Kapitel 1
Heute
Meine Tochter schreit.
Der Klang weckt mich – zumindest glaube ich das. Ich kann mich nicht bewegen, nicht atmen, nicht sehen. Ein Echo des Schreis, dem panischen, wortlosen, schrillen Hilferuf, klingt noch in meinen Ohren nach. Vielleicht ist es auch in meinem Kopf, denn meine Tochter kann es nicht gewesen sein.
Bin ich wach?
Sobald mir der Gedanke in den Sinn kommt, verstehe ich, was passiert. Ich hatte schon seit Jahren keine Episode mehr, doch jetzt kehrt sie mit voller Wucht zurück.
Hello, darkness, my old friend.
Mein Gehirn versucht hastig, die Schritte zu rekapitulieren. Atmen. Das war der erste. Kurzzeitig bezweifle ich, dass ich das kann. Die Vorstellung, nie wieder einen Atemzug zu tun, lässt Panik in mir aufsteigen. Ich frage mich, wie lange ich ohne Sauerstoff überleben kann. Mein Herz rast vor Angst.
Ich kann mein Herz spüren. Das heißt, ich kann atmen.
Luft rauscht in meine Lungen, noch bevor ich merke, dass ich einatme. Ich nutze das kleine bisschen Kontrolle und zwinge mich dazu, langsam auszuatmen. Noch mal. Stück für Stück legt sich der Sturm in meinem Herzen und der Schrecken lässt nach, bis ich in einem Meer aus nichts treibe.
Beweg dich.
Ich brauche einen Anker, eine Erinnerung daran, dass ich ein physisches Wesen bin, fähig, meinen Körper zu kontrollieren. Ich dränge meine Gedanken nach außen und stelle mir vor, wie sie durch meine Venen rasen und sie im Dunkel leuchten lassen. Sie glühen karminrot, wie das Blut, das sie füllt. Und ich folge dem verästelten Pfad bis zu einem Finger, dem Zeigefinger. Das ist meiner, sage ich mir selbst. Ich werde auf die Decke zeigen.
Ich spüre ein Zucken, entfernt und fremd. Doch ich erinnere mich zu atmen. Ich versuche es noch einmal und dann noch einmal, bis sich der Pfad in Sekundenschnelle von meiner Fingerspitze zu meinem Hirn grün färbt. Ich zeige.
Ein weiterer Finger zuckt, dann ein dritter. Ich lasse sie wackeln. Meine Hand schließt sich schwächlich und ich spüre das Laken in meiner Handfläche.
Endlich, eine Faust.
Grünes Licht durchflutet meinen Körper und ich strecke mich aus, keuche, während sich meine Muskeln entkrampfen und meine Sicht schärfer wird. Doch die Panik lauert weiterhin in mir, wartet darauf, mich abermals zu übermannen, denn irgendetwas stimmt noch immer nicht. Ich bin nicht da, wo ich sein sollte.
Dies ist nicht mein Schlafzimmer.
Bevor mich der Nebel der Angst wieder umhüllen kann, zwinge ich mich, logisch zu denken, mein Gehirn zur Vernunft zu bringen. Es ist eine Schlafparalyse, sage ich mir mit entschlossener Stimme. Dir passiert nichts. Wach einfach auf. Doch die Angst steigt weiter.
Dann erinnere ich mich an den Countdown, den mir mein Therapeut beigebracht hat.
Fünf Dinge, die du siehst.
Ich sehe Stoff. Weicher blauer Stoff in meinem Augenwinkel, der zu einem Kissen gehören könnte. Ich sehe … Teppich? Ja, ein dunkel gestreifter Läufer auf einem Holzboden. Holzboden: Das sind drei Dinge.
Halt. Ich habe keinen Holzboden. Oder doch? Aber der Läufer kommt mir so bekannt vor.
Zwei weitere Dinge, die ich sehe. Meine Hand, die hinabbaumelt, die Fingerspitzen nur wenige Zentimeter über dem Boden. Ein hölzernes Bein, das zu einem Couchtisch gehört. Es ist ein Wohnzimmer und ich liege auf einer Couch. Es ist aber nicht meine Couch. Nicht mein Wohnzimmer. Und gleichzeitig ist es das.
Ich bin zu Hause. Nicht das Zuhause, in dem ich lebe, sondern das Zuhause, in dem ich aufgewachsen bin. Und aus Gründen, die ich in diesem getrübten Zustand nicht ausmachen kann, erfüllt mich diese Realisierung mit neuer Angst.
Damit kann ich mich jetzt nicht befassen.
Vier Dinge, die du fühlst.
Das pralle Armpolster des Sofas im Wohnzimmer meiner Eltern, gemütlich genug, um als Kissen zu dienen – der blaue Stoff, den ich gesehen habe. Den klammen Schweiß auf meinem Rücken, der gegen die Couch gepresst wurde, und auf meinem Kopf, der wegen den Albträumen, von denen ich dachte, ich hätte sie hinter mir gelassen, und den Bemühungen, meine Kontrolle wiederzuerlangen, auf Hochtouren gelaufen ist. Die Brise des Deckenventilators über mir, die meine Kopfhaut zum Frösteln bringt, während der Schweiß abkühlt.
Die Schmetterlinge in meinem Bauch, ein Rausch der Emotionen, als ich mich an den schrecklichen Grund erinnere, aus dem ich hier bin.
Stoff, Teppich, Holzboden, Hand, Bein.
Polster, Schweiß, Brise, Schmetterlinge.
Drei Dinge, die du hörst.
Ich höre ein entferntes, rhythmisches Quietschen, immer dann, wenn die Blätter des Deckenventilators an einer bestimmten Stelle kurz absinken. Es ist vertraut, beruhigend. Früher bin ich hier oft zu diesem Klang eingeschlafen. Mein Vater sagte stets, er würde ihn reparieren, aber ich …
Nein. Daran denke ich jetzt noch nicht. Noch zwei Dinge.
Ich höre wusch, wusch, wusch, als flüstere jemand im Innern meines Schädels. Es ist mein Herz, das mir bis in die Ohren schlägt. Es wird langsamer, während ich mir meiner Umgebung immer bewusster werde, auch wenn die Angst vor der vollständigen Erinnerung es schwerer schlagen lässt. Ich höre das tick, tick, tick der Standuhr im Esszimmer.
Tür, Robe, Uhr, Ventilator, Fenster.
Laken, Kissen, Brise, Schmetterlinge.
Quietschen-Wusch-Tick.
Zwei Dinge, die du riechst.
Ein schwacher, saurer Geruch aus meiner feuchten Achselhöhle. Die Frische des Weichspülers, der aus der Kleidung dringt, die ich gerade gewaschen habe.
Eine Sache, die du schmeckst.
Säure, die mir bei dem Gedanken daran, aufzuwachen, in die Kehle steigt. Bei dem Gedanken daran, mich einer Realität zu stellen, die ich nicht akzeptieren will.
Als ich den Countdown beende, löst sich die Angst auf, als würde jemand den Dimmerknopf herunterdrehen. Tiefe, schmerzende Trauer und Schuldgefühle nehmen ihren Platz ein. Das Gefühl ist dem, was ich nach Marisol erlebt habe, so ähnlich, dass ich mich für einen Moment in das Krankenhauszimmer zurückversetzt fühle, wo Lynette schrie und mich von meinem in Handschellen gefesselten Ehemann wegzerrte.
Ex-Ehemann. Das Einzige, was ich in den letzten fünf Jahren richtig gemacht habe, war die Einleitung eines Scheidungsverfahrens, bevor dieser kranke Mistkerl, der mir vorgemacht hatte, er sei ein Mensch, seinen Fuß in den ersten Gerichtssaal gesetzt hatte.
Tyler Martin ist ein weiteres dringendes Problem, um das ich mich bald kümmern muss. Als ich vor ein paar Wochen erfahren habe, was mit ihm los war, habe ich gelernt, was die wahre Bedeutung von Apoplexie ist. Es ist eines dieser Gefühle, die man nicht wirklich verstehen kann, bis man sie erlebt hat. Aber dann ist etwas anderes passiert – etwas viel Wichtigeres als der Scheißfleck, den ich geheiratet habe.
Und jetzt bin ich hier. Ich muss mit den Folgen fertig werden, nachdem ich eine weitere Person, die ich liebte, im Stich gelassen habe.
Ich stöhne und zittere, als ich mich auf den Rücken lege und den Deckenventilator über der Couch anstarre. Ich hätte wirklich nicht einschlafen dürfen. Es war schon nach sieben, als ich mich hingelegt habe, in der Hoffnung, einen Film zu sehen und für eine Weile zu vergessen. Jetzt drückt die Dunkelheit gegen die Außenseite der Fenster und der sanfte Schein der Beistelltischlampe reicht nicht über das tote Auge des Fernsehers hinaus, den ich nie angeschaltet habe.
Mein Handy liegt auf dem Couchtisch. Ich schnappe es mir, schaue auf die Uhr und stöhne erneut. Es ist fast elf. Heute Nacht werde ich auf keinen Fall mehr richtig schlafen können.
Schon gar nicht in diesem unheimlich stillen Haus, das früher so voller Leben war.
Ich stehe auf und stecke mein Handy in die Tasche, dann durchquere ich den Raum, um das Oberlicht einzuschalten. Als der Schein jede Ecke des Raums erhellt, fällt mein Blick auf die Wand auf der anderen Seite, wo sich der Kamin befindet. Seit ich hier bin, habe ich es vermieden, sie direkt anzusehen.
Aber plötzlich kann ich den Blick nicht mehr davon abwenden. All diese Gesichter. All diese Namen.
Alle siebenundzwanzig meiner Brüder und Schwestern.
Meine Eltern wussten immer, dass sie mehrere Kinder wollten. Sie planten, ihre eigenen zu bekommen, aber nachdem ich geboren war, konnte meine Mutter nicht mehr schwanger werden, egal, was sie versuchten. Es bedurfte nur eines langwierigen und gescheiterten Befruchtungsversuchs, um zu beschließen, dass sie das nicht noch einmal durchmachen wollte. Stattdessen beschlossen sie, Pflegeeltern zu werden.
Sie hatten von Anfang an so viel geplant. Sie wollten ältere Kinder ab zehn Jahren aufnehmen, die weit weniger Chancen auf eine dauerhafte Unterbringung oder Adoption hatten. Sie würden allen die gleiche Aufmerksamkeit schenken und dafür sorgen, dass niemand das Gefühl hatte, das „Biokind“ würde eine Sonderbehandlung bekommen. Wer auch immer hierherkommen würde, sollte zur Familie gehören.
Aus diesem Grund haben sie die Familienwand errichtet.
Jeder, der in diesem Haus wohnte, einschließlich meiner Eltern und mir, kam an die Wand. Für jede Person gab es ein Blatt Papier, auf dem oben ihr vollständiger Name stand, und ein Polaroid-Foto von ihr. Unter dem Bild befand sich ein Miniprofil. Nenn mich, Mag, Mag nicht und Wissenswertes. Schließlich gab es unter jedem Papier einen gemalten Handabdruck, für den sich jedes Kind eine eigene Farbe aussuchen durfte.
Ich habe meinen grün gemalt. Ich war sechs Jahre alt, als ich mein kleines Profil ausfüllte, nur wenige Tage bevor die erste Pflegefamilie eintraf. Es lautete:
Katrina Gray
Nenn mich: Kat
Mag: Meine Kamera
Mag nicht: Wurst (igitt!)
Wissenswertes: Ich wünschte, ich hätte Flügel
Als kleines Mädchen verstand ich die Kategorie Wissenswertes nicht wirklich.
Dort oben gibt es so viele Gesichter. Egal, ob man jahrelang oder nur ein paar Tage geblieben ist, man ist immer an der Familienwand gelandet. Als Teil der Familie. Ich bin so stolz auf meine Mutter und meinen Vater. Sie haben so viel Gutes in der Welt getan.
Ich habe ihr Erbe vernachlässigt.
An der Wand kommt nach meinen Eltern und mir das erste Pflegekind, das bei uns eingezogen ist. Michelle DiMarco. Sie war fünfzehn, als sie kam, und achtzehn, als sie ging. Ich erinnere mich, dass ich als Sechsjährige Ehrfurcht vor diesem Teenager hatte, dieser lauten, frechen, rechthaberischen Frau mit ihren gefärbten Haaren und engen Kleidern, ihren ausdrucksstarken braunen Augen und all dem Make-up, das sie trug. Ich war fasziniert, als sie mir ihre BHs zeigte – sie hatte ein Dutzend, alle hübsch und spitzenbesetzt in so vielen Farben.
Damals verstand ich nicht, dass sie gezwungen war, schnell erwachsen zu werden.
Ich lese das Profil, das sie sorgfältig in schicken seifenblasenartigen Buchstaben ausgefüllt hat.
Michelle DiMarco
Nenn mich: Mickey
Mag: Weltfrieden
Mag nicht: Schwindler
Wissenswertes: Ich kann einen Spagat machen
Ihr Handabdruck ist ein elektrisches Violett, das über die Jahre leicht verblasst ist.
Mein Blick streift über die Wand, nimmt Fotos und gekritzelte Worte auf, die wie Geschosse in meinem Herzen einschlagen. Da ist Jackson Green, der erste Junge, der bei uns blieb, nachdem drei Mädchen gekommen und eines gegangen war. Er wollte Crusher oder Ranger genannt werden, aber wir nannten ihn schließlich Jax. Ihm gefielen „Ritterwaffen“ und er mochte „schlafen“ nicht, und wissenswert war, dass er heimlich Drachen trainierte. Er war ein seltsames Kind, aber ich erinnere mich, dass mir seine Geschichten gefallen haben.
Ich fahre fort und schaue sie mir alle an. An einige erinnere ich mich nur noch vage oder gar nicht mehr, wir hatten jedoch mehrere kurze vorübergehende Aufenthalte. Als ich mich dem Ende nähere, wo sich die letzten Zugänge befinden, erinnere ich mich an deutlich mehr. Alina Cruz, mag Bücher, keine Splitter. Drew Seaborn, lächelt gern und spielt gern draußen, mag keinen Schnee und keine wirklich großen Schlangen.
Naomi Young. Ihre Nenn mich-Zeile sagt Nichts. Mag ist leer. Neben Mag nicht hat sie geschrieben: Dich.
Und Wissenswertes? Ich hasse dieses Haus.
Meine Mutter nannte Naomi eine „Herausforderung“. Meistens nannte ich sie den Feind, weil sie es vom ersten Tag an auf mich und alle anderen abgesehen hatte.
Ich schaudere unwillkürlich und gehe zum letzten Profil über. Evelyn Wells, nenn mich Evie, mag Taco-Dienstage und mag es nicht, kalte Füße zu haben. Unter Wissenswertes hat sie geschrieben: „Ich bin zu hässlich, um geliebt zu werden.“
Evelyn hatte mit so vielen Dingen zu kämpfen. Als sie bei uns ankam, haben meine Eltern die Regeln für die Gleichbehandlung etwas gebogen, weil sie wirklich besondere Aufmerksamkeit brauchte, aber niemand von uns hatte etwas dagegen. Wir hatten alle Mitleid mit Evie. Wir alle, außer Naomi natürlich.
Sie kam ein Jahr vor meinem Highschool-Abschluss zu uns, und es ging ihr schon viel besser, als ich aufs College ging. Wenn ich mich zu Hause erkundigte, sagten mir meine Eltern, dass sie einen immer besseren Eindruck machte.
Deshalb war es ein Schock, als sie mit fünfzehn Jahren weglief.
Evies Verschwinden war der Anfang vom Ende einer Ära. Innerhalb von zwei Wochen nach ihrem Weglaufen verloren wir Mom für immer und die übrigen Pflegekinder wurden meinem trauernden Vater entzogen. Und dann waren wir zu zweit.
Jetzt gibt es nur noch mich.
Vor zwei Tagen gab der geliebte lokale Meteorologe Joe Gray – eine kleine Berühmtheit in der Gegend – seinen letzten Wetterbericht. Um 9.03 Uhr, während seines vierten Berichts zur vollen Stunde, sahen Hunderte oder vielleicht Tausende von Zuschauern zu – mich eingeschlossen –, wie mein Vater live im Fernsehen zusammenbrach und starb. Gestern hätte ich mir fast eine Alkoholvergiftung zugezogen, als ich versuchte, den Mut aufzubringen, mein Haus in North Syracuse zu verlassen. Das, was unser Haus gewesen war, der Ort, an dem meine Tochter einst lebte. Der Ort, den ich kaum noch betreten habe, seit ich sie verloren habe. Heute Morgen machte ich mich auf den halbstündigen Weg nach Fulton, dem Heimatort meiner Kindheit, und betrat zum ersten Mal seit Marisols Beerdigung das Haus meiner Eltern. Dort brach ich sofort zusammen und weinte gefühlte Stunden lang. Von all den vielen Menschen, die ich in meinem Leben enttäuscht habe, habe ich meinen Vater am meisten enttäuscht. Ich lenke meine Aufmerksamkeit von der Familienwand ab und verlasse das Wohnzimmer, gehe durch das Esszimmer in die Küche. Dort schnappe ich mir aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier aus dem Sixpack, das ich vorhin gekauft habe, und setze mich damit an den Küchentisch. Ich sage mir, dass es keine Wiederholung des gestrigen Saufgelages geben wird. Ich hoffe nur, dass mir ein wenig Alkohol nach einem so langen und unerwarteten Nickerchen beim Einschlafen helfen wird. Ich habe bereits beschlossen, in meinem Kinderzimmer zu schlafen, solange ich hier bin. In den Zimmern der Pflegekinder wird es mir nur noch schlechter gehen und ich kann es nicht ertragen, einen Fuß in das Zimmer meiner Eltern zu setzen. Mit dem Bier in der Hand greife ich nach meinem Handy und tippe auf das Facebook-Symbol. Ich muss noch eine Sache erledigen, bevor ich versuche, ins Bett zu gehen. Ich wische zu meinen Gruppen und öffne die Seite der Fulton Grays. Auch wenn ich mich in den letzten fünf Jahren in einen Einsiedler verwandelt habe, habe ich zumindest das geschafft. Ich habe die Gruppe etwa sechs Monate nach dem Tod meiner Tochter – dem Mord an meiner Tochter – gegründet, als mir klar wurde, dass ich seit meinem letzten quälenden Auftritt vor Gericht in Tylers Prozess kaum mehr als vier oder fünf Worte mit einem echten Menschen gesprochen hatte. Ich arbeitete von zu Hause aus und kommunizierte mit meinen Kunden per E-Mail. Ich ließ mir Einkäufe und gelegentlich auch Essen liefern. Ich schrieb mit meinem Vater, anstatt ihn anzurufen. Und selbst dann sah ich nicht, dass sich das in naher Zukunft ändern könnte. Jeder Tag war ein dunkler Tag, ein Kampf darum, einen Grund zu finden, das Bett zu verlassen.
Doch ein Teil von mir wusste, dass ich eine Form der menschlichen Interaktion brauchte. Ich konnte es immer noch nicht ertragen, mit physischen Menschen zusammen zu sein, aber es gab ja Facebook. Ich begann damit, Mickey DiMarco, meine erste Pflegeschwester, zu finden und zu kontaktieren, die zu diesem Zeitpunkt Mitte dreißig bis Anfang vierzig war und immer noch so forsch und lebensfroh wirkte wie der wilde Teenager, den ich gekannt hatte. Mit ihr zu plaudern, sich über ihr Leben zu informieren, war ein unerwarteter Balsam für meine zerrissene Seele. Also suchte ich online nach weiteren Pflegegeschwistern und gründete eine Gruppe, in der wir alle in Kontakt bleiben konnten. Insgesamt gab es zweiundzwanzig Mitglieder, einschließlich mir … und Dad, der von der Idee begeistert war und sich häufig beteiligte. Es war uns sogar gelungen, Evie Wells zu finden, die Ausreißerin, die in Florida lebte und der es nach einigen schwierigen Jahren sehr gut ging. Nachdem ich mich gezwungen hatte, die nötigen Vorkehrungen zu treffen, gelang es mir, in der Gruppe über Dad zu berichten. Ich musste ihnen mitteilen, wann und wo die Beerdigung stattfinden würde. Jetzt muss ich auf eine Menge herzzerreißender Beileidsbekundungen reagieren. Zu meinem Beitrag gibt es siebzehn Care-Emojis und achtunddreißig Kommentare. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich dazu durchringen kann, auf alle zu antworten, oder ob ich überhaupt in der Lage bin, etwas anderes zu tun, als auf das kleine Herz zu tippen. Trotzdem öffne ich die Kommentarspalte und beginne zu lesen. Die erste Antwort kommt von Evie. Evelyn Wells:
Nein, nicht Daddy Joe!!! Kat, es tut mir so, so leid. Ich kann im Moment nicht einmal hinfahren, es ist zu kurzfristig, um mir freizunehmen. Ich wünschte, ich könnte dich umarmen!
Sie hat eine Antwort von Mickey bekommen:
Oh, Schatz, gleichfalls. Ich schicke dir auch Umarmungen runter.
Die beiden sind sich nie begegnet – in den vierzehn Jahren, in denen meine Eltern Pflegekinder aufgenommen haben, war Mickey die erste und Evie die letzte – aber sie sind durch die Gruppe Online-Freunde geworden. Mickeys Kommentar zum Hauptbeitrag ist der nächste. Mickey Dee:
Ich kann es einfach nicht glauben. Ich habe zugesehen, als er zusammengebrochen ist, und es scheint immer noch nicht real zu sein. Kat, Schatz, ich liebe dich. Das ist scheiße.
Meine Augen brennen und ich lasse die Tränen laufen, während ich weitere Kommentare meiner Pflegegeschwister überfliege. Blake Mulder:
Gott, wie schrecklich. Er war ein großartiger Mann. Ruhe in Frieden, Mr. G. Ich werde versuchen, zur Beerdigung zu kommen, wenn ich es einrichten kann.
Mary P. Lovell:
Es bricht mir das Herz. Ganz viel Liebe für dich, Kat.
Jackson Green:
Dein Verlust tut mir so leid.
Nevaeh Davidson:
Ich habe zugesehen! Ich kann nicht aufhören zu weinen. Er war der beste Pflegevater. Ich liebe euch alle so sehr.
Alina Cruz:
Mir fehlen die Worte. Wie konnte das passieren?! Er war in besserer Verfassung als ich! Kat, du weißt, dass ich da sein werde. Es tut mir so verdammt leid.
Nachdem ich Alinas Kommentar gelesen habe, raubt mir ein plötzliches Schluchzen den Atem und ich muss aufhören zu lesen. Sie hat recht – Dad war bei bester Gesundheit. In den letzten vier Jahren ist er sogar mit einer wesentlich jüngeren Frau zusammen gewesen. Ich habe mich schuldbewusst erleichtert gefühlt, als er mir von Clara Crawford erzählte, denn in meinem von Trauer geplagten Kopf bedeutete das, dass ich aus dem Schneider war, wenn er jemanden hatte, mit dem er Zeit verbringen konnte. Ich habe mir immer eingeredet, dass ich noch viel Zeit mit Dad verbringen würde. Vielleicht, wenn er in Rente geht. Aber das „Zu spät“ ist jetzt mit unnachgiebiger Endgültigkeit eingetreten. Ich war eine schreckliche, egoistische Tochter, und ich konnte mich nie für mein Verhalten entschuldigen. Zitternd wische ich zurück an den Anfang der Kommentare. Ich halte es heute Abend nicht mehr aus, noch mehr zu lesen. Ich werde alles mit einem Herz versehen und morgen früh erneut versuchen, mich meinem epischen Versagen zu stellen. Als mein Finger gerade über der Schaltfläche „Reagieren“ unter Evies Kommentar schwebt, ertönt eine Benachrichtigung. Eine neue Nachricht auf meiner Facebook-Geschäftsseite. Ich habe bereits angekündigt, dass ich mir eine Auszeit nehme und alle Kommentare zu meinen Beiträgen dort deaktiviert habe, dies ist jedoch eine direkte Nachricht. Ich möchte sie ignorieren, aber ich beschließe, der Person zu antworten und mitzuteilen, dass ich bis mindestens nächste Woche nicht erreichbar sein werde. Vor allem wenn es sich um eine Anfrage eines neuen Kunden handeln sollte. Ich tippe auf die Nachricht und mir gefriert das Blut in den Adern. Liebster Daddy: Dein Vater war nicht der Mann, für den du ihn hältst, Katrina. Ich weiß, was er getan hat. Und bald wirst du es auch wissen. „Was zum Teufel!“ Ich keuche und lasse mein Handy auf den Tisch fallen, als wäre es eine Schlange, die mich beißen will. Die entsetzlichen Worte stehen noch da und scheinen mich durch das Glas anzustarren.
Ist das eine Art kranker Scherz? Das muss es sein. Irgendein anonymes Arschloch, das sich hinter einem Bildschirm versteckt, die Nachrichten gesehen hat und einfach nur gerne zusieht, wie die Welt brennt, versucht, mich zu einer Reaktion zu drängen. Es ist nicht schwer, mich online zu finden oder die Tatsache, dass der Meteorologe Joe Gray mein Vater und meine Geschäftsseite öffentlich ist. Mein erster Instinkt ist es, den ekelhaften kleinen Troll zu blockieren und zu melden, aber ich entscheide mich dagegen. Je mehr Blödsinn er von sich gibt, desto leichter wird es sein, jemanden mit Autorität zum Handeln zu bewegen. Stattdessen mache ich einen Screenshot der Nachricht und schließe dann die App. Jetzt bin ich wütend und ich lasse das Gefühl zu, während ich das unangetastete Bier in den Kühlschrank zurückstelle und nach oben ins Bett gehe. Die Wut ist leichter als der komplexe, schmerzhafte Knoten der Trauer, der wieder auftauchen wird, wenn ich erschöpft bin. Und ich habe genug Wut für zwei Lebzeiten.
Kapitel 2
Es kommt mir so vor, als hätte ich nur fünf Minuten geschlafen, als ich die Schreie höre. Dieses Mal weiß ich, dass ich nicht träume. Das Bewusstsein überflutet mich sofort und ich richte mich im Bett auf. Ein kleines Mädchen schreit vor Angst. Es klingt, als käme es direkt von draußen. Ich werfe die Decke ab, stolpere zum Fenster und reiße die Vorhänge zurück. Das Mondlicht enthüllt den großen Hinterhof, auf den mein Kinderzimmer blickt, auch wenn sich der Anblick drastisch verändert hat. Die Schaukel, der Sandkasten, der Picknicktisch und der Propangasgrill sowie der kleine oberirdische Pool sind verschwunden. Die Zeichen einer glücklichen Familie mit glücklichen Kindern. Jetzt umschließt der sechs Fuß hohe Maschendrahtzaun eine geflieste Terrasse mit ein paar Adirondack-Liegestühlen und Dads Geräteschuppen ganz rechts statt ganz links, wo er früher stand. Dazwischen erstreckt sich eine leere Fläche mit perfektem Gras. Entlang des hinteren Zauns wachsen dichte, ordentlich gestutzte Stechpalmenbüsche, die fast darüber hinaus reichen. Während ich, auf der Suche nach einer Erklärung für das, was ich gehört habe, vor mich hinstarre, nehme ich eine blitzartige Bewegung wahr. Etwas Blasses unter dem dichten, dunklen Grün neben dem Schuppen. Es folgt ein Moment der Stille, des Schweigens, in dem sogar das alte Haus den Atem anzuhalten scheint. Plötzlich raschelt das Gebüsch und zuckt heftig an der Stelle, an der ich das schwache Flackern gesehen habe. Der Schrei ertönt erneut, diesmal gebrochen und atemlos, jedes Segment ausgestoßen wie bei einer Frau in den Wehen – aaaaah-aaaaah-aaaaah-aaaaaahhh! Doch es ist eindeutig ein Kind und der unheimliche Klang wird durch die dämpfende Eigenschaft des Glases noch beunruhigender. Ein Fuß tritt unter der Hecke hervor. Winzig, schmutzverschmiert, herzzerreißend. Ich höre auf zu denken. Ich wende mich vom Fenster ab und renne durch den Raum, dann schnappe ich mir meinen Bademantel, bevor ich die Tür aufreiße. Als ich die Treppe hinunterrase und meine Arme in den Bademantel stecke, wird mir klar, dass das Flutlicht im Hinterhof hätte angehen sollen. Es ist auf einen Bewegungsmelder eingestellt. Im Erdgeschoss wirble ich um das Treppengeländer herum und steuere auf die Hintertür zu. Durch das Wohnzimmer, das Arbeitszimmer, das Esszimmer und in die Küche, wo ich kurz entschleunige, um mir die Taschenlampe zu schnappen, die Dad für Notfälle immer über dem Tresen neben der Kaffeekanne eingesteckt gelassen hat. Ich kann mich vage daran erinnern, dass ich meine Turnschuhe vorhin an der Hintertür vergessen habe. Aber jetzt sehe ich sie dort nicht mehr, und ich werde auch nicht den ganzen Weg nach oben rennen, um ein Paar zu holen. Ich reiße die Tür auf und stürme barfuß nach draußen. Als ich über die Terrasse laufe und die Taschenlampe anmache, knirscht etwas unter mir. Ein stechender Schmerz durchzuckt meinen Fuß und ich stolpere und falle fast. Ich unterdrücke einen Schrei und schwenke den Lichtstrahl zurück über die Fliesen. Zerbrochenes Glas, besprenkelt mit meinem Blut. Die Flutlichtbirne. Es sieht so aus, als wäre sie ganz aus der Halterung gefallen, mitsamt der Metallschraube und allem Drum und Dran. Wie ist das möglich? „Aaaah-aaaah-aaaah-aaaaahhh!“ Der Schrei ertönt abermals, heiser, dennoch klar in der kühlen Nachtluft. Die Stechpalmenbüsche rascheln und zittern. Ich zucke zusammen und bücke mich, um das Glas aus meinem Fuß zu ziehen. „Ich komme, mein Schatz“, rufe ich und richte die Taschenlampe auf die Hecke. Das Geräusch und die Bewegung hören abrupt auf. Ich verspüre ein Stechen in meinem Herzen. Das Kind muss schreckliche Angst haben und ich kann es ihr nicht verdenken. „Es ist okay“, sage ich beruhigend. „Ich werde dir helfen. Du brauchst keine Angst zu haben.“ Es folgt keine Antwort. Nicht einmal ein Flüstern. Eilig kratze ich die beiden größten Splitter aus meinem Fleisch. Mehrere kleine Stücke stecken noch in meinem Fuß, aber darum kann ich mich jetzt nicht kümmern. Ich muss zu dem Mädchen gelangen. Ich muss sie retten. Meine Tochter retten …
Nein. Nicht meine Tochter.
Ich kneife kurz die Augen zu, verdränge die Bilder und springe auf die Beine. Der Stechpalmenbusch zittert, als ich so schnell wie möglich über den Hof humple und mit der Lampe den Weg vor mir erleuchte. Ein leises Wimmern ertönt.
„Es wird alles gut“, versuche ich das Kind mit sanfter Stimme zu beruhigen.
Sie antwortet nicht und würdigt mich keines Blickes.
Schließlich erreiche ich die Hecke und lasse mich auf die Knie fallen. „Okay, mein Schatz“, sage ich. „Was ist passiert? Steckst du da drin fest?“ Eine blöde Frage. Es ist gerade einmal ein Meter Platz zwischen dem Boden und der dicken Wand aus Pflanzen. Sie muss sich irgendwie eingeklemmt haben.
Ich beuge mich hinunter und richte die Taschenlampe unter den Busch.
Die kleine Gestalt stößt einen weiteren gekeuchten Schrei aus, der in schnellen Stößen erklingt und sich dann zu einem kehligen Heulen ausweitet. Sie beginnt wieder zu strampeln. Ich sehe, wie sie mit den Füßen ausschlägt.
„Ruhig, ruhig“, beschwichtige ich sie. „Ich werde dich da rausholen …“
Der Fuß des Kindes trifft meinen Kiefer und mir stockt vor Schreck der Atem. Sterne füllen meine Sicht. Ich höre den Stoß gegen meinen Knochen wie einen einzelnen Trommelschlag in der Mitte meines Gehirns.
Sie schreit noch immer. Eigentlich wimmert sie vielmehr. Außerdem zuckt sie immer noch wie ein Fisch, der sich in einer Leine verfangen hat.
Ich bewege meinen Kopf außer Reichweite der Tritte, dann greife ich nach dem nächstgelegenen Knöchel. Nicht fest und doch mit genug Kraft, um das Bein an der Bewegung zu hindern. Die Kälte ihrer Haut lässt mein Herz aussetzen. Gott, wie lange war sie hier draußen, bevor ich sie gehört habe? „Ich bin hier, um dir zu helfen, okay? Bitte, versuch, stillzuhalten.“
Sie antwortet nicht, aber sie verstummt und hört auf, sich zu bewegen.
„Also dann. Los geht's“, murmele ich. Mit der freien Hand führe ich die Taschenlampe unter die Hecke und bewege mich auf das Mädchen zu. Ich schaffe es, meinen Kopf in die Lücke zu stecken und versuche, zu ihr hochzusehen. Ich kann nicht viel erkennen, außer dass sie etwas Gelbes trägt. Sie ist zwischen mehreren steifen Ästen eingeklemmt – es sieht fast so aus, als hätte sie versucht, durch die Hecke nach oben zu schwimmen.
Es gibt keine Möglichkeit, sie da rauszuholen. Sie muss herausgeschnitten werden. Ich atme aus, lang und ruhig. „Okay, Schätzchen. Es wird eine Weile dauern, aber wir werden dich aus diesem fiesen Busch herausholen. Kannst du mir deinen Namen sagen?“ Sie antwortet nicht. „Mein Name ist Katrina. Kat“, sage ich ihr. „Vielleicht kannst du mir deinen Namen sagen, wenn du nicht mehr feststeckst. Du fühlst dich sicher unwohl, oder?“ Nichts. Sie ist wahrscheinlich zu verängstigt, um zu sprechen. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Ich will sie nicht allein lassen, aber ich muss etwas finden, um sie zu befreien. Immerhin ist der Schuppen gleich da drüben und die Gartenschere müsste darin sein. Das einzige Problem ist, dass er verschlossen ist und der Schlüssel für das Vorhängeschloss im Haus liegt. Zumindest hoffe ich das. „Hör zu, ich hole ein … Werkzeug, um uns zu helfen“, sage ich, darauf bedacht, das Wort Schere nicht zu benutzen, um ihr nicht noch mehr Angst zu machen. „Ich bin gleich wieder da.“ Doch sie sagt nichts. Ich hoffe, sie versteht wenigstens, was ich tue. Ich lehne mich zurück und ziehe erst meinen Kopf, dann die Taschenlampe heraus. Ich drücke ihren Knöchel sanft und beruhigend, bevor ich loslasse und mich aufrichte. „Ich brauche nur eine Minute.“ Ich drehe mich um und gehe zurück zum Haus, wobei ich versuche, den Schmerz in meinem Fuß zu ignorieren. Mein Kiefer pocht noch immer von dem Tritt und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich dort einen großen blauen Fleck haben werde. Aber ich muss diesem Kind helfen, bevor ich mir selbst helfe. Noch bevor ich mich ein paar Schritte entfernt habe, fängt das Mädchen wieder an zu wimmern. „Alles ist gut“, rufe ich zurück. „Ich verspreche, ich lasse dich nicht allein.“ Das Geräusch hört nicht auf. Wenn überhaupt, wird es noch lauter. Mein Herz verkrampft sich, aber ich muss weitergehen. Ich eile so schnell wie möglich zurück zum Haus, vorbei an der zerbrochenen Glühbirne auf der Veranda. Zum Glück ist der Schuppenschlüssel immer noch dort, wo mein Vater ihn früher immer aufbewahrte – er hängt an einem Nagel in der Wand, zu hoch, als dass Kinder ihn erreichen könnten, neben Moms gerahmtem Holly-Hobby-Druck, auf dem zu lesen ist:
Egal, wo ich meine Gäste bediene, es scheint, sie mögen meine Küche stets am liebsten.
Ich schnappe ihn mir und eile zurück in den Schuppen. Das Mädchen schluchzt jetzt, das leise Geräusch ist noch herzzerreißender als ihre Schreie. Obwohl es keinen Unterschied zu machen scheint, spreche ich in einem beruhigenden Ton mit ihr und erkläre ihr, was ich tue, während ich den Schuppen öffne, die Gartenschere auf dem ordentlichen Steckbrett mit Dads Werkzeugen finde und vorsichtig anfange, Äste abzuschneiden. Sie scheint sich etwas zu beruhigen, während die Taschenlampe auf sie gerichtet ist. Ich habe keine Ahnung, wie lange es dauert, aber nach gefühlten Stunden des Schneidens und Zerrens kann ich sie endlich sehen. Und meine Brust zieht sich zusammen, bis ich nicht mehr atmen kann.
Hellbraunes Haar, blaue Augen, in denen sich vor Angst die Tränen stauen. Ein blassgelbes Pyjama-Set mit silbernen Glitzersternen. Vier oder fünf Jahre alt.
Marisol. Bevor die Panik und das Entsetzen überhand nehmen, zwinge ich mich, sie anzuschauen, wirklich anzuschauen. Ihr Haar ist dunkelblond oder vielleicht hellbraun. Ihre Augen haben einen helleren Blauton. Das herzförmige Gesicht ist ähnlich, aber der Knochenbau ist anders. Sie ist nicht meine Tochter. Sie kann es nicht sein. Sie ist ein verletztes, verängstigtes Kind und sie braucht meine Hilfe. „Okay. Wir sind fast fertig“, sage ich und greife nach dem größten Ast, der ihren Arm einklemmt – das letzte Hindernis, das ihrer Freiheit im Weg steht. Ihre weit geöffneten Augen bleiben auf meinem Gesicht haften, während ich den Ast prüfe und feststelle, dass sie wahrscheinlich fällt, wenn ich ihn abschneide, ohne sie zu stützen. „Kannst du diesen Arm um meinen Hals legen?“, frage ich und nicke in Richtung ihres freien Arms. Sie starrt mich weiter an. Vielleicht steht sie unter Schock. Ich nehme ihre Hand und lege ihren Arm vorsichtig um meinen Hals. Bevor ich fragen kann, ob sie sich festhalten kann, wird ihr Griff ohne Aufforderung fester, und ich spüre eine winzige Erleichterung. Sie spricht nicht, aber wenigstens versteht sie mich. Sie wimmert ein paar Mal, während ich den letzten Ast durchschneide. Als er abbricht, sackt sie mit ihrem Gewicht gegen mich. Ich lasse die Schere fallen und halte sie mit beiden Armen fest, während ich mich aus dem klaffenden, ausgefransten Loch in der Hecke, in dem sie gefangen war, zurückziehe. „Wir haben es geschafft!“ Ich lächle, als das Gesicht des Kindes zu mir hinaufblickt. Es ist mit Schmutz und Tränenspuren verschmiert, zerkratzt und blutet an mehreren Stellen. „So, jetzt bringen wir dich rein und kümmern uns um dich. Dann werden wir herausfinden, wo du hingehörst.“ Sie starrt mich an, stumm und ohne zu blinzeln. Dann windet sie sich in meinen Armen, als sie versucht, sich wieder zur Hecke zu drehen. Ich runzle die Stirn. „Was machst du …“ Ich verstumme und sehe an ihr vorbei. Da ist noch etwas im Gebüsch, das sich über der Schneise verfangen hat, die ich hinterlassen habe, um sie herauszuholen. Die Taschenlampe, die ich auf dem Boden liegen gelassen habe, fängt Fetzen von mattem Weiß und Orange auf sowie ein schwaches, glänzendes Grün.
Ich setze das Mädchen ab und stecke eine Hand hinein, ohne auf die kratzenden Äste zu achten, bis ich etwas Weiches fühle. Es dauert ein paar Minuten, bis ich es schaffe, den Gegenstand herauszuziehen. Eine ausgestopfte Kattunkatze mit juwelenbesetzten, grünen Knopfaugen. Abgenutzt, aber offensichtlich geliebt, handgenäht an ein paar Stellen, wo sie gerissen sein muss. Das Mädchen stößt einen wortlosen Schrei aus und greift mit einer Hand nach dem Spielzeug, während die andere immer noch fest um meinen Hals geschlungen ist. Ich reiche es ihr. Sie drückt es an ihre Brust, dann lehnt sie sich an mich. Ein Schluchzen durchzuckt ihren Körper. Ich unterdrücke einen Schauer, drehe mich um und trage sie zurück zum Haus. Sie hat versucht, an ihr Spielzeug zu kommen, das sie von außerhalb der Hecke nicht hätte erreichen können. Und so tief ins Gebüsch kann es auch nicht von allein gekommen sein. Jemand muss das Stofftier dort hineingeschoben haben. Wahrscheinlich derselbe jemand, der die Flutlichtbirne herausgenommen und kaputt gemacht hat. Was auch immer diesem Mädchen zugestoßen ist, es war kein Unfall.
Kapitel 3
Sie hat noch immer kein Wort gesagt.
Stattdessen sitzt sie still am Küchentisch, die verlotterte Plüschkatze unter ihrem Arm und ein unangerührter Teller mit Oreos vor sich. Ich habe sie gemustert, als wir ins Haus gegangen sind, und was ich gesehen habe, lässt nichts Gutes erahnen. Sie hat Kratzer und Prellungen von ihrer Begegnung mit der Hecke, doch das ist nicht alles.
Sie weist außerdem dunkle, möglicherweise fingerförmige Quetschungen um beide Handgelenke auf.
Da sie nicht spricht, habe ich keine Möglichkeit, herauszufinden, wer sie ist oder wo sie herkommt. Ich werde um vier Uhr morgens sicher nicht anfangen, an Türen zu klopfen. Sie benötigt medizinische Versorgung, falls sie Verletzungen hat, die ich nicht sehen kann, und ich werde sie der Polizei übergeben müssen.
Ich habe in Erwägung gezogen, umgehend 911 zu wählen und sie einfach ihnen zu überlassen. Doch der bloße Gedanke erfüllt mich mit Scham – denn er ist selbstsüchtig. Für einen kurzen Moment wollte ich, dass sie nicht mein Problem ist, weil sie Marisol so sehr ähnelt, dass es schmerzt.
Doch das kann ich nicht. Ich werde sie nicht völligen Fremden aushändigen, solange es nicht absolut notwendig ist.
Fürs Erste muss ich einige Vorkehrungen treffen und sie dann ins Krankenhaus bringen. In Fulton gibt es allerdings keines und die Notaufnahme ist noch geschlossen. Wir werden nach Oswego fahren müssen, was ungefähr fünfzehn Minuten entfernt liegt.
Ich erkläre ihr das, während ich auf der Suche nach etwas, womit ich meinen Fuß verbinden kann, meine Schubladen durchwühle. Sie zeigt keinerlei Reaktion und sieht mich stattdessen weiterhin mit diesen großen, wässrigen, hellblauen Augen an.
Schließlich finde ich ein Küchenhandtuch und befestige es mit ein paar Gummibändern an meinem Fuß. Es brennt noch immer wie verrückt und ich werde die Wunde untersuchen lassen müssen, denn ich kann spüren, dass sich Glassplitter darin befinden. Gut, dass wir ins Krankenhaus fahren. Ich bin außerdem froh, dass es mein linker Fuß ist, sodass ich noch fahren kann.
„Okay.“ Ich stelle mich vor das Mädchen und lächle. „Ich werde eine Decke und ein Kissen für dich holen und dann hüpfen wir ins Auto und fahren zu einem Arzt, der dir helfen kann. Sieht aus, als wärst du nicht hungrig. Das ist okay. Möchtest du vielleicht etwas trinken?“
Sie beobachtet mich, doch sie macht keine Anstalten zu sprechen.
„Wie wäre es damit, ich bringe dir ein Glas Milch und wenn du möchtest, dann trinkst du es, okay?“
Nichts.
Ich schaffe es, mein Seufzen zurückzuhalten, während ich an ihr vorbeigehe, um ein Glas aus dem Schrank hinter ihr zu holen. Ich bin sicher, es ist nicht ihre Schuld, dass sie nicht spricht. Sie wirkt nicht beleidigt, wütend oder unkooperativ – bloß verängstigt. Ich bin weiterhin der Meinung, dass sie unter Schock steht.
Den Schrank zu öffnen, versetzt mir einen weiteren dieser Schläge in die Magengrube, von denen es in letzter Zeit viel zu viele gegeben hat. Seit ich zurück in diesem Haus bin, habe ich mich nicht genauer umgesehen. Ich habe es nicht übers Herz gebracht. Und doch sind mir so viele Veränderungen aufgefallen, sowohl die großen wie der Hinterhof, als auch die kleinen wie dieser Schrank. Er war früher mit einer eklektischen Sammlung kindersicherer Becher und witziger, klobiger Tassen gefüllt, die den Belastungen des mehrfachen täglichen Gebrauchs trotzen konnten.
Alles, was noch geblieben ist, sind die zusammengehörigen Sets aus Gläsern und Kaffeetassen.
Ich hätte von diesen Dingen gewusst, wenn ich meinen Vater in den letzten fünf Jahren auch nur einmal besucht hätte.
Meine Hand zittert, als ich nach dem Glas greife, dann entscheide ich mich um und nehme eine Tasse. Sie hat einen Griff, was es dem Kind leichter macht, daraus zu trinken. Ich weiß, sie ist kein Kleinkind und sie kann sicher aus großen Gläsern trinken, doch ich möchte ihr alles so leicht wie möglich machen.
Als ich mich wieder dem Tisch zuwende, rutscht mir die Tasse aus der zitternden Hand und zerspringt auf dem Boden.
„Oh, das tut mir leid!“, sage ich ganz automatisch, wissend, dass der Lärm das Kind erschreckt haben muss. „Keine Angst. Ich habe nur …“
Ich verstumme und starre auf die Gestalt, die am Küchentisch sitzt. Ihr Rücken ist mir zugewandt. Sie hat sich keinen Zentimeter bewegt.
Aber sie muss gehört haben, wie die Tasse zerbrochen ist.
„Hallo?“, rufe ich mit etwas lauterer Stimme. „Liebling, kannst du mich hören?“
Keine Reaktion.
Nach einigen Sekunden des inneren Konflikts, hebe ich meine Hände und klatsche laut, drei Mal, schnell hintereinander. Mein Blick verweilt auf ihr.
Sie regt sich nicht, dreht sich nicht um.
Oh, nein. Ist sie etwa taub?
Schnell hole ich Besen und Schaufel aus dem Regal und kehre die Scherben auf. Das Letzte, was wir beide gebrauchen können, sind noch mehr scharfe Objekte in unseren Füßen. Ich lehne den Besen gegen die Wand und trage die Schaufel an ihr vorbei zum Mülleimer neben dem Ofen.
Sie beobachtet mich, leichte Neugier liegt in ihrer Miene.
Sie hat keine Ahnung, was gerade passiert ist.
Nachdem ich die Scherben entsorgt habe, ziehe ich einen Stuhl heran und nehme gegenüber von ihr Platz. „Kannst du überhaupt irgendetwas hören, Liebling?“ Ich stelle diese Frage, wenngleich ich weiß, dass sie absolut dämlich ist, sollte sie mich nicht hören. Ich muss es jedoch versuchen.
Wieder starrt sie mich nur an, ohne etwas zu sagen.
Ich kenne keine Zeichensprache und ich habe keine Ahnung, ob sie sie überhaupt verstehen würde. Sie ist so jung, dass sie wohl im Herbst, der in einigen Monaten beginnt, zum ersten Mal in den Kindergarten gehen müsste. Aber vielleicht kann ich auf andere Weise mit ihr kommunizieren.
„Okay.“ Ich hole tief Luft und sehe ihr in die Augen, bevor ich meine Ohren mit meinen Händen bedecke und meinen Kopf schüttele, dann zeige ich auf sie und mache ein fragendes Gesicht.
Sie blinzelt, kneift die Augen zusammen und nickt dann vorsichtig.
Ich hoffe, das bedeutet, sie hat verstanden, was ich versucht habe, ihr zu sagen, und mit einem Ja geantwortet.
„Großartig! Wir machen Fortschritte“, sage ich erfreut. Dann zeige ich ein paar Mal abwechselnd auf sie und mich und mime ein Lenkrad. „Wir fahren zum Arzt“, verkünde ich, obwohl ich mir jetzt fast absolut sicher bin, dass sie die Worte nicht hören kann.
Sie reißt die Augen auf und versucht, mit ihrer freien Hand zu mir über den Tisch zu greifen.
„Was? Was ist los, Liebling?“ Ich nehme ihre haschende Hand und sie quetscht meine so fest sie kann, während sie den Kopf schüttelt.
Plötzlich glaube ich zu verstehen, was sie mir sagen möchte.
„Ich werde dich nicht verlassen“, versichere ich ihr und zeige abermals zwischen uns hin und her. Ich lege ihre Hand in meine und bedecke sie dann mit meiner anderen. „Wir beide werden fahren. Gemeinsam.“
Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich ganz versteht, doch sie nickt zögerlich.
Ich versuche nicht darüber nachzudenken, dass wir Fortschritte machen. Ich weiß, was passieren wird, wenn wir in der Notaufnahme sind. Es werden Polizei und Sozialarbeiter eingeschaltet und dann wird man sie mir wegnehmen. Sie werden entweder die Eltern des Mädchens finden oder sie in eine vorübergehende Unterkunft stecken. Angesichts der Prellungen und der Tatsache, dass ich sie mitten in der Nacht allein in meinem Hof angetroffen habe, gehe ich von Letzterem aus.
Das wird ihr nicht gefallen. Und ich beginne zu glauben, dass es mir ähnlich gehen wird.
***
Als wir in der Notaufnahme ankommen, ist dort außer uns fast niemand und so warten wir nur ungefähr zehn Minuten, bevor wir in ein Zimmer gebeten werden. Zwei Krankenschwestern sind gekommen, haben uns einen Haufen an Fragen gestellt, während sie das Mädchen auf das Bett setzten und mir einen Stuhl bereitstellten. Einen Hocker, um einen Fuß hochzulegen, haben sie mir ebenfalls gegeben. Außerdem hat das Mädchen eine Safttüte, Cracker und Früchte bekommen. Mir haben sie Kaffee und Eiswasser angeboten, was ich angenommen habe, und eine Reihe von Müsliriegeln, die ich abgelehnt habe.
Selbst wenn ich hungrig wäre, ich glaube nicht, dass ich einen Bissen runterkriegen würde.
Wir haben auch schon den Bereitschaftsarztgesehen. Er ist kurz nach den Krankenschwestern hereingekommen und hat uns gemustert, um sicherzugehen, dass keine umgehende Behandlung notwendig ist. Nach einigen kurzen Checks und weiteren Fragen über das Mädchen, von denen ich nicht viele beantworten konnte, sagte er, eine Schwester würde kommen, um meinen Fuß zu behandeln, und er selbst müsse einige Tests für das Kind anordnen. Er hat auch erwähnt, dass er die Polizei und den für das Krankenhaus zuständigen Sachbearbeiter benachrichtigen würde. Etwas, das mich nicht gerade mit Vorfreude erfüllt. Wenigstens ist es im Moment ruhig. Ein dicker, blassgrüner Vorhang ist vor den Eingang des Zimmers gezogen und das Licht ist gedämpft, um so viel Entspannung wie möglich zu fördern. Leider ist dieser Ort für mich kein Fremder. Es ist zwar schon Jahre her, aber ich habe das Oswego-Krankenhaus bereits mehrmals besucht. Sowohl als Patient als auch als Familienmitglied eines Patienten. Das letzte Mal, als ich in einem Krankenhaus war … Ich kann im Moment nicht an das letzte Mal denken. Wenn ich das tue, werde ich das hier nicht überstehen. Das kleine Mädchen scheint ungefähr so viel Appetit zu haben wie ich. Sie wirft kaum einen Blick auf die Snacks, aber sie nippt an der Saftpackung und umklammert immer noch ihre Katze, während sie sich mit leichter Neugier im Raum umsieht. Sie scheint sich etwas entspannt zu haben. Ich bin nicht sicher, ob mir das ebenfalls möglich sein wird. Während ich über weitere Möglichkeiten nachdenke, auf sie einzugehen, vielleicht indem ich herausfinde, ob sie lesen und schreiben gelernt hat, geht der Vorhang halb zurück und eine Gestalt betritt den Raum. Ein Mann von durchschnittlicher Größe und Statur mit orangefarbenem Haar, bekleidet mit einem Pullover und Khakihosen. Er hat ein Klemmbrett in der Hand und trägt ein Schlüsselband mit einem Ausweis um den Hals, der allerdings so verdreht ist, dass die leere weiße Rückseite zu sehen ist. Bevor mein strapaziertes Gehirn erkennen kann, dass er mir irgendwie bekannt vorkommt, bleibt er stehen und grinst. „Kat Gray“, verkündet er. „So hatte ich mir das Wiedersehen mit dir nicht vorgestellt, aber ich will mich nicht beklagen.“ Ich blinzle und versuche, ihn zu verstehen. Schließlich macht es in meinem Kopf klick, und ich erlebe den ersten Anflug von Glück, den ich in den letzten schrecklichen Wochen verspürt habe. „O Gott. Drew“, erwidere ich und will instinktiv aufstehen, um ihn zu umarmen, bevor ich mich an meinen Fuß erinnere. Mein Bruder sieht fantastisch aus. Ohne zu zögern, durchquert er den Raum, beugt sich hinunter und umarmt mich mit einem Arm. Als er zurücktritt, verblasst sein strahlender Ausdruck. „Das mit Dad tut mir so leid“, sagt er. „Das ist doch blöd, oder? Ehrlich gesagt, weiß ich nicht einmal, was ich sagen soll.“
„Danke.“ Ich bin gerührt, dass er den Mann immer noch Dad nennt. Viele der Pflegekinder sind nie über „Mr. und Mrs. Gray“ oder ihre Vornamen hinausgekommen. Vor allem, weil einige nur ein paar Wochen oder Monate blieben. Drew Seaborn ist einer der wenigen, die längerfristig da waren oder dauerhaft untergebracht wurden. Er ist auch der einzige Langzeitaufenthalter, den ich auf Facebook nicht finden konnte. Und jetzt fühle ich mich noch schuldiger, weil ich mich nicht mehr bemüht habe, ihn zu finden. Drew, Alina und Evie waren die letzten Pflegekinder, die nach meinem Highschool-Abschluss und während des ersten Jahres meines Studiums in unserem Haus lebten, bis Evie verschwand und die Dinge von da an ihren Lauf nahmen. Ich stand ihnen allen nahe, aber ich habe nie erfahren, was mit Drew passiert ist. Ich hatte keine Ahnung, dass er Sozialarbeiter geworden ist oder sich jemals für diesen Bereich interessiert hat, obwohl ich nicht überrascht sein sollte. Er war immer der Erste, der Neuankömmlinge willkommen hieß und den Pflegekindern half, sich wohlzufühlen, selbst bei denen, von denen wir wussten, dass sie nicht lange bleiben würden. Ich kann sehen, wie dieser Teil von ihm durchscheint, als er seinen bemerkenswerten Charme auf das kleine Mädchen richtet, das uns misstrauisch beobachtet hat. „Hallo“, begrüßt er sie, als sie ihn ansieht, und zeigt dann auf ihre ausgestopfte Katze. „Das ist ein sehr schönes Kätzchen, das du da hast. Wie heißt sie denn?“ In dem Moment, in dem er auf sie zeigt, wimmert das Mädchen und versucht, sich zurück auf das Bett zu schieben, wobei sie ihr Spielzeug noch fester umklammert. Drew lässt sofort seinen Arm sinken. „Oh, keine Sorge. Ich werde sie nicht mitnehmen. Ich habe mein eigenes Kätzchen“, sagt er. „Möchtest du sie sehen?“ Sie sagt nichts und entspannt sich auch nicht. „Na gut. Vielleicht später.“ Drew wendet sich mir zu, den sympathischen Gesichtsausdruck noch immer aufgesetzt. „Dr. Lourdes hat mir in groben Zügen erzählt, wie du sie gefunden hast“, sagt er. „Er hat mir gesagt, dass du glaubst, sie könnte taub sein, und er hält das auch für wahrscheinlich. Wäre es dir recht, mir mehr zu erzählen? Ich weiß, dass du keine Ahnung hast, wer sie ist, aber alles könnte helfen.“
Ich schaue das Mädchen an und lächle, und sie antwortet ebenfalls mit einem kleinen Lächeln. „Klar“, sage ich, erleichtert, dass er sich jetzt ums Wesentliche kümmern will, anstatt sich auf den neuesten Stand über mein Leben zu bringen. „Was möchtest du wissen?“
„Warte, ich hole mir einen Stuhl. Ich bin gleich wieder da.“ Drew verschwindet aus dem Raum. Ich sehe ihm nach und erinnere mich an den Jungen, der er einmal war. Er war fünfzehn, als ich ans College ging, und siebzehn, als ich unerwartet zurückkommen musste. Zu diesem Zeitpunkt war er schon beinahe elf Jahre bei uns. Er freundete sich fast sofort mit allen an, Erwachsenen und Kindern gleichermaßen. Nun ja, mit allen außer Naomi, aber nicht, weil er es nicht versucht hätte. Naomi hat nie jemanden gemocht. Kurz frage ich mich, wo Naomi jetzt ist und was sie macht. Nicht, dass ich mit ihr in Kontakt geblieben wäre. Sie schien mich immer am meisten zu hassen, und das will schon etwas heißen, wenn man bedenkt, wie viel Hass sie ständig verströmte. Es dauert nicht lange, bis Drew mit einem rollenden Bürostuhl zurückkommt. Er schiebt ihn neben mich, dann holt er einen Beistelltisch auf Rädern aus der Zimmerecke – einen, der aussieht, als würde er über ein Bett hinausragen – und senkt ihn etwas ab, damit er ihn im Sitzen benutzen kann. Seine ruhigen, effizienten Vorbereitungen zeigen, dass dies nicht das erste Mal ist, dass er diese Art von Besprechung in einem Krankenhauszimmer durchführt. Das Mädchen im Bett sieht ihm zu, wie er herumwuselt, und entspannt sich schließlich, als er gegenüber von mir Platz nimmt. Sie hat wohl beschlossen, dass er ihr das Spielzeug nicht wegnehmen wird. Drew atmet tief aus und legt sein Klemmbrett auf den Tisch. „Es tut mir leid, dass wir das jetzt machen müssen“, sagt er. „Das ist sicher keine leichte Zeit für dich. Ich werde versuchen, die Dinge so schnell wie möglich voranzutreiben, aber … du weißt ja, wie das System ist.“
„Ist schon gut. Lass dir Zeit.“ Mir gelingt ein Lächeln, aber ich kämpfe mehr mit Erschöpfung und Trauer als mit dem Wunsch, es hinter mich zu bringen. Ich verstehe mich bereits als Beschützerin des Mädchens, und das nicht nur, weil sie wie meine Tochter aussieht. Denn ich weiß, wie das System ist. Ich weiß, dass es nicht immer so funktioniert, wie es sollte. Und ich will nicht, dass es diesem Kind noch schlechter geht. Drew fragt mich genau, was passiert ist, fragt gelegentlich nach Details, hört mir aber hauptsächlich zu. Er macht sich Notizen, während ich erkläre. Als ich fertig bin, verzerrt sich seine Miene vor Mitleid. „Armes Kind“, sagt er leise mit einem Blick auf das kleine Mädchen, das mit einem Finger die schwarzen Flecken auf dem ausgestopften Kattun nachzeichnet. „Sie hat definitiv eine starke Bindung zu diesem Spielzeug.“
„Ja, und ich bin mir ziemlich sicher, dass jemand diese Tatsache ausgenutzt hat, um sie zu verletzen.“ Jetzt, wo sich die Panik ein wenig gelegt hat, ist die Wut auf denjenigen, der das Kind misshandelt hat, an ihre Stelle getreten. „Es ist schwer, sich ein Bild zu machen, ohne dabei gewesen zu sein, aber es war klar, dass derjenige, der das getan hat, es absichtlich so arrangiert hat, dass sie in dieser Hecke stecken bleibt.“
„Oh, es fällt mir nicht schwer, das zu glauben. Ich erinnere mich an diese Stechpalmenbüsche.“ Drew blättert stirnrunzelnd eine Seite auf seinem Klemmbrett um, hält dann inne und holt sein Handy heraus. Es vibriert wegen eines Anrufs. „Entschuldige mich einen Moment.“ Er steht auf und entfernt sich ein paar Schritte, um mit leiser Stimme zu antworten. Nach ein paar kurzen Worten sagt er: „Okay, ich komme gleich raus.“ Er beendet das Gespräch und steckt sein Telefon ein. „Die Polizei ist hier“, erklärt er. „Ich muss mit ihnen reden und mich der Sache annehmen. Ich bin bald wieder da.“ Ich will gerade etwas Gehaltloses erwidern, als sich der Vorhang weiter zurückzieht und eine der Krankenschwestern von vorhin einen Wagen mit Flüssigkeiten, Verbandszeug und scharfen Gegenständen hereinrollt. Ich vermute, das ist für mich. „Jetzt werden wir Sie erst einmal verarzten“, verkündet sie und schenkt mir ein Lächeln, das mir so früh am Morgen viel zu fröhlich erscheint. Oder so spät, je nachdem, wie man es betrachtet. Drew verlässt das Zimmer und ich mache mich auf weitere Unannehmlichkeiten gefasst.