er.

Vor ihren Augen, jenseits des weiten Waldes von Eskdale, lag die Heimat seiner Kindheit; die steilen Hügel und schroffen Flusstäler von Roxburghshire. Zwischen dicht bewaldeten Hängen und vereinzelten Flecken Ackerland rauschten wilde Bergbäche zu Tal, um sich in Flüsse wie den Teviot, Ewes oder Liddel zu ergießen.

Das schmerzhafte Heimweh, das Kit bei diesem Anblick empfand, schien umso stärker zu werden, je näher er seinem Zuhause kam. Sechs lange Jahre waren vergangen, seit jenem Tag, an dem er Burg Hawks Rig wutentbrannt verlassen und sich auf den Weg ins Hochland gemacht hatte. Damals hätte er sich nicht vorstellen können, dass er jemals Heimweh haben würde, doch er hatte sich getäuscht. Seine Sehnsucht war noch immer so stark wie während der fünfzehn Monate, die er als Gefangener an Bord der Marion Ogilvy verbracht hatte. Diese endlosen Monate hatten sich ihm als eine Zeit der Einsamkeit ins Gedächtnis gebrannt, in der hilfloser Zorn und tiefe Verzweiflung einander abgewechselt hatten.

Jetzt, da er beinahe zu Hause war, fiel es ihm leichter, sich sein Heimweh einzugestehen. Vielleicht, so dachte er, war er auch einfach erwachsen geworden.

Er hatte keine Ahnung, was vor ihm lag. Sein Vater, der Laird von Ashkirk und Torness, war während Kits Abwesenheit verstorben, daher gehörten Hawks Rig und die Ländereien jetzt seinem Sohn. Doch Kits erste Regung, als er vom Tod seines Vaters erfahren hatte, war Zorn gewesen – Zorn über den alten Laird, der gestorben war, bevor er sich mit seinem Sohn aussöhnen konnte, und Zorn auf sich selbst, dass er nicht eher eingelenkt hatte.

„Was glaubst du“, brach der junge Willie Armstrong das lang anhaltende Schweigen, „wie weit ist es noch bis Hawks Rig?“

Kit runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht genau“, sagte er. „Wenn wir fliegen könnten, vielleicht zehn Meilen. Aber da wir reiten müssen, brauchen wir bestimmt noch einen halben Tag. Doch bis nach Dunsithe ist es nur eine gute Stunde.“

„Das trifft sich gut“, erwiderte der ältere, stämmige Tam mit seiner tiefen, rauen Stimme. „Ich freue mich schon auf ein bequemes Nachtquartier.“

„Ich bin gespannt, was sie dort zu unseren Neuigkeiten sagen“, bemerkte Kit nach einer Weile.

 

In der Nähe von Burg Dunsithe

„Reiter!“ Der zwölfjährige Klein Jock von der Mauer raste barfuß durch das feuchte Gras den Hügel hinab und schrie: „Reiter auf dem Weg zur Burg, Laird!“

Der ‚wilde‘ Fin Mackenzie, Laird von Kintail, und sein Burgvogt und bester Freund, Sir Patrick MacRae, drehten sich im Sattel um. Sie hatten den ersten trockenen Tag nach einer ganzen Regenwoche genutzt, um auf die Beizjagd zu gehen.

„Wie viele, Jock?“, brüllte Fin zurück.

„Drei“, gab der Junge zur Antwort. „Von den Bäumen da hinten könnt Ihr sie selbst sehen.“

„Reite schon mal los, Fin“, sagte Patrick. „Ich hole Zeus zurück und komme dann nach. Pfeif den Hunden, Jock.“

„Ja, Sir.“ Jock steckte zwei Finger in den Mund und ließ einen gellenden Pfiff hören. Kurz darauf kamen die drei Spaniel hechelnd und schwanzwedelnd angerannt. Donner, der riesige Hirschhund, folgte ihnen in gemessenem Tempo. Dennoch war er immer noch schnell genug, um die kleineren Hunde zu überholen und als Erster bei seinem jungen Herrn zu sein.

Patrick stieß einen besonderen Lockpfiff aus, worauf der große Hühnerhabicht sich mit ausgebreiteten Schwingen von seinem Ansitz auf einem nahe gelegenen Baum gleiten ließ und auf ihn zugeflogen kam. Als Zeus sich auf Patricks Lederhandschuh niederließ, griff der nach den Fußfesseln des Vogels und gab ihm zur Belohnung einen Wachtelflügel. Während Zeus sich daran machte, den Flügel zu vertilgen, trieb Patrick sein Pferd an und hatte gleich darauf Kintail eingeholt.

„Drei, genau wie der Junge gesagt hat“, berichtete ihm Kintail. „Sie tragen kein Banner.“

Mit seinem scharfen Blick, der dem des Habichts in nichts nachstand, hatte Patrick diesen Umstand bereits bemerkt, und darüber hinaus noch weitere Einzelheiten erkannt.

„Lieber Himmel“, murmelte er. „Ich glaube, mein Blick trügt mich.“

„Das wäre mal etwas Neues“, erwiderte Kintail „Wieso denn?“

„Weil mir scheint, dass wir gerade Besuch von einem Toten bekommen.“

 

Sobald Burg Dunsithe in Sicht kam, machte Kit seine Gefährten darauf aufmerksam. Massig thronte die Burg auf dem höchsten Hügel weit und breit und hob sich mit ihren grauen eckigen Türmen und den runden Türmchen scharf gegen den klaren blauen Himmel ab.

„Die ist wirklich schön“, bemerkte Willie Armstrong. „Möchte mal wissen, wie viele Rinder sie hier in den Hügeln weiden lassen.“

„Du wirst deine Räuberseele gefälligst im Zaum halten, solange wir hier sind, mein Bürschchen“, gab ihm Kit zur Antwort. „Kintail ist mein Freund und außerdem ein Mann, mit dem man sich besser nicht anlegt. Und sein Burgvogt, Sir Patrick MacRae erlegt einen Hirsch auf vierhundert Meter mit einem Schuss seines Langbogens.“

Mit großen unschuldigen Augen sagte Willie: „Ich würde doch nie im Leben Vieh stehlen, das einem Freund von dir gehört, Kit. So gut solltest du mich doch kennen, stimmt‘s nicht, Tam?“

Der ältere Mann grunzte bloß.

„Willst du damit vielleicht sagen, dass ich Freunde beraube, Tam?“, empörte sich Willie.

„Um ehrlich zu sein, Junge“, erwiderte Tam, „ich glaube, du würdest deiner Mutter das Federbett klauen, wenn du es versilbern könntest.“

Kit prustete, woraufhin Willie ihm einen finsteren Blick zuwarf, dann aber so klug war, das Thema fallen zu lassen.

„Sie haben uns gesehen“, sagte Tam.

„Ja“, antwortete Kit, der die beiden Männer, die ihnen entgegengeritten kamen, auch bemerkt hatte.

Obwohl die beiden ebenso hochgewachsene und breitschultrige Hochländer waren wie er selbst, saßen sie so sicher im Sattel wie Männer aus dem Grenzland. Einer von ihnen trug einen großen Habicht auf der Faust, der ab und zu die Flügel hob, als wolle er bei dem schnellen Ritt den Wind unter seinen Schwingen spüren.

Lächelnd sagte Kit: „Gleich lernt ihr unseren Gastgeber und seinen Burgvogt kennen.“ Er zügelte sein Pferd und wartete auf die Ankunft der beiden Reiter. Dabei bemerkte er einen Jungen, der in Begleitung von vier Hunden den Hügel zur Burg hinaufrannte.

Tam hatte sie ebenfalls gesehen. „Wahrscheinlich hetzt er uns gleich eine ganze Armee auf den Hals“, knurrte er grimmig.

„Ich glaube eher, die Diener legen noch ein paar Gedecke mehr fürs Abendessen auf“, entgegnete Kit.

„Ich rechne aber doch eher mit Pfeilen und Speeren“, widersprach Tam. „Sie können uns doch unmöglich schon erkannt haben.“

„Sie wissen genau, wer wir sind“, sagte Kit und hob die Hand, um Patricks Gruß zu erwidern.

„Wie das?“, fragte Willie.

„Sir Patrick hat auf die Entfernung einen noch schärferen Blick als ich.“

„Ja dann“, erwiderte Willie und nickte. „Auf dem Schiff konntest du ein Segel oder eine Anlegestelle immer als Erster ausmachen.“

Tam warf Kit einen prüfenden Blick zu. „Ich habe dich schon mit dem Schwert kämpfen sehen, doch noch nie mit einem Bogen. Wenn du so scharfe Augen hast, dann sollte das doch eigentlich die ideale Waffe für dich sein.“

„Sir Patrick kann besser mit dem Bogen umgehen“, erwiderte Kit, „aber ganz schlecht bin ich auch nicht darin.“

„Bei allem, was wir im Hochland und in der Gegend hier gesehen haben, möchte ich wetten, dass du bald Gelegenheit haben wirst, dein Können zu beweisen“, sagte Tam. „Es heißt, Heinrichs Heer hält sich irgendwo zwischen der Grenze und der englischen Stadt York zum Angriff bereit.“

Die beiden Reiter waren langsamer geworden und winkten sie zu sich.

„Los, kommt“, sagte Kit und trieb sein Pferd an.

Er freute sich wie ein kleiner Junge, als Kintail ihm auf die Schulter schlug und Patrick rief: „Bei allen guten Geistern, Kit Chisholm! Wir dachten, du wärst tot!“

„Ich war nahe daran, das kann ich euch sagen“, antwortete Kit. „Auf jeden Fall habe ich fünfzehn lange Monate in der Hölle verbracht. Das hier sind meine Jungs, Tam und Willie“, fügte er hinzu, bevor Kintail oder Patrick ihn ausfragen konnten.

Nachdem die Männer sich die Hände geschüttelt hatten, sagte Kit: „Wie kommt ihr darauf, dass ich tot wäre? Ich habe mich zwar länger als beabsichtigt außer Landes aufgehalten, aber davor war ich vier Jahre lang im Hochland und davor …“

„Ach, so war das also?“, sagte Patrick und kniff die Augen zusammen. „Weißt du, ich habe gehört, was geschah, bevor du verschwunden bist, und Fin weiß auch Bescheid. Aber wir müssen wohl nicht betonen, dass wir kein Wort von den Gerüchten über dich geglaubt haben.“

Mit hochgezogenen Brauen warf er einen fragenden Blick auf Tam und Willie, bevor er wieder Kit anblickte.

„Die beiden wissen mehr über die Morde als du“, beantwortete dieser die unausgesprochene Frage. „Wir können also offen reden. Ich kenne die beiden seit meinen Kindertagen, sie sind absolut vertrauenswürdig“, fügte er noch hinzu.

„Dann darf ich wohl annehmen, dass die Sache erledigt ist, und die Anklage gegen dich fallengelassen wurde.“

„Ja“, antwortete Kit nur.

„Aber wie hast du es fertiggebracht, über ein Jahr lang zu verschwinden?“, fragte Patrick.

„Dafür kann ich mich beim Sheriff von Inverness bedanken. Seine Männer glaubten, ich hätte zwei Morde begangen. Doch da sie fürchteten, dass ich vor einem Gericht freigesprochen worden wäre, nahmen sie mich einfach gefangen und übergaben mich einem von Kardinal Beatons Schiffskapitänen, so als sei ich ein verurteilter Verbrecher. Fünfzehn Monate lang musste ich zwangsweise als Matrose dienen. Dabei spielte es keine Rolle, dass es nie eine ordentliche Gerichtsverhandlung gegeben hatte und ich immer wieder meine Unschuld beteuerte. Endlich gelang es Tam, Willie und mir zu fliehen und ich konnte meine Unschuld beweisen.“

Patrick warf einen neugierigen Blick auf Tam und Willie, als hätte er sie zu gerne gefragt, welche Verbrechen sie denn begangen hatten. Doch dann riss er sich zusammen und sagte zu Kit: „Ich bin froh, dass du dich von dem Verdacht reinwaschen konntest. Aber ob es dir nun gefällt oder nicht, mein Junge, offiziell bist du mausetot.“

„Tot?“ Als Patrick nickte, fuhr Kit fort: „Aber wieso offiziell, wo doch jeder sehen kann, dass ich noch am Leben bin?“

Bevor Patrick zu einer Erklärung ansetzen konnte, gebot ihm Kintail mit erhobener Hand Einhalt. „Sollen wir nicht nach Dunsithe reiten und uns dort weiter unterhalten? Ihr müsst auf jeden Fall über Nacht bleiben, Kit. Molly und Beth möchten euch sicher kennenlernen und hören, was für Neuigkeiten ihr bringt.“

„Molly und Beth?“

„Unsere Frauen“, erklärte Patrick mit vor Stolz leuchtenden Augen. „Sie sind beide in anderen Umständen, also achtet auf eure Worte.“

„Da gratuliere ich euch beiden“, sagte Kit. „Ich bringe in der Tat Neuigkeiten, vor allem von deiner Mutter und Schwester, Patrick.“

Überrascht und ein wenig auf der Hut fragte Patrick: „Wie geht es den beiden?“

„Ausgezeichnet“, erwiderte Kit. „Um genau zu sein, deine Schwester hat kürzlich meinen Cousin Alex Chisholm geheiratet.“

Patrick fiel der Unterkiefer herunter. „Warum haben wir nichts davon gehört?“, wollte er wissen.

Kit lachte leise. „Ich vermute, dass Bab dir eins auswischen wollte“, sagte er.

„Er kann dir ja auf dem Weg zur Burg alles darüber erzählen“, unterbrach ihn Kintail in bestimmtem Ton. „Mittlerweile haben unsere Männer bestimmt schon auf den Zinnen Aufstellung genommen und halten nach uns Ausschau, und wenn wir nicht bald zurückkommen, werden uns unsere Frauen noch entgegenreiten.“

Während sie den Hügel nach Dunsithe hinaufritten, berichtete Kit, was er über die Heirat zwischen Barbara MacRae und Sir Alex Chisholm wusste.

„Also hat meine Mutter alles eingefädelt“, sagte Patrick, als Kit seinen Bericht beendet hatte. „Das ist ja erstaunlich!“

„Das kann man wohl sagen“, antwortete Kit grinsend. „Aber du warst auch nicht ganz unschuldig daran, Patrick. Schließlich hast du diese Heirat ja so oft vorgeschlagen, dass sie es wohl nicht für notwendig hielten, dich um Erlaubnis zu fragen.“

Sie sprachen noch länger über die Hochzeit und weitere Nachrichten aus dem Hochland, bis sie durch das geöffnete Tor in den kopfsteingepflasterten Burghof ritten.

Zwei schöne junge Frauen, die einander sehr ähnlich sahen, kamen herbeigeeilt.

„Wir dachten schon, ihr würdet nie mehr zurückkommen“, sagte die ältere vorwurfsvoll zu Kintail. Ihre üppigen rotgoldenen Locken fielen ihr fast bis auf die Hüften, und daraus, dass Kintail vom Pferd sprang und sie in die Arme nahm, konnte Kit unschwer schließen, dass es sich um seine Gemahlin handelte.

Die andere Frau hatte bei aller sonstigen Ähnlichkeit glattes, silberblondes Haar und strahlte eine heitere Ruhe aus, die Kintails Frau fehlte. Geduldig wartete sie, bis Patrick den Habicht einem bereitstehenden Diener übergeben hatte und abgesessen war, bevor sie ihm entgegenging und seine Umarmung herzlich erwiderte. Beide Frauen waren ganz offensichtlich schwanger.

Nachdem Kintail sie vorgestellt hatte, sagte er, während auch Kit vom Pferd stieg: „Dieser Gentleman ist Sir Christopher Chisholm, Laird von Ashkirk und Torness.“

Molly runzelte die Stirn. „Aber wurde denn nicht erzählt, dass … ich meine …“

Als sie verstummte, sagte Patrick mit einem glucksenden Lachen: „Ja, Kit ist tot. Wir haben ihn soeben von seinem Ableben unterrichtet. Er wusste nämlich noch nichts davon.“

„Vielleicht sollten wir das Gespräch nach dem Essen fortsetzen, wenn wir unter uns sind“, wandte sich Kit an Kintail.

Molly Mackenzie warf ihrem Gatten einen vielsagenden Blick zu.

Mit einem leisen Zwinkern sagte Kintail: „Wie du möchtest, Kit. Aber du solltest wissen, dass du uns einem hochnotpeinlichen Verhör aussetzt, wenn die Mädchen bei dem Gespräch nicht dabei sein dürfen. Falls du es natürlich wünschst, werden wir die Unterredung für uns behalten.“ Er warf seiner Frau einen Blick zu, woraufhin diese ihre kesse Stupsnase krauszog, jedoch nichts sagte.

„Ich habe keinen Grund, den Ladys zu misstrauen“, erwiderte Kit. „Dennoch möchte ich nicht, dass Hinz und Kunz unsere Unterhaltung mitbekommen. Also sollten wir vielleicht bis nach dem Essen damit warten.“

Als Molly ihm daraufhin ein strahlendes Lächeln schenkte, wurde Kit klar, womit sie Fin so sehr in ihren Bann geschlagen hatte. „Ich werde dafür sorgen, dass man unser Essen in meiner Kemenate serviert, Sir“, sagte sie. „Dort werden uns nur unsere persönlichen Dienstboten aufwarten, und die werden sich hüten, Vertrauliches herumzuerzählen.“

Sie blickte Kintail an, raffte dann auf sein zustimmendes Nicken hin ihre Röcke und eilte, dicht gefolgt von Beth, in die Burg zurück.

Kit, der ihnen mit den Augen gefolgt war, fragte: „Sind sie Schwestern?“

„Ja“, antwortete Patrick. „Allerdings hatten sie sich für viele Jahre aus den Augen verloren, bis ich das Glück hatte, Beth kennenzulernen und zu heiraten. Aber wir werden dir das alles später erzählen. Jetzt wollen wir euch erst einmal euer Quartier zeigen und etwas essen.“

„Würde mir jetzt vielleicht einer von euch erklären, wieso man mich offiziell für tot erklärt hat?“, fragte Kit, als sie eine Stunde später beim Essen saßen.

Und Tam, der neben ihm saß, fügte hinzu: „Ja, darum möchte ich auch bitten, denn ich kann mir nicht vorstellen, wie so etwas geschehen konnte, wo doch der Betreffende ganz eindeutig noch am Leben ist.“

„Aber wo wart Ihr denn bloß, Sir?“, fragte Molly Kit. „Wie konnte Eure Familie jede Spur von Euch verlieren?“

Als Kit mit der Antwort zögerte, sprang Kintail für ihn ein: „Er konnte aufgrund eines Missverständnisses zwischen ihm und dem Sheriff von Inverness-Shire nicht zurückkommen, Mädchen.“

Bei der Erinnerung daran verzog Kit schmerzlich das Gesicht. „Sagen wir, ich war außer Landes, Mylady.“

Molly wandte sich wieder ihrem Mann zu, als dieser weitersprach: „Ostern vor einem Jahr wurden zwei Cousins von Kit im Hochland ermordet und Kit geriet unter falschen Verdacht.“

Patrick nickte zustimmend und setzte mit einem Blick auf Kit hinzu: „Sein Verschwinden danach hat den Gerüchten weitere Nahrung gegeben. Ich finde, du hättest dir denken können, mein Junge“, sagte er dann zu Kit gewandt, „dass zwei Frauen, die so schlau waren, Fin und mich zu heiraten, sich schwerlich mit einer Erklärung wie ‚außer Landes‘ zufriedengeben würden.“

„Ganz gewiss nicht“, pflichtete ihm Molly bei und wandte sich dann an Kit: „Aber Ihr hättet doch sicher einem Freund oder Verwandten mitteilen können, wo Ihr wart, oder?“

„Die meiste Zeit über wusste ich überhaupt nicht, wo ich war“, murmelte Kit und tauschte einen Blick mit Tam und Willie. „Ich war auf einem von Beatons Schiffen gefangen“, fuhr er fort. „Aber nun bin ich ja hier, der wahre Mörder ist gefasst und gegen mich liegt in Inverness keine Klage mehr vor.“

Sie wechselten zu unverfänglichen Gesprächsthemen, während die Diener den nächsten Gang auftrugen. Dann, als die kleine Gruppe wieder unter sich war, sagte Kit unvermittelt: „Ihr habt mir immer noch nicht gesagt, warum man mich für tot erklärt hat. Normalerweise geschieht das doch nicht, wenn jemand sich knapp anderthalb Jahre lang nicht meldet. Und außerdem spielte meine Abwesenheit bis zum Tode meines Vaters ja keine große Rolle.“

Patrick und Fin sahen sich an, bevor Fin das Wort ergriff: „Weißt du etwas über die gegenwärtige politische Lage hier?“

Kit nickte. „Ich weiß, dass König Heinrich, nachdem er Rom und seiner Heiligkeit dem Papst die Herrschaft über die englische Kirche entrissen hat, auch noch die Kirche von Schottland in seine Gewalt bringen will.“

„Genauer gesagt will der der Schuft ganz Schottland in seine Gewalt bringen“, fügte Tam hinzu.

Patrick blickte den älteren Mann an und nickte. „Das stimmt. Vor einiger Zeit lud Heinrich unseren König Jakob ein, sich mit ihm in York zu einem Gespräch über die Kirche von Schottland zu treffen. Dabei stellte er es Jakob gegenüber so hin, als sei er nur ein netter Onkel, der seinem jungen Neffen erklären will, wie vorteilhaft es wäre, wenn auch er seine Kirche von Rom löste.“

„Heinrich ist alles andere als ein netter Onkel. Und außerdem wäre Jakob ja ein Narr gewesen, wenn er sich für ein Gespräch so weit in Feindesland begeben hätte.“

„Und ein Narr ist unser Jakob ganz gewiss nicht“, sagte Patrick. „Allerdings ist er sorgsam darauf bedacht, sich Heinrich nicht offen zu widersetzen. Zuerst konnte er sich leicht damit herausreden, dass er die Königin, die ihr zweites Kind erwartete, nicht allein lassen wollte. Und dann, weniger als einen Monat später, starben die beiden kleinen Prinzen ja leider, wahrscheinlich an derselben Fieberseuche, die kurz darauf auch das Grenzland heimsuchte, und Jakob konnte wieder nicht reisen. Aber langsam wird Heinrich ungeduldig.“

„Und der Tod der kleinen Prinzen macht die Lage heikler denn je“, fügte Kintail hinzu. „Jetzt, wo er keinen Erben mehr hat, steht Jakobs Herrschaft auf wackligen Beinen. Im Laufe der Zeit hat er es mit den meisten seiner Grenzland-Lords verdorben, daher kann er bei einem Kampf gegen Heinrich nicht auf sie zählen. Im Gegenteil, viele der machthungrigen Adeligen würden ihn am liebsten mit Heinrichs Hilfe entthronen. Und Kardinal Beaton …“

„Ja“, warf Kit beiläufig ein, „erzähl mir von dem guten Kardinal.“

Patrick kniff nachdenklich die Augen zusammen, sagte jedoch bloß: „Er rät Jakob natürlich, sich enger an Rom anzuschließen.“

„Nun ja“, antwortete Kit. „In diesem Streit habe ich keine Meinung. Aber was hat denn nun das alles mit meinem angeblichen Tod zu tun?“

„Die unsichere politische Lage und die Notwendigkeit, Hawks Rig und deine anderen Besitzungen zu schützen, boten nach dem Tod deines Vaters deinem Onkel Eustace Chisholm einen Vorwand, dich durch den Rat von Jedburgh offiziell für tot erklären zu lassen, wenn du ein volles Jahr lang verschwunden wärest“, erklärte Kintail. „Dadurch verschaffte sich Eustace die Herrschaft über deine Ländereien und durfte auch deine Titel führen, als das Jahr im April schließlich um war.“

„Verdammt noch mal!“, entfuhr es Kit.

„Dieser elende Schuft!“, rief Tam ebenso empört aus.

Willie saß nur da und blickte mit großen Augen von einem zum anderen.

„Ich habe natürlich nichts Genaues gehört“, sagte Kintail, „aber ihr wisst ja, wie rasch sich Nachrichten dort verbreiten, wo sich ein Heer sammelt. Es heißt, Eustace nennt sich schon seit einigen Monaten Ashkirk.“

„Als einziger noch lebender Bruder deines Vaters wäre Eustace Chisholm sein rechtmäßiger Erbe, wenn du tatsächlich gestorben wärest, nicht wahr?“, bemerkte Patrick.

„Ja, das stimmt“, erwiderte Kit. „Aber trotzdem war das ganz schön unverschämt von ihm. Wenn mein Onkel sich im Hochland nach meinem Verbleib erkundigt hätte, hätte ich sicherlich davon erfahren. Selbst mein Verwalter auf Torness, woher ich gerade komme, hatte nichts von Eustace gehört. Allerdings hat er durch meinen Cousin Alex vom Tod meines Vaters erfahren. Alex war es auch, der sich in meiner Abwesenheit um meine Ländereien im Hochland gekümmert hat.“

Kintail runzelte die Stirn. „Ich empfehle dir, vorsichtig zu sein, Kit. Am besten versuchst du erst einmal herauszufinden, was Eustace Chisholm unternommen hat und wie die Dinge stehen, bevor du dich auf Hawks Rig zeigst.“

„Das ist ein guter Rat“, stimmte ihm Kit zu und versuchte, sich die Enttäuschung darüber nicht anmerken zu lassen, dass er noch immer nicht nach Hause gehen sollte. „Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, wie mein Vater seine Angelegenheiten geregelt hat. Aber falls er glaubte, dass ich tot sei, könnte es nun alles ein wenig kompliziert werden.“

„Dein Onkel hat erstaunlich schnell die Zügel an sich gerissen“, sagte Patrick.

„Eustace ist ein gerissener Kerl“, antwortete Kit. „Ich habe ihn noch nie gemocht und traue ihm nicht über den Weg. Wir haben ihn zwar selten zu Gesicht bekommen, doch mit seinen Briefen voll bösartigem Klatsch und kleinen Seitenhieben hat er die Unstimmigkeiten zwischen meinem Vater und mir noch geschürt.“

„Dann solltest du auf jeden Fall herausfinden, was er im Schilde führt, bevor du ihm gegenübertrittst“, sagte Kintail bestimmt.

Nachdenklich fügte Patrick hinzu: „Entsinne ich mich recht, dass du in Abwesenheit verlobt wurdest, kurz bevor deine Cousins zu Tode kamen, Kit?“

„Ja, mein Vater hat mir so etwas geschrieben“, antwortete Kit mit einer Grimasse.

„Uns gegenüber hast du das Mädchen nie erwähnt“, sagte Tam, offensichtlich überrascht.

„Ich muss gestehen, dass die Angelegenheit mich schon beschäftigt hat. Doch da ich keine Gelegenheit mehr hatte, meinem Vater zu antworten, nahm ich an, dass sich die Sache erledigt hat. Nachdem man mich für tot erklärt hat, hat sie sich bestimmt mit jemand anderem verlobt. Und eigentlich mache ich mir viel mehr Sorgen um Hawks Rig.“

„Aber bestimmt trauert sie noch um Euch“, protestierte Molly, „und fragt sich, was aus Euch geworden ist.“

„Das mag ja sein“, erwiderte Kit mit einem schiefen Lächeln. „Aber ich bezweifle, dass sie sehr trauert. Wir sind einander nie begegnet. Mein Vater und ihre Mutter haben die Verbindung eingefädelt und ich habe, wie gesagt, erst davon erfahren, kurz bevor …“

„Wer ist sie denn?“, wollte Molly wissen. „Kennen wir sie?“

„Ihr Name ist Fiona Carmichael“, antwortete Kit. „Wenn ich mich recht entsinne, ist ihre Mutter irgendwie mit den Armadales verwandt.“

„Lady Carmichael ist Graf Armadales Schwester“, sagte Patrick. „Ich bin erst seit Kurzem Burgvogt hier auf Dunsithe, aber Armadales Name ist hier ebenso bekannt wie der von Scott von Buccleuch oder Maxwell von Caerlaverock. Ich habe mich für die Familie interessiert, weil Armadale eine Gordon geheiratet hat. Sie war eine Cousine von Molly und Beth, auch wenn die beiden das nicht wussten.“

„War?“

„Ja, sie starb an dem Fieber, das vor Kurzem im Grenzland grassierte. Auch Graf Armadale ist daran gestorben, und da sein einziger Sohn letztes Jahr bei einem Gefecht mit englischen Truppen gefallen ist, geht der Titel nun an irgendeinen unbekannten Cousin aus Stirlingshire.“

Molly wandte sich an Patrick. „Habe ich das richtig verstanden, dass Kits Fiona eine Cousine von Beth und mir ist?“

„Sie ist nicht meine Fiona“, widersprach Kit. „Jedenfalls kann ich mir vorstellen, dass die Verlobung annulliert wurde, nachdem ich fast achtzehn Monate verschollen und für tot erklärt worden war.“

„Fiona ist nicht deine richtige Cousine, Liebste“, erklärte Kintail. „Ihre Mutter war schließlich nur durch die Heirat ihres Bruders Armadale entfernt mit den Gordons verwandt.“

„Dann ist es ja gut“, sagte Molly lächelnd zu Kit. „Vielleicht war Euer dreister Onkel ja so nett, sie mitsamt Euren Titeln und Besitztümern zu übernehmen.“

Alle lachten, doch Kit erwiderte: „Von mir aus gerne, obwohl ich glaube, dass er viel zu alt für sie ist. Aber ich suche mir meine Frau schon selbst aus. Jetzt sehe ich erst einmal zu, dass ich das bekomme, was mir zusteht.“

Kits Freunde verstanden und billigten seine Einstellung. Sie sprachen noch lang und breit über diese Angelegenheit und Kintail gab Kit noch einmal den Rat, mit Bedacht vorzugehen.

„Fin hat recht“, sagte Kit später, als er mit Willie und Tam alleine war. „Bevor ich meinen Onkel zur Rede stelle, muss ich erst einmal mehr erfahren. Doch offen gestanden weiß ich noch nicht, wo ich anfangen soll, außer, dass ich herausfinden muss, wer den Nachlass meines Vaters verwaltet.“

„Ich kenne hier in der Gegend ein paar Leute“, sagte Tam darauf. „Wenn du einige Tage ohne mich auskommen kannst, werde ich sie mal aufspüren. Ich habe sowieso noch eigene Angelegenheiten zu regeln.“

„Das kann ich mir vorstellen“, antwortete Kit und schlug ihm auf die Schulter. „Du und Willie, ihr habt schon zu viel Zeit mit mir und meinen Problemen vergeudet und müsst euch endlich auch mit euren eigenen Angelegenheiten befassen. Trotzdem wäre ich froh, wenn ihr etwas herauskriegen könntet.“

„Da brauche ich nicht erst lange auf Tam zu warten“, sagte Willie mit einem verschmitzten Zwinkern. „Meine Jungs wissen bestimmt alles, was im vergangenen Jahr hier in der Gegend geschehen ist. Denen entgeht so leicht nichts.“

„Deine Jungs?“ Kit wechselte einen Blick mit Tam.

Der runzelte erbost die Stirn und sagte: „Ich rate dir gut, zieh Kit nicht in die Geschäfte deiner üblen Kumpel hinein, mein Bürschchen.“

Willie grinste. „Aber du musst doch zugeben, dass ich recht habe. In weitem Umkreis diesseits und jenseits der Grenze geschieht so schnell nichts, ohne dass die Räuber es spitzkriegen.“

Es konnte in der Tat gefährlich sein, sich mit den Räubern einzulassen, da war Kit mit Tam einer Meinung. Doch irgendetwas musste er schließlich unternehmen.

Als Kit daher dankbar von seinen Freunden auf Dunsithe Abschied nahm, trennten sich auch zum ersten Mal seit anderthalb Jahren seine und Tams Wege. Unter einem grauen Himmel mit rasch dahinziehenden Wolken ritt er mit Willie Armstrong davon, um die Räuber zu suchen.

2

Anderswo in einer eigenen Zeit

Maggie Malloch war wütend. Außerdem befand sie sich in einer selten verzwickten Lage. Selten, weil es ihr nicht oft geschah, dass sie nicht mehr weiterwusste, und verzwickt, weil ihr von den Auswegen, die ihr blieben, kein einziger zusagte.

Noch nie zuvor war sie so hilflos gewesen und zugleich so überzeugt, dass jetzt nichts schiefgehen durfte. Wäre es um jemand anderen gegangen, hätte sie bestimmt gewusst, was zu tun war, doch jetzt, da ihr eigener Sohn unauffindbar war, wusste sie einfach nicht weiter.

Nahezu alle Mitglieder des Geheimen Clans, die von der Sache wussten, hielten es für pure Zeitverschwendung, überhaupt etwas zu unternehmen.

„Er ist tot, da gibt es kein Vertun, Maggie“, sagte das Clanoberhaupt unverblümt. „Und du darfst deine Pflichten nicht vernachlässigen, ganz zu schweigen von der kleinen Aufgabe, die dir die Runde schon vor geraumer Zeit gestellt hat. Mit der hast du dich noch nicht allzu eingehend beschäftigt.“

„Ich habe dir doch schon einmal gesagt, dass die Zänkereien zweier nichtsnutziger Sippen mich nicht interessieren, jetzt, wo mein Claud verschwunden ist“, entgegnete sie.

„Du liebe Zeit, Frau, er ist doch nicht einfach verschwunden! Dein Claud wurde von einem Blitz in Stücke gerissen, geschleudert von der Hand des mächtigsten Zauberers unseres Clans.“

„Mag sein“, gab Maggie zur Antwort. „Aber auch wenn dieser zauberische Schuft Jonah Bonewits so mächtig ist wie ich selbst – oder fast“, verbesserte sie sich.

„Aber Maggie, das habe ich doch gerade …“

„Pscht! Willst du jetzt endlich mal ruhig sein? Es ist doch so: Du weißt so gut wie ich, dass dieser Jonah unseren Claud überhaupt nicht treffen wollte. Denn immerhin ist Claud ja auch sein Sohn.“

„Das weiß ich doch. Obwohl ich sagen muss, ohne darauf herumreiten zu wollen, dass der Junge eine schwere Enttäuschung für Jonah war.“

„Egal. Selbst ein solcher Schuft wie Jonah würde unmöglich seinen eigenen Sohn umbringen, auch wenn er ihn für einen hirnlosen Dummkopf hält.“

„Du bist also sicher, dass Jonah es nicht mit Absicht getan hat?“

„Ich war an Ort und Stelle mit Catriona, dieser Schlampe vom Fröhlichen Volk“, erinnerte ihn Maggie. „Jonah hat ein anderes übles Flittchen auf Claud angesetzt – diese Lucy Fittletrot mit den Tanzfüßchen –, aber Claud konnte Catriona noch immer nicht vergessen. Ich möchte wetten, auch du erinnerst dich sehr genau an Catriona“, setzte sie spöttisch hinzu.

„Jawohl, das tue ich“, antwortete der Häuptling mit vor Wut funkelnden Augen. „Sie ist das arme kleine Dingelchen vom Fröhlichen Volk, das du unablässig mit deiner üblen Nachrede verfolgst.“

Maggie schnaubte verächtlich. „Ihr Männer! Aber eines muss ich dieser Catriona doch lassen. Sie interessiert sich wenigstens dafür, was mit meinem Claud passiert ist.“

„Das sollte sie auch. Soweit ich mich erinnere, hast du selbst gesagt, dass sich Claud vor Catriona warf, als der Blitz herabfuhr, um sie zu treffen.“

„Ja, und wenn er sie getroffen hätte, hätte es mir keine schlaflosen Nächte bereitet. Darin sind Jonah und ich uns übrigens einig.“

„Aber Maggie …“

„Nichts da ‚aber Maggie‘! Du weißt ja, wie ich darüber denke. Ich habe noch nie mit meiner Meinung hinter dem Berg gehalten und werde es auch jetzt nicht tun.“

„Ist ja gut, Frau, aber was willst du nun eigentlich anfangen? Du bringst ja schon einiges fertig, aber ein Mitglied des Clans, das in tausend Stücke zerschmettert wurde, wieder zum Leben zu erwecken, das dürfte wohl sogar dir unmöglich sein.“

„Wenn es wirklich so geschehen wäre, könnte ich ja noch etwas tun. Aber ich nehme an, du bist mit mir einer Meinung, dass Jonahs Zorn nichts mit Catriona oder Claud zu tun hatte.“

Der Häuptling nickte. „Wie üblich warst du es selbst, die den Mann in Wut gebracht hat. Hast du etwa nicht seine Pläne durchkreuzt und dafür gesorgt, dass er seinen Sitz in der Runde verliert?“

„Den hat er verloren, weil er habgierig war und sich in die Angelegenheiten der Sterblichen gemischt hat!“

„Aber genau das hast du doch auch getan“, gab der Anführer zurück. „Immerhin war es nicht Jonah, der eine Dienstmagd in ein prächtiges Kleid gesteckt, sie wie eine Königin mit Schmuck behängt und dann auf den Ball des Königs geschickt hat.“

Maggie wedelte den Einwand mit einer Handbewegung beiseite. „Das hat alles ein glückliches Ende genommen. Jonah dagegen hat sich schwarzer Magie bedient und seine Gestalt verändert, um einen Schatz den rechtmäßigen Eigentümern vorzuenthalten, nur weil sein Lord Angus ihn für sich haben wollte. Ganz zu schweigen von Jonahs jüngster Übeltat.“

„Ja, da hast du schon recht“, stimmte ihr der Häuptling bei.

„Aber letztendlich“, fuhr Maggie fort, „macht Jonah mich für alles verantwortlich, was ihm widerfahren ist. Und er wird nicht eher ruhen, bis er es mir heimgezahlt hat. Aber trotzdem glaube ich einfach nicht, dass er unseren Claud getötet hat.“

„Wer war es denn dann?“

„Gar keiner.“

„Aber Maggie …“

„Jonah ist der mächtigste Zauberer im Clan. Das hast du doch selbst gesagt.“

„Ja.“

„Und wenn wir Mitglieder des Geheimen Clans dahinscheiden, gehen wir doch zuweilen in die Welt der Sterblichen über, oder etwa nicht?“

„Ja, schon, aber sehr selten“, erwiderte der Häuptling stirnrunzelnd.

„Also, ich glaube, Jonah hat den Blitz im letzten Augenblick so abgelenkt, dass Claud nun nicht für alle Zeiten mit der Wilden Jagd durch die Lüfte fliegen muss – wie es zweifellos Catriona passiert wäre, wenn der Blitz sie getroffen hätte. Stattdessen wurde Claud nur mit einem Schlag in die Welt der Sterblichen versetzt.“

Der Häuptling blickte Maggie eine ganze Weile grübelnd an. Endlich sagte er: „Das ist schon möglich. Doch die Welt der Sterblichen ist groß. Wie willst du ihn da jemals wiederfinden?“

„Ich werde einfach immer weiter suchen. Du wirst schon sehen …“

„Jetzt hör aber auf!“, befahl ihr der Clanoberste. „Du musst immer noch die Streitigkeiten zwischen den beiden Sippen schlichten, die du nichtsnutzig zu nennen beliebst. Und zwar noch vor unserem nächsten Treffen. Wenn dir das nicht gelingt, verlierst du ebenfalls deinen Sitz in der Runde. Wir haben bereits Jonah Bonewits verloren, was einen herben Verlust für uns bedeutet. Wir können nicht auch noch auf dich verzichten.“

„Das braucht ihr auch nicht“, erwiderte Maggie zuversichtlich. „Seit unserem letzten Treffen ist zwischen dem Fröhlichen Volk und den Helfenden Händen alles ruhig geblieben und beide Häuptlinge haben mir ihr Wort gegeben, dass sie Frieden halten werden, bis es Catriona schafft – oder auch nicht schafft – ihren sterblichen Schutzbefohlenen an den richtigen Ort zu führen und dafür zu sorgen, dass er dort glücklich wird. Bis dahin habe ich Claud lange gefunden, denn Catriona muss noch …“

„Jetzt hör mal, Frau, du brauchst mir doch nicht zu erzählen, was Catriona tun muss. Schließlich habe ich in meiner langen schwarzen Robe unmittelbar neben dir gesessen, als ihr das Abkommen geschlossen habt, oder etwa nicht? Und die zehn anderen waren ebenfalls anwesend, falls ich dich daran erinnern darf. Einige von ihnen sind übrigens immer noch entschlossen, Jonah wieder in die Runde aufzunehmen.“

„Ja, ich weiß.“

„So. Und du hast fest versprochen, keine Regeln zu brechen, wenn du zwischen dem Fröhlichen Volk und den Helfenden Händen in dem Streit darüber vermittelst, wer von ihnen sich um diejenigen Hochlandclans der Sterblichen kümmern soll, die ihre uralten Wurzeln im Grenzgebiet haben.“

„Ich werde das Problem schon lösen. Denn wenn jemand von uns aus dem Grenzland ins Hochland geht, sobald ein sterblicher Hochländer ein Mädchen von der Grenze heiratet und sie mit in den Norden nimmt, dann werden wir dort oben fast so zahlreich vertreten sein wie die Leute vom Fröhlichen Volk. Das werden sie schnell genug merken.“

„Doch in der Zwischenzeit hast du der niedlichen kleinen Catriona befohlen, sich um einen Burschen zu kümmern, der zwar aus einem Hochlandclan stammt, aber so im Grenzland verwurzelt ist, dass er sich dort niederlassen will. Und dein Claud, der doch aus dem Grenzland stammt, sollte für ein Hochlandmädchen zuständig sein.“

„Und diese Aufgabe hat er auch vorzüglich erfüllt.“

„Ja, schon. Aber trotzdem …“

„Ich werde ihn finden und wieder nach Hause holen“, fiel ihm Maggie mit Nachdruck ins Wort. „Wenn du mir dabei Steine in den Weg legen willst, kann ich es nicht ändern. Aber wenn du mir helfen willst, dann sorge dafür, dass die Runde nicht so bald zusammentritt.“

Der Häuptling zog ein Gesicht, nickte jedoch zustimmend. Gleich darauf war Maggie verschwunden.

 

Mute Hill House, Roxburghshire

„Dreh dich mal langsam, Fiona, damit ich dein Aussehen begutachten kann“, sagte Olivia, Lady Carmichael, und fächelte sich leicht. Sie war eine gut aussehende Frau Ende dreißig in modischer Trauerkleidung aus dunklem Purpur mit schwarzer Spitze. Die Ähnlichkeit zwischen ihr und dem schlanken blonden Mädchen, das mitten in dem vornehm eingerichteten Gemach stand, war offensichtlich.

Folgsam drehte sich die siebzehnjährige Fiona Anne Carmichael langsam um sich selbst, wobei sie aufmerksam die Mienen ihrer Mutter und der beiden weiteren Personen im Zimmer beobachtete, die sie alle drei kritisch beäugten.

Fiona war von strahlender Schönheit und das elegante himmelblaue Brokatkleid, das sie trug, stand ihr ausgezeichnet. Allerdings stand Fiona jedes Kleidungsstück.

In diesem Augenblick durchdrang ein Sonnenstrahl die dichte Wolkendecke und fiel durch die bleiverglasten Fenster neben dem großen Kamin mit seiner Kaminhaube. Doch das goldene Sonnenlicht konnte es kaum mit Fionas weichen, schimmernden Locken aufnehmen, die ihr bis zur Taille fielen. Sie hatte große, leuchtende Augen und fein geschwungene Brauen und ihre Wimpern waren so dicht und dunkel, als hätte sie sie geschwärzt. Ihre vollen, rosigen Lippen luden zum Küssen ein. Bedauerlicherweise fanden sich auf ihrer kleinen Stupsnase einige Sommersprossen, ein Umstand, den Lady Carmichael – wie Fionas Cousine Anne Ellyson bald nach ihrer Ankunft erfahren hatte – sehr bedauerte. Denn ohne diese Sprenkelchen wäre der Teint ihrer Tochter makellos gewesen.

Bereits nach ihrer ersten Woche auf Mute Hill war Anne zu der Auffassung gekommen, dass sie besser entgegen der Anordnung ihres Vaters auf Ellyson Towers geblieben wäre.

Bei näherer Betrachtung fiel ihr auf, dass Fiona ausgesprochen erschöpft wirkte. Kein Wunder, schließlich stand das arme Mädchen seit fast zwei Stunden da, drehte sich hin und her, zog sich immer wieder um und musste sich das Genörgel ihrer Mutter anhören. Was Anne selbst betraf, so wäre sie am liebsten auf der Stelle verschwunden. Und sie wusste auch schon genau, wohin sie gehen würden, sobald sie sich davonmachen konnte.

„Was hältst du davon?“, fragte jetzt Olivia in dem matten Tonfall, den sie dieser Tage immer annahm, wenn mehr als ein Gesprächspartner anwesend war.

Da Anne wusste, dass die Frage nicht ihr galt, drehte sie den Kopf zu der vierten Person im Zimmer.

Die Zofe ihrer Tante Olivia, Moira Graham, war klein und rundlich und sah aus, als sei sie aus prallen, weichen Kissen gemacht. Wie sie jetzt die Lippen schürzte und die Augen zusammenkniff, erinnerte sie Anne an eine Stoffpuppe, die sie als Kind gehabt hatte. Selbst Moiras gekrauste weiße Haube sah aus wie die der Puppe.

„Ich finde, das ist sehr hübsch, Mylady“, wandte sich Moira an ihre Herrin.

„Glaubst du nicht, es könnte in der Taille noch ein wenig enger sein?“

„Wie Ihr wünscht, Madam“, antwortete Moira, „doch mir scheint, das würde den Faltenfall über den Hüften verderben.“

Anne war der gleichen Meinung. Sie fand das Kleid sehr hübsch, genauso hübsch wie vor einer Stunde, als Fiona es angezogen hatte. Wenn man jedoch Anne gefragt hätte, dann hätte die keinen himmelblauen Stoff ausgesucht, sondern eine Farbe, die besser zur Augenfarbe ihrer Cousine gepasst hätte. Am schönsten wäre Fionas Lieblingsfarbe, ein helles Rosa, gewesen. Schließlich sollte das Hochzeitskleid in erster Linie der Braut und nicht so sehr ihrer Mutter gefallen.

Zumindest hatte Olivia nicht darauf bestanden, dass ihre Tochter zu ihrer Hochzeit das dunkle Purpurrot trug, das sie selbst als Trauerfarbe bevorzugte. Aus irgendeinem Grund war sie auf die Idee verfallen, dass Fionas zukünftiger Gemahl, Sir Eustace Chisholm, Laird von Ashkirk und Torness, Himmelblau bevorzugte. Also musste es ein Kleid in dieser Farbe sein. Niemand widersprach ihr, denn man konnte nie genau wissen, wie Olivia auf die kleinste Andeutung von Widerspruch reagieren würde.

„Anne, meine Liebe, hol doch bitte den lavendelfarbenen Spitzenschal vom Tisch dort drüben und leg ihn deiner Cousine um die Schultern.“

„Ja, Tante Olivia“, erwiderte Anne und kam der Bitte mit der ihr eigenen ruhigen Gelassenheit nach. Als sie mit dem zarten Spitzenschal auf Fiona zutrat, traf sie ein so jammervoller, Hilfe suchender Blick, dass sie das Mädchen am liebsten tröstend in die Arme genommen hätte.

Doch sie unterdrückte den Impuls, lächelte ihr stattdessen zu und sagte zu ihrer Tante: „Es muss schon fast Mittag sein, Tante Olivia, und der Laird von Ashkirk verspätet sich selten. Ich soll doch bestimmt Fiona dabei behilflich sein, sich zu seinem Empfang etwas Passenderes anzuziehen.“

„Ja, natürlich“, antwortete Olivia seufzend. „Aber vorher müssen wir das hier noch erledigen. Schließlich sind es bloß noch zwei Tage bis zur Hochzeit.“

„Wenn ich mich nur eine Minute setzen dürfte“, hauchte Fiona mit ihrer sanften Stimme. „Mir ist ein wenig schwindlig, aber ich bin sicher, das wird gleich wieder vorübergehen.“

„Rede keinen solchen Unsinn“, entgegnete Olivia mit mehr Nachdruck als gewöhnlich. „Du kannst dich doch in diesem Kleid nicht hinsetzen, denn dann würdest du ja den Rock völlig zerdrücken. Und überhaupt kannst du nicht halb so müde sein wie ich. Seit dem Tod deines Vaters habe ich kaum eine Nacht geschlafen. Und als kurz nach Sir Christopher und seinem Vater auch noch mein lieber Bruder Armadale starb, war meine Trauer grenzenlos. Und Trauer, meine liebe Fiona, ist sehr viel anstrengender als bloß dazustehen und sein Brautkleid anzuprobieren. Ich möchte also kein Gejammer mehr von dir hören.“

In Fionas Augen glitzerten Tränen, als sie an den Tod ihres Vaters erinnert wurde, und Anne musste daran denken, dass auch sie ihre Familie verloren hatte. Anscheinend kam es Olivia gar nicht in den Sinn, dass sie nicht die Einzige war, die trauerte.

Anne lächelte Fiona aufmunternd zu und flüsterte: „Nur noch ein paar Minuten, Liebes.“

Da sie mit dem Rücken zu ihrer Tante und Moira stand, konnten die beiden ihre Äußerung nicht mitbekommen haben. Doch als nur noch mehr Tränen in Fionas Augen aufstiegen, verwünschte sich Anne selbst für ihre mitfühlenden Worte.

„Hier, bitte“, sagte sie daher mit lauterer, forscherer Stimme und drapierte die lavendelfarbene Spitze um die Schultern ihrer Cousine. „Ist es so richtig, Tante Olivia?“

„Geh mal beiseite, damit ich es sehen kann“, erwiderte ihre Tante wie üblich in klagendem Ton.

Anne tat, wie ihr geheißen, und hoffte bloß, ihre Tante würde selbst sehen, dass der Schal nicht zum Kleid passte. Es gab nicht viel, was Fionas ätherische Schönheit beeinträchtigen konnte, doch das Lavendelblau auf dem satten Himmelblau des Brokatkleides schaffte es beinahe. Ohne den Schal wirkte das Kleid wesentlich eleganter.

Olivia runzelte die Stirn, doch ob nun wegen des Schals oder weil sie Fionas Tränen bemerkt hatte, sollte Anne nicht erfahren, denn in diesem Augenblick brach in der großen Halle nebenan die Hölle los.

Hunde bellten, Männer brüllten. Es herrschte ein allgemeiner Tumult und die dicke Moira lief schleunigst, die Verbindungstür zur Halle zu öffnen. Ihre Herrin rief ihr noch eine Warnung zu, doch es war bereits zu spät. Die Tür flog auf und herein purzelte ein kleines rotes Pelzbündel, gefolgt von sechs großen jaulenden Jagdhunden.

Zwar gelang es Moira noch, ihre Röcke vor den hereinstürmenden Hunden in Sicherheit zu bringen, doch da sie noch immer mit einer Hand die Türklinke festhielt, wurde sie um ein Haar mitgerissen, als die Tür jetzt mit Schwung gegen die Wand krachte.

Fiona kreischte auf und raffte ihre Röcke zusammen. Olivia rief Moira zu, sie solle die Tür schließen, doch da drängten sich hinter den Hunden bereits zwei große Männer ins Zimmer, die beide gleichzeitig versuchten, sich durch die Tür zu quetschen.

Anne blieb stehen, wo sie war. Nachdem sie mit Erleichterung festgestellt hatte, dass die Hunde keine Notiz von der kreischenden Fiona nahmen, bemerkte sie, dass das kleine Fellbündel, das sie zunächst für eine Katze gehalten hatte, in Wahrheit ein verängstigter Fuchs war. Der raste durch den Raum zu der Wendeltreppe, die in die oberen Stockwerke von Mute Hill House führte. Anne ergriff Fiona bei den Schultern und schüttelte sie ein wenig.

„Still, Liebes“, sagte sie. „Den Hunden geht es bloß um den Fuchs. Schau nur, sie sind ihm schon auf den Fersen.“

Die erschöpfte Fiona brach in Tränen aus.

Anne hielt sie in den Armen und lauschte auf den verklingenden Lärm von Männern, Hunden und Fuchs. Dann wandte sie sich an ihre Tante: „Ich bringe sie nach oben, Madam. Bevor sie sich umzieht und Eustace Chisholme empfängt, sollte sie sich das Gesicht waschen und ein wenig ruhen.“

„Wo sind diese verdammten Hunde hin?“, brüllte da eine vertraute Männerstimme. Lady Carmichaels Onkel, Sir Toby Bell, stand in der Türöffnung und füllte sie zur Gänze aus. Wutschnaubend drehte er sich ein wenig zur Seite, um nicht mit seinem Degen am Türrahmen hängenzubleiben, und kam herein. Die Daumen in den Schwertgurt gehakt stand er da und starrte seine Nichte wütend an. Offensichtlich erwartete er von ihr die Antwort auf seine Frage.

„Eure Hunde haben in meinem Gemach nichts zu suchen, Sir“, bemerkte sie mit schwacher Stimme, ihre Haltung nun wieder schlaff und niedergedrückt. „Draußen ist es nach dem Regen noch immer nass und sie haben mir bestimmt den ganzen Boden schmutzig gemacht. Ihr wisst doch, wie sehr sie mich aufregen!“

„Dann hättest du die Tür eben nicht aufmachen sollen“, gab er mit spöttischem Lächeln zur Antwort. „Ich könnte mir vorstellen, dass meine Hunde diesen dämlichen Fuchs noch viel mehr aufregen als dich. Dieses Tier kam doch glattweg über den Weg auf das Tor zu spaziert, kannst du dir so etwas vorstellen? Das Tor war natürlich zu, bis meine Hunde zu bellen anfingen und dein blöder Diener aufmachte, um nachzusehen, warum es draußen so einen Spektakel gab.“

„Bitte, geht und fangt sie wieder ein“, hauchte Olivia und legte sich einen Handrücken an die Stirn. „Ihr wisst doch, wie sehr mir in meiner Trauer auch die kleinste Störung zusetzt.“

„Du lieber Himmel, Olivia, seit Ashkirks Tod ist es doch schon mehr als fünf Monate her.“

„Ich betrauere immerhin meinen Gemahl“, begehrte sie empört auf.“

„Ach Unfug, Mädchen. In Wahrheit trauerst du um deinen Liebsten. Stephen ist jetzt schon seit zwei Jahren tot, und nachdem Kit Chisholm verschwunden und vermutlich umgekommen war, zerschlugen sich deine Pläne, Fiona mit einem Mitglied dieser Familie zu verheiraten. Daraufhin hast du selbst ein Auge auf den alten Ashkirk geworfen. Sein Tod hat dich in diese alberne Traurigkeit gestürzt, denn nach Stephens Tod ging es dir lange nicht so schlecht. Und ich muss es ja wissen“, fügte er hinzu. „Schließlich kam ich gleich nach Stephens Tod hierher, damit du einen Mann im Haus hast, nicht wahr? Ich sage dir, es ging dir blendend, bis Ashkirk abgekratzt ist.“

Anne war nicht überrascht, dass Olivia sogleich die Tränen kamen. Sie hatte schnell herausgefunden, dass die Lady ebenso wie ihre Tochter nach Bedarf Tränen vergießen konnte, die ihren zarten Teint jedoch nicht im Mindesten beeinträchtigten.

„Ihr seid grausam, Onkel“, sagte Olivia matt.

„Ich bin ehrlich, Olivia, das ist alles.“

„Bis zu meinem letzten Tag werde ich um Stephen trauern“, erwiderte die Dame und schniefte leise.

„Blödsinn“, gab Toby zurück. „Wo sind denn jetzt diese verdammten Hunde hin?“

Anne wartete nicht länger, dass sie wieder jemand aufhalten würde, sondern brachte Fiona flugs aus dem Zimmer und ging dann hinauf in ihre Schlafkammer. Dennoch dauerte es noch drei Stunden, bis Anne sich endlich davonstehlen konnte.

 

Anderswo

Nach ihrem Treffen mit dem Clanhäuptling begab sich Maggie in ihre Wohnstube, um ihr weiteres Vorgehen zu planen. Sie traute Catriona nicht über den Weg. Wenn es auf der Welt überhaupt eine Gewissheit gab, dann die, dass Catriona unzuverlässig war. Obwohl Maggie sich eingestehen musste, dass das Mädchen sich seit Clauds Verschwinden ordentlich betragen hatte. Catriona hatte die Aufgabe übernommen, sich um die Chisholms zu kümmern, und diese Pflicht getreulich und gegen den Widerstand ihrer Sippe erfüllt, selbst als Jonah Bonewits versucht hatte, ihr Steine in den Weg zu legen.

Maggies Gedanken an den unangenehmen Zauberer, der sich so hervorragend verwandeln konnte, schienen ihn geradezu heraufzubeschwören. Fast meinte sie seine scharfen Gesichtszüge im flackernden Kaminfeuer zu sehen. Mit einem Blinzeln verscheuchte sie das Trugbild und richtete ihre Gedanken wieder auf Catriona und darauf, welches Opfer Claud für dieses kleine Flittchen gebracht hatte.

Im Grund genommen wusste Maggie, dass es ungerecht war, Catriona allein die Schuld zu geben, doch wegen der Leichtigkeit, mit der das Mädchen Claud nach ihrer Pfeife tanzen ließ, hatte Maggie eine unüberwindliche Abneigung gegen sie gefasst. Natürlich war Claud daran auch nicht ganz unschuldig. Warum musste er sich auch in jedes hübsche Mädchen vergaffen, das ihm über den Weg lief? Und dennoch – wenn Catriona nicht dagewesen wäre, als Jonah …“

Erneut meldete sich Maggies Sinn für Gerechtigkeit. Als Claud das Unglück widerfuhr, war Catriona zur Stelle gewesen, weil es ihre Pflicht war. Und ebendiese Pflichterfüllung hatte Jonah so erzürnt, dass es sie beinahe das Leben gekostet hätte. Dass sie Jonah so in Wut gebracht hatte, konnte Maggie ihr schlecht vorwerfen, denn das war ihr selbst schon des Öfteren passiert.

Immer höher flackerten die Flammen und wieder schien es ihr, als sehe sie ein Gesicht darin. Es war sogar noch deutlicher zu erkennen als zuvor. Auf einmal wurde ihr klar, was da vor sich ging und ihr lang aufgestauter Zorn brach sich Bahn.

„Zeig dich gefälligst, du niederträchtiger Halunke, oder ich lasse das Feuer so heiß werden, dass du es nicht mehr aushalten kannst!“, fauchte sie und sprang aus ihrem Sessel auf. „Du brauchst dich nicht da herumzudrücken und meine Gedanken auszuschnüffeln. Ich sage dir schon offen in dein Spitzbubengesicht, was ich von dir halte.“

Die Gestalt im Feuer wurde ein wenig undeutlich, als verlöre sie an Energie. Doch gleich darauf kam ein Wirbel goldgelber Funken aus dem Kamin gezischt und zog sich immer mehr in die Länge, bis die Umrisse eines hochgewachsenen Mannes sichtbar wurden. Und dann stand da Jonah Bonewits, wie er eben aussah.

Er trug ein wallendes graues Gewand und sein Haar, dunkel an den Wurzeln und hell an den Spitzen, stand ihm wie Sonnenstrahlen vom Kopf ab. Sein langes, schmales Gesicht war unauffällig, bis auf die dünnen gelben, grünen, roten und blauen Streifen auf den Wangen, doch seine dunklen Augen funkelten. Er lächelte boshaft, winkte mit seiner ringbesetzten sechsfingrigen Hand und fragte: „Alles in Ordnung, Mag?“

„Gar nichts ist in Ordnung, du infamer Mörder. Was hast du mit meinem Claud gemacht?“

Er stieß ein unheimliches, bedrohliches Lachen aus. „Unser Claud ist ein Esel, Frau. Wenn du nur einen Funken Verstand hättest, würdest du ihm keine Träne nachweinen.“

„Wo ist er?“, wiederholte sie, bemüht, sich zu beherrschen.

„Ich dachte, du mit deinem klugen Köpfchen hättest das schon längst herausgefunden.“

„Hast du mir etwa nachspioniert?“

„Ja, ich gebe es zu. Du bist einfach zu schlau für mich, Mag.“

„Du hast mich schon oft an der Nase herumgeführt, Jonah Bonewits, und ich weiß, was ich von dir zu halten habe. Aber ich bin noch immer davon überzeugt, dass du unseren Claud nicht absichtlich töten würdest. Und du würdest auch nicht wollen, dass er mit der Wilden Jagd fliegen muss, denn dann wäre er ja auch für dich verloren. Und deshalb …“

Sie zögerte, weil sie fürchtete, er könnte ihre Hoffnung mit einem Wort zunichtemachen.

Doch wie so oft gelang es ihm mühelos, ihre Gedanken zu lesen. „Du bist doch sonst kein solcher Feigling, Maggie“, sagte er. „Du wirst ihn nicht finden, wie viel Mühe du dir auch geben magst.“

Sie war erleichtert. Zumindest hatte er zugegeben, dass Claud noch am Leben war. „Es würde dir doch den ganzen Spaß verderben, wenn ich ihn wirklich nicht finden könnte“, bemerkte sie scharfsinnig. „Ich wette daher, du hast ihn irgendwo versteckt, wo ich ihn ganz leicht sehen würde, wenn ich nur wüsste, wo ich suchen muss.“

Er grinste. „Na, vielleicht hast du recht, Mädchen. Aber selbst wenn es so wäre, hätte ich möglicherweise noch eine kleine Falle eingebaut.“

„Das würde mich nicht wundern“, antwortete sie.

„Willst du denn nicht wissen, was?“

Sie schwieg, wohl wissend, dass er es ihr sowieso nicht verraten würde. Diese Genugtuung wollte sie ihm auf keinen Fall bereiten.

„Also gut. Damit du siehst, dass du eine falsche Meinung von mir hast, gebe ich dir einen ganz kleinen Tipp. Er ist wirklich ganz leicht zu entdecken, aber trotzdem würdest du ihn niemals als unseren Claud erkennen.“

„Also hast du einen Sterblichen aus ihm gemacht.“

Jonah zuckte die Achseln. „In gewisser Weise schon. Ich habe ihn vermischt.“

„Vermischt? Was soll denn das nun wieder heißen?“

„Einfach, dass ich Clauds Dasein mit dem eines Sterblichen verbunden habe. Und dabei bleibt es auch.“

„Außer du machst es wieder rückgängig“, sagte Maggie und warf ihm einen scharfen Blick zu.

Er antwortete nicht.

Kopfschüttelnd fuhr sie fort: „Du kannst mir nicht weismachen, dass du dir bei dieser ganzen Vermischerei nicht ein Hintertürchen offen gehalten hättest, um die ganze Sache wieder rückgängig machen zu können. Auch bei deinen schlimmsten Schurkenstreichen weißt du doch immer genau, was du tust.“

„Vielleicht traust du mir ja zu viel zu.“

„Nein, ich glaube nämlich, dass du etwas von mir willst. Und um es zu bekommen, brauchst du ein Druckmittel gegen mich.“

„Du weißt sehr gut, worauf ich aus bin, Maggie.“

„Du willst nicht, dass ich einen Friedensschluss zwischen dem Fröhlichen Volk und den Helfenden Händen zustande bringe. Daraus hast du von Anfang an kein Geheimnis gemacht.“

„Nur würdest du in dem Fall deinen Sitz in der Runde verlieren. Dann könntest du mal sehen, wie das ist. Von mir aus kannst du diesen blöden Frieden schließen. Aber zuerst musst du zurücktreten und dafür sorgen, dass ich stattdessen wieder in die Runde aufgenommen werde.“

Sie runzelte die Stirn, während sich die Gedanken in ihrem Kopf jagten. Zugleich bemühte sie sich, diese Gedanken vor Jonah zu verbergen, was ihr in der Regel auch gelang, wenn sie sich sehr darauf konzentrierte.

„Sie gestatten mir nicht, zurückzutreten, solange ich den Frieden nicht ausgehandelt habe“, sagte sie schließlich. „Und wenn ich kein Mitglied der Runde mehr bin, hören diese widerspenstigen Hochlandsippen sowieso nicht auf mich.“

„Dann sorge doch jetzt gleich für Frieden.“

„Du weißt genau, dass diese dreimal verwünschte Catriona zuerst noch eine Aufgabe zu erfüllen hat. Sie muss den verschollenen Chisholm-Jungen wieder heil und gesund nach Hause bringen. Erst wenn das erledigt ist, kann ich einen dauerhaften Frieden aushandeln.“

„Dann wäre es das Beste, wenn du dem kleinen Biest helfen würdest, Mag.“

Seine Stimme war sanft und ölig, sein Gesicht ausdruckslos.

„Du lässt sie besser in Ruhe, wenn du deinen Sitz wiederhaben willst, Jonah.“

Seine Umrisse wurden schon ein wenig unscharf. Doch bevor er sich vollends auflöste, sagte er noch: „Du kannst mich nicht für dumm verkaufen, Mädchen. Du würdest deinen Sitz in der Runde noch nicht einmal für unseren Claud aufgeben. Und jetzt pass auf dich auf, bis wir uns wieder sprechen.“

Dann war er verschwunden und die Flammen des kleinen Kaminfeuers mit ihm. Nur noch ein paar Funken glühten unter der Asche, bis Maggie mit einem kleinen Zucken des Fingers das Feuer wieder zum Leben erweckte.

 

Sie waren kaum außer Sichtweite von Dunsithe, als Willie sagte: „Wir werden mal mit meinem Cousin Sammy reden, Kit. Er wird wissen, wo die Jungs sind und ob es womöglich Ärger geben könnte.“

„Ich will keinen Ärger“, antwortete Kit, doch Willie lachte bloß.

Eine Stunde später standen sie in einem schmucken Häuschen, neben dem ein munterer Bach rauschte, und wurden von einem wild aussehenden Burschen gemustert. Obgleich er ganz offensichtlich sehen konnte, war sein Name der blinde Sammy Crosier, wie Kit zuvor von seinem Gefährten erfahren hatte. Als Willie ihn vorstellen wollte, fiel ihm der ‚blinde‘ Sammy schroff ins Wort: „Keine Namen, wenn‘s recht ist.“ Daher verkniff Kit es sich, ihn nach der Bedeutung seines Spitznamens zu fragen.

Rasch bat Willie Sammy um die gewünschten Auskünfte, worauf der ältere Mann nur grunzte und Kit mit einem langen Blick bedachte, den dieser wortlos erwiderte.

Endlich sagte Sammy: „Morgen Nacht scheint der Mond.“

Kit blickte zu Willie hinüber und bemerkte die Verblüffung auf dem Gesicht seines Freundes.

„Aber … aber …“ Mit einem wütenden Blick brachte Sammy Willie zum Schweigen, doch kurz darauf hatte der Junge seine Sprache wiedergefunden: „Das kannst du nicht machen, Sam. Kit ist kein Räuber, sondern ein geborener Gentleman. Das siehst du doch selbst.“

Sammy schnaubte. „Meine Güte, Junge. Drei Viertel der Gentleman hier herum reiten mit den Räubern, wann immer ihnen der Sinn danach steht. Denk doch bloß an Buccleuch!“

„Ja, schon, aber Kit ist nicht wie Buccleuch oder wie wir. Er ist nicht zum Räuber geboren.“

Kit, der Sammys eindringlichen Blick spürte, sagte: „Ich möchte nur ein paar Auskünfte über Hawks Rig und Eustace Chisholme. Das ist alles.“

„Ja, mag schon sein, aber diese Auskünfte wollt Ihr von unseren Jungs. Und vielleicht wollen ein paar von ihnen nicht mit einem Mann reden, der gegen sie aussagen könnte, falls sie mal in Schwierigkeiten geraten. Wenn Ihr also mit uns reden wollt, dann müsst ihr zuvor mit uns reiten. Und wie ich bereits sagte, morgen Nacht scheint der Mond.“

Wieder blickte Kit rasch auf Willie, doch dieses Mal funkelten die Augen des Burschen vergnügt und Kit spürte ebenfalls eine leise Belustigung. Und da war noch etwas anderes, das er seit seiner Kindheit nicht mehr empfunden hatte: Ihm stand der Sinn nach Abenteuern.

Also sagte er zu Sammy: „Du willst also, dass ich ebenfalls ein Verbrechen begehe, bevor ich mit deinen Männern sprechen darf.“

„Aber, Sir, die Räuberei ist doch kein Verbrechen“, gab Sammy zur Antwort. „Es ist einfach unsere Art zu leben. Also sagen wir, wenn Ihr mit uns reitet, werdet Ihr wohl schwerlich gegen uns aussagen, falls uns irgend so ein gemeiner Kerl beim nächsten Waffenstillstandstag verleumden sollte.“

„Wollt ihr über die Grenze gehen?“

Sammy zuckte die Schultern. „Wenn es sich so ergibt. Aber hier auf unserer Seite gibt es auch jede Menge Vieh. Denn mehr als ein Grundherr ist dem Fieber zum Opfer gefallen und musste seinen Besitz und seine Herden in der Obhut seines Verwalters und einiger Hütejungen zurücklassen. Sie haben mehr Vieh als sie brauchen und wir haben zu wenig. Gegen dieses Ungleichgewicht muss man doch etwas tun.“

„Sehr einleuchtend, wenn man es so betrachtet“, antwortete Kit, wider Willen belustigt. „Ich nehme an, ihr werdet mir nicht verraten, wo genau ihr euch von dieser Überfülle bedienen wollt.“

„Noch nicht. Seid Ihr also dabei?“

„Ja, ich mache mit.“

„Es ist Euch doch klar, dass wir uns woanders umschauen, sollte irgendwo das Vieh unangemessen gut bewacht werden. Wir müssen unbedingt Beute machen, jetzt wo der Winter naht.“

„Ich verstehe“, erwiderte Kit lächelnd. „Und ich muss gestehen, dass ich auf diesen Raubzug sogar schon sehr gespannt bin.“

„Das wird ein Abenteuer“, bemerkte Willie grinsend. „Du wirst schon sehen.“