Leseprobe Die Flut

1

Southampton, 3. September

Es begann im hellen Licht des Tages, nicht in dunkler Nacht. Jemand pochte lautstark gegen die Tür des Ateliers im obersten Stock des alten Fabrikgebäudes nördlich der Itchen Toll Bridge im Süden von Southampton. Als niemand öffnete, änderte er seine Strategie, klingelte Sturm und rief einen Namen.

„Emily! Mach auf, ich hab meinen Schlüssel vergessen. Bist du taub oder stoned?“

Das Klopfen und schrille Klingeln vermischte sich mit Emilys Pulsschlag, der in ihren Schläfen dröhnte wie ein Schmiedehammer. Sie hob die Lider einen Spalt und wartete darauf, dass die Lähmung des Schlafs von ihr wich. Grelles Tageslicht stach schmerzhaft in ihre Augen, Umrisse und Konturen setzten sich allmählich zu einem Bild zusammen.

„Hey, mach endlich auf. Ich weiß, dass du da bist. Ich kann das Licht sehen.“

Träge kramte Emily in ihrem Gedächtnis, bis sich zu der Stimme ein passendes Gesicht einstellte. Millie war zurück. Ihre Ankunft war fett im Kalender markiert, aber sie hatte es völlig vergessen. In letzter Zeit vergaß sie eine Menge Dinge. Beunruhigend viele, um genau zu sein.

Sie streckte und rekelte sich, dehnte die verspannten Muskeln und setzte sich auf. Ein ausgewachsener Kater rumorte in ihrem Kopf. Er rührte allerdings nicht von einem Übermaß an Alkohol her, sondern von den Lösungsmitteln in den Pinseln, Farbtöpfen und Tuben, die offen herumstanden oder lagen.

Emilys galoppierender Herzschlag legte noch einen Zahn zu, als ihr klar wurde, dass es wieder passiert war, das dritte Mal innerhalb von fünf Tagen. Sie erwachte nicht am selben Ort, an dem sie eingeschlafen war, und sie hatte nicht die geringste Erinnerung daran, wie sie hierhergekommen war oder was sie in der Zwischenzeit getan hatte. Es wurde höchste Zeit, dass sie etwas gegen die mysteriösen Blackouts unternahm, doch sie fürchtete sich davor, einen Arzt oder – schlimmer noch – einen Psychiater aufzusuchen. Die Vorstellung, ihr Innerstes vor einem Fremden auszubreiten, jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Nicht einmal Millie hatte sie von den Blackouts erzählt, und ihre Freundin und Mitbewohnerin war einer der wenigen Menschen, denen sie blind vertraute. Sie wusste genau, was Millie ihr raten würde. Sie würde den Kopf schief legen, die Stirn runzeln und sagen: „Ich schätze, wir müssen etwas unternehmen, Miss Gray.“

Sie rieb sich den schmerzenden Nacken und blickte sich um. Mit jedem Detail, das in ihr erwachendes Bewusstsein drang, wuchs ihre Unruhe. Es kam vor, dass sie auf dem zerschlissenen Ohrensofa in der Werkstatt einnickte, wenn sie bis in die Morgendämmerung gearbeitet hatte. Gewöhnlich schlief sie jedoch auf der Empore, die eine wackelige Stahltreppe mit dem darunterliegenden Atelier verband. Vielleicht hatte sie es gestern Abend todmüde in ihr Bett geschafft, aufgewacht war sie jedenfalls an einem anderen Ort, so viel stand fest.

Sie schlang die Arme um die Knie, zog die Beine an und ließ Millie klopfen, klingeln und schimpfen. Emily stellte sich vor, sie wäre eine Kugel; ein kleiner, blau schimmernder Ball, der von innen heraus leuchtete. Manchmal funktionierte der Trick, und sie vermochte sich zu entspannen, doch diesmal versagte er.

Vor drei Tagen war sie in der großen Kiste aufgewacht, in der sie Zeichenpapier, Entwürfe, Malutensilien und Millies Bildhauerwerkzeuge aufbewahrten. Das Ereignis war gespenstisch genug gewesen, doch dies hier war schlimmer. Sie war nackt bis auf das mit Acrylfarben bekleckste Oberhemd, das ihr zwei Nummern zu groß war. Sie trug es, wenn sie arbeitete. Auf Hemd und Unterarmen leuchteten bunte, eingetrocknete Farbflecke. Ihre Handflächen schmerzten bei jeder Bewegung, weil sie mit Schnittwunden übersät waren. Emily sah sich mit wachsender Verzweiflung um und durchdrang endlich den Schleier, der ihr Bewusstsein umgab. Was sie sah, ängstigte sie mehr als die Albträume, die sie seit Wochen quälten. Niemand, der bei klarem Verstand war, kauerte sich zur Nachtruhe inmitten eines Kreises aus roter Farbe auf den Fußboden.

Millie hämmerte gegen die Tür.

„Öffne endlich, oder ich ruf die Polizei oder die Feuerwehr oder gleich alle zusammen. Ich mach mir echt Sorgen.“

Emily kam schwankend auf die Füße und ignorierte Millies Drohung. Alles, was sie wahrnahm, war der unregelmäßig gezogene, etwa zwei Meter durchmessende Ring aus blutroter Farbe; und er war nicht die einzige alarmierende Entdeckung, die sie machte. Um den Kreis herum tanzten zwölf mit weißer Kreide auf die Dielen gemalte Strichmännchen. Auf den ersten Blick schienen sie das ungeübte Werk eines Kindes zu sein. Doch bei genauerer Betrachtung erzeugten sie auf raffinierte Weise die Illusion, jedes Männchen hielte eine der versilberten Glasscherben, die mit Modellierton aufrecht auf den Boden geklebt waren.

Ihr Blick fiel auf den großen, drehbaren Spiegel, mit dem sie das Tageslicht einfing, um mit der einfallenden Helligkeit zu experimentieren. Er war in tausend Scherben zerbrochen. Emily starrte auf ihre blutverschmierten Hände. Sie konnte sich nicht daran erinnern, den Spiegel zerschlagen zu haben. Was sie zunächst für eine lästige, aber vorübergehende Form des Schlafwandelns gehalten hatte, weitete sich zu einem ernsten Problem aus.

Das Klopfen hatte aufgehört. Sie hörte, wie Millie die Eingangstür aufschloss. Offenbar hatte sie ihren Wohnungsschlüssel doch noch gefunden. Sie war oft zerstreut und sprunghaft, das Chaos folgte ihr wie ein treuer Hund.

Emily entdeckte immer mehr Spuren der Verwüstung. Ihre Aquarelle, Kohlezeichnungen und experimentellen Bilder in leuchtenden Acrylfarben, für die sich zu ihrer Freude Kaufinteressenten gemeldet hatten, lagen zerfetzt auf den mit Farbpfützen verschmierten Dielen. Eine Skulptur, die Millies ganzer Stolz war – eine eigenwillige Interpretation des verloren gegangenen Fauns von Michelangelo, war von der Arbeitsplattform gestoßen worden und streckte Emily erbost die Stummel seiner Arme entgegen. Die großformatigen Entwürfe für das gemeinsame Studienprojekt, an dem sie seit Wochen arbeiteten, hingen nicht mehr an der breiten Rückwand des Ateliers. Fetzen des Kartons lagen zerknüllt und zerrissen auf dem Boden. Die Werkstatt sah aus, als hätte sich ein tollwütiger Kunsthasser darin ausgetobt. Und schließlich der Kreis aus roter Farbe! Mit den Strichmännchen und den Spiegelscherben musste er auf jeden Besucher wie das Werk eines religiösen Fanatikers oder Satanisten wirken. Millie durfte diese Zerstörungsorgie nicht zu Gesicht bekommen, doch das war nicht mehr zu vermeiden. In diesem Augenblick betrat sie das Atelier. Sie zog einen widerspenstigen Rollkoffer hinter sich her und plapperte drauflos.

„Du kannst dir nicht vorstellen, welches Chaos da draußen herrscht. Die Fluglotsen streiken, und du findest in der City kein freies Taxi. Ich bin den halben Weg zum Hafen gelaufen.“ Ohne aufzusehen, warf sie eine dünne Ledertasche auf das Sofa. „Ich habe neue Entwürfe mitgebracht, wir müssen das anders angehen … Hoffentlich sind sie nicht nass geworden, es regnet in Strömen … Oh, Mann. Ich brauche eine Dusche und eine Kanne Kaffee, dann machen wir uns an die Ar…“

Millie schnalzte ärgerlich mit der Zunge. Der Rollkoffer holperte über einen abgebrochenen Arm des Fauns und kippte um.

„Was zum Teufel …?“ Sie sah auf und blickte sich um. Ihre Pupillen weiteten sich vor Schreck. „Grundgütiger!“, entfuhr es ihr.

„Ich … ich kann das erklären … Ich kann …“

Emily hatte das Gefühl, auf die Größe einer Ameise zu schrumpfen, und begann zu weinen. „Nein, ich kann es nicht … ich weiß nicht, was passiert ist. Ich …“

Millie war kreidebleich geworden.

„Na ja, ich weiß ja, dass bei dir ’ne Schraube locker ist“, sagte sie. „Du besitzt ein Riesentalent und schuftest härter als Michelangelo, als er die Decke der Sixtina bemalte, aber das ist …“

„Es tut mir leid. Ich mach’s wieder gut. Ich habe die Entwürfe im Kopf, ich kann sie rekonstruieren.“ Sie bückte sich und sammelte hastig die Marmorbruchstücke ein. „Vielleicht können wir den Faun reparieren.“

Millie glotzte sie mit offenem Mund an und klappte ihn dann mit einem lauten Schnappen zu. „Vergiss den Faun. Das da ist … verdammt Furcht einflößend, aber fantastisch.“

Erst jetzt wurde Emily klar, dass ihre Freundin das Chaos kaum beachtete. Sie starrte auf einen Punkt über Emilys linker Schulter. Mit wild schlagendem Herzen drehte sie sich um. Das Unheimlichste hatte sie noch gar nicht bemerkt.

2

Thomas McCallum konzentrierte sich darauf, das Gleichgewicht auf dem an vier Federn aufgehängten Trainingsgerät nicht zu verlieren. Er belastete sein linkes Bein und ignorierte den stechenden Schmerz in der Hüfte. Dass ihm bei der lächerlich leichten Übung der Schweiß ausbrach, ärgerte ihn und spornte ihn zugleich an, die doppelte Länge der vorgegebenen Zeit durchzuhalten. Das brachte ihm umgehend die Kritik des Physiotherapeuten ein.

„Die Ärzte haben Sie nicht in eine Rehaklinik geschickt, um Weltrekorde aufzustellen, Mr McCallum.“

„Ich will hier raus, und zwar so schnell wie möglich“, stieß Tom zwischen den Zähnen hervor.

„Das wird Ihnen nicht gelingen, wenn Sie Ihren Körper fortwährend überfordern.“

Tom brachte die schwingende Plattform, auf der er stand, zum Stillstand. Er wusste, dass der Therapeut recht hatte, wollte es jedoch nicht wahrhaben. Immerhin hatte er unverschämtes Glück gehabt, dass die Chirurgen die Granatsplitter entfernen und das Hüftgelenk hatten erhalten können. Schlimmstenfalls würde er ein leichtes Hinken zurückbehalten, aber wenigstens lebte er noch. Was bedeutete es da schon, ein paar Wochen in einer Rehaklinik in Brighton festzusitzen? Natasha Gradenko hatte weniger Glück gehabt. Sie hatte die Razzia im Red Door nicht überlebt.

„Machen Sie für heute Schluss. Sie haben Besuch“, sagte der Therapeut.

Tom warf sich sein Handtuch über die Schulter. Auf eine Gehhilfe gestützt, humpelte er aus dem Trainingsraum. Er hasste das verdammte Ding und schwor sich, einen Rekord im Krückenweitwurf aufzustellen, wenn er es nicht mehr brauchte.

Die Lobby der privaten Klinik im Süden von Brighton glich eher der eines Hotels als einer orthopädischen Rehabilitationseinrichtung. Der britische Staat, für den Tom sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, ließ sich die Wiederherstellung seiner Dienstfähigkeit etwas kosten. Ob sein Arbeitgeber, die Metropolitan Police – kurz Met genannt –, sich so spendabel gezeigt hätte, wenn man dort gewusst hätte, dass er schon lange den Entschluss gefasst hatte, seinen Job hinzuwerfen und auszusteigen?

„Gut siehst du aus. Nicht schlecht für einen Halbtoten.“

Detective Chief Superintendent Matt Frazer warf die Illustrierte, in der er geblättert hatte, auf einen Tisch und stemmte sich aus dem weichen Ledersessel hoch.

Tom lächelte gequält. „Aus dir wird nie ein guter Komiker, Matt.“ Er schüttelte ihm die Hand und umarmte ihn freundschaftlich. „Es freut mich, dass du gekommen bist. Außer dir lässt sich keiner von unserem Verein blicken. Ich habe mir wohl nicht viele Freunde gemacht bei der Met.“

„Was wohl eher an deinem Job als verdeckter Ermittler liegen dürfte als an deinem Charakter. Seit sechs Jahren arbeiten wir nun zusammen, und an neun von zehn Tagen treibst du dich irgendwo in den Hinterhöfen der City of London herum.“

Frazer tastete die Taschen seines zerknitterten Regenmantels ab.

„Du darfst hier nicht rauchen“, sagte Tom.

„Lass uns ein Stück …“, Frazers Blick streifte die Krücke, „… lass uns nach draußen gehen. Im Park sind wir ungestört.“ Er blinzelte ihn unbeholfen an. „Brauchst du so ’ne Art Rollstuhl?“

„Nein.“

Er humpelte in einem Tempo, dem Frazer kaum folgen konnte, auf die gläserne Eingangstür zu und trat ins Freie. Matts Besuch weckte ein Kaleidoskop von Erinnerungen – gute wie schlechte.

Aus dem wolkenverhangenen Himmel fiel feiner Nieselregen. Frazer schüttelte sich.

„Scheußliches Wetter“, sagte er.

Tom hielt schwer atmend inne. Der kurze Spaziergang hatte ihn mehr angestrengt, als er befürchtet hatte. Er sank erschöpft auf eine der Parkbänke. Eine Linde mit ausladenden Ästen bot Schutz vor dem Regen.

„Du bist doch nicht gekommen, um mit mir über das englische Klima zu plaudern“, sagte er.

„Nein, bin ich nicht.“

Frazer setzte sich neben ihn und zündete sich eine Zigarette an. Tom lehnte dankend ab.

„Was hast du vor, wenn du hier rauskommst?“

„Ich weiß es noch nicht.“

„Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass du nicht zur Met zurückkehren wirst?“

Tom ging nicht auf die Frage ein. „Hast du mit Abby gesprochen?“

„Die Aufnahme von Abby Bonham und ihrer Tochter in ein Zeugenschutzprogramm ist von höchster Stelle abgesegnet. Die Met ist es ihr schuldig – und dir ebenfalls. Und was Viktor Sorokin betrifft … Nun, deshalb bin ich hier.“

Tom stützte die Stirn auf den Krückengriff, ihm war schwindelig. Er schloss die Augen und wartete, bis der Anfall vorbei war. Darum war Matt also gekommen: Er brachte schlechte Nachrichten.

„Sorokin kommt frei, weil die Razzia im Red Door uns kein belastendes Material in die Hände gespielt hat. Er wird Abby und mich zum Abschuss freigeben, weil wir ihn reingelegt haben. Ist es das, was du mir beichten willst?“

Frazer schüttelte den Kopf. „Nein, mach dir keine Sorgen. Diesmal kommt er nicht davon. Wenn Abby aussagt, dass er den Auftrag gegeben hat, McGinley zu ermorden, ist er geliefert.“

„Sein Ruf als Mafiaboss steht auf dem Spiel“, erwiderte Tom. „Wenn sich herumspricht, dass ihn eine Bardame und ein Bulle vorgeführt haben, verliert er den Respekt bei der Konkurrenz.“

„Es geht um etwas anderes“, sagte Frazer. „Er will unbedingt mit dir reden.“

Überrascht hob Tom den Kopf. „Hat er dir den Grund verraten?“

„Nein. Er verlangt ausdrücklich nach dir und macht seine Kooperation von einem Vieraugengespräch mit dir abhängig.“

Tom schwieg nachdenklich. Es gab nur ein einziges Ereignis, das ihn mit dem König der Londoner Unterwelt verband: der Tod von Sorokins Geliebter Natasha Gradenko.

„Wirst du darauf eingehen?“, fragte Frazer.

„Der Klinikpsychiater meint, ich müsste das Trauma meiner Verwundung aufarbeiten. Vielleicht bekomme ich ja ein Fleißkärtchen und darf Brighton früher verlassen als gehofft, wenn ich mich mit Sorokin treffe. Ich schätze, du bist gekommen, um mit mir nach Pentonville zu fahren?“

Frazer nickte und trat die Kippe aus. „Lass uns aufbrechen.“

Stellte man sich den Verwaltungstrakt als Kopf vor, sah das berüchtigte Pentonville-Gefängnis – aus der Vogelperspektive betrachtet – wie ein Toter aus, der Arme und Beine von sich streckt. Im Jahr 1842 errichtet, war es mehrmals umgebaut und modernisiert worden und blieb doch, was es immer gewesen war: ein trostloses Sammelbecken menschlicher Verfehlungen und Niedertracht.

Der Weg zum Besuchsraum kostete Tom mehr Kraft, als er zugeben wollte. Die Schmerzen beeinträchtigten außerdem seine Konzentration. Er würde seine ganze Aufmerksamkeit brauchen, um dem Russen gewachsen zu sein. Was auch immer Sorokin von ihm wollte, es konnte nichts Gutes bedeuten. Er war erleichtert, einen Moment ausruhen zu können, während Frazer die Anmeldeformalitäten erledigte.

Ein Vollzugsbeamter kontrollierte ihre Ausweise, dann führte er Tom in einen vier mal fünf Meter messenden Raum, dessen Einrichtung sich auf einen Tisch und zwei Stühle beschränkte. Frazer wartete auf dem Gang.

Tom biss die Zähne zusammen, hinkte in das Zimmer und setzte sich auf einen der Stühle. Der Aufseher nahm auf einem Hocker neben der Tür Platz.

Zehn Minuten später betrat Viktor Sorokin den Raum, Bodenspekulant und Finanzinvestor mit besten Beziehungen zur russischen Mafia sowie höchsten politischen Londoner Kreisen. Wortlos setzte er sich gegenüber Tom an den Tisch. Notgedrungen hatte er seine sündhaft teure Garderobe gegen die übliche Gefängniskluft tauschen müssen. Ohne seine maßgeschneiderte Kleidung, die Leibwächter und Speichellecker, die ihn umschwärmten, war er nichts weiter als ein gewöhnlicher, müder alter Mann.

War er das wirklich? Matt hatte Tom gewarnt. Auch von seiner Zelle aus behielt Sorokin alle Fäden in der Hand, dafür würde sein Ziehsohn Juan Cataldo sorgen, der Tom an jenem Abend im Red Door vor sechs Wochen entwischt war.

„Entspannen Sie sich, Mr McCallum“, sagte Sorokin. „Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben. Jedenfalls nicht im Augenblick.“

„Ich habe nichts gegen Sie persönlich. Es war mein Job, Sie hinter Gitter zu bringen“, antwortete Tom.

Sorokins Blick streifte die Krücke, die am Tisch lehnte. Das kalte Feuer, das in seinen Augen loderte, strafte die gebeugte, kraftlose Haltung Lügen. Er hockte auf seinem Stuhl wie ein Geier auf einem Ast, der nach Aas Ausschau hält.

Als hätte Sorokin seine Gedanken erraten, fragte er: „Was macht die Hüfte?“

„Was wollen Sie von mir?“

Sorokin verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln.

„Man erzählt sich, dass Sie einem streunenden Kater gleichen, der sieben Leben hat. Auch ich habe mir einen Beinamen erworben. Man nennt mich den Prediger. Wissen Sie, warum?“

Tom lehnte sich zurück. „Ehrlich gesagt, interessiert es mich nicht besonders.“

Er tastete nach der Krücke und stand auf. Ein scharfer Schmerz schoss durch sein linkes Bein und zwang ihn auf den Stuhl zurück. „Haben Sie mich aus Brighton holen lassen, um meine Zeit mit eitlem Geschwätz zu verschwenden?“

Erneut bemühte er sich, aufzustehen.

„Mitnichten. Setzen Sie sich.“

Sorokin hatte die Worte so leise ausgesprochen, dass der Wärter sie nicht hatte hören können. Dennoch lag in seiner Stimme so viel Schärfe und Macht, dass Tom ihm unwillkürlich Folge leistete.

„Sie sollten sich besser anhören, was ich Ihnen zu sagen habe, Mr McCallum. Es könnte Menschenleben retten. Ich trage meinen Beinamen, weil ich gerne aus dem Alten Testament zitiere. Auge um Auge, Zahn um Zahn, ein Leben für ein Leben.“

„Sind Sie wirklich so arrogant anzunehmen, dass Sie hier jemals wieder herauskommen, wenn Sie den Polizisten ermorden lassen, der Sie ins Gefängnis gebracht hat?“

„Es geht nicht um Ihr Leben.“

„Lassen Sie Abby aus dem Spiel“, entgegnete Tom. „Wäre sie auf meinen Vorschlag nicht eingegangen, hätte sie sich der Strafvereitelung schuldig gemacht. Ich übte Druck auf sie aus und ließ ihr keine Wahl. Ihr blieb nichts anderes übrig, als Sie ans Messer zu liefern.“

„Sie brauchen nicht den Gentleman zu spielen. Der Versuch, sie zu schützen, ist von keinerlei Belang.“ Sorokin deutete auf die Krücke. „Nun sagen Sie schon. Was meinen die Ärzte? Werden Sie je wieder ohne Hilfe laufen können?“

„Es ist eine Frage der Geduld.“

„Eine wertvolle Eigenschaft, die ich im Überfluss besitze und die mir hier drin äußerst nützlich ist“, sagte Sorokin. „Natasha hatte nicht so viel Glück wie Sie."

„Es tut mir leid, was passiert ist“, entgegnete Tom. „Ich wollte nicht, dass jemand bei der Razzia zu Schaden kommt. Hätte man mir die Leitung des Einsatzes übertragen, wäre das nicht passiert.“

„Sie haben mir das Liebste und Teuerste genommen, was ich besaß“, fuhr Sorokin unbeirrt fort, „und sechs Ihrer sieben Leben bereits verbraucht. Deshalb wird das letzte, das Ihnen bleibt, nicht mehr lebenswert sein, dafür werde ich sorgen.“

„Jeder hielt die alte Granate auf Ihrem Schreibtisch für eine Attrappe. Es war Cataldo, der das verfluchte Ding hochgehen ließ, nicht ich. Wenn jemand die Schuld an Natashas Tod trifft, dann ihn.“

Sorokin beugte sich vor. Tom konnte die feinen, geplatzten Äderchen im Weiß seiner Augen sehen.

„Sie sind nicht nur ein Lügner, McCallum, sondern auch ein Dieb.“

„Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.“

„Wirklich nicht? Ich vermisse eine Million Dollar in Novakrypt.“

„Fragen Sie doch Ted Allister, was er mit Ihrem Schmiergeld gemacht hat.“

„Sie wissen so gut wie ich, dass meine kleine Zuwendung nie bei dem Tory angekommen ist. Die Met hat ihn bis auf die Unterhosen durchleuchtet, ohne den Hauch eines Beweises für Korruption zu finden.“

„Wenn Sie mich deshalb herbestellt haben, muss ich Sie enttäuschen. Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Passen Sie besser auf Ihre Kohle auf. Sie haben eine Menge Neider.“

„Vor allem habe ich viel Zeit zum Nachdenken“, antwortete Sorokin. „In der vergangenen Nacht kamen mir Abbys spaßige kleine Zaubertricks in den Sinn, mit denen sie die Gäste an der Bar unterhielt. Die Geschenkschachtel mit dem Private Key für das Cyber Wallet auszutauschen, war clever ausgedacht. Ich gebe zu, ich hätte es nicht besser machen können. Aber so gerissen, wie Sie glauben, sind Sie nicht, McCallum. Dachten Sie wirklich, ich könnte eins und eins nicht zusammenzählen? Was für eine rührende Geschichte: Der verdeckte Ermittler, der davon träumt, auszusteigen, verliebt sich in die hart arbeitende Kellnerin, die zufällig Zeugin eines illegalen Millionendeals wird. Sie wollten mit meinem Geld ein neues, sorgloses Leben beginnen, aber dann kam etwas dazwischen. Bei Ihrer Abrechnung mit Juan gingen Sie fast drauf. Ihre Verletzung verhinderte ein schnelles Untertauchen. Pech für Sie und Abby, denn an und für sich war der Plan nicht schlecht.“

„Sie haben eine blühende Fantasie, Sorokin. An Ihrer Stelle würde ich in den eigenen Reihen nach dem Dieb suchen. Legen Sie ein Geständnis ab, und machen Sie eine umfassende Aussage. Vielleicht sind Sie dann in ein paar Jahren wieder draußen und können genießen, was von Ihrer Million übrig ist.“

Tom stand auf, schnappte sich die Krücke und humpelte zum Ausgang.

„Ich bin noch nicht fertig mit Ihnen, Mr McCallum.“

„Aber ich mit Ihnen.“

„Lass uns allein“, sagte Sorokin.

Der Vollzugsbeamte faltete die Zeitung zusammen, in der er gelesen hatte, und verließ wortlos den Besuchsraum.

„Schau an, Sie haben bereits neue Leute eingestellt“, sagte Tom.

„Mein Einfluss reicht weiter, als Sie sich vorstellen können“, antwortete Sorokin. „Was ich Ihnen jetzt zu sagen habe, sollten Sie sehr ernst nehmen.“

„Sie sind nur ein verbitterter alter Mann, der verloren hat“, entgegnete Tom. „Niemand steht über dem Gesetz, auch Sie nicht.“

„Es geht nicht um Geld. Sie haben mich zu einem sehr einsamen Mann gemacht, McCallum, darum werden auch Sie lernen, was es heißt, einsam zu sein. Meine Leute werden Ihnen kein Haar krümmen, aber stets wissen, wo Sie sich aufhalten. Jede Frau, in die Sie sich jemals verlieben, wird sterben, während Sie weiterleben. Das schwöre ich beim Andenken an meine geliebte Natasha. Abby Bonham wird die Erste sein, die für Ihren Leichtsinn bezahlt.“

3

„Sag mir bitte, dass das nicht dein Werk ist, Emily“, sagte Millie. „Ich hab was übrig für schräge Experimente, aber keine Lust, mit einer Verrückten unter einem Dach zu wohnen. Du wirst dir noch ein Ohr abschneiden wie der alte Vincent van Gogh. Dann stecken sie dich in eine Gummizelle, wo du die Wände mit Bibelsprüchen vollkritzeln kannst. Hätte Kafka gemalt, wären solche Bilder dabei herausgekommen.“

Emily hatte das Gefühl zu versteinern, bis sie so gefühllos war wie eine von Millies Plastiken. Jeder Muskel schmerzte und protestierte, als sie ihren Körper zwang, sich umzudrehen. Von der acht Meter breiten, ehemals weißen Wand, an der sie die Entwürfe für ihr Studienprojekt befestigt hatten, starrten sie zwei Dutzend Figuren und Gesichter an, die der Fantasie eines Wahnsinnigen entsprungen sein mussten. Ein Fresko in Schwarz und Rot, das Qualen, Furcht und Verzweiflung ausdrückte. Die Gestalten schienen in der Wand festzustecken. Sie wanden und krümmten sich, um sich aus ihrem steinernen Gefängnis zu befreien, und streckten Emily ihre Arme und Hände entgegen. Ihr weit aufgerissenen Münder flehten stumm um Hilfe.

„Michelangelos Jüngstes Gericht in der Sixtina ist dagegen naive Malerei“, sagte Millie. „Auf welchem Höllentrip bist du gewesen, Emmy? Hast du was eingeworfen? LSD oder so ’n Zeug?“

Emily wollte antworten, erklären und dementieren, aber ihre Kehle war so staubtrocken, dass sie husten musste.

„Ich … ich habe keine Ahnung. Ich kann mich nicht erinnern.“

„Was meinst du damit, du kannst dich nicht erinnern?“

Millie entdeckte den seltsamen Kreis aus Farbe, die Strichmännchen und die Spiegelscherben. Sie runzelte besorgt die Stirn.

„Sag mal … gibt es da noch mehr, was ich wissen sollte? Ich meine, du bist doch nicht einer Sekte beigetreten und feierst schwarze Messen?“

Emilys Gedanken wirbelten durcheinander wie welke Blätter in einem Herbststurm. Sie versuchte krampfhaft, die vergangenen zehn Stunden zusammenzusetzen. Es gelang ihr nicht. Sie ließ sich auf das durchgesessene Ohrensofa sinken und rieb sich die schmerzenden Schläfen.

„Ein Kaffee wäre nicht schlecht. Könntest du uns einen aufsetzen?“

Millie untersuchte den zerbrochenen Faun. Emily sah die Enttäuschung auf ihrem Gesicht und schämte sich.

„Es tut mir leid. Ich habe das nicht gewollt.“ Sie blickte ihre Freundin bittend an. „Meinst du, wir könnten ihn zusammenkleben?“

„Mach dir um den Faun keine Sorgen, er war sowieso nicht besonders gut.“ Millie drehte sich zu ihr um. „Sie machen mir Sorgen, Miss Gray.“

Sie ging in die Küche hinüber. Kurz darauf hörte Emily das Gluckern der Kaffeemaschine. Sie blickte auf die Tür zu dem Lagerraum, in dem sie den größten Teil ihrer Entwürfe aufbewahrte, und erstarrte. Was sie dort sah, erschreckte sie noch mehr als das Höllenfresko an der Wand. Jemand hatte in blutroten Buchstaben die Worte Er kommt! auf die Tür geschrieben. Immer wieder, bis ihm die Farbe ausgegangen war. Emily verwarf den Gedanken, dass ein Fremder während der Nacht in das Atelier eingebrochen war, um es auf diese verrückte Weise zu verwüsten. Um all das zu bewerkstelligen, hätte er einen solchen Lärm erzeugen müssen, dass er sie unweigerlich geweckt hätte. Allerdings war dies eindeutig nicht ihre Handschrift. Die Schrift war entgegengesetzt ihrer Schreibweise geneigt und unregelmäßig, als wäre sie das Werk eines ungeübten Linkshänders.

Millie hatte die Schmiererei offenbar noch nicht gesehen, denn die Tür lag halb versteckt hinter einem Regal, in dem Behälter mit Pinseln und Farbtöpfe standen.

Ihre Freundin kehrte zurück und reichte ihr eine Tasse mit schwarzem Kaffee.

„Wie war es in Cornwall?“, fragte Emily.

Millie setzte sich neben sie auf das Ohrensofa.

„Das übliche Chaos. Du kennst meine Familie. Es hat keine zwei Stunden gedauert und sie haben fast aufeinander eingeprügelt.“ Sie grinste schief. „Eine Hochzeit mit Blut, Schweiß und Tränen sozusagen. Lenk nicht ab. Was ist los mit dir?“ Sie deutete auf die bemalte Wand. „Wenn du dich daran nicht erinnern kannst, bist du wirklich nicht mehr weit von der Couch eines Psychiaters entfernt.“

„Es fing vor ein paar Wochen an. Es gibt da … gewisse Lücken in meinem Leben.“

„Lücken? Was meinst du damit?“

„Oft fehlen mir nur Minuten, manchmal sind es auch Stunden, an die ich mich nicht erinnern kann. Es ist, als würde mich jemand an einen anderen Ort teleportieren. Ich bin plötzlich da und weiß nicht, wie ich dorthin gekommen bin … oder was ich in der Zwischenzeit gemacht habe.“

Millie pfiff durch die Zähne. „Das ist krass. Du könntest also alles Mögliche anstellen, ohne etwas davon zu wissen.“

„Ich hatte gehofft, es verschwindet von selbst wieder. Aber es wird immer schlimmer.“

„Weißt du, was es ausgelöst hat?“, fragte Millie.

„Nein … vielleicht … ich weiß nicht. Erinnerst du dich an den Tag, als wir Rowlston unser Projekt vorgeschlagen haben?“

„Das war am 1. August.“

„Ich fuhr damals mit dem Bus zurück zum Hafen. Während der Fahrt erlitt ich einen Panikanfall. Der Fahrer musste anhalten, weil die anderen Fahrgäste befürchteten, ich würde kollabieren. Ich hatte rasende Kopfschmerzen. Jemand rief den Notarzt, aber bevor er eintraf, bin ich kopflos ins Freie geflüchtet. Von da an fehlt mir eine halbe Stunde. Auf einer Wiese im Riverside Park kam ich wieder zu mir.“

„Warum hast mir nie davon erzählt?“

„Weil ich mich geschämt habe.“

„Wie kam es zu dem Anfall?“

„Da war dieser Typ im Bus. Ich konnte nicht aufhören, ihn anzustarren“, sagte Emily.

„Was war denn so besonders an ihm?“

„Er war so groß wie ich, aber älter – so um die vierzig. Trotz der Hitze trug er eine Jacke, daran erinnere ich mich noch. Er war blond und hatte einen Dreitagebart. Mit seinen Augen stimmte etwas nicht.“

„Was denn?“

Sie waren so … hypnotisch. Und sie hatten eine ungewöhnliche Farbe – hellgrau mit grünen und violetten Sprenkeln. Ich habe solche Augen noch nie gesehen. Immerzu musste ich ihn anstarren.“

„Hat er dich bemerkt?“

„Das ließ sich nicht vermeiden, er stand ja dicht neben mir. Plötzlich kroch dieser seltsame Geruch in meine Nase.“

„Kannst du ihn beschreiben?“

„Eine Mischung aus Schweiß, Schimmel und Seetang. Mir wurde übel, und dann kam die Panik. Sie war so heftig, dass ich nicht mehr denken konnte. Ich hatte nur noch ein Verlangen: Raus aus dem Bus. Ich glaube … es kann sein, dass ich geschrien habe wie am Spieß. Der Fahrer hat angehalten, dann bin ich in Ohnmacht gefallen. Als ich wieder zu mir kam, standen alle um mich herum. Ich lag auf einer der Sitzbänke und sah, wie ein Sanitäter vorn in den Bus stieg. Ich bin aufgesprungen, habe einen alten Mann zur Seite gestoßen und bin aus der hinteren Tür gerannt. Von da an weiß ich nichts mehr, bis ich im Riverside Park zu mir kam.“

„War der Typ noch da, als du aufgewacht bist?“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich war so in Panik, dass ich einfach losgelaufen bin. Es war, als wäre ich nicht ich selbst. Als würde ein Fremder die Kommandos geben; jemand, der in meinem Kopf war. Verstehst du, was ich meine?“

„Hört sich an, als wärst du besessen.“ Millie sah sie misstrauisch an. „Das bist du doch nicht, oder? Du fängst doch nicht gleich an, Aramäisch zu reden oder Suppe zu spucken?“

„Hör auf mit dem Quatsch. Er war da. Ich bin ganz sicher, dass es so war“, beharrte Emily.

Millie zog die Nase kraus, als könne sie den Körpergeruch des Mannes wahrnehmen. „Ich schätze, der Geruch war ein Trigger, eine Art Signal. Der Typ hat bei dir auf einen Knopf gedrückt, von dem du nicht weißt, dass er existiert. Stell dir vor, du hörst gerade einen Song im Radio und verbrennst dich im selben Moment an einer heißen Herdplatte. Wenn dir das Lied irgendwann mal wieder in den Sinn kommt, wirst du dich garantiert an die Schmerzen erinnern, sie vielleicht sogar wieder spüren.“

„Du meinst, der Geruch hat mich an etwas erinnert, was ich erlebt, aber vergessen habe?“

„Darauf kannst du wetten. Und es war sicher keine angenehme Erfahrung, sonst würde dein Unterbewusstsein es nicht so gründlich verdrängen. Vielleicht war’s etwas aus deiner Kindheit. Das ist es meistens. Trigger sind fast immer mit heftigen Traumata verknüpft. Und wenn ich mich hier so umschaue … oh, Mann. Du bist doch nicht etwa …? Könnte es sein, dass du …?“

„Was?“

„Ich traue mich nicht zu fragen, Emmy.“

„Ob ich als Kind missbraucht worden bin, meinst du? Nein, ich glaube nicht. Aber … sicher bin ich mir nicht. Ich kann mich an die ersten sechs Jahre meines Lebens nicht erinnern.“

„Willst du mich auf den Arm nehmen?“

Emily wärmte ihre kalten Hände an der Kaffeetasse.

„Dazu ist die Sache zu ernst, findest du nicht?“

„Davon hab ich noch nie gehört“, sagte Millie zweifelnd. „Wie ist das möglich?“

„Im Alter von sechs Jahren bin ich an einer Meningitis erkrankt und fast gestorben. Es kommt selten vor, aber eine schwere Hirnhautentzündung kann zu einem totalen Gedächtnisverlust führen.“

„Das muss ein komisches Gefühl sein.“

„Die meisten Menschen erinnern sich nur an wenige Ereignisse der frühen Kindheit – an einzelne Bilder, Szenen und Eindrücke. Bei mir ist da gar nichts.“ Emily tippte sich an die Schläfe. „Es ist alles da oben drin, aber ich kann es nicht abrufen.“

„Es sei denn, ein Trigger setzt es frei.“ Millie stand auf und ging auf die bemalte Wand zu. „Ein Trauma zu verdrängen ist eine Sache, aber das hier? Das ist kaum in einer Nacht zu schaffen. Bist du sicher, dass es von dir stammt?“

„Ja. Wer soll es denn sonst gewesen sein?“

Emily zwang sich, die verzerrten Gesichter und ausgestreckten Hände zu studieren. Irgendwo in dem Albtraumfresko war der Schlüssel zu diesem Rätsel versteckt.

„Na ja“, sagte sie. „Es ist irgendwie … nicht dein Stil. He, was ist das?“

Millie hatte die Tür zum Lagerraum entdeckt. Sie ging langsam näher und blieb dann stehen, als hielt eine unsichtbare Barriere sie zurück.

Er kommt.“ Sie drehte sich um. „Wer, Emily? Wer, um Gottes willen, kommt?“

„Niemand. Das ist nur Gekritzel. Ich besorge Farbe und überstreiche es.“

„Was werde ich finden, wenn ich da reingehe? Einen Stapel zersägter Leichen?“

„Ich weiß es nicht“, sagte Emily verzweifelt.

„Dann lass es uns herausfinden.“

Millie ging langsam auf die Tür zum Lagerraum zu.