Prolog
Der Tag des Mordes
Mein Ehemann Matthew starb an einem ungewöhnlich kühlen Augusttag während des Abendessens. Wir waren gerade mal etwas mehr als zehn Jahre zusammen, davon fünf verheiratet und ja, wir liebten einander. Aber die Liebe verändert sich mit der Zeit und ich muss gestehen, dass in diesen letzten Momenten, als ich wusste, dass er sterben würde, zwischen all dem Horror, dem Blut und dem Schock, die Liebe nicht mehr so tief war, wie ich erwartet hatte. Selbst nach allem, was passiert war. Damals, als wir geheiratet haben, hätte der Gedanke daran, ihn zu verlieren, eine Welle der Verzweiflung hervorgerufen. Ich hätte es nicht verstehen können. Und ich dachte, dass das immer so bleiben würde. Es musste das Schrecklichste passieren, was ich mir vorstellen konnte, damit ich verstand, dass die Dinge nicht immer so laufen, wie wir uns das vorstellen.
Der Moment, der mir im Gedächtnis blieb, war nicht der, in dem das Messer sein Ziel fand, und auch nicht das schreckliche Geräusch, welches Matthew machte, als ihm klarwurde, was geschah. Der Moment, der sich mir ins Gedächnis brannte, war als er versuchte etwas zu sagen, ein letztes mal sprechen wollte.Es war, als er versuchte zu sprechen, etwas wirklich sagen wollte, was bei mir hängen blieb. Und ich konnte die Worte nicht verstehen. Es war ihm nicht möglich sie deutlich genug zu formulieren, um ihnen einen Sinn zu geben. Ich konnte sie nicht einmal erahnen. Das Wort ‚nach‘ kam vielleicht darin vor, wobei ich mir nicht sicher sein kann. Es war das Nicht-Wissen, dieses Gefühl der Frustration, und seitdem die Frage und die Vermutung darum, was er in seinen letzten Momenten versucht hatte, mir mitzuteilen.
Rachel saß ruhig auf einem der Esszimmerstühle, am Telefon die Polizei, das Messer in ihrer Hand. Sie sollte an diesem Abend nicht einmal hier sein. Aber ich hatte mich an Rachels Eigenheit gewöhnt: Sie stolperte immer in Orte, Situationen oder Angelegenheiten, die sonst ohne sie vonstattengegangen wären. Immer die Außenseiterin. Aber nicht heute. Heute hatte sie die Hauptrolle.
Als die Polizei kam, nahmen sie sie direkt vor Ort in Gewahrsam. Sie hatte immerhin gestanden. Sie saß da, das Messer in der Hand, Tränen in den Augen. „Ich war es“, sagte sie, mit dünner, aber entschlossener Stimme. „Ich habe ihn getötet.“
Sie wollten sie gerade abführen, als der jüngere der beiden Beamten ihr die Frage stellte: „Warum haben Sie ihn getötet, Rachel?“ Ich schätze mal, dass der Ältere der beiden sich diese Frage für das Verhörzimmer aufheben wollte, aber er drehte sich dennoch zu ihr, um die Antwort zu hören. Aber Rachels Gesicht blieb beinahe leblos. Nur das winzigste Zittern, die kleinsten Gefühle, störte die ruhige Oberfläche einen kurzen Moment. Dann schüttelte sie den Kopf, senkte den Blick. „Ich kann nicht“, sagte sie. Danach weigerte sie sich, noch ein weiteres Wort von sich zu geben.
Sie nahmen sie mit, hielten sie unter Arrest und ließen einen anderen Beamten zurück, der mich und Titus mit Blaulicht in einem Auto zur Wache brachte. Ich musste Titus aus seinem Zimmer locken. Er saß auf seinem Bett, inmitten der Decken, seine Kopfhörer auf, versuchte sich vor der schrecklichen Welt dort draußen abzuschirmen. Vor sich hatte er sein altes Scrapbook-Tagebuch aufgeschlagen liegen. Er hatte für alle Schulferien eins gemacht, als er noch ein Kind war. Es war etwas, das Matthews Schwester scheinbar auch getan hatte. Das hatte er mir einmal erzählt, als wir den kleinen Titus dabei beobachteten, wie er die Ausdrucke der Urlaubsfotos einklebte. Ich konnte nicht genau sagen, ob er froh darüber war, dass der Kleine in diese Aufgabe so vertieft war, oder ob es ihm Sorge bereitete. Und die Tatsache, dass Titus sich nun einen Band voller glücklicher Familienfotos genommen hatte, nach dieser gewalttätigen Szene im Esszimmer eben, machte mich wirklich fertig.
„Wir müssen los“, sagte ich liebevoll zu ihm. „Die Polizei ist hier. Wir müssen mit auf die Wache, damit sie mit uns reden können.“
Der Polizist hinter mir erklärte, dass wir beide nun nach unten kommen müssten. Er kam und stand sehr nahe, machte deutlich, dass wir keine Wahl hatten.
Ich sah, wie die Tränen über Titus’ Wangen flossen, und wollte ihn an mich ziehen, ihm sagen, dass alles gut werden würde. Aber er entzog sich mir.
„Bitte, Titus. Wir müssen gehen. Sie haben Rachel bereits mitgenommen.“
Bei dieser Aussage sah er zu mir auf, genau wie ich es erwartet hatte. „Rachel hat gestanden. Sie hat ihnen erzählt, dass sie es gewesen ist.“
Der Pony aus hellblondem Haar fiel ihm ins Gesicht, als er sich aufsetzte, und vermischte sich dabei mit seinen Tränen.
„Aber … weshalb?“
Das letzte Wort sprach er tonlos. Ich starrte ihn an, die eigentliche Frage hing zwischen uns in der Luft. Weshalb würde Rachel einen Mord gestehen, den sie nicht begangen hatte?
Kapitel Eins
CHARLIE
Noch elf Monate
Wir trafen Rachel das erste Mal in einer Buchhandlung. Matthew und ich waren in die Stadt gefahren, während Titus zu Hause mit meiner Mutter Kuchen backte.
Als wir uns dazu entschieden hatten, nach Chelsea zu ziehen, hatte ich die Angst, dass meine Mutter, die im benachbarten Belgravia wohnte, versuchen würde, uns zu mikromanagen, aber wir kamen gut zurecht und sie kam ein paar Mal pro Woche zu Besuch.
Es war meine Idee gewesen, an diesem sonnigen Sonntagmorgen zu Waterstones in der King’s Road zu gehen. Ich wollte mir ein Hardcover-Buch kaufen, das anspruchsvoll klang, von dem ich in einem der morgendlichen Prospekte gelesen hatte und das man hauptsächlich kaufte, um dabei gesehen zu werden, wie man es las, anstatt dass man es genoss. Matthew fand das schon immer seltsam. „Du behandelst Bücher, als wären es Lifestyle-Accessoires.“ Er sagte die letzten zwei Wörter mit jeder Menge Verachtung, ein wissendes Lächeln auf seinem hübschen Gesicht. Er wollte mich ärgern und ich biss an, erklärte ihm, dass es meine Entscheidung war, was ich las und warum.
Als wir Waterstones betraten, machte er sich direkt auf den Weg in die Fantasy-Abteilung, vermutlich, um ein Buch zu besorgen, das so dick war, dass es einer halbwegs effektiven Waffe gleichkam, während ich mir die Neuerscheinungen ansah. Ich fand das Buch, das ich gesucht hatte, und wollte es gerade nehmen, als meine Hand gegen eine andere schlug, die ebenfalls danach griff. „Oh, Entschuldigung“, sagte sie, lachte und zog die Hand zurück. Ich sah zu ihr auf, zu ihren welligen blonden Haaren, ihren hellen blauen Augen. Sie hatte etwas Lebendiges an sich. Fröhlich. Sorgenfrei. Als ob sie von einem Windhauch getragen wurde. Ich sah, wie sie mich ebenfalls von oben bis unten musterte, so wie es Frauen häufig taten. Dies war mir mein gesamtes Erwachsenenleben über aufgefallen. Genau genommen noch länger. Als ich ein Junge war, auf dem Rugbyfeld oder in den Klubs, gab es immer jemanden, der mir nachpfiff, oder eine Gruppe von Mädels, die bereit waren, mich aufzunehmen. Dann, als ich erwachsen wurde, während meiner späten Zwanziger und Mittdreißiger, wurden die Signale der Anziehungskraft etwas unauffälliger, aber sie waren immer noch da. Manchmal fragte ich mich, ob es mich irgendwie verdorben hatte, derjenige mit dem guten Aussehen in meiner Gruppe zu sein. ‚Wunderjunge‘ hatte mich mein Kumpel Archie immer scherzhaft genannt, mir in die Seite geknufft, als um uns herum plötzlich Mädchen auftauchten, während wir als Teenager durch die Bars zogen. Er liebte ‚diesen Moment‘, wie er es gern nannte, wenn sie zu mir kamen, mich ermutigten, ihnen einen Drink zu kaufen, während ich ihnen ein entschuldigendes Lächeln zuwarf und erklärte, dass ich ihnen gern einen Drink kaufte, aber auf Jungs statt auf Mädchen stand. Für gewöhnlich blieben sie nach einem Moment der Enttäuschung (was, wie ich peinlicherweise gestehen muss, meinem Ego guttat) freundlich, aber ihre Aufmerksamkeit verlagerte sich mehr als einmal auf Archie oder einen der anderen Typen, mit denen ich unterwegs war. Oder manchmal blieben sie einfach und unterhielten sich. Beides war cool.
Mit Rachel kam es nicht dazu. Nicht, dass ich zu der Zeit wusste, dass sie Rachel hieß. Sie war einfach nur die Frau, die dasselbe Buch kaufen wollte wie ich. Aber als sich unsere Hände voneinander entfernten und sich unsere Blicke trafen, wusste ich irgendwie, dass sie ein Teil unseres Lebens werden würde. Ich wusste nur noch nicht, wie groß dieser Teil sein würde.
„Es tut mir leid, nehmen Sie es“, sagte ich und grinste sie an. Noch ein kurzes Lachen. „Nein, wirklich.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß noch nicht einmal, ob ich es kaufen werde. Sie scheinen sich da sicherer zu sein.“ Das stimmte nicht. Ich wusste, dass ich es kaufen würde, aber es war eine Angewohnheit von mir, dass mir solch kleine Lügen einfielen. Es war Teil meines ständigen Bedürfnisses, Leute zufriedenzustellen. Nach ein paar Momenten begannen wir uns über die Beurteilung des Buches im Observer zu unterhalten und darüber, wie es am Abend zuvor bei Radio 4 in der Saturday Review besprochen worden war. Sie nickte und lächelte die ganze Zeit und nannte ein anderes Buch desselben Autors, aber ich gab zu, dass ich das nicht gelesen hatte. „Mein Ehemann ist der eigentliche Leser“, sagte ich und nickte in die Richtung, in der Matthew nun den Kauf-eins-bekomme-eins-zum-halben-Preis Taschenbuchtisch unter die Lupe nahm. „Hauptsächlich Fantasy, aber auch andere Bücher.“
Da war es. Ein kurzes Flackern in den Augen. Zu dieser Zeit dachte ich, dass es mittlere-bis-große Enttäuschung darüber war, dass ich verheiratet war, gepaart mit Überraschung darüber, dass ich mit einem Typen verheiratet war. Aber natürlich weiß ich im Rückblick nun, das es etwas viel Düstereres als das war. In diesem Moment jedoch, war es eine weitere kleine Wohltat für mein Ego.
Ich erzählte Matthew einmal von meiner Zweifache-Enttäuschungstheorie und davon, dass ich mir sicher war, dies jedes Mal in den Augen der Frauen zu sehen. Wir waren mit den Jungs unterwegs, Archie und George betranken sich neben uns konstant und ich erwartete, dass sie mich alle auslachen würden, aber Matthew tat es nicht. Er schüttelte einfach nur den Kopf und entgegnete: „Bitte, bitte, bitte, Liebling, glaube niemals, das Wesen einer Frau verstehen zu können. Das ist nicht niedlich.“ Er legte halb zum Scherz seine Hand auf mein Knie.
„Warum nicht?“, fragte ich, überrascht von seiner Antwort.
„Weil es selbstzufrieden klingt und herablassend und etwas sexistisch.“ Und damit zog er ab, um eine weitere Runde Pints zu besorgen, während ich die anderen zwei verwirrt ansah.
Genau deswegen hatte ich nicht vor, Matthew von der Frau im Waterstones zu erzählen. Wir verabschiedeten uns und sie hatte die voluminöse Ausgabe gekauft, während ich mich weiter umsah mit dem Buch unterm Arm. Aber dann trafen wir eine halbe Stunde später erneut aufeinander, in der Lebensmittelabteilung von Marks & Spencer’s auf der anderen Straßenseite. Wie wahrscheinlich ist das?, dachte ich mir. Sie balancierte zwei Packungen Halloumi auf einer Schachtel Himbeeren. „Interessante Kombination“, kommentierte ich ihren Einkauf. Das kühle gehauchte Lachen war erneut zu hören. Und dann stellte ich ihr Matthew vor, da es sonst unhöflich und seltsam gewesen wäre. Er grüßte sie und da wurde mir klar, dass ich nicht einmal ihren Namen kannte und sie meinen auch nicht. „Ich bin Rachel“, sagte sie. „Ich bin gerade erst in diese Gegend gezogen.“
„Aus dem Norden?“, fragte ich und fügte hinzu: „Sorry, mir ist der Akzent aufgefallen.“
Sie verhaspelte sich etwas in ihrer Antwort – vermutlich hatte meine Annahme sie irritiert –, aber dennoch erwiderte sie mit einem Lächeln: „Ja, aus Yorkshire.“
Matthew nickte. „Sehr schön.“
Selbst ich, der Mensch, der vermutlich am meisten mit sich selbst im Reinen ist, dem man je begegnete, fragte mich inzwischen, wie wir diese Unterhaltung beenden sollten, ohne dass es seltsam wurde. Und nur, um etwas zu sagen, nickte ich in Richtung ihrer Waterstones-Tasche, die sie unter den Arm geklemmt hatte und aus der die Ecke des Hardcovers ihr in den Arm stach. „Wie ich sehe, hast du mehr als nur unsere Wahl gekauft.“
Sie schielte zu ihrer Tüte, als ob sie ihr gerade erst aufgefallen war, und eine der Halloumi-Packungen fiel dabei zu Boden. Sobald Matthew sie aufgehoben hatte, nach etwas schrägem Gelächter, zog sie ein paar ihrer Einkäufe aus der Tasche. „Der Typ an der Kasse meinte, dass die gut seien.“ Ich sah mir die Cover an: traditionell buchklubmäßige Krimis. Eher Matthews Geschmack als meiner.
„Oh, das hier lesen wir als nächstes in unserem Buchklub“, sagte er und zeigte auf das Blaue mit dem Leuchtturm und der Silhouette einer Frau darauf.
„Oh, das ist wirklich ein Zufall. Ich freue mich schon darauf, es zu lesen.“
„Du solltest zu unserem Buchklub kommen“, entgegnete er enthusiastisch. „Wir sind immer auf der Suche nach neuen Mitgliedern.“
Was zum Teufel? Es gab freundlich und es gab seltsam. Diese Frau, der wir zufällig begegnet waren, brauchte keine Einladung zu seinem Buchklub. Ich zuckte innerlich bei dieser Sonderbarkeit zusammen, aber zu meiner Überraschung zog sie sich nicht zurück oder sagte, dass gerade jede Menge bei ihr los wäre, es jedoch sehr freundlich war, aber sie dennoch nicht konnte – nichts davon. Tatsächlich lächelte sie und nickte mit großen Augen. „Das wäre super. Wenn es dich nicht stört, dass ich mich einfach so anhänge.“
„Du würdest dich überhaupt nicht anhängen“, sagte er und winkte bei ihren Einwürfen ab. „Es sind nur ich und ein paar Freunde.“
„Das klingt toll“, sagte sie und nickte immer noch.
„Sie sind etwas älter als … na ja, als wir, aber sie sind alle begeisterte Leser. Du hast vielleicht von einem von ihnen schon gehört … Jerome Nightly? Er ist Schauspieler. Hat in einer dieser britischen RomComs Anfang der 2000er mitgespielt.“
Rachel hatte ganz offensichtlich von ihm gehört. „Oh, ja, wow … Ich denke nie daran, dass Schauspieler normale Dinge tun, wie zu einem Buchklub zu gehen.“
„Es stellt sich heraus, dass sie tatsächlich einfach nur Menschen sind“, sagte Matthew und beide lachten. Und dann war es entschiedene Sache. Sie holte ihr Handy heraus. Er holte seins hervor. Nummern wurden ausgetauscht. Und ich stand da und starrte vor mich hin wie ein verdammter Niemand, während die beiden Pläne schmiedeten. „Das nächste Treffen ist bei uns zu Hause am Carlyle Square“, erklärte Mathew. „Alle kommen normalerweise gegen sieben. Wir wechseln uns ab, aber du musst dich nicht unter Druck gesetzt fühlen, das Treffen bei dir zu veranstalten.“ Er gab ihr unsere Adresse – einer absolut Fremden, die Adresse, wo wir mit unserem Sohn lebten und schliefen – und dann war es an der Zeit, sich zu verabschieden.
„Ich freue mich schon darauf“, rief Rachel uns hinterher. „Das hat meine Woche gerettet.“ Dann verschwand sie in Richtung Kasse.
„Na, das war nett“, sagte Matthew und sah wirklich glücklich aus, scheinbar zufrieden damit, eine neue Freundin mitten in der Tiefkühlreihe gefunden zu haben. Ich warf ihm ein kurzes Lächeln zu und packte die Gourmet-Burger in unseren Einkaufswagen.
„Was?“, fragte Matthew. Er wusste, dass ich wegen des Austauschs etwas angefressen war, na ja, angefressen war nicht ganz korrekt. Irritiert, vielleicht. Wie auch immer, ich fand das Ganze nur etwas … schnell. Und es war irgendwie ein bisschen schräg, wie sie sofort darauf angesprungen war, dem Buchklub beizutreten, sogar so sehr, dass sie direkt in zwei Wochen zu uns nach Hause kommen würde.
„Nichts“, sagte ich und schüttelte sanft den Kopf. Ich sah, wie er in diesem Moment mit den Augen rollte, was mich etwas nervte.
Wir trugen unsere Einkäufe mehr oder weniger schweigend nach Hause. Die einzigen Worte, die Matthew über die Lippen kamen, waren, dass die Croftfields von gegenüber einen neuen BMW Hybrid hatten. Drinnen fanden wir heraus, dass Titus bereits zwei Kuchen und ein Blech voll Kekse gebacken hatte, und meine Mutter genoss bereits ein Stück Zitronenkuchen, während sie auf einem der Barhocker am Küchentresen saß und Desert Island Discs in voller Lautstärke aus dem Soundsystem im Wohnzimmer schallte.
„Oma hat den Guss gemacht“, erklärte Titus und schob die Kuchen-Etagere in meine Richtung, als ich zu ihr ging. „Aber ich habe natürlich die Kuchen gebacken.“
„Es sieht alles sehr lecker aus“, entgegnete ich. „Können wir ein Foto machen?“ Ich hörte, wie meine Mutter missbilligend die Nase hochzog.
„Du musst nicht auf dem Bild sein“, sagte ich und seufzte leise. „Du kannst es auch machen, wenn du magst.“
Sie antwortete nicht darauf, neigte stattdessen ihren Kopf etwas zur Seite, als ob sie tatsächlich daran interessiert wäre, was der verbrauchte Popstar zu Lauren Laverne über seinen Kampf gegen den Alkoholismus sagte. Sie mochte Instagram nicht. Sie nutzte Facebook, aber das war es. Und sie nutzte es nur, damit sie und der Rest ihrer SW1-Postleitzahlen-Nachbarn sich über ausländische Taxifahrer und Obdachlose in der Sicherheit ihrer privaten Gruppen beschweren konnten – ein neues Schlachtfeld für die Upperclass.
Instagram ist für uns recht wichtig. Am Anfang war es nur ich. Ich dachte mir, dass ich etwas verpasst hätte, als all meine Kumpels auf der Arbeit anfingen es zu nutzen und mir sagten, dass ich nicht auf dem neuesten Stand sei. Archie und der Rest der Clique aus der Schule waren bereits dabei. Es erinnerte mich tatsächlich an unsere Schulzeit, in der einer aus der Gruppe wegen einem banalen Detail ausgeschlossen wurde. Plötzlich war es, als ob wir wieder dort waren – ich war nicht mehr Teil der ‚coolen Kids‘, weil ich kein Instagram hatte. Ich machte keine Bilder von meinem French Toast oder meinen Egg Benedicts am Sonntagmorgen, ich überredete niemanden, ein Foto von meinem durchtrainierten Oberkörper am Strand zu machen, während ich ganz lässig aus einem Speedboat stieg, mit einem Glas eines schäumenden Getränks in der Hand und der anderen Hand auf der Schulter meines aktuellen Schwarms. Und dann war das plötzlich genau das, was ich tat. Ich lud die App an einem Freitagabend herunter, als ich eine Erkältung hatte und die Jungs nicht zu einer Nacht aus Pillen und ohrenbetäubender Musik begleiten konnte. Es war im Jahr 2013, kurz bevor Matthew und ich anfingen, uns zu daten. Ich war single, gelangweilt und downloadete die App, um zu sehen, worüber alle redeten. Mein erstes Bild war das eines riesengroßen Burgers, den ich mir aus Kartoffelpuffern und gebratenem Hähnchen gemacht hatte. Hashtag Food Porn. Den Leuten gefiel’s.
Also machte ich in den darauffolgenden Wochen und Monaten damit weiter. Die Jungs ärgerten mich ein bisschen damit, dass ich ein Heuchler sei. Dann waren sie eifersüchtig, da meine Posts funktionierten. Den Menschen gefielen sie. Darum ging es in einigen Kommentaren. Darum und um mein Aussehen. Es dauerte nicht lange und man nannte mich ‚Hot Charlie‘. Mir wurden Nachrichten geschickt und ich wurde auf Dates eingeladen, manchmal wurde ich sogar in Posts verlinkt, in denen mir die unendliche Liebe geschworen wurde und dass man meine Babys haben wollte. So etwas bringt einen nicht gerade dazu, damit aufhören zu wollen. Und so machte ich weiter. Alles in meinem Leben wurde dokumentiert. Na ja, fast alles. Ein bestimmter, sehr fotogener Teil meines Lebens. Einer, der aufgemotzt, bearbeitet und gefiltert wurde bis zum Umfallen und dann zur besten Tageszeit für ‚meine Follower‘ gepostet wurde. Zu Beginn traute ich mich etwas mehr. Es gab ein paar etwas anzügliche Posts oder Bilder, wie ich morgens oh-so-perfekt verschlafen in anderer Männer Betten aufwachte, mit dem Hashtag Morgens-nach-der-Nacht-davor in der Caption. Das ein oder andere Bild von Archie und mir mit entblößtem Hintern auf irgendeinem Berg während irgendwelcher Ferien. Aber ich räumte komplett damit auf, als ich begann, mit Matthew auszugehen. Er wirkte so rausgeputzt. So dermaßen anwesend. Es brachte mich dazu, beschämt auf die Bilder in meinem Feed zu schauen, und mir war peinlich, dass ich je geglaubt hatte, solch kindische Dummheiten seien attraktiv oder liebenswert. Plötzlich ging es mir nur noch darum, sehr rosarote, perfekt in Szene gesetzte Bilder aus dem Leben eines jungen Paares in London zu posten. Besonders, da Matthew sozusagen mit Gepäck kam, denn der kleine Titus mit seinen gerade mal neun Jahren war bei ihm und so unglaublich süß, wie es nur Kinder sein konnten. Ich hatte Kinder nie wirklich in meinem Leben gesehen … bis ich Matthew mit Titus sah. Und ich wusste, dass ich genau das brauchte. Ich musste zu einer solchen Einheit gehören. Und so wurde ich zu Daddy, wie auch er Daddy war, und bereits nach kurzer Zeit hatte Titus zwei perfekte Daddys und wir waren die süßen gleichgeschlechtlichen Könige von Instagram.
Ich war nicht naiv. Mir war durchaus bewusst, dass uns einige Leute nur liebten, weil wir homosexuelle Eltern waren, und sie würden unsere Bilder vielleicht nicht liken, wenn wir Mann und Frau gewesen wären. Und es gab auch die ein oder andere Anfeindung – ab und zu Kommentare, die mir anfangs zusetzten, die ich aber inzwischen nur noch mit einem Augenrollen und Schulterzucken abtat. Aber es war alles so einfach: Die Fotos von unseren ‚spaßigen Tagesausflügen‘ waren etwas mehr Arbeit. Manche davon mussten bis ins kleinste Detail geplant werden, um absolut natürlich zu wirken. Meine Follower saugten es geradezu auf, likten Bilder von dem Playboy-der-zum-Ehemann-wurde, mit einem Familienleben, das so perfekt war, als wäre es im Labor hergestellt worden.
Jedoch nicht perfekt genug für meine Mutter. Sie dachte, es sei leer und oberflächlich, und während ich ein Bild von einem grinsenden Titus, der ein Stück Kuchen hochhielt, und einem Matthew, der mit offenem Mund und gespielter Gier darüberlehnte, machte, konnte ich sehen, wie sie leicht den Kopf schüttelte. „Den Leuten gefällt es, Mum“, sagte ich und wischte durch die geschossenen Bilder, während ich die mit genau dem richtigen Maß an natürlichem Glück in Titus’ Augen auswählte. „Es ist süß. Es ist niedlich. Es ist witzig.“
„Wenn du das sagst“, entgegnete Mum und nahm sich meine Ausgabe des Observers, die ich auf dem Sofa liegengelassen hatte und in der sie sich nun den Werbebereich für Lebensmittel ansah. Sie las nie wirklich Zeitung. Sie verstand sie als linksradikales Schundblatt. „War es gut beim Shopping?“, fragte sie, während sie Nigel Slaters Einteilungstipps studierte.
Ich ging an ihr vorbei und setzte mich auf das gegenüberstehende Sofa, einen Teller mit zwei Keksen in der Hand. „Ja, ich habe nur das Buch gekauft, das ich wollte, und ein paar Lebensmittel fürs Abendessen.“
„Und wir haben eine neue Freundin gefunden“, rief Matthew aus der Küche.
Ich rutschte etwas auf dem Sofa hin und her, zog einen von Matthews Pullis hinter einem Kissen hervor und hängte ihn über die Lehne. „Eine neue Freundin“, fragte sie, ihr Interesse war geweckt. „Ihr wart nur etwas mehr als eine Stunde weg!“ Sie blickte über ihre Lesebrille zu Matthew, der gerade aus der Küche kam und sich etwas Guss mit einem Küchentuch von den Fingern wischte. Ich sah, wie sein Blick registrierte, dass ich immer noch meine Schuhe trug – er legte sehr viel Wert darauf, den cremefarbenen Teppich zu erhalten –, aber er wies mich vor meiner Mutter nicht zurecht.
„Ja, eine nette junge Frau namens Rachel. Wir sind in M&S beinahe in sie hineingerannt, aber Charlie hatte sie bereits zuvor getroffen. Sie wird an meinem Buchklub teilnehmen.“
Ich merkte, wie sich meine Augenbrauen bei seinen Worten zusammenzogen. Wie er es formulierte, klang es so, als wären Rachel und ich bereits Freunde. „Wir sind uns nur ein paar Minuten früher bei Waterstones begegnet. Ich kenne sie nicht.“ Der letzte Teil klang etwas defensiv und ich glaube, meine Mutter nahm das wahr.
„Vielleicht solltest du auch Teil des Buchklubs werden“, sagte sie zu mir. „Dann hast du etwas zu tun.“
Dies war die Art von Kommentar von meiner Mutter, die mich regelmäßig irritierten. Nur weil ich ein paar Tage in der Woche von zu Hause aus arbeitete, dachte sie sich regelmäßig, dass ich arbeitslos sei.
„Ich denke, dass ich bereits genug zu tun habe“, sagte ich kurz angebunden. Matthew kam zu mir rüber und setzte sich aufs Sofa, während er ebenfalls einen Teller mit Essen bei sich trug, wobei seiner mit dem großen Kuchenstück beladen war, das Titus für das Foto verwendet hatte.
Sein warmer Körper und der Geruch seines Ralph-Lauren-Aftershaves gemischt mit dem Duft eines frisch gebackenen Kuchens ließen mich direkt weniger angespannt werden. Er ließ einen Arm um mich fallen und sagte: „Warum kommst du nicht zu unserem nächsten Treffen? Es wäre schön für Rachel, ein weiteres vertrautes Gesicht zu sehen.“
„Vielleicht“, sagte ich mit einem vagen Nicken, während ich mich aus Matthews Umarmung löste und etwas davon murmelte, noch eine Ladung Wäsche zu waschen. Sobald wir das Thema Buchklub hinter uns gelassen hatten, fuhren wir mit unserem Sonntag in unserer gewöhnlichen ruhigen Routine fort – ein Spaziergang im Park, Abendessen in einem Restaurant –, vollkommen ahnungslos darüber, dass wir direkt in eine Falle getappt waren.