Leseprobe Die Fremde in der Orchard Street

Prolog

Eine üble Angelegenheit

„… dann muss es Verrat sein; und ich erkenne, dass es so sein muss, bei allem, was gut, und allem, was schlecht ist.“

Maria Edgeworth, Belinda

London
Februar 1820

Adam Harkness stand im Schatten eines schiefen Hauses, das zur Hälfte mit Brettern verkleidet war. Die dunkle und ruhige Gasse, in der er stand, wurde Cato Street genannt. Der Lärm aus den Pubs und Kneipen in der Umgebung drang hier und da zwischen den eng stehenden Häusern hindurch. Aus der Gasse selbst kam jedoch kein Laut. Die wenigen rußverschmierten Häuser hier waren gründlich gegen die kalte Februarnacht abgeriegelt. Es drängte sich sofort die Vorstellung auf, dass die Bewohner dick in ihre Decken eingepackt im Bett liegen mussten und tief und fest schliefen.

Seine Observierung stand nicht unter den schlechtesten Vorzeichen. Bald würde Vollmond sein und der Himmel war ungewöhnlich klar, sodass ihm mehr Licht als üblich vergönnt war. Allerdings bedeutete das auch, dass es außerordentlich kalt war und sich die eisige Winterluft wie kleine Nadeln auf seiner Haut bemerkbar machte. Um zu verhindern, dass seine Füße taub wurden, trat Adam ein wenig auf der Stelle, wobei er die Aufmerksamkeit weiterhin konzentriert auf den Stall vor ihm richtete.

Zwischen den schiefen Fensterläden des Heubodens flackerte der Schein einer Laterne hindurch. Alle paar Sekunden wurde das schwache Leuchten von einem vorbeihuschenden Schatten verdunkelt. Das verriet Adam, dass im Gegensatz zum Rest der Gasse dort noch jemand wach war. Wenn er richtig gezählt hatte, waren es sogar ungefähr zwanzig Personen, die dort drinnen fleißig wie Bienen am Werk waren.

Nur was genau taten sie? Das war die eigentliche Frage.

Sie waren singend eingetroffen. Es waren allesamt Männer, aber dort hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Einer hatte die Lederschürze eines Schusters getragen. Ein anderer war ein schwarz gekleideter Gentleman im Gehrock gewesen, wie sie von Priestern oder Lehrern bevorzugt wurden. Ein weiteres Mitglied der Truppe hatte derart zerlumpte Kleidung getragen, dass die Bezeichnung Mantel kaum noch angemessen wirkte.

Sie waren die Straße mit hochgeschlagenen Krägen und tief heruntergezogenen Hüten entlanggegangen. Als sie die Stalltüren erreicht hatten, hatten sie sich vorsichtig umgeblickt.

Ohne Vorwissen hätte Adam sie vielleicht für eine Gruppe einfacher Einbrecher oder Taschendiebe gehalten. Aber laut seinen Vorgesetzten in der Bow Street waren der Schuster, der Lehrer und der Lumpenträger genau wie alle anderen der Truppe auf nicht weniger als Hochverrat aus.

Erst heute Morgen war Adam zusammen mit Stephen Lavender, Sam Tauton und Sampson Goutier in das opulente Büro von John Townsend beordert worden. Goutier war der Einzige von ihnen, der Captain der Streifenpolizisten war. Er war Experte darin, sich in der verworrenen Londoner Nachtwelt zurechtzufinden und war nur aus dem Grund noch nicht zum Principal Officer befördert worden, weil das Parlament beschlossen hatte, dass es nur acht gleichzeitig geben durfte.

John Townsends Aufregung war heute Morgen sofort daran abzulesen gewesen, dass er eine ganze Weile hinter seinem Schreibtisch auf und ab gelaufen war, bevor er auch nur ein Wort an sie gerichtet hatte.

Diese Männer hatten vor, den gesamten Kronrat bei einer Dinnerveranstaltung in der Grosvenor Street zu ermorden, eröffnete er ihnen schließlich. Der ehrenwerte Earl of Harrowby, Vorsitzender des Kronrats, war im Hyde Park von einem Mann angesprochen worden, der sich selbst Hiden nannte. Eben dieser Hiden hatte dem Earl vom Plan der Gruppe erzählt.

Und der Earl kaufte ihm diese Fantasterei einfach so ab?, hatte Goutier ungläubig eingeworfen.

Townsend wies ihn sofort zurecht und erklärte, dass der Earl gute Gründe hatte, ihm zu glauben. Es liege nun an ihnen, in dieser Sache zu handeln.

Wie sollten diese Männer überhaupt von der Dinnerveranstaltung wissen?, hatte Lavender gefragt. Der schlanke, langgesichtige Mann hing einer sehr strengen Vorstellung der Gesetzesauslegung an und war deswegen mehr als einmal mit Adam aneinandergeraten.

Davon wurde in der Zeitung berichtet, hatte Townsend erklärt. Einer von ihnen hatte den Artikel bemerkt.

Adam hatte eingeworfen, dass sie doch sicher zuerst feststellen mussten, ob dieser Hiden auch die Wahrheit sagte. Und er erkundigte sich nach dessen Aufenthaltsort.

Doch offenbar hatte der Earl versäumt, ihn danach zu fragen. Hiden hatte die Warnung überbracht und war dann verschwunden. Der Earl habe jedoch vermutet, dass es sich bei ihm um einen der Viehtreiber handeln könne, die ihre Tiere auf den Weiden im Hyde Park grasen ließen.

Sie hatten eine halbe Stunde darüber debattiert, wie nun vorzugehen war. Goutier und Sam Tauton hatten Adam zugestimmt, dass man zunächst Hiden aufspüren müsse, um das Gesagte zu bestätigen. Lavender hingegen hatte argumentiert, dass sie keine Zeit verschwenden durften.

Wenn sie zögerten, so könne dies zu einem Aufbegehren auf der Straße führen. Man müsse die Männer umgehend festnehmen. Das sei in jeder Hinsicht die sicherste Vorgehensweise.

Townsend hatte sich zwar auf die Seite von Lavender gestellt, doch Adam beharrte auf seiner Position.

Wenn sich der Bericht als falsch erwies oder die Ausgeburt eines kranken Geistes war, so würde sich die Bow Street damit in aller Öffentlichkeit blamieren. Und sobald die Zeitungen Wind davon bekämen, würde man sicher spotten, dass sie und der Earl sich vor ihren eigenen Schatten fürchteten.

Dieses Argument hatte zumindest eingeschränkt Erfolg. Townsend betrachtete es als seine Pflicht, den Ruf der Bow Street und den der königlichen Institutionen zu wahren. Daher ließ er sich widerwillig davon überzeugen, dass Adam zunächst so viel wie möglich über den Plan herausfinden musste. Allerdings beharrte Townsend auch darauf, dass Adam niemanden zur Unterstützung an die Seite bekäme. Adam war also ganz auf sich allein gestellt. Zumindest offiziell.

So harrte er also in der Kälte und Dunkelheit aus und musste zumindest zugeben, dass irgendetwas auf diesem Heuboden vor sich ging. Aber wenn es sich dabei um ein furchtbares und gefährliches Komplott handelte, dann gingen die Eingeweihten ausgesprochen schlampig vor. Der Mann, den er zur Tür des Stalls geschickt hatte, um die Lage auszuloten, war einfach hineingegangen und das schon zwei Stunden her. Adam hörte keine Anzeichen eines Kampfes oder sonst eines Tumults.

Tatsächlich hörte er im Moment nur die Rufe der Stadtwache von ihren verschiedenen Positionen. „Zwei Uhr, alles ist ruhig! Zwei Uhr, alles ist ruhig!”

Gott, ich hoffe, das stimmt. Adam atmete langsam aus. Der Dunst waberte vor ihm nach oben und schimmerte silbrig im Mondlicht.

Der Plan war nicht annähernd so solide, wie er gehofft hätte, aber ihnen blieb zu wenig Zeit, um sich etwas Besseres auszudenken. Das Abendessen der Minister sollte in zwei Tagen stattfinden. Immerhin konnte es jederzeit abgesagt werden, falls dies nicht schon längst geschehen war. Allerdings hatten die Zeitungen davon noch nichts berichtet.

Die letzten Rufe der Nachtwächter verhallten in der Ferne. Adam wartete und schätzte das Verstreichen der Zeit anhand seines Herzschlags ab. Langsam wich jedes Gefühl aus seinen Zehen und Fingerspitzen. Die Schatten auf dem Heuboden bewegten sich mal hierhin, mal dorthin.

Und dann endlich öffnete sich sie Stalltür. Adam zwang sich zu vollkommener Ruhe. Seine Augen hatten sich inzwischen so gut an die Dunkelheit gewöhnt, dass er die Silhouette eines großen, schlanken Mannes ausmachen konnte, die still und leise in die Dunkelheit hinaustrat. Der Mann blickte gen Himmel, als schätzte er das Wetter ein. Die scharfe Brise, die durch die Gasse wehte, veranlasste ihn dazu, den Mantel enger um sich zu schlingen, bevor er sich davonmachte.

Adam zählte still bis dreißig, um abzuwarten, ob noch jemand aus dem Stall treten würde. Doch die Tür blieb geschlossen. Oben bewegten sich die Schatten unverändert vor dem Fenster hin und her. Es ertönte auch kein Ruf.

Adam zog die Krempe seines Huts tiefer, steckte sich die Hände in die Taschen und machte sich an die Verfolgung des großen Mannes. An der Hauptstraße passierte er die Tür, hinter der Goutier Stellung bezogen hatte, und Adam schlug den Kragen hoch. Das war das vereinbarte Zeichen. Tatsächlich funktionierte der Plan erstaunlich gut. Zurück in der Bow Street würden sie sich wieder sammeln.

Townsend hatte zwar befohlen, dass niemand Adam bei seinem Unterfangen unterstützen sollte, Goutier und Tauton hatten jedoch darauf bestanden, ihn zu begleiten. Immerhin konnten sie wahrheitsgemäß abstreiten, mit in die Gasse gegangen zu sein, sollte jemand danach fragen.

Je weiter der hochgewachsene Mann sich von der Cato Street entfernte, desto entspannter wirkte sein Gang. Nach einer Viertelmeile hatte sich sein verschwörerisches Schleichen in das lockere Schlendern eines gänzlich unbesorgten Bürgers verwandelt.

Als er das Kutschhaus Dappled Mare erreichte, sah Adam, wie er an die Tür klopfte. Nach einiger Zeit wurde die Tür geöffnet und ein Junge trat mit einer Laterne in der Hand hinaus. Der Mann gab dem Burschen ein paar Münzen und dieser eilte in Richtung der Ställe davon. Wenig später fuhr eine geschlossene Kutsche gezogen von zwei kastanienbraunen Pferden aus dem Stallgebäude vor und kam vor dem Mann zum Stehen. Dieser kletterte hinein, ließ die Tür der Kutsche jedoch offen.

Adam blickte sich ein letztes Mal um. Als er sicher war, dass niemand ihm gefolgt war, schritt er über das Kopfsteinpflaster zur Kutsche, stieg ein und schloss die Tür hinter sich. Die Hitze des Fußwärmers fühlte sich geradezu himmlisch an. Der hochgewachsene Mann klopfte gegen das Dach. Sobald sich die Kutsche in Bewegung setzte, nahm er den schlaffen Hut ab und legte ihn auf der Sitzbank ab.

„Nun, Mr Harkness.“ Sanderson Faulks fuhr sich mit den Fingern durch das blonde Haar. „Ich glaube, dass ich Ihnen für diesen äußerst unterhaltsamen Abend danken sollte. Wenn ich meine Memoiren verfasse, wird er sicherlich eine prominente Stellung einnehmen. Ich kann Ihnen allerdings versichern, dass ich vorhabe, sie erst veröffentlichen zu lassen, wenn ich schon lange nicht mehr bin.“

Adam grinste. Er hatte vor mehreren Jahren das erste Mal Bekanntschaft mit Faulks gemacht. Seitdem hatte er ihm schon in mehr als nur einem Fall bei der Ermittlungsarbeit geholfen. Faulks war ein bekannter Dandy und verdiente seinen Lebensunterhalt mit dem Kunsthandel für die Londoner Oberschicht. Als Geldverleiher und gnadenloser Kartenspieler besserte er sein Einkommen darüber hinaus noch ein wenig auf. Daher war er Adams erste Wahl gewesen, um ihm bei diesem Plan zu helfen.

Wieso ich?, hatte Faulks gefragt.

Weil ich Ihnen vertraue. Weil Sie über eine exzellente Beobachtungsgabe verfügen und Sie niemand in der Nachbarschaft erkennen dürfte. Er erinnerte sich daran, wie sich Faulks Lächeln subtil gewandelt hatte, wie um ihn vor voreiligen Annahmen zu bewahren.

Wenn es sich bei der Gruppe um Kriminelle handelte, würden sie einen Polizisten aus der Bow Street vielleicht erkennen, hatte Adam ihm erklärt. Und außerdem hatte er Faulks gefragt, weil dieser nicht von Townsend gefeuert werden konnte, sollte herauskommen, dass er heute Abend in diesem Stall war.

„Also, was haben Sie gesehen?“, erkundigte sich Adam nun.

Faulks bedachte ihn mit einem schmallippigen Lächeln. „Wenn die ehrbaren Magistrate der Bow Street glauben, dass dieser Heuboden ein gefährliches Nest von Radikalen ist, dann liegen sie völlig daneben. Vielmehr bot sich mir ein Haufen von halb verblendeten, halb verzweifelten und vollkommen planlosen Männern. Ich bin ohne jeden Widerstand eingetreten. Ich habe mich für mehrere ermüdende Stunden in einer Ecke des Raumes aufgehalten, ohne dass auch nur einer von ihnen danach gefragt hätte, was ich dort zu suchen habe. Einer vertraute mir später an, dass er nur zu diesen Treffen komme, weil es immer etwas zu essen gebe.“

Erleichterung überkam Adam, allerdings nicht genug, um jeden Verdacht auszuräumen. Warum hatte der Earl von Harrowby so bereitwillig geglaubt, dass diese Versammlung eine Gefahr darstellte. Hatten sie irgendetwas übersehen?

„Waren sie bewaffnet?“, hakte Adam nach.

„Mehr oder weniger. Es gab eine Handvoll Piken, Säbel und andere einst gefährliche Antiquitäten. Ich habe mir eine der Pistolen angesehen: Die Gefahr, dass sie dem Schützen in der Hand explodiert, ist etwa genau so groß, wie dass sie das eigentliche Ziel trifft. Die Bande könnte natürlich für die Bewohner der Gasse gefährlich werden, sofern dort niemand lebt, der eine überdurchschnittlich einschüchternde Gestalt besitzt.“

„Haben sie zu irgendeinem Zeitpunkt über ihre Pläne gesprochen?“

„Einer der Kerle, ein gewisser Thistlewood, schon. Er ist wohl so etwas wie ihr Anführer. Er versicherte den anderen Anwesenden, dass sie leicht die Grosvenor Street erstürmen und das gesamte Kabinett ermorden könnten. Gleichzeitig solle ein anderer Trupp Kanonen aus den Waffenkammern und Milizgebäuden stehlen und Barrikaden in der ganzen Stadt errichten. Danach würden sie eine provisorische Regierung bilden, sämtliche Banknoten verbrennen und das Gold der Bank of London an die Armen verteilen.“

„Und dass alles mit zwanzig Mann?“, rief Adam ungläubig aus.

„Nun, dieser Punkt war ein wenig strittig. Thistlewood bestand darauf, dass ihre Zusammenkunft nur ein kleiner Teil einer größeren Rebellion sei. Er sagte, dass ein anderer Herr namens Edwards ihm versichert habe, dass Zehntausende in ganz London bereit seien, sich zu erheben.“

„War dieser Edwards auch beim Treffen?“

„Nein“, sagte Faulks. „Und es schien ihn auch niemand zu erwarten. Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber es war für mich nur eine weitere von vielen Merkwürdigkeiten.“

Adam nickte. „Vielen Dank, Mr Faulks. Ich stehe in Ihrer Schuld.“

„Wie wollen Sie jetzt vorgehen?“

„Ich werde Mr Birnie und Mr Townsend berichten, was Sie herausgefunden haben. Mit etwas Glück werden Ihre Beobachtungen ausreichen, um die Befürchtungen des Earls und des Kronrats zu zerstreuen. Dann können wir diese Männer still und leise verhaften, ihnen mit einer Anklage für Störung der öffentlichen Ordnung einen Denkzettel verpassen und Gras über die Sache wachsen lassen.“

„Und wenn das nicht funktioniert?“, fragte Mr Faulks.

„Dann möge Gott diesen halb verzweifelten, halb verblendeten Männern beistehen“, erwiderte Adam. „Denn dann lautet die Anklage auf Hochverrat und in dem Fall wird jeder Einzelne von ihnen hingerichtet.“

Kapitel 1

Markttag

„Ich … habe nichts zu verbergen, außer Torheit. Und das ist schlimm genug.“

Maria Edgeworth, Belinda

London
April 1820

„Ach, nicht schon wieder“, murmelte Alice Littlefield, als erneut Regentropfen auf das Kopfsteinpflaster des Marktes zu prasseln begannen. „Ich war mir sicher, dass es heute nicht mehr regnen würde!“

„Ich fürchte, das war nur Wunschdenken“, erwiderte Rosalind mit einem Seufzen. Um sie herum schlugen die Marktbesucher die Kapuzen hoch oder suchten Unterstände. Die Händler machten sich daran, eilig ihre Güter mit Regenplanen und Wachstüchern zu schützen.

Glücklicherweise standen Rosalind und ihre Freundin und Mitbewohnerin Alice bereits unter der Markise des Buchverkäufers. Alice war die letzten paar Minuten mit dem Versuch beschäftigt gewesen, Mr Fraiser durch energisches Argumentieren dazu zu überreden, den Preis eines angeschlagenen Exemplars von History of a Six Weeks Tour zu senken.

Rosalind hatte sich recht spontan entschlossen, Alice und Amelia auf ihren morgendlichen Erledigungen zu begleiten. Londons glänzende Gesellschaftssaison würde in zwei Wochen beginnen, sodass Rosalind sich mit immer mehr Aufträgen konfrontiert sah.

Als junge Frau hatte Rosalind immer damit gerechnet, dass mit dem Erwachsenwerden eine gute Ehe einherginge. Dies hätte natürlich das angenehme Dasein als Ehefrau, Gastgeberin und Mutter bedeutet. Doch nachdem ihr Vater ihre Familie im Stich gelassen hatte, waren damit auch all diese Erwartungen dahin. Mithilfe ihrer Patentante hatte Rosalind sich eine Existenz als das, was man in der gehobenen Gesellschaft eine „nützliche Frau“ nannte, aufgebaut. Von Alice wurde sie gern als „diskrete gesellschaftliche Beraterin“ für den Londoner haut Ton bezeichnet. Damit war verbunden, dass sie ihren mit mehr Glück gesegneten Standesgenossinnen dabei half, ihr Sozialleben, die Korrespondenz und das Führen des Haushalts zu bewältigen.

Die meisten Frauen, mit denen sie zu tun hatte, verbrachten ihr Leben deprimiert und in ständiger Abhängigkeit. Doch Rosalind fand im Laufe dieser Tätigkeiten heraus, dass sie ein besonderes Talent dafür besaß, Damen in ernsthaften Schwierigkeiten zu helfen, selbst wenn es dabei um Diebstahl, Erpressung oder gar Mord ging. Was als verzweifelter Versuch einer unverheirateten Frau zum mühseligen Bestreiten ihres Lebensunterhalts begonnen hatte, war zu einem florierenden Geschäft geworden.

Inzwischen hatte sich dieses Unterfangen sogar recht deutlich in Richtung eines Erfolgs entwickelt. Neben einer ansehnlichen Anzahl von Einladungen zu gesellschaftlichen Anlässen wurde Rosalind mit Briefen von Damen überhäuft, die sie in verschiedenen Angelegenheiten um Rat fragen wollten: vom Organisieren von Wohltätigkeitsveranstaltungen bis hin zur Suche nach verschwundenen Verwandten. An diesem Morgen erst war eine frische Ladung dieser Schreiben eingetroffen. Es klang alles recht vielversprechend, aber es bedeutete auch, dass eine Menge Entscheidungen getroffen, ausführliche Pläne geschmiedet und zusätzliche Aushilfen eingestellt werden mussten. Diese Aussicht wirkte überwältigend. Rosalind fühlte, dass sie einen Moment der Ruhe brauchte. Ein Morgen an der frischen Luft zwischen Ständen, Fässern und Marktkarren schien da die ideale Lösung zu sein.

Damit verbunden war auch die Möglichkeit, Adam Harkness zu treffen. Sie hatte eine Nachricht zum Haus seiner Mutter schicken lassen, um ihn darüber zu informieren, dass sie und Alice vorhatten, um elf Uhr Drummond’s Tea Rooms zu besuchen, falls jemand aus Mrs Harkness’ Haushalt Lust hatte, sich dort zu ihnen zu gesellen. Die Antwort hatte gelautet, dass Mrs Harkness zwar beschäftigt, es jedoch durchaus möglich sei, dass Adam zur angegebenen Zeit zu Drummond’s kommen werde.

„So. Das wäre erledigt.“ Alice verstaute das Buch in ihrem Korb. Offenbar waren Rosalinds Gedanken deutlich in ihrem Gesicht abzulesen. „Mach dir keine Sorgen“, sagte ihre Begleiterin. „Wir haben noch mehr als genug Zeit.“

„Ja, ja, ich weiß“, erwiderte Rosalind. „Es ist nur … Nun, ich konnte Mr Harkness nicht sehr häufig sehen, seit …“

„Seit der Cato Street“, beendete Alices sanfte Stimme den Satz für sie.

Rosalind nickte.

„Glaubst du, dass er noch immer mit den Ermittlungen dazu beschäftigt ist?“

„Er konnte zwar bisher nicht viel dazu sagen, aber ich bin mir relativ sicher, dass er das ist.“ Tatsächlich rührte diese Sicherheit eben daher, dass er so wenig mitzuteilen vermochte.

Alice nickte. „Nun, was auch immer seine Rolle dabei ist, viel länger kann es nicht dauern. Laut George sind sich alle einig, dass das Gerichtsverfahren nicht lange dauern wird und alles auf Bedlam hinausläuft“, fügte sie hinzu.

„Nun, das ist nicht weiter verwunderlich. Immerhin haben sie sich zum Mord am gesamten Kronrat verschworen.“

Laut ausgesprochen klang die ganze Angelegenheit noch verrückter. Tatsächlich war Adam davon überzeugt, dass es genau das war: verrückt. Der Kronrat hingegen, die Magistraten der Bow Street und selbst der König hielten die Sache für bitteren Ernst. Dementsprechend lautete die Anklage auf Hochverrat.

Adam war schon in viele schwierige Fälle verwickelt gewesen und hatte mit gefährlichen Männern zu tun gehabt, aber dieses Mal fühlte es sich anders an. Mit der Zeit war Adams Fröhlichkeit verblasst und er war immer stiller geworden. Und auch immer häufiger abwesend.

„Ich sehe Amelia nirgendwo“, unterbrach Alice Rosalinds finstere Gedanken. Amelia McGowan war ihr Hausmädchen. Die kräftige, rothaarige junge Frau besaß eine fröhliche Natur. Schon mehr als einmal hatte sie sich bei Rosalinds ungewöhnlicheren Fällen als wertvolle Hilfe erwiesen.

„Amelia weiß, dass wir uns in den Tea Rooms treffen“, merkte Rosalind an. Alice rümpfte die Nase, als sie prüfend zum verregneten Himmel hinaufschaute, doch hinter dem Ausdruck erkannte Rosalind auch echte Sorge.

„Stimmt etwas nicht?“

Alice zuckte mit den Schultern. „Mit Amelia … ist irgendetwas. Seit ungefähr zwei Wochen. Das ist dir doch sicher auch aufgefallen.“

Tatsächlich war es das nicht. Diese Erkenntnis war beunruhigend und beschämend zugleich. Immerhin war der Haushalt, dem sie vorstand, nicht gerade groß. Amelia war die einzige Bedienstete, die mit im Haus lebte. Wenn es ein Problem gab, hätte das auffallen müssen, egal, wie beschäftigt Rosalind war.

Allerdings hatte sich die Beziehung zwischen Amelia und Alice in letzter Zeit zu mehr als nur Arbeitgeberin und Dienerin oder einer einfachen Freundschaft entwickelt.

„Ich habe versucht, aus ihr herauszukriegen, was los ist“, gestand Alice, „aber sie tut es immer mit einem Lächeln ab und behauptet, sich mit der Frau des Gemüsehändlers gestritten zu haben oder dass eine Freundin nicht mit zu einem Theaterstück gehen könne oder Ähnliches.“

„Naja, vielleicht begegnen wir ihr ja irgendwo auf dem Weg wieder“, sagte Rosalind, um ihr Mut zu machen. „Wir können bei Lorimer’s vorbeischauen. Ich glaube, dass Mrs Singh, sie dorthin geschickt hat, um Brombeersirup zu kaufen.“ Mrs Singh war ihre neue Köchin.

Tatsächlich fanden sie in Mr Lorimers Apotheke jedoch keine Spur von Amelia, also gingen sie weiter zu den Tea Rooms. Der Regen wurde stärker, was sie dazu veranlasste, die Köpfe gesenkt zu halten und die Röcke hochzukrempeln, in dem aussichtslosen Versuch, Gesicht und Rocksäume trocken zu halten. Unter dem Krach des Marktes und den prasselnden Wassermassen überhörte Rosalind beinahe den Ruf.

„Miss Alice!“

Alice blieb wie angewurzelt stehen. Rosalind hob den Kopf. „Miss Alice! Miss Thorne! Hilfe!“ Es war Amelias Stimme.

Rosalind blickte sich hektisch um, aber die breite Krempe ihrer Haube schränkte ihr die Sicht ein. Alice packte sie am Arm und riss sie herum. Rosalind blickte direkt in eine schmale Gasse, die auf einen matschigen Hof führte. Langsam sammelte sich dort eine Menschenmenge, doch Rosalind konnte zwischen den Schaulustigen noch Amelias Gestalt erkennen, die über eine Pfütze gebeugt dastand. Darin lag regungslos eine dunkelhaarige Frau.

Alice rannte als Erste los. Ungeachtet der wassergefüllten Radspuren und Pfützen eilte sie die enge Gasse hinunter und fiel neben Amelia auf die Knie. Rosalind zwang sich dazu, sich zu sammeln. Sie bemerkte einen jungen Mann, der vor der Türschwelle eines geschlossenen Ladens stand und das Geschehen mit Händen in den Taschen und sichtbarer Aufregung beobachtete.

„Sie!“, rief sie. Der junge Mann zuckte zusammen, richtete sich auf und griff sich reflexartig an die Hutkrempe. „Wir brauchen eine Kutsche! Sofort!“ Sie hielt ihr Retikül hoch, um damit zu signalisieren, dass sie bezahlen konnte.

„Jawohl, Miss!“ Er rannte in Richtung des Marktplatzes davon.

Nachdem das erledigt war, schob Rosalind sich durch die wachsende Menschenmenge um Amelia und Alice und die am Boden liegende junge Frau. Ringsum ertönten verschiedene Meinungen und Einschätzungen der Lage.

„Die Arme!“

„Die braucht nur einen ordentlichen Schluck Brandy. Hat jemand eine Flasche?“

„Die hat’s sich wahrscheinlich selbst eingebrockt …“

Amelia und Alice mussten die junge Frau bewegt haben, denn sie lag jetzt auf der Seite. Ihr Mantel war offen und das Musselinkleid völlig durchnässt. Alle Kleidungsstücke von der Haube bis zu den Stiefeln waren von guter Qualität, wenn auch vollständig ruiniert durch den Regen. Die Kälte färbte ihr blasses Gesicht und die Hände blau.

Als Rosalind sich zu ihr hinunterbeugte, erzitterte die junge Frau und würgte schmerzerfüllt, ohne sich jedoch zu übergeben.

„Amy …“, brachte sie krächzend hervor.

„Ruhig, Cate“, flüsterte Amelia. „Alles ist gut. Wir gehen nach Hause.“

„Ich kann nicht“, hauchte die junge Frau. „Ich kann nicht.“

„Mach dir keine Sorgen. Vertrau einfach auf Amy und lieg still.“

„Oh, das arme Mädchen!“ Eine ganz in schwarze Trauerkleider gehüllte Frau löste sich aus der Menge und eilte an die Seite des Mädchens, dass Amelia Cate genannt hatte. „Helfen Sie mir, sie aufzurichten.“

Die Frau griff mit ihren in schwarze Handschuhe gehüllten Hände nach Cates Handgelenken. Daraufhin trat ein Dutzend weiterer wohlmeinender Helfer vor, bis eine neue Stimme ertönte.

„Bow Street! Bow Street. Machen Sie Platz! Lassen Sie mich durch!“

Es war Adam. Oh, Gott sei Dank, dachte Rosalind, als er sich wenig zimperlich einen Weg durch die Menge bahnte.

„Bleib still liegen, ganz still, meine Liebe. Alles wird gut.“ Die Witwe hielt Cates Handgelenke weiterhin fest. „Würden Sie mir mit ihr helfen, Sir?“, fragte sie, als Adam sie erreichte. „Meine Kutsche befindet sich in der Nähe.“

„Amy“, krächzte Cate. „Amy, bitte.“

Amelia blickte Rosalind mit einem stummen Flehen an. Rosalind verstand sofort – zwar nicht alles, aber genug.

„Dazu besteht keine Notwendigkeit“, teilte Rosalind der Witwe mit. „Wir sind Freunde von ihr. Wir werden dafür sorgen, dass sie sicher nach Hause kommt.“

„Oh, aber sicher wird doch …“ setzte die Frau an.

Sanft, aber bestimmt, löste Rosalind Cates Hände aus dem Griff der Frau. „Wir müssen uns beeilen, bevor sich ihr Zustand verschlechtert. Mr Harkness, wenn Sie so freundlich wären.“

„Verzeihen Sie bitte.“ Adam beugte sich hinunter und hob die junge Frau hoch. Rosalind glaubte, im Blick der Witwe einen Anflug von Wut zu erkennen. Nach einem Moment des Wunderns schob sie den Gedanken jedoch beiseite, um keine weitere Verzögerung zuzulassen.

„Ich habe eine Kutsche rufen lassen“, erklärte sie Adam. „Sie sollte dort drüben auf dem Marktplatz bereitstehen.“

Adam nickte und wandte sich um, wobei er besondere Acht auf die Frau in seinen Armen gab. Die Menge teilte sich widerwillig, um ihm den Weg freizumachen. Alice nahm Amelias Arm und zog sie mit. Ihnen allen folgte Rosalind.

„Alles ist gut, alles ist gut“, sagte Alice ebenso sehr zu den Schaulustigen wie zu Amelia. „Sie ist jetzt in den Händen ihrer Freunde. Wir werden uns gut um sie kümmern.“

„Gott habe erbarmen mit dieser armen Seele“, murmelte jemand.

„Möge der Himmel ihr helfen.“

„Bestimmt war es irgendein Kerl …“

Sobald sie den großen Platz erreichten, entdeckte Rosalind den jungen Mann von vorhin, der ihr zuwinkte und auf eine vierrädrige Kutsche deutete, die sich neben ihm langsam einen Weg an den Marktständen vorbei bahnte.

Rosalind wies Adam in die richtige Richtung. Der Kutscher sprang ab, um ihnen die Tür zu öffnen. Amelia und Alice stiegen zuerst ein und halfen dann Adam dabei, Cate hineinzuheben. Rosalind blieb gerade lang genug stehen, um dem Mann, der ihnen geholfen hatte, zwei Münzen in die Hand zu drücken.

Als Rosalind in die Kutsche stieg, zog Adam sofort seinen Mantel aus und reichte ihn ihr. Sie wollte gerade widersprechen, aber er legte nur eine seiner Hände auf die ihre und schloss sie um den Stoff. „Sie braucht die Wärme. Ich werde oben mit dem Kutscher fahren“, sagte er.

Rosalind nickte und setzte sich auf die Bank gegenüber den drei anderen Frauen. Amelia hatte die Arme um Cates Schultern gelegt. Die Miene des Dienstmädchens war gleichzeitig wütend und verängstigt. Rosalind konnte geradezu spüren, wie Amelia versuchte, ihre eigene Wärme mit bloßer Willenskraft auf die bewusstlose junge Frau zu übertragen. Alice saß auf der anderen Seite der Patientin.

Die Kabine schwankte, als Adam und der Fahrer auf den Kutschbock stiegen. Mit einem Ruck setzte sich das Gefährt in Bewegung.

Vorsichtig legte Rosalind Adams Mantel über Cates Körper und wickelte sie, so gut es ging, darin ein. Die Frau bewegte sich kurz und ihre Augen blinzelten einige Male, doch fiel sie nach wenigen Augenblicken wieder schlaff in Amelias Arme.

„Wer ist sie, Amelia?“, fragte Alice, während sie damit begann, Cates Hände zu kneten.

Amelia schluckte. „Catherine Levitton. Sie … Ich habe vor ein paar Jahren für ihre Familie gearbeitet.“

Miss Levittons Atem rasselte. Der Klang jagte Rosalind einen Schauer über den Rücken.

„Sie braucht einen Arzt“, sagte Alice.

Rosalind nickte. „Es gibt einen ein Stück weiter die Straße von unserem Haus hinunter. Da werden wir zuerst unser Glück versuchen. Amelia, haben Sie eine Ahnung, was sie in diesen Zustand versetzt hat?“

Amelia schüttelte den Kopf, aber in ihren Augen flackerte Vorsicht auf. Alice bemerkte dies offenbar ebenfalls und runzelte die Stirn.

Die Kutsche setzte ihre ratternde Fahrt fort. Rosalind zählte unwillkürlich Miss Levittons Atemzüge. Sie hatte das Gefühl, dass sie im gleichen Maße langsamer wurden, wie die Kutsche an Fahrt aufnahm. Die gesamte Zeit über hielt Amelia sie unentwegt fest, strich ihr über die Schultern und murmelte beruhigende Worte.

Alices Miene war versteinert und sie konzentrierte sich darauf, Miss Levittons Hände festzuhalten und ihr und Amelia so viel Wärme und Zuspruch zu spenden wie möglich.

Endlich erreichte die Kutsche den Portman Square und bog dann in die Orchard Street. Miss Levitton, die eben noch ruhig dagelegen hatte, begann erneut heftig zu zittern und zu würgen.

Adam öffnete die Tür der Kutsche und Rosalind stieg sofort hinaus.

„Adam, könntest du zur Nummer 12 gehen und Dr. Kempshead holen? Der jungen Frau geht es sehr schlecht.“

„Sofort.“ Er drückte kurz Rosalinds Hand und rief dann dem Kutscher zu: „Johnson, Sie bleiben hier und helfen den Damen!“

Johnson berührte als Antwort kurz die Krempe seines Huts. Der kräftige, wettergegerbte Mann hatte keine Schwierigkeiten, Miss Levitton hinein und die Treppe hinauf in Rosalinds und Alices Wohnung zutragen. Während Rosalind ihn ins Gästezimmer führte, rannte Alice zum Wäscheschrank. Amelia verschwand irgendwo unten, hoffentlich, um ein paar heiße Kohlen und vielleicht etwas Brandy für die junge Frau zu holen.

Letzteres würde natürlich nur helfen, wenn die Patientin überhaupt etwas schlucken konnte.

Sobald Cate Levitton in dem sauberen Bett lag, schickte Rosalind Mr Johnson hinaus und wies ihn an, in die Küche zu gehen, um sich von Mrs Singh bezahlen zu lassen. Als der Mann aus dem Zimmer war, machte Rosalind sich an die Aufgabe, Cate aus ihren durchnässten Kleidern zu schälen.

Cate zitterte. Sie verkrampfte sich und hustete. Rosalind drehte sie auf die Seite. Cates Husten ging in ein erneutes trockenes Würgen über. Rosalind empfand tiefes Mitleid mit dem Mädchen.

Alice drückte mit der Schulter die Tür zum Zimmer auf und kam mit einem Haufen Decken und Nachthemden auf dem Arm herein. In wenigen Minuten hatten sie Miss Levitton ein sauberes Nachthemd und trockene Strümpfe angezogen und ihr eine Flanellmütze auf das nasse Haar gesetzt. Im Gästezimmer gab es keinen Kamin, also wickelte Rosalind die Patientin in alle drei Decken, die Alice gebracht hatte.

Amelia erschien mit heißem Wasser, Handtüchern und einem Waschbecken. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet und ihr Gesicht war fast ebenso blass wie das ihrer Freundin.

Miss Levitton drehte sich auf den Rücken. Einen Moment lang öffnete sie blinzelnd die Augen. Ihr Mund bewegte sich. Rosalind dachte zunächst, dass sie etwas sagen wollte, doch dann verzog sich ihr Gesicht und ihr Körper brach ein weiteres Mal in heftige Krämpfe aus. Alice nahm Amelia das Waschbecken ab und Rosalind rollte das arme Mädchen zur Bettkante hin. Doch erneut brachte das Würgen nichts hervor. Das Krampfen wurde schwächer und ebbte schließlich ab. Miss Levittons Augen fielen wieder zu und ihr ganzer Körper erschlaffte.

„Oh, nein“, hauchte Alice.

Rosalind sah es ebenfalls. Sie drehte das Mädchen auf den Rücken und beugte sich nahe über sie, auf der Suche nach einer Spur von Atmen oder einem Puls. Im selben Moment hörte sie schwere Schritte auf der Treppe.

Ein schlanker, grauhaariger Mann mit prächtigem Backenbart platzte ins Zimmer. Sofort ließ er die abgenutzte Tasche auf das Bett fallen.

„Sie! Zurück! Raus!“, bellte der Doktor Rosalind an. Er öffnete seine Tasche und begann, sich die Hemdsärmel hochzurollen. „Sie!“ Er deutete auf Alice. „Halten Sie ihren Kopf hoch und legen sie das Kissen darunter! Sie kann so auf dem Rücken nicht atmen! Sie!“ Diesmal wandte er sich an Amelia. „Öffnen Sie die Vorhänge! Wir brauchen Licht hier drinnen!“

Alice und Amelia machten sich sofort an die Ausführung ihrer Befehle. Rosalind ebenfalls. Rückwärts ging sie aus dem Zimmer und schloss die Tür. Einen Moment blieb sie dort mit der Hand auf ihrem Bauch ruhend stehen, während sie versuchte, ihre wild umherschwirrenden Gedanken zu sammeln.

Von unten hörte sie ein Geräusch.

Adam.

Rosalind eilte ihm entgegen.