Leseprobe Die gefährliche Leidenschaft des Viscounts

1. Kapitel

Maiden Hill, England

November 1760

Der Tote zu Lucinda Craddock-Hayes’ Füßen sah aus wie ein gefallener Gott. Apollo oder eher noch der kriegerische Mars, wie er menschliche Gestalt angenommen hatte und vom Himmel gestürzt war, um von einer arglosen Maid auf dem Heimweg gefunden zu werden. Nur dass Götter höchst selten bluteten.

Oder starben.

„Mr. Hedge“, rief Lucy über ihre Schulter.

Sie schaute sich auf dem einsamen Fuhrweg um, der von dem Städtchen Maiden Hill zum Haus der Craddock-Hayes’ führte. Alles sah noch genauso aus wie zuvor, ehe sie ihren Fund gemacht hatte: keine Menschenseele weit und breit – außer ihr, ihrem Diener, der ihr schnaufend folgte, und dem Leichnam, der vor ihr im Graben lag. Der Himmel war von tiefen Wolken verhangen und wintergrau. Obwohl es noch nicht einmal fünf Uhr war, begann der Tag schon zu schwinden. Kahle Bäume säumten den Weg, es war kalt und still.

Lucy fröstelte und zog sich ihren Umhang fester um die Schultern. Der Tote lag auf dem Bauch, alle viere von sich gestreckt, nackt und geschunden. Sein langer Rücken war besudelt vom Blut aus einer Wunde an der rechten Schulter. Weiter unten folgten schmale Hüften, muskulöse, behaarte Beine und auffallend elegante, schmale Füße. Lucy blinzelte und richtete ihren Blick wieder auf sein Gesicht. Sein Kopf war zur Seite gewandt und zeigte ein nobles Profil: eine lange Nase, hohe Wangenknochen und ein weit geschwungener Mund. Eine Narbe teilte eine der sich hoch über den geschlossenen Augen wölbenden Brauen entzwei. Das kurz geschnittene helle Haar lag dicht am Schädel an und war teils von Blut verklebt. Sein linker Arm lag über den Kopf zurückgeworfen, am Zeigefinger war noch der Abdruck eines Rings zu erkennen. Seine Mörder mussten ihm den Ring ebenso wie alles andere abgenommen haben. Um den Leichnam herum war die Erde zertreten, der Abdruck eines Stiefelabsatzes hatte sich neben der Hüfte des Toten in den Boden gebohrt. Sonst gab es keine Hinweise darauf, wer ihn hier draußen wie eine Wagenladung ausgeweidetes Gedärm in den Graben geworfen hatte.

Lucy brannten Tränen in den Augen. Wie er hier zurückgelassen worden war, nackt und von seinen Mördern noch im Tode erniedrigt, schien ihr geradezu eine Entwürdigung dieses armen Mannes. Es stimmte sie furchtbar traurig. Du dummes Ding, schalt sie sich. Als sie hinter sich missmutiges Gebrummel vernahm, das stetig näherkam, wischte sie sich hastig die Tränen von den Wangen.

„Erst besucht sie die Joneses mit all den kleinen Joneses, diese rotznasigen Blagen. Dann marschieren wir den Berg hinauf zur alten Hardy – grässliche Person, keine Ahnung, warum man die noch nicht zur letzten Ruhe gebettet hat. Und ist es damit gut? Nein, noch lange nicht. Dann muss sie unbedingt noch im Pfarrhaus vorbeischauen. Und ich darf derweil riesige Gläser mit Eingemachtem schleppen.“

Lucy widerstand der Versuchung, die Augen zu verdrehen. Hedge, ihr Diener, hatte sich einen abgewetzten, speckigen Dreispitz auf den grauen Haarschopf gedrückt. Auch sein staubiger Rock und seine Weste sahen etwas fragwürdig aus, und seine dürren O-Beine betonte er wenig vorteilhaft mit scharlachroten Strümpfen, die zweifelsohne von Papa abgelegt worden waren.

Neben ihr blieb er stehen. „Ach herrje, da hat einer ins Gras gebissen!“

So überrascht war er, dass er ganz vergaß, gebeugt zu gehen, doch kaum, dass sie sich nach ihm umdrehte, zerfiel sein zäher Körper vor ihren Augen. Sein Rücken krümmte sich, die hageren Schultern, auf denen das Gewicht ihres nun leeren Korbes lastete, sackten nach unten, den Kopf ließ er schlaff zur Seite hängen. Mit meisterlicher Geste zückte Hedge ein kariertes Taschentuch und wischte sich ausgiebig die Stirn.

Lucy schenkte all dem wenig Beachtung. Sie hatte diese Vorstellung schon ungezählte Male mit angesehen. „Ich weiß nicht genau ob ich es so ausdrücken würde, aber tot scheint er tatsächlich zu sein.“

„Na, dann wollen wir mal hier nicht länger rumstehen und ihn anstarren. Lasset die Toten in Frieden ruhen, sage ich immer.“ Damit wollte sich Hedge an ihr vorbeistehlen.

Sie stellte sich ihm in den Weg. „Wir können ihn nicht einfach hier liegen lassen.“

„Warum nicht? Der lag schon da, bevor Sie vorbeigekommen sind. Und wenn wir die Abkürzung über die Allmende genommen hätten, wie ich vorgeschlagen hatte, hätten wir den erst gar nicht gesehen.“

„Nun haben wir ihn aber gefunden. Könnten Sie mir helfen, ihn zu tragen?“

Sichtlich fassungslos stolperte Hedge zurück. „Ihn tragen? So einen stattlichen Burschen? Ja, wenn Sie mich vollends zum Krüppel machen wollen … Mein Rücken ist auch so schon schlimm genug, seit zwanzig Jahren geht das schon so. Ich beschwer mich ja nicht, aber trotzdem.“

„Na schön“, meinte Lucy. „Dann müssen wir eben einen Wagen besorgen.“

„Warum lassen wir ihn nicht einfach liegen?“, klagte ihr Diener. „Jemand wird ihn schon finden.“

„Mr. Hedge …“

„Er hat eine Stichwunde an der Schulter und ist voller Blut. Nicht schön, so was.“ Hedge rümpfte die Nase, bis sein Gesicht wie ein verschrumpelter Kürbis aussah.

„Ich bin mir sicher, dass er sich nicht absichtlich hat erstechen lassen, weswegen Sie ihm seinen Zustand kaum zum Vorwurf machen können“, rügte ihn Lucy.

„Riecht auch nicht mehr ganz frisch.“ Hedge wedelte mit dem Taschentuch vor seiner Nase herum.

Lucy verkniff sich die Bemerkung, dass es erst dank Hedges Anwesenheit etwas unfrisch zu riechen begonnen hatte. „Ich warte hier, während Sie Bob Smith und seinen Lastkarren holen.“

Die buschigen grauen Augenbrauen zogen sich in unmittelbar drohendem Widerspruch zusammen.

„Es sei denn, Sie möchten hier mit dem Leichnam warten, während ich Bob Smith hole.“

Sogleich glättete sich Hedges Stirn. „Nein, Ma’am. Sie wissen schon, was zu tun ist. Ich werde dann mal kurz zur Schmiede …“

Der Leichnam stöhnte.

Überrascht sah Lucy zu ihm hinab.

Neben ihr sprang Hedge zurück und sagte das für sie beide Offensichtliche: „Allmächtiger! Der ist ja gar nicht tot!“

Herrje. Und sie hatte die ganze Zeit untätig dagestanden und sich mit Hedge gezankt. Lucy zog sich ihren Umhang von den Schultern und warf ihn dem Mann über den Rücken. „Geben Sie mir Ihren Rock“, forderte sie Hedge auf.

„Aber …“

„Sofort!“ Lucy verzichtete darauf, Hedge mit einem strengen Blick zu bedenken. Da sie nur selten einen so scharfen Ton anschlug, erwies er sich nun als umso wirkungsvoller.

„Puh“, stöhnte der Diener, warf ihr seinen Rock jedoch anstandslos zu.

„Holen Sie Dr. Fremont. Sagen Sie ihm, dass es eilt und er sofort kommen soll.“ Nun schaute Lucy ihm doch recht streng in die dunklen Augen. „Und noch etwas, Hedge.“

„Ja, Ma’am?“

„Ein bisschen schnell, wenn ich bitten darf.“

Hedge ließ seinen Korb fallen und eilte überraschend hurtig davon. Sein schlimmer Rücken schien vergessen.

Lucy bückte sich und steckte Hedges Rock um Beine und Gesäß des Mannes fest. Dann hielt sie die Hand unter seine Nase und wartete mit angehaltenem Atem, bis sie einen kaum merklichen Luftzug spürte. Er lebte tatsächlich noch. Sie hockte sich auf die Fersen zurück und überlegte, was am besten zu tun wäre. Der Mann lag auf halbgefrorenem Matsch und Gras im Graben – beides war kalt und hart. Das dürfte ihm nicht gerade zuträglich sein, besonders in Anbetracht seines geschwächten Zustands. Doch wie Hedge ganz recht bemerkt hatte, war er ein stattlicher Bursche, und sie war sich nicht sicher, ob sie ihn allein aus dem Graben würde ziehen können. Sie schob den Umhang ein wenig beiseite, mit dem sie seinen bloßen Rücken bedeckt hatte. Die Stichwunde an der Schulter war von feinem Schorf überzogen. Zumindest für ihre ungeübten Augen sah es so aus, als sei die Blutung gestoppt: gewiss ein gutes Zeichen. An Rücken und Rippen blühten Blutergüsse auf. Und nur der Herr mochte wissen, wie er erst vorne zugerichtet war.

Die Kopfverletzung nicht zu vergessen.

Lucy schauderte es. So bleich und reglos lag er da. Kein Wunder, dass sie ihn für tot gehalten hatte. Aber dennoch – in der Zeit, die sie in Gegenwart des armen Mannes gezankt hatten, hätte Hedge längst schon bei Dr. Fremont sein können.

Wieder vergewisserte sie sich, dass er atmete, und ließ ihre Hand über seinen Lippen schweben. Sein Atem kam schwach, doch regelmäßig. Mit dem Handrücken strich sie ihm über die kalte, bleiche Wange. Kaum zu sehen waren die hellen Bartstoppeln, die rau ihre Finger streiften. Wer war er? Maiden Hill war zu klein, als dass ein Fremder den Ort unbemerkt passieren könnte. Doch hatte sie auf ihrer nachmittäglichen Runde von keinen fremden Besuchern reden gehört. Irgendwie musste er von allen unbemerkt hierher gelangt sein. Zudem war er ganz offensichtlich zusammengeschlagen und ausgeraubt worden. Bloß warum? War er arglos Räubern zum Opfer gefallen, oder hatte er sein Schicksal herausgefordert?

Letzterer Gedanke ließ Lucy frösteln. Sie schlang die Arme um sich und hoffte, dass Hedge sich beeilen möge. Das Licht des Tages schwand rasch, und es wurde empfindlich kalt. Ein verwundeter Mann lag den Elementen preisgegeben, und das schon Gott weiß wie lange … Wieder spürte sie Tränen aufsteigen und biss sich auf die Lippe, um nicht zu weinen.

Wenn Hedge nicht bald zurückkäme, würde es keinen Arzt mehr brauchen.

„Er ist tot.“

Die harschen Worte ertönten neben Sir Rupert Fletcher, klangen in dem überfüllten Ballsaal jedoch eindeutig zu laut und vernehmlich. Diskret schaute Sir Rupert sich um, wer etwas gehört haben könnte, dann trat er näher an den jungen Quincy James heran, der besagte Worte gesprochen hatte.

Sir Rupert stützte sich schwer auf seinen Gehstock aus dunklem Ebenholz und versuchte, sich seinen Verdruss nicht anmerken zu lassen. Oder seine Überraschung. „Was soll das heißen?“

„Genau das, was ich gesagt habe“, feixte James. „Er ist tot.“

„Sie haben ihn umgebracht?“

„Natürlich nicht. Ich habe meine Leute losgeschickt.“

Sir Rupert runzelte die Stirn und konnte kaum glauben, was er da hörte. James hatte eigenmächtig gehandelt und sollte damit Erfolg gehabt haben? „Wie viele?“, fragte er brüsk. „Ihre Leute.“

„Drei“, meinte der junge Mann achselzuckend. „Mehr als genug.“

„Wann?“

„Heute am frühen Morgen. Als ich eben aufbrach, kam die Nachricht.“ James grinste frech, die beiden Grübchen ließen ihn sehr jungenhaft wirken. Wenn man ihn so sah, mit seinen hellen blauen Augen, den ebenmäßigen Gesichtszügen, der schlanken, athletischen Gestalt, würde man ihn für einen wohlgeratenen, gar attraktiven jungen Mann gehalten haben.

Wie sehr man sich doch täuschen konnte.

„Ich gehe davon aus, dass man Sie nicht mit der Angelegenheit in Verbindung wird bringen können?“ Trotz aller Mühe, sich zu beherrschen, schien Sir Ruperts Anspannung aus seinen Worten herauszuhören zu sein.

James wurde ganz ernst. „Tote können nichts mehr sagen.“

Sir Rupert schnaubte. So ein Idiot. „Wo haben Ihre Leute zugeschlagen?“

„Vor seinem Stadthaus.“

Sir Rupert fluchte leise. Wie blöde musste man sein, um einem Adeligen am helllichten Tag vor seinem Haus aufzulauern? Sein schlimmes Bein bereitete ihm heute Abend ohnehin Höllenqualen – und nun noch dieser Irrwitz von James. Sir Rupert stützte sich schwerer auf seinen Stock und versuchte ruhig nachzudenken.

„Kein Grund sich aufzuregen.“ James lächelte nervös. „K…k…keiner hat was gesehen.“

Schweigend hob der ältere Mann eine Braue. Man möge ihn mit Adeligen verschonen, die aus einer Laune heraus beschlossen, selbstständig zu denken – oder gar zu handeln. Der gemeine Adelsspross entsprang zu vielen Generationen des Müßiggangs, als dass er noch selbst seinen eigenen Schwanz zum Pissen fände, geschweige denn etwas so Diffiziles hinbekäme, wie einen Mord zu planen.

In seinem arglosen Glück ahnte James nichts von Sir Ruperts Gedanken. „Außerdem haben sie ihm alles abgenommen und ihn einen halben Tagesritt von London entfernt in einen Graben geworfen. Da draußen wird ihn niemand kennen. Und bis man ihn findet, wird auch nicht mehr viel zu erkennen sein, nicht wahr? Absolut s…s…sicher.“ Der junge Mann hob die Hand und fuhr mit dem Finger in sein goldblondes Haar. Er trug es ungepudert, wahrscheinlich aus Eitelkeit.

Sir Rupert nahm einen Schluck Madeira und sann über diese unerwartete Wendung der Ereignisse nach. Im Ballsaal war es eng und stickig, die Luft erfüllt vom Geruch brennenden Kerzenwachses, schweren Parfüms und erhitzten Körpern. Die Fenstertüren zum Garten standen weit offen, um die kalte Nachtluft hereinzulassen, was indes wenig brachte. Der Punsch war vor einer halben Stunde ausgegangen, und bis zum mitternächtlichen Buffet war es noch ein Weilchen hin. Sir Rupert verzog das Gesicht. Es bestand wenig Hoffnung auf Erfrischungen. Lord Harrington, der Gastgeber, war für seinen Geiz berüchtigt und knauserte selbst dann, wenn er die Crème der Gesellschaft geladen hatte – und ein paar ausgesuchte Emporkömmlinge, wie Sir Rupert einer war.

In der Mitte des Saals war eine schmale Fläche für die Tanzenden freigeräumt. In allen Farben des Regenbogens wirbelten sie umher. Mädchen in bestickten Kleidern und mit gepudertem Haar. Gentlemen angetan mit Perücke und ihrem besten, unbequemsten Staat. Er neidete den jungen Leuten ihre anmutigen Bewegungen nicht. Der Schweiß musste ihnen unter all der Seide und Spitze herunterlaufen. Lord Harrington würde zufrieden sein, dass die Gäste so früh in der Saison so zahlreich erschienen waren – oder vielmehr Lady Harrington wäre zufrieden. Die Gute hatte fünf unverheiratete Töchter an den Mann zu bringen und ging dabei so planvoll zu Werke wie ein erfahrener Feldherr, der in die Schlacht zieht. Vier ihrer Töchter befanden sich derzeit auf der Tanzfläche, eine jede am Arm eines vielversprechenden Gentlemans.

Nicht, dass er Lady Harrington dies zum Vorwurf machte, hatte er doch selbst drei Töchter im heiratsfähigen Alter und kannte das Problem. Alle dem Schulzimmer seit einer Weile entwachsen, alle auf der Suche nach einem geeigneten Gatten. Und als könne sie seine Gedanken lesen, fing seine Gattin Matilda seinen schweifenden Blick auf. Sie stand ein paar Schritte entfernt mit Sarah, ihrer Jüngsten, und schaute mit fragend gehobener Braue auf den jungen Quincy James, der noch an seiner Seite ausharrte.

Kaum merklich schüttelte Sir Rupert den Kopf. Eher würde er seine Tochter mit einem räudigen Hund vermählen. Nach fast drei Jahrzehnten Ehe war ihre Verständigung bestens eingespielt. Seine werte Gemahlin wandte sich beiläufig ab und plauderte angeregt mit einer anderen Matrone, ohne sich auch nur im Leisesten anmerken zu lassen, dass sie soeben mit ihrem Gatten eine konspirative Konversation gehabt hatte. Etwas später am Abend mochte sie ihn fragen, warum der junge James nicht in Betracht käme, doch nicht im Traum fiele es ihr ein, sich ihm jetzt aufzudrängen.

Wenn nur alle seine Partner so umsichtig wären.

„Ich weiß gar nicht, weshalb Sie sich Sorgen machen“, kam es von James, der das Schweigen nicht länger zu ertragen schien. „Er wusste doch nie von Ihnen. Niemand weiß von Ihnen.“

„Und so soll es auch bleiben“, sagte Sir Rupert milde. „In unser aller Interesse.“

„Das will ich meinen. Sie haben sich ja sowieso fein rausgehalten und es m…m…mir und Walker und den andern beiden überlassen, Jagd auf ihn zu machen.“

„Er würde Ihnen und den anderen ohnehin auf die Spur gekommen sein.“

„Es g…g…gibt jemanden, der dennoch gern von Ihnen wüsste.“ James kratzte sich so heftig den Schädel, dass sein Zopf sich fast löste.

„Aber es wäre nicht in Ihrem Interesse, mich zu verraten“, erwiderte Sir Rupert tonlos und neigte den Kopf vor einem Bekannten, der an ihm vorüberging.

„Ich wollte damit auch nicht sagen, dass ich Sie verraten würde.“

„Dann ist ja gut. Sie haben von dem Geschäft ebenso profitiert wie ich.“

„Schon, aber …“

„Ende gut, alles gut.“

„Sie h…h…haben g…g…gut reden.“ James’ Stottern nahm zu, was stets ein untrügliches Indiz für eine aufgewühlte Verfasstheit und somit kein gutes Zeichen war. „Wenn Sie Hartwells Leichnam gesehen hätten … In den Hals hat er ihn gestochen. In den Hals! Elendig verblutet ist er. Die Sekundanten meinten, das D…d…duell hätte keine zwei Minuten gedauert – keine zwei Minuten, stellen Sie sich das mal vor! G…g…grausam. G…g…ganz grausam.“

„Sie verstehen den Degen besser zu führen als Hartwell“, beschwichtigte ihn Sir Rupert.

Er lächelte versonnen, als Julia, seine älteste Tochter, ein Menuett begann. Sie trug ein Kleid in schmeichelhaftem Blau. Hatte er das Kleid schon mal gesehen? Nicht dass er wüsste. Es musste neu sein. Hoffentlich würde es ihn nicht in den Ruin stürzen. Ihr Tanzpartner war ein Earl weit jenseits der vierzig. Ein bisschen alt, aber ein Earl war nicht zu verachten.

„P…p…peller wusste auch mit dem Degen umzugehen, und d…d…den hat er g…g…gleich zuerst umg…g…gebracht!“ James’ sich überschlagende Stimme riss Sir Rupert aus seinen Betrachtungen.

Der Junge war zu laut. Sir Rupert versuchte, ihn zu beruhigen. „James …“

„Am Abend herausgefordert und am nächsten M…m…morgen schon t…t…tot!“

„Ich glaube …“

„Drei F…f…finger hat er verloren, als er sich v…v…verteidigen wollte, nachdem ihm der Degen aus der Hand geschlagen w…w…worden war. Ich h…h…habe sie danach im Gras s…s…suchen müssen. Oh G…g…gott!“

Hier und da drehte man sich schon nach ihnen um. Und der junge Mann echauffierte sich immer mehr.

Zeit zu gehen.

„Nun ist es vorbei.“ Mit eindringlichem, unerbittlichem Blick versuchte Sir Rupert ihn zur Räson zu bringen.

Unter dem rechten Augenlid des jungen Mannes zuckte es. Er holte tief Luft, als wolle er widersprechen.

Sir Rupert war schneller, sein Ton milde. „Er ist tot. Sie haben es selbst gesagt.“

„Aber …“

„Weshalb wir nichts mehr zu befürchten haben.“ Sir Rupert verneigte sich knapp und humpelte davon. Jetzt brauchte er dringend noch einen Madeira.

„Der kommt mir nicht ins Haus“, verkündete Captain Craddock-Hayes, die kräftigen Arme vor der breiten Brust verschränkt, die Beine so fest auf den Boden gestemmt, als stehe er auf hoher See an Deck. Das mit Perücke angetane Haupt hielt er hoch erhoben, den meerblauen Blick auf einen fernen Horizont gerichtet.

Er stand in der Eingangshalle des Craddock-Hayes’schen Hauses, die für die üblichen Bedürfnisse gemeinhin völlig ausreichend bemessen war. Nun jedoch schien es Lucy, als wäre der Raum angesichts der Vielzahl dort versammelter Personen geschrumpft – und mittendrin stand unverrückbar der Captain.

„Gewiss, Papa.“ Sie drängte sich an ihm vorbei und bedeutete den Männern, die den Fremden trugen, ihr zu folgen. „Wir bringen ihn am besten nach oben ins Zimmer meines Bruders. Meinen Sie nicht auch, Mrs. Brodie?“

„Natürlich, Miss.“ Die Haushälterin der Craddock-Hayes’ nickte so eifrig, dass die Rüschen ihrer Haube ihr um das rotwangige Gesicht wippten. „Das Bett ist bereits gemacht, und das Feuer wird im Nu geschürt sein.“

„Sehr gut“, meinte Lucy lächelnd. „Danke, Mrs. Brodie.“

Als die Haushälterin die Treppe hinaufeilte, wogte ihr üppiges Hinterteil bei jedem Schritt.

„Ich weiß ja nicht mal, wer der Halunke ist“, wetterte ihr Vater weiter. „Könnte irgendein Herumtreiber sein – oder ein Mörder! Hedge hat gesagt, man wollte ihn hinterrücks erstechen. Ich meine, welche Sorte Mann lässt sich schon erstechen? Na? Na?“

„Das weiß ich leider auch nicht, Papa“, antwortete Lucy aus alter Gewohnheit. „Würde es dir etwas ausmachen, beiseitezutreten, damit die Männer vorbeikönnen?“

Gehorsam trat Papa beiseite.

Die Arbeiter keuchten vernehmlich, als sie den verletzten Fremden hereintrugen. So furchtbar still und reglos lag er da, das Gesicht totenbleich. Lucy biss sich auf die Lippe und versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. Sie kannte ihn nicht, wusste nicht einmal, welche Farbe seine Augen hatten, und doch schien es ihr geradezu lebenswichtig, dass er nicht starb. Die Männer hatten ihn auf eine ausgehängte Tür gelegt, damit sie ihn besser tragen konnten, aber seine stattliche Statur gestaltete das Manöver offensichtlich recht schwierig. Einer der Männer fluchte.

„So was will ich unter meinem Dach nicht hören.“ Der Captain funkelte den Missetäter wütend an.

Der arme Mann wurde rot und murmelte eine Entschuldigung.

Papa nickte wohlwollend, ehe er fortfuhr: „Was müsste das für ein Vater sein, der jeden dahergelaufenen Wegelagerer einfach in sein Haus lässt? Noch dazu mit einer unverheirateten Tochter im Haus! Na? Ein verdammt schlechter Vater wäre das, das sage ich dir.“

„Gewiss, Papa.“ Lucy hielt den Atem an, als die Männer sich die Treppe hinaufmühten.

„Deshalb muss der Halunke woanders hingebracht werden – am besten zu Fremont. Er ist Arzt. Oder gleich ins Armenhaus. Vielleicht auch ins Pfarrhaus – dann kann Penweeble mal seine christliche Nächstenliebe unter Beweis stellen. Ha!“

„Da hast du gewiss recht, aber nun ist er schon mal hier“, beschwichtigte Lucy. „Es wäre wirklich ärgerlich, ihn noch einmal transportieren zu müssen.“

Einer der Männer auf der Treppe schaute sie voller Entsetzen an.

Lucy lächelte ihm aufmunternd zu.

„Der macht es sowieso nicht mehr lange.“ Papa legte die Stirn in tiefe Falten. „Wozu unsere guten Laken ruinieren?“

„Ich werde aufpassen, dass sie keinen Schaden nehmen“, versicherte ihm Lucy und ging die Treppe hinauf.

„Und was wird aus meinem Abendessen?“, murrte ihr Vater hinter ihr. „Na? Kümmert sich da noch jemand drum, oder kümmern sich jetzt alle um den Halunken?“

Lucy beugte sich über das Geländer. „Sowie er versorgt ist, wird das Essen auf dem Tisch stehen.“

Papa schnaubte. „Schlimme Zeiten, wenn der Herr des Hauses auf sein Essen warten muss, weil erst noch ein elender Herumtreiber bequem gebettet werden muss.“

„Wie schön, dass du so verständnisvoll bist.“ Lucy strahlte ihren Vater an.

„Pfff“, schnaubte der.

Sie drehte sich um und lief weiter die Treppe hinauf.

„Kleines?“

Wieder sah Lucy über das Geländer nach unten.

Mit gerunzelter Stirn schaute ihr Vater zu ihr auf, die buschigen weißen Brauen über der roten Knollennase zusammengezogen. „Pass bloß auf mit diesem Burschen.“

„Gewiss, Papa.“

„Pfff“, kam es abermals von ihrem Vater.

Rasch eilte Lucy die Treppe hinauf ins blaue Schlafzimmer. Die Männer hatten den Fremden bereits erfolgreich auf das Bett befördert. Gerade als Lucy hereinkam, traten sie den Rückzug an und hinterließen eine schlammige Fußspur auf den Dielen.

„Sie sollten nicht hier hereinkommen, Miss Lucy!“, rief Mrs. Brodie entsetzt und zog hastig die Laken über die nackte Brust des Mannes. „Nicht solange er so daliegt.“

„Vor einer Stunde habe ich ihn noch weitaus unbekleideter gesehen, Mrs. Brodie“, versicherte ihr Lucy. „Mittlerweile trägt er zumindest ein paar Verbände.“

Mrs. Brodie schnaubte. „Aber nicht an den entscheidenden Stellen.“

„Nun, das wohl nicht gerade“, gab Lucy zu. „Aber ich glaube kaum, dass er in seinem derzeitigen Zustand eine Gefahr für uns darstellt.“

„Ach ja, der arme Mann.“ Mrs. Brodie tätschelte das Laken, das seine Brust bedeckte. „Kann sich glücklich schätzen, dass Sie ihn noch rechtzeitig gefunden haben. Morgen wäre der mit Sicherheit erfroren gewesen, wenn er da draußen liegen geblieben wäre. Wer kann ihm nur etwas so Schreckliches angetan haben?“

„Das weiß ich nicht.“

„Niemand aus Maiden Hill – nein, ganz gewiss nicht.“ Entschieden schüttelte die Haushälterin den Kopf. „Gesindel aus London wird’s gewesen sein.“

Lucy verkniff sich die Bemerkung, dass es auch in Maiden Hill Gesindel gäbe. „Dr. Fremont meinte, er wolle morgen früh noch mal vorbeikommen, um seine Verbände zu wechseln.“

„Gut.“ Mrs. Brodie betrachtete den Patienten so prüfend, als versuche sie einzuschätzen, wie wahrscheinlich es wäre, dass er morgen früh noch am Leben war.

Lucy holte tief Luft. „Bis dahin können wir wohl wenig mehr tun, als es ihm so bequem wie möglich zu machen. Am besten lassen wir die Tür etwas offen, damit wir merken, wenn er zu sich kommt.“

„Dann will ich mich mal jetzt um das Abendessen des Captains kümmern. Sie wissen ja, wie er ist, wenn es nicht pünktlich auf dem Tisch steht. Ich schicke Betsy hoch, damit sie hier aufpasst.“

Lucy nickte. Betsy war ihr einziges Mädchen, aber wenn sie sich zu dritt abwechselten, sollte es kein Problem sein, den Fremden zu pflegen. „Gehen Sie nur. Ich komme gleich nach.“

„Wie Sie meinen, Miss.“ Vielsagend schaute Mrs. Brodie sie an. „Aber bleiben Sie nicht zu lange. Ihr Vater wird mit Ihnen reden wollen.“

Lucy krauste die Nase und nickte. Mit einem mitfühlenden Lächeln ging Mrs. Brodie davon.

Kaum dass sie mit ihm allein war, betrachtete Lucy den Fremden, der im Bett ihres Bruders David lag, und fragte sich abermals, wer er wohl sein mochte. So reglos lag er da, dass sie sich schon sehr anstrengen musste, um zu erkennen, wie seine Brust sich kaum merklich hob und senkte. Der Kopfverband ließ ihn noch hinfälliger erscheinen und lenkte den Blick auf den dunklen Bluterguss an seiner Stirn. Er wirkte furchtbar einsam und verloren. Ob jemand sich seinetwegen Sorgen machte und bang auf seine Heimkehr wartete?

Einen Arm hatte er auf dem Laken liegen. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und berührte ihn.

Blitzschnell schoss seine Hand nach oben, packte sie beim Handgelenk und hielt es fest. Lucy erschrak so sehr, dass sie kurz aufschrie. Und dann blickte sie in die hellsten Augen, die sie je gesehen hatte. Sie hatten die Farbe von Eis.

„Ich werde dich umbringen“, sagte der Fremde klar und deutlich.

Einen Moment lang dachte sie, die grausigen Worte gälten ihr, und das Herz blieb ihr schier in der Brust stehen.

Dann schweifte sein Blick an ihr vorbei. „Ethan?“ Verwundert runzelte er die Stirn, ehe seine seltsam blassen Augen sich wieder schlossen. Es dauerte nicht lange, bis sein Griff um ihr Handgelenk erschlaffte und sein Arm zurück aufs Bett fiel.

Lucy holte tief Luft. Dem Schmerz in ihrer Brust nach zu urteilen, hatte sie nicht mehr zu atmen gewagt, seit der Fremde sie gepackt hatte. Vorsichtig wich sie vom Bett zurück und rieb sich das schmerzende Handgelenk. Geradezu brutal hatte er zugepackt – das würde blaue Flecken geben.

Aber mit wem hatte er zu sprechen geglaubt?

Lucy fröstelte. Wer immer es sein mochte, zu beneiden war er nicht. Die Stimme des Mannes hatte zum Letzten entschlossen geklungen. In ihm schien kein Zweifel darüber zu sein, dass er seinen Feind töten würde. Nachdenklich blickte sie auf das Bett. Der Fremde atmete nun tief und gleichmäßig. Er sah aus, als schlafe er friedlich. Würde ihr Handgelenk nicht so schrecklich schmerzen, könnte sie fast meinen, den Zwischenfall eben nur geträumt zu haben.

„Lucy!“, brüllte es von unten. Das konnte nur ihr Vater sein.

Eilig raffte sie ihre Röcke zusammen, lief aus dem Zimmer und die Treppe hinab.

Papa saß bereits am Kopf des Esstischs, eine große Serviette in den Kragen gesteckt. „Ich mag es nicht, spät zu Abend zu essen – bringt meine Verdauung durcheinander. Kann ich die halbe Nacht nicht schlafen, weil das Gedärm grummelt. Ist es vielleicht zu viel verlangt, in meinem eigenen Haus das Essen pünktlich auf den Tisch zu bekommen? Na? Na?“

„Nein, natürlich nicht.“ Lucy nahm rechts von ihrem Vater Platz. „Es tut mir leid.“

Mrs. Brodie brachte einen dampfenden Braten herein, um den sich Kartoffeln, Lauch und Rüben häuften.

„Ha! So was sieht man gern auf seinem Tisch.“ Als Papa nach Messer und Gabel griff, um den Braten anzuschneiden, strahlte er über das ganze Gesicht. „Ein guter englischer Rostbraten. Riecht köstlich.“

„Danke, Sir.“ Die Haushälterin zwinkerte Lucy zu, ehe sie in die Küche zurückkehrte.

Lucy lächelte. Ein Glück, dass sie Mrs. Brodie hatten.

„So, dann nimm mal ein bisschen von allem.“ Papa reichte ihr einen gut gefüllten Teller. „Mrs. Brodie weiß wirklich, wie man einen guten Braten macht.“

„Danke.“

„Der beste in der ganzen Grafschaft. Kannst bestimmt eine kleine Stärkung vertragen, nachdem du dich den ganzen Nachmittag draußen herumgetrieben hast, was?“

„Wie bist du denn heute mit deinen Memoiren vorangekommen?“ Lucy nippte an ihrem Wein und versuchte, nicht an den Mann zu denken, der oben lag.

„Hervorragend. Ganz hervorragend.“ Sichtlich begeistert säbelte Papa an dem köstlichen Braten herum. „Eine herrliche Skandalgeschichte, die sich vor dreißig Jahren zugetragen hat, habe ich zu Papier gebracht. Ging um Captain Feather – jetzt ist er Admiral, der alte Hund – und drei Eingeborenenfrauen. Wusstest du, dass diese Inselmädchen überhaupt keine … Ähemmm!“ Plötzlich hustete er vernehmlich und schaute sie offenbar recht verlegen an.

„Keine was?“, fragte Lucy unschuldig und schob sich ein Stück Kartoffel in den Mund.

„Egal. Ganz egal.“ Papa lud sich seinen Teller voll und zog ihn zu sich heran, bis der Rand an seinen fülligen Bauch stieß, der wiederum an die Tischkante drückte. „Sagen wir einfach, dass diese Geschichte dem alten Jungen noch mal ganz schön einheizen wird. Ha!“

„Wie erfreulich.“ Lucy lächelte. Sollte Papa seine Memoiren jemals abschließen und veröffentlichen, würde gewiss die halbe Königliche Marine der Schlag treffen.

„So ist es, so ist es.“ Papa schluckte und spülte mit Wein nach. „So. Und jetzt will ich, dass du aufhörst, dich um diesen Halunken zu sorgen, den du uns hier angeschleppt hast.“

Lucy senkte ihren Blick. Die Gabel zitterte ihr in der Hand, und sie wollte hoffen, dass ihr Vater es nicht bemerkte. „Gewiss, Papa.“

„Du hast eine gute Tat vollbracht, guter Samariter und so, du weißt schon. Genau so, wie deine Mutter es dich aus der Bibel gelehrt hat. Aber vergiss nie …“, er spießte ein Rübchen auf, „… dass ich schon so einige Kopfverletzungen zu sehen bekommen habe. Manch einer überlebt es. Manch einer nicht. Da kannst du gar nichts machen.“

Das Herz wurde ihr schwer. „Du meinst, er überlebt es nicht?“

„Woher soll ich das wissen?“, dröhnte Papa ungehalten. „Genau das habe ich doch eben gesagt: Kann sein, dass er überlebt. Kann aber auch nicht sein.“

„Verstehe.“ Lucy stocherte an einem Rübchen herum und versuchte, die Tränen zurückzuhalten.

Ihr Vater schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Ha! Das war es, wovor ich dich gewarnt habe. Häng bloß nicht dein Herz an diesen Halunken!“

Ein leichtes Lächeln huschte um Lucys Lippen. „Wie willst du mir meine Gefühle verbieten?“, fragte sie sanft. „Wenn nicht einmal ich selbst dagegen ankomme.“

Papa runzelte finster die Stirn. „Sei bloß nicht traurig, wenn er heute Nacht abdankt.“

„Ich werde mein Bestes geben, nicht traurig zu sein, Papa“, versprach Lucy. Aber sie wusste, dass es dazu bereits zu spät war. Sollte der Mann in der Nacht sterben, würde sie am Morgen um ihn weinen – ganz gleich, was sie eben versprochen hatte.

Brummelnd widmete ihr Vater sich wieder seinem Essen. „Genug davon. Aber wenn er überlebt, dann lass dir eins gesagt sein.“ Er schaute von seinem Teller auf und richtete seinen meerblauen Blick auf sie. „Wenn er dir auch nur ein Haar krümmt, fliegt er in so hohem Bogen raus, dass er achtkant auf seinem Allerwertesten landet.“

2. Kapitel

Als Simon Iddesleigh, sechster Viscount Iddesleigh, die Augen aufschlug, wachte ein Engel an seinem Bett.

Er würde es für einen schrecklichen Traum gehalten haben – einen der vielen, die ihn jede Nacht heimsuchten – oder, schlimmer noch, dass er den Überfall nicht überlebt hatte und aus dieser Welt geradewegs in die flammenden Freuden der nächsten gestürzt war. Nur war er sich ziemlich sicher, dass es in der Hölle nicht nach Lavendel und frisch gestärktem Linnen roch, dass es dort überhaupt kein Linnen gab – auch keines, welches schon leicht verschlissen war – und auch keine weichen Daunenkissen und dass man dort weder Spatzen zwitschern noch luftige Vorhänge flattern hörte.

Und natürlich gab es in der Hölle auch keine Engel.

Simon betrachtete sie. Sein Engel war in schmuckloses Grau gekleidet, wie es sich für eine fromme Frau gehörte. Sie schrieb in ein großes Buch, den Blick konzentriert auf die Seite gerichtet, die geraden schwarzen Brauen leicht zusammengezogen. Ihr dunkles Haar war aus der hohen, blassen Stirn gekämmt und im Nacken zu einem schlichten Knoten gebunden. Während sie mit der Hand über die Seite fuhr, spitzte sie leicht die Lippen. Wahrscheinlich führte sie Buch über seine Sünden. Das Kratzen der Feder auf dem Papier hatte ihn geweckt.

Wenn Männer von Engeln sprachen – insbesondere wenn sie damit eigentlich Frauen meinten –, handelte es sich meist um eine sehr blumige Wendung. Sie dachten an blonde Wesen mit rosigen Wangen und roten, feucht schimmernden Lippen. Auch die törichten Putti italienischer Meister mit ihren leeren blauen Augen und pummeligen rosigen Leibern mochten einem einfallen. Doch beides war nicht die Art von Engel, die Simon vor sich sah. Nein, sein Engel war biblischer Natur – alttestamentarisch, um genau zu sein. Ein gestrenger und urteilender Engel, nicht ganz von dieser Welt. Ein Engel, der einen mit einem mitleidslosen Schnippen der Finger in ewige Verdammnis stürzte, statt mit gefiederten Schwingen durch die Lüfte zu schweben. Seinem Engel würde kein Makel seines Charakters entgehen. Simon seufzte.

Makel hatte er mehr als genug.

Der Engel musste sein Seufzen gehört haben. Sie sah auf und schaute ihn aus unergründlichen bernsteinbraunen Augen an. „Sind Sie wach?“

Er spürte ihren Blick auf sich, als hätte sie ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Und das beunruhigte ihn sehr.

Nicht, dass er sich davon etwas anmerken ließ. „Das kommt ganz darauf an, was man unter wach versteht“, erwiderte er krächzend. Allein die Bewegung seiner Lippen beim Sprechen ließ seinen Kopf fürchterlich schmerzen. Tatsächlich fühlte es sich an, als stünde sein ganzer Körper in Flammen. Er räusperte sich. „Ich schlafe nicht, doch war ich schon wacher. Sie haben nicht zufällig einen Kaffee, um den Prozess des Erwachens voranzutreiben?“ Er versuchte sich aufzusetzen und fand es weitaus anstrengender, als es sein sollte. Die Bettdecke rutschte ihm bis zum Bauch hinab.

Des Engels Blick folgte der Decke abwärts. Stirnrunzelnd betrachtete sie seinen entblößten Oberkörper. Und schon hatte er es sich bei ihr verscherzt.

„Kaffee haben wir leider nicht“, murmelte sie an seinen Bauchnabel gewandt. „Aber Tee.“

„Natürlich. Tee gibt es immer“, sagte Simon. „Dürfte ich Sie bitten, mir zu helfen, mich aufzusetzen? Flach auf dem Rücken liegend, fühlt man sich doch recht unterlegen, ganz zu schweigen davon, dass es keine gute Ausgangslage zum Teetrinken ist, es sei denn, man will ihn sich in die Ohren gießen.“

Zweifelnd sah sie ihn an. „Vielleicht sollte ich Hedge oder meinen Vater holen.“

„Ich verspreche Ihnen aufrichtig, nicht zu beißen.“ Simon legte sich die Hand aufs Herz. „Und spucken tue ich auch nur selten.“

Um ihre Lippen zuckte es.

Simon verharrte reglos. „Sie sind überhaupt kein Engel, oder?“

Eine dunkle Braue hob sich kaum merklich. Solch ein missbilligender Blick bei einer Unschuld vom Lande – wer hätte das gedacht? Ihre Miene würde jeder Duchess Ehre gemacht haben. „Ich bin Lucinda Craddock-Hayes. Und wer sind Sie?“

„Simon Matthew Raphael Iddesleigh – Viscount of Iddesleigh. Leider.“ Er deutete eine Verbeugung an, die ihm seiner Ansicht nach ziemlich gut glückte, wenn man bedachte, dass er noch immer rücklings hingestreckt lag.

Die Dame hingegen zeigte sich unbeeindruckt. „Sie sind Viscount Iddesleigh?“

„Betrüblicherweise.“

„Dann sind Sie also nicht von hier.“

„Hier meint …?“

„Maiden Hill in Kent.“

„Ah.“ Kent? Warum war er in Kent? Simon verrenkte sich den Hals bei dem Versuch, einen Blick aus dem Fenster zu werfen, aber die luftigen weißen Vorhänge versperrten ihm die Sicht.

Sie folgte seinem Blick. „Sie sind im Zimmer meines Bruders.“

„Wie nett von ihm“, murmelte Simon. Als er eben den Kopf gen Fenster gedreht hatte, hatte er gemerkt, dass damit etwas nicht stimmte. Vorsichtig tastete er nach seinem Kopf. Ah, ein Verband. Wahrscheinlich sah er damit wie ein Trottel aus. „Nun, ich muss gestehen, noch nie im bezaubernden Maiden Hill gewesen zu sein, wenngleich ich gewiss zu Recht annehme, dass die Landschaft ausgenommen lieblich und die Kirche ein architektonisches Kleinod ist.“

Wieder zuckte es ganz berückend um ihre vollen roten Lippen. „Wie konnten Sie das nur ahnen?“

„Die kleinen Städte auf dem Lande bergen stets ungeahnte Schätze.“ Er senkte den Blick – vorgeblich, um die Bettdecke etwas zurechtzurücken, tatsächlich, um der Versuchung dieser Lippen zu entkommen. Feigling. „Den Großteil meiner unnütz vertanen Zeit verbringe ich in London. Mein sträflich vernachlässigter Familiensitz liegt hoch oben im Norden, in Northumberland. Waren Sie schon mal in Northumberland?“

Sie schüttelte den Kopf. Ihre schönen bernsteinbraunen Augen waren mit irritierend festem Blick auf ihn gerichtet – fast wie ein Mann schaute sie einen an. Nur dass Simon sich noch nie vom Blick eines Mannes erregt gefühlt hatte.

Tadelnd schnalzte er mit der Zunge. „Sehr ländlich da oben. Deshalb dürfte das Anwesen wohl auch vernachlässigt sein. Man fragt sich wirklich, was genau seine Vorfahren sich dabei gedacht haben, sich so jenseits von Gut und Böse anzusiedeln. Nichts als Schafe und Nebel. Aber weil die Bruchbude schon seit Generationen in der Familie ist, dachte ich mir, kann ich sie auch behalten.“

„Wie gütig von Ihnen“, murmelte Miss Craddock-Hayes. „Nun frage ich mich allerdings, warum wir Sie ausgerechnet hier gefunden haben, wenn Sie noch nie in der Gegend waren?“

Ganz schön aufgeweckt, die Gute. Ließ sich von seinem Gerede nicht ablenken. Kluge Frauen machten einem nichts als Ärger. Weswegen er von ihr nicht so fasziniert sein sollte.

„Ich habe nicht den blassesten Schimmer.“ Simon sah sie mit großen Augen an. „Vielleicht hatte ich das Glück, von außergewöhnlich unternehmungslustigen Dieben überfallen worden zu sein, denen es nicht genügte, mich am Ort des Verbrechens meinem Schicksal zu überlassen, sondern die mich hierhergezaubert haben, damit ich auch mal ein bisschen von der Welt sehe.“

Sie schnaubte leise. „Mir kam es eher so vor, als hätten sie dafür sorgen wollen, dass Sie nie wieder etwas von der Welt sehen.“

„Mmmh. Das wäre wirklich sehr schade gewesen“, meinte er mit gespielter Unschuld. „Dann hätte ich Sie ja nicht mehr kennengelernt.“ Woraufhin Miss Craddock-Hayes eine gestrenge Braue hob und ansetzte, etwas zu erwidern – wahrscheinlich wollte sie erneut ihr inquisitorisches Talent an ihm erproben –, aber Simon kam ihr zuvor. „Sagten Sie nicht, es gäbe Tee? Vorhin äußerte ich mich abfällig darüber, aber gegen ein paar köstliche Tropfen Tee hätte ich wirklich nichts einzuwenden.“

Nun errötete sie. Ein rosiger Schimmer huschte über ihre weißen Wangen. Ah, eine überaus menschliche Schwäche. „Entschuldigen Sie, das hatte ich ganz vergessen. Warten Sie, ich helfe Ihnen, sich aufzusetzen.“

Sie legte ihre kleinen kühlen Hände auf seine Arme – eine beunruhigend sinnliche Berührung, wie er fand –, und mit vereinter Anstrengung schafften sie es, ihn aufzurichten. Bis es so weit war, rang Simon keuchend nach Atem, und das keineswegs nur ihretwegen. Kleine Teufelchen – oder in seinem Fall wohl eher erzürnte Heilige – malträtierten seine Schulter, bohrten ihm rotglühende Pfeile ins Fleisch. Kurz musste er die Augen schließen und öffnete sie erst wieder, als ihm eine dampfende Tasse Tee unter die Nase gehalten wurde. Als er die Hand danach ausstreckte, hielt er jäh inne und starrte auf seine rechte Hand. Sein Siegelring war verschwunden. Sie hatten seinen Ring gestohlen!

Miss Craddock-Hayes musste den Grund seines Zögerns missverstanden haben. „Der Tee ist soeben frisch aufgebrüht worden.“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen.“ Seine Stimme klang erschreckend schwach. Seine Hand zitterte, während er die Tasse entgegennahm, der vertraute Klang des Rings fehlte, als er die Finger darum schloss. Seit Ethans Tod hatte er ihn keinen Augenblick abgenommen. „Verdammt.“

„Lassen Sie nur. Ich halte sie Ihnen.“ Sie sprach sanft und leise, ihr Ton war vertraulich, wenngleich sie sich dessen bestimmt nicht bewusst war. Auf dieser Stimme wollte er sich zur Ruhe betten, sich tragen lassen, davonschweben und all seine Sorgen vergessen.

Eine gefährliche Frau.

Simon trank den lauwarmen Tee. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, einen Brief für mich zu schreiben?“

„Natürlich nicht.“ Sie stellte die Tasse ab und zog sich in die sichere Entfernung ihres Stuhles zurück. „Wem soll ich denn schreiben?“

Er überlegte kurz. „Am besten meinem Kammerdiener. Wenn ich meinen Bekannten von diesem Vorfall berichtete, würde ich mich zum Gespött machen.“

„Gewiss. Und das wollen wir natürlich nicht.“ Leises Lachen schwang in ihrer Stimme mit.

Scharf sah er sie an, doch sie erwiderte seinen Blick arglos aus großen Augen. „Freut mich, dass Sie meine prekäre Lage so gut verstehen“, sagte er trocken. Tatsächlich machte er sich eher Sorgen, dass seine Feinde erfahren könnten, dass er noch lebte. „Mein Kammerdiener soll mir ein paar frische Kleider, ein Pferd und Geld bringen.“

Sie legte ihr aufgeschlagenes Buch beiseite. „Und sein Name?“

Simon legte den Kopf schräg, doch von hier aus konnte er nicht sehen, was in dem Buch stand. „Henry. Cross Road Nummer 207, London. Was haben Sie da vorhin geschrieben?“

„Wie bitte?“, fragte sie, ohne aufzusehen.

Sehr irritierend. „In Ihrem Buch. Was haben Sie da vorhin geschrieben?“

Sie ließ den Stift reglos über dem angefangenen Brief verharren, den Kopf noch immer gesenkt.

Simon versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, obschon seine Neugier beständig zunahm.

Schweigend schrieb sie die Adresse fertig, der Bleistift kratzte leise über das Papier. Dann legte sie beides beiseite und schaute ihn an. „Ich habe nicht geschrieben, ich habe gezeichnet.“ Sie griff nach ihrem Buch und legte es ihm aufgeschlagen in den Schoß.

Die linke Seite war übersät mit kleineren und größeren Skizzen: ein kleines, gebeugtes Männchen, das einen Korb trug, ein Baum mit kahlen Ästen, ein morsches Holztor, das schief in den Angeln hing. Die rechte Seite wurde von einer einzigen Zeichnung eingenommen und zeigte einen schlafenden Mann – ihn. Und keineswegs in seiner vorteilhaftesten Verfassung, mit diesem albernen Kopfverband und rücklings schlummernd hingestreckt. Zu wissen, dass sie ihn beim Schlafen beobachtet hatte, bereitete ihm ein komisches Gefühl.

„Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen“, sagte sie.

„Keineswegs. Immer schön, wenn man sich nützlich machen kann.“ Simon blätterte eine Seite zurück. Einige der Skizzen waren leicht aquarelliert worden. „Die sind gut“, stellte er fest.

„Danke.“

Simon musste über ihre Erwiderung schmunzeln. Die meisten Damen wehrten bescheiden ab, wenn man ihnen ein Kompliment hinsichtlich ihrer Fähigkeiten machte. Miss Craddock-Hayes war sich ihres Talents bewusst. Sehr interessant. Er blätterte weiter.

„Was ist das?“ Er zeigte auf ein paar Skizzen eines Baumes im Laufe der Jahreszeiten.

Wieder huschte ein rosiger Schimmer über ihre Wangen. „Entwürfe für ein kleines Gebetbuch, dass ich Mrs. Hardy aus dem Dorf zu ihrem Geburtstag schenken will.“

„Machen Sie so was öfter?“ Fasziniert blätterte er weiter. Das waren nicht die blassen, blutleeren Zeichnungen einer gelangweilten Dame, die nicht wusste, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollte. Ihre Skizzen wirkten handfest und lebendig. „Bücher illustrieren, meine ich.“ Fieberhaft dachte er nach.

„Gelegentlich“, meinte sie achselzuckend. „Aber nur für Freunde und dergleichen.“

„Dann könnte ich vielleicht ein Werk in Auftrag geben?“ Als er aufsah, wollte sie gerade etwas erwidern, doch er fuhr rasch fort, ehe sie ihn darauf hinweisen konnte, dass er nicht unbedingt in die Kategorie Freunde fiele. „Ein Buch für meine Nichte.“

Sie schloss ihren Mund wieder und hob stattdessen die Brauen. Schweigend wartete sie, dass er weitersprach.

„Natürlich nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht, einem verwundeten Mann einen Gefallen zu tun.“ Schamlos, absolut schamlos. Aber aus irgendeinem Grund konnte er der Versuchung nicht widerstehen.

„Was für ein Buch?“

„Oh, vielleicht ein Märchenbuch. Was meinen Sie?“

Schweigend nahm sie ihm ihr Buch ab, legte es sich auf den Schoß, schlug bedächtig eine neue Seite auf. Dann schaute sie ihn an. „Ich höre.“

Herrje, jetzt steckte er aber in der Klemme. Zugleich hätte er am liebsten lauthals gelacht, denn so leicht war ihm seit Jahren nicht mehr ums Herz gewesen. Simon schaute sich rasch im Zimmer um. Sein Blick fiel auf eine kleine gerahmte Seekarte an der gegenüberliegenden Wand. Seeschlangen rankten sich um den Rand des Drucks. Lächelnd schaute er Miss Craddock-Hayes an. „Das Märchen vom Schlangenprinz.“

Ihr Blick senkte sich auf seine Lippen, hob sich dann hastig wieder zu seinen Augen. Sein Lächeln wurde zu einem Strahlen. Ah, frohlockte er, selbst ein Engel konnte in Versuchung geraten!

Doch sie schaute ihn nur mit fragend gehobener Braue an. „Das kenne ich nicht.“

„Das überrascht mich aber“, log er frohgemut. „Als Kind war es eines meiner Lieblingsmärchen. Weckt noch immer schöne Erinnerungen daran, wie meine Amme mich vor dem Feuer auf den Knien schaukelte, während sie uns Geschichten erzählte.“ Er setzte eine sinnige Miene auf. Das ließ sich doch ganz gut an.

Sie betrachtete ihn zweifelnd.

„Lassen Sie mich überlegen.“ Simon unterdrückte ein Gähnen. Der Schmerz in seiner Schulter war zu einem dumpfen Pochen verebbt, aber als gälte es, das wettzumachen, tat ihm sein Kopf umso mehr weh. „Es war einmal … So fängt es ja immer an, oder?“

Von der Dame war offensichtlich keine Hilfe zu erwarten. Sie lehnte sich zurück und wartete seelenruhig ab, wie er sich zum Narren machte.

„Es war einmal ein junges Mädchen, das des Königs Ziegen hütete und kaum genug zum Leben hatte. Sie war eine Waise und hatte niemanden auf dieser Welt – außer natürlich den Ziegen, die jedoch recht streng rochen.“

„Ziegen?“

„Ziegen. Der König hatte eine Schwäche für Ziegenkäse. Doch nun schweig still, mein Kind, wenn ich weitererzählen soll.“ Simon legte den Kopf zurück, er schmerzte höllisch. „Ich glaube, sie hieß Angelica, wenn Sie es ganz genau wissen möchten – die arme Ziegenmagd, meine ich.“

Diesmal nickte sie nur. Mittlerweile hatte sie nach einem Bleistift gegriffen und angefangen, in ihr Buch zu zeichnen. Allerdings konnte er nicht sehen, was sie da zeichnete, weshalb er nicht wusste, ob sie tatsächlich seine Geschichte illustrierte oder sich nur die Langeweile vertrieb.

„Tagein, tagaus, vom ersten Morgengrauen bis nach Sonnenuntergang, ging Angelica ihrem mühseligen Tagwerk nach, und niemand außer den Ziegen war da, ihr Gesellschaft zu leisten. Das Schloss des Königs stand hoch oben auf einer Klippe, und die arme Ziegenmagd lebte am Fuße der Klippen in einer kleinen Holzhütte. Wenn sie den Kopf ganz weit zurücklegte und an den steilen, steilen Klippen hinaufsah, konnte sie die schimmernden weißen Mauern des Schlosses sehen, seine spitzen Türmchen und die Hofgesellschaft in ihren feinen, funkelnden Gewändern. Ab und an erhaschte sie auch einen Blick auf den Prinzen.“

„Den Schlangenprinzen?“

„Nein.“

Sie neigte den Kopf leicht zur Seite, nahm den Blick aber nicht von ihrer Zeichnung. „Warum heißt das Märchen dann Der Schlangenprinz, wenn er gar nicht der Schlangenprinz ist?“

„Der Schlangenprinz kommt später. Sind Sie immer so ungeduldig?“, fragte er streng.

Nun schaute sie doch auf, ein feines Lächeln spielte um ihre Lippen. Simon war wie vom Blitz gerührt, alle Gedanken waren vergessen. Um ihre wunderbaren bernsteinbraunen Augen kräuselten sich kleine Fältchen, ein winziges Grübchen erschien in ihrer linken Wange. Sie schien von innen zu leuchten. Miss Craddock-Hayes war wirklich ein Engel. Simon verspürte den drängenden, fast schon überwältigenden Wunsch, ihr das Grübchen mit dem Daumen von der Wange zu streifen, ihr Gesicht mit beiden Händen zu umfassen und ihr Lächeln zu kosten.

Er schloss die Augen. Nein. Nein, das wollte er nicht.

„Entschuldigen Sie“, hörte er sie sagen. „Ich werde Sie nicht mehr unterbrechen.“

„Schon gut. Ich fürchte nur, dass mein Kopf ein wenig schmerzt. Könnte daran liegen, dass ich mir kürzlich den Schädel habe einschlagen lassen.“ Simon verstummte jäh, als ihm ein Gedanke kam. „Wann genau wurde ich gefunden?“

„Vor zwei Tagen.“ Sie klappte ihr Buch zusammen, stand auf und sammelte ihre Stifte ein. „Dann lasse ich Sie lieber allein, damit Sie sich ein wenig ausruhen können. In der Zwischenzeit werde ich den Brief an Ihren Kammerdiener schreiben und losschicken. Es sei denn, Sie möchten ihn vorher lesen?“

„Nein, nein, ich bin mir sicher, dass Sie das ganz hervorragend machen.“ Simon ließ sich in die Kissen sinken, die unberingte Hand auf der Bettdecke. Betont beiläufig fragte er: „Wo sind eigentlich meine Kleider?“

Schon auf halbem Wege aus dem Zimmer blieb sie stehen und warf ihm über die Schulter einen unergründlichen Blick zu. „Sie hatten keine an, als ich Sie fand.“ Leise schloss sie die Tür hinter sich.

Simon blinzelte. Meist bedurfte es mindestens zweier Begegnungen mit einer Dame, ehe er seiner Kleider verlustig ging.

„Der Vikar ist hier, um Sie abzuholen, Miss“, sagte Miss Brodie, als sie am nächsten Morgen ihren Kopf zur Wohnstube hereinsteckte.

Lucy saß auf einem mit blauem Damast bezogenen Sofa und stopfte eine von Papas Socken. Seufzend sah sie zur Decke auf und überlegte, ob der Viscount ihren Besucher wohl hatte kommen hören. Allerdings wusste sie nicht einmal, ob er bereits wach war, denn sie hatte ihn heute noch nicht gesehen. Seine grauen Augen, die so wach und lebendig waren und stets ein wenig belustigt schauten, hatten sie gestern ziemlich aufgewühlt. Sie war es nicht gewohnt, aufgewühlt zu sein, und es war keine erfreuliche Erfahrung. Daher hatte sie ihn auch ganz feige gemieden, seit sie das Zimmer verlassen hatte, um den Brief an seinen Kammerdiener zu schreiben.

Bedächtig legte sie ihr Stopfzeug beiseite. „Danke, Mrs. Brodie.“

Die Haushälterin zwinkerte ihr kurz zu, ehe sie in die Küche zurückeilte, und Lucy stand auf, um ihren Besucher zu begrüßen. „Guten Morgen, Eustace.“

Eustace Penweeble, Pfarrer der kleinen Kirche von Maiden Hill, neigte höflich den Kopf, wie er es seit drei Jahren jeden Dienstag tat – sofern nicht ein Feiertag oder schlechtes Wetter ihn von seinen Fahrten abhielten. Er lächelte schüchtern und drehte seinen Dreispitz in den großen, geschickten Händen. „Es ist herrliches Wetter. Würdest du mich begleiten wollen, während ich meine Runde mache?“

„Eine wunderbare Idee.“

„Gut, sehr gut“, erwiderte er.

Eine braune Haarlocke, die sich aus seinem Zopf gelöst hatte, fiel ihm in die Stirn und ließ ihn wie einen groß geratenen kleinen Jungen wirken. Er musste die kurze, gepuderte Perücke, die seinem Stand angemessen wäre, wieder mal vergessen haben. Auch gut, dachte Lucy, fand sie doch, dass er ohne sie sowieso besser aussah. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, nahm ihren Umhang und ging Eustace voran aus dem Haus.

Es war tatsächlich ein herrlicher Tag. Die Sonne schien so hell, dass Lucy schier geblendet war, als sie auf den ausgetretenen Granitstufen vor dem Haus stand. Die alten orangeroten Backsteine von Craddock-Hayes-House glühten warm, in den Fenstern spiegelte sich das Licht und ließ das Haus geradezu leuchten. Alte Eichen säumten die kiesbestreute Auffahrt. Sie waren nur noch spärlich belaubt, und die kahlen Äste und Zweige ragten pittoresk in den klaren blauen Himmel. Eustaces Gespann stand bei der Tür bereit, Hedge hielt das Pferd am Zügel.

„Dürfte ich dir behilflich sein?“, fragte Eustace so höflich, als fürchte er, sie könne sein Angebot ausschlagen.

Lucy legte ihre Hand in seine.

Hedge verdrehte die Augen und brummelte leise vor sich hin. „Immer dasselbe – jeden verdammten Dienstag. Warum nicht Donnerstag oder Freitag, Herrgott noch mal?“

Eustace runzelte pikiert die Stirn.

„Danke.“ Lucy versuchte, den grantigen Diener zu übertönen und Eustaces Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken, indem sie sich umständlich zurechtsetzte.

Der Pfarrer nahm neben ihr Platz und griff nach den Zügeln. Kopfschüttelnd verzog Hedge sich ins Haus.

„Ich dachte mir, wir könnten kurz bei der Kirche vorbeifahren – natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast.“ Eustace schnalzte mit der Zunge, und das Pferd setzte sich in Bewegung. „Der Küster wies mich darauf hin, dass im Dach über der Sakristei ein Leck sein könne. Ich wüsste gern, was du dazu sagst.“

Lucy verkniff sich gerade noch ihr übliches Das wäre wunderbar und lächelte stattdessen. Sie fuhren die Auffahrt hinab und auf den Fuhrweg, auf dem sie vor drei Tagen den Viscount gefunden hatte. Heute Morgen sah hier alles ganz harmlos und fast idyllisch aus. Auch die kahlen Bäume wirkten nicht mehr unheimlich oder bedrohlich. Sie erklommen eine kleine Anhöhe. In der Ferne schlängelten sich Bruchsteinmauern über die grasbewachsenen Kalksteinhügel.

Eustace räusperte sich. „Wie ich hörte, hast du kürzlich Mistress Hardy besucht?“

„Ja“, erwiderte Lucy und wandte sich ihm höflich zu. „Ich habe ihr etwas Kalbsfußsülze gebracht.“

„Und wie ging es ihr? Ist ihr Knöchel nach dem Sturz wieder gut verheilt?“

„Sie hatte den Fuß noch hochgelegt, aber es ging ihr immerhin so gut, dass sie an der Sülze herumschimpfen konnte und meinte, ihre würde immer viel besser schmecken.“

„Ah ja, das ist gut. Wenn sie schon wieder am Schimpfen ist, befindet sie sich auf dem Weg der Besserung.“

„Genau das dachte ich mir auch.“

Als Eustace sie anlächelte, sah sie feine Lachfältchen um seine warmen kaffeebraunen Augen. „Du bist mir eine große Hilfe, weil du bei den Dorfbewohnern ein bisschen nach dem Rechten schaust.“

Lucy nickte und hielt ihr Gesicht in den Wind. Eustace machte häufig derlei Bemerkungen. In der Vergangenheit waren sie ihr tröstlich und ermutigend erschienen, wenngleich etwas langweilig. Heute jedoch ließen seine Worte sie leicht gereizt werden, und sie wünschte, er rede nicht immer dasselbe daher.

Aber Eustace fuhr unverdrossen fort: „Es wäre schön, wenn auch andere Damen unseres Dorfes so wohltätig wären.“

„Was meinst du damit?“

Das Blut schoss ihm heiß in die Wangen. „Nun, deine Freundin Miss McCullough beispielsweise. Mir scheint, sie bringt ihre ganze Zeit mit Klatsch und Tratsch zu.“

Lucy runzelte irritiert die Stirn. „Patricia plaudert in der Tat recht gern, aber im Grunde ist sie herzensgut.“

„Nun, wenn du das sagst, will ich es mal glauben“, sagte er wenig überzeugt.

Eine Kuhherde versperrte den Weg und muhte das nahende Gespann empört an. Eustace fuhr langsamer und wartete, bis der Kuhhirte seine Herde von der Straße auf die angrenzende Weide getrieben hatte.

Als er sein Pferd wieder antraben ließ, winkte er dem Mann im Vorbeifahren zu. „Wie ich hörte, hast du kürzlich ein kleines Abenteuer erlebt.“

Das überraschte Lucy wenig. Wahrscheinlich hatte ganz Maiden Hill noch am selben Abend davon erfahren, als Hedge Dr. Fremont zu Hilfe geholt hatte. „Allerdings. Dort drüben war es, wo wir den Mann gefunden haben.“ Sie zeigte ein kleines Stück voraus an den Wegesrand. Es lief ihr eiskalt den Rücken hinab, als sie die Stelle passierten, wo sie den Viscount so nahe dem Tode gefunden hatte.

Pflichtschuldigst schaute Eustace in den Graben. „In Zukunft solltest du vorsichtiger sein. Wer weiß, wer der Bursche ist. Er hätte dir etwas antun können.“

„Er war bewusstlos“, stellte Lucy geduldig klar.

„Trotzdem. Du solltest nicht ganz allein hier draußen herumspazieren.“ Lächelnd sah er sie an und fügte hinzu: „Was sollte ich ohne dich tun?“

Für wie töricht hielt Eustace sie eigentlich? Sie versuchte, sich ihren Verdruss nicht anmerken zu lassen. „Mr. Hedge hat mich begleitet.“

„Gewiss, gewiss. Aber Hedge ist weder der Größte noch der Jüngste.“

Schweigend sah Lucy ihn an.

„Ja, ähm … denk in Zukunft einfach nur daran.“ Wieder räusperte er sich. „Weißt du mittlerweile schon, wen du da gefunden hast?“

„Er ist gestern zu sich gekommen“, sagte Lucy vorsichtig. „Sein Name sei Simon Iddesleigh, sagt er. Er ist ein Viscount.“

Eustace zog an den Zügeln. Das Pferd, eine schon etwas in die Jahre gekommene Grauschimmelstute, schnaubte und schüttelte den Kopf. „Ein Viscount? Was du nicht sagst. Wahrscheinlich ein von Gicht geplagter alter Herr.“

Sie musste an seine wachen, flinken Augen und seine noch flinkere Zunge denken. Und an seinen nackten Oberkörper, als die Bettdecke herabgerutscht war. Die Haut des Viscounts war makellos glatt, spannte sich über straffen Muskeln. Seine Brustwarzen waren von einem dunkleren Braun und hatten sich deutlich von seiner blassen Haut abgehoben. Nein, was dachte sie da nur! Derlei hätte sie überhaupt nicht bemerken dürfen.

Nun war es Lucy, die sich räusperte und ihren Blick starr nach vorn richtete. „Ich denke nicht, dass er wesentlich älter als dreißig ist.“

Sie spürte Eustaces prüfenden Blick auf sich. „Dreißig. Soso. Aber ein Viscount, immerhin. Ganz schön fehl am Platze hier in Maiden Hill, meinst du nicht auch?“

Was sollte das denn heißen? „Gewiss“, erwiderte sie unverbindlich.

„Ich wüsste gern, was er überhaupt hier wollte.“

Mittlerweile hatten sie die Hauptstraße von Maiden Hill erreicht, und Lucy nickte zwei alten Damen zu, die mit dem Bäcker feilschten. „Das weiß ich auch nicht.“

Die beiden Damen lächelten und winkten ihnen zu. Kaum waren sie vorbeigefahren, steckten sie die grauen Köpfe zusammen und tuschelten.

„Hmmm. Gut, hier wären wir.“ Eustace hielt den Wagen neben der kleinen normannischen Kirche an und sprang hinab. Rasch lief er um das Gespann herum und war ihr beim Aussteigen behilflich. „So. Der Küster meinte, das Leck wäre im Längsschiff, nahe der Sakristei …“ Mit langen Schritten steuerte er die rückwärtige Seite der Kirche an, erörterte ihren Grundriss und überlegte laut, welcher Reparaturen es demnächst bedurfte.

All das hörte Lucy nicht zum ersten Mal. In den drei Jahren, da er ihr schon den Hof machte, hatte Eustace sie häufig hierhergebracht – vielleicht weil er sich hier auf sicherem Boden fühlte. Sie schlenderte hinter ihm her und hörte mit halbem Ohr zu. Dabei versuchte sie sich vorzustellen, wie der süffisante Viscount stundenlang über ein Dach schwadronierte, noch dazu ein Kirchendach. Sie verzog peinlich berührt das Gesicht, wenn sie sich vorstellte, was er dazu zu sagen hätte – gewiss wäre es spöttischer Natur. Was nicht heißen sollte, dass die wahrscheinliche Reaktion des Viscounts auf Eustaces Ausführungen die Reparatur des Kirchendachs weniger wichtigmachte. Jemand musste sich ja schließlich darum kümmern. Und in einem kleinen Städtchen wie Maiden Hill war ein reparaturbedürftiges Kirchendach eine Angelegenheit von großer Bedeutung.

Vermutlich verbrachte der Viscount seine Tage – und seine Nächte – in Gesellschaft von Damen, die waren wie er. Geistreich und ein bisschen frivol. Damen, deren einzige Sorge es war, wie sie ihre Kleider aufputzen und ihr Haar frisieren lassen sollten. Für solche Menschen gab es in ihrer Welt herzlich wenig Verwendung. Und doch … Das Geplauder des Viscounts war sehr unterhaltsam gewesen. Seine kleinen, gewitzten Sticheleien hatten sie sich auf einmal viel wacher und lebendiger fühlen lassen, als ob ihr Verstand Funken gefangen hätte und nun hell strahlte.

„Lass uns mal schauen, wie es drinnen aussieht. Nicht, dass durch das Leck der Schimmel an den Wänden noch schlimmer geworden ist.“ Eustace wandte sich um und trat in die Kirche. Als sie ihm nicht sogleich folgte, streckte er den Kopf wieder hinaus. „Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast.“

„Nein, natürlich nicht“, sagte Lucy. „Ich komme gleich.“

Eustace schmunzelte. „So ist’s recht.“ Damit verschwand er wieder nach drinnen.

Langsam folgte Lucy ihm und fuhr mit den Händen über die verwitterten Grabsteine im Kirchhof. Die Kirche von Maiden Hill war bald nach der normannischen Eroberung erbaut worden. Ihre eigenen Vorfahren waren noch nicht ganz so lange hier, aber die Gebeine zahlreicher Craddock-Hayes’ hatten in dem kleinen Mausoleum in der Ecke des Friedhofs ihre letzte Ruhe gefunden. Als kleines Mädchen hatte sie nach dem sonntäglichen Kirchgang gerne auf dem Friedhof gespielt. Ihre Eltern hatten sich in Maiden Hill kennengelernt und ihr ganzes Leben hier verbracht – zumindest Mama. Papa war als Kapitän zur See gefahren und hatte viel von der Welt gesehen, wie er jeden gerne wissen ließ, der von seinen Abenteuern hören wollte. Auch ihr Bruder David war Seemann. Jetzt gerade war er wieder auf hoher See, fuhr vielleicht bald in einen fernen Hafen ein. Einen Augenblick lang verspürte Lucy einen Anflug von Neid. Wie herrlich musste es sein, selbst über sein Leben zu bestimmen, frei darüber entscheiden zu können, ob man lieber Arzt oder Künstler werden oder aber zur See fahren wollte. Sie könnte sich vorstellen, dass sie einen ganz passablen Seemann abgeben würde. Wenn sie an Deck stünde, der Wind ihr das Haar zauste, wenn über ihr die Segel sich blähten, die Schiffsbohlen unter ihr knarrten …

Eustace schaute wieder hinter der Kirchentür hervor. „Kommst du?“

Lucy blinzelte und rang sich ein Lächeln ab. „Ja, natürlich.“

Simon streckte seinen rechten Arm auf Schulterhöhe aus und hob ihn sehr vorsichtig an. Flammender Schmerz schoss ihm in die Schulter und hinab in den Arm. Verdammt. Es war einen Tag her, da er beim Aufwachen Miss Craddock-Hayes an seinem Bett vorgefunden hatte – und seitdem hatte er sie nicht mehr gesehen. Ein Umstand, der ihn zutiefst beunruhigte. Ging sie ihm etwa aus dem Weg? Oder schlimmer noch – verspürte sie schlicht keine Lust, ihn wieder zu besuchen? Vielleicht hatte er sie ja gelangweilt.

Ein beschämender Gedanke, der ihn recht verdrießlich stimmte. Seinem Kopf ging es heute besser, auch den albernen Verband hatte man ihm abgenommen, aber sein Rücken fühlte sich noch immer an, als stünde er in Flammen. Langsam ließ Simon seinen Arm wieder sinken und atmete tief durch, bis der Schmerz nur noch als dumpfes Pochen zu spüren war. Wenig erfreut betrachtete er seinen Arm. Der Hemdsärmel war auch zu kurz. Zwischen Manschette und Handgelenk ragte mehr als eine Handbreit Arm heraus. Das rührte daher, dass er ein Hemd von David trug, dem derzeit abwesenden Bruder des Engels. Der Länge des Kleidungsstücks nach zu urteilen, die es höchst peinlich machte aufzustehen, war der Bruder ein Zwerg.

Seufzend schaute Simon sich im Zimmer um. Vor dem einzigen Fenster war bereits die Nacht hereingebrochen. Der Raum war gerade groß genug für das Bett – welches für seinen Geschmack viel zu schmal war –, einen Schrank, eine Kommode, einen Tisch und zwei Stühle. Das war alles. Nach seinen Maßstäben spartanisch eingerichtet, aber kein schlechter Ort, um zu genesen – zumal wenn einem keine andere Wahl blieb. Das Feuer erstarb gerade, was den Raum empfindlich kühl machte. Doch die Kälte war seine geringste Sorge. Er brauchte seinen rechten Arm, um den Degen zu halten. Ihn nicht nur zu halten, sondern ihn zu führen, zu parieren, zu ripostieren. Und zu töten.

Das vor allem.

Seinen Feinden mochte es nicht gelungen sein, ihn umzubringen, aber seinen rechten Arm hatten sie erfolgreich aus dem Verkehr gezogen, zumindest für eine Weile – vielleicht für immer. Nicht, dass ihn das von seiner Mission abhalten würde. Schließlich hatten sie seinen Bruder umgebracht. Nur der Tod könnte seinem Rachefeldzug ein Ende setzen. Aber beim nächsten Angriff müsste er sich wieder verteidigen können. Simon biss die Zähne zusammen und hob den Arm erneut an. Es schmerzte höllisch. Und letzte Nacht hatte er wieder von den Fingern geträumt. Finger, die wie blutige Butterblümchen zu Pellers Füßen im Gras erblühten. Im Traum hatte Peller versucht, seine Finger aufzusammeln, war mit seinen verstümmelten Händen tastend durch das Gras gekrochen …

Die Tür ging auf, und herein kam sein Engel, ein Tablett in den Händen. Dankbar drehte Simon sich nach ihr um, froh, dass er den Bildern in seinem Kopf entfliehen konnte. Wie schon am Tag zuvor war sie in das schlichte Grau einer Nonne gekleidet, das dunkle Haar zu einem einfachen Knoten im Nacken zusammengefasst. Wahrscheinlich ahnte sie nicht einmal, wie verführerisch der entblößte Nacken einer Frau war. Er sah feinste Haarsträhnen, die sich in ihrem Nacken lockten, und den sanft geschwungenen Ansatz ihrer weißen Schultern. Ihre Haut wäre weich und verletzlich, und wenn er sie mit seinen Lippen berührte – dort, wo Hals und Schultern sich trafen –, würde sie erschaudern. Bei dem Gedanken konnte er nicht anders, als entrückt zu lächeln.

Streng schaute sie ihn an und runzelte die Stirn. „Muss das sein?“

Vermutlich meinte sie seine sportiven Übungen. „Wahrscheinlich nicht.“ Er ließ seinen Arm sinken. Diesmal fühlte es sich an, als würden tausend Wespen zustechen.

„Dann sollten Sie lieber damit aufhören und etwas essen.“ Sie stellte das Tablett auf dem Tisch neben dem Bett ab, ging zum Kamin und schürte das Feuer, kam mit einem glimmenden Span zurück und zündete die Kerzen an.

Er streckte seine Hand nach dem Tablett aus. „Ah. Was für Köstlichkeiten haben wir denn da? Ein Schälchen Milchbrei? Eine Tasse Rinderbrühe?“ Damit war er zumindest die letzten beiden Tage verköstigt worden. Sogar trocken Brot schien ihm mittlerweile eine verlockende Delikatesse.

„Nein, ein Stück von Mrs. Brodies Rindfleischpastete mit Nierchen.“

Vor Überraschung ließ er den Arm so rasch sinken, dass er sich ein gequältes Stöhnen verkneifen musste. „Wirklich?“

„Ja, und jetzt hören Sie endlich auf, mit Ihrem Arm herumzufuchteln.“

Mit spöttischer Miene neigte er das Haupt. „Ganz wie die Dame wünschen.“

Mit gehobener Braue sah sie ihn an und enthielt sich jeden Kommentars. Simon schaute ihr dabei zu, wie sie den Teller aufdeckte. Gelobt seien alle Heiligen! Die Dame hatte tatsächlich nicht zu viel versprochen. Auf dem Teller lag eine ansehnliche Scheibe Fleischpastete.

„Gesegnet sollen Sie sein.“ Er brach ein knuspriges Stückchen vom Rand ab und wäre fast in Tränen ausgebrochen, als es seine Zunge berührte. „Göttlich, absolut göttlich. Bitte richten Sie der Köchin aus, dass ich sie anbete und vor Kummer sterben werde, wenn sie nicht auf der Stelle mit mir durchbrennt.“

„Ich werde ihr sagen, dass die Pastete Ihnen sehr gut geschmeckt hat.“ Sie reichte ihm den Teller.

Er stellte ihn sich auf den Schoß. „Sie weigern sich, meinen Heiratsantrag zu überbringen?“

„Von Heirat war nicht die Rede. Es klang eher so, als wollten Sie der armen Mrs. Brodie Schande bereiten.“

„Die Liebe meines Lebens heißt Mrs. Brodie?“

„Ja, weil sie nämlich mit Mr. Brodie verheiratet ist, der sich derzeit auf See befindet.“ Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und schaute ihn an. „Vielleicht interessiert es Sie ja zu erfahren, dass er als stärkster Mann von ganz Maiden Hill gilt.“

„Was Sie nicht sagen. Und gehe ich recht in der Annahme, dass Sie mit dieser Bemerkung meine Manneskraft in Zweifel ziehen wollen?“

Kurz ließ sie ihren Blick über ihn schweifen. Sogleich ging sein Atem rascher als zuvor.

„Nun, derzeit liegen Sie zumindest mit beinah tödlichen Verletzungen danieder“, murmelte sie.

„Ein zu vernachlässigendes Detail“, meinte er leichthin.

„Keineswegs.“

„Hmmm.“ Er nahm ein Stück Pastete auf die Gabel. „Sollte es dazu nicht Wein geben?“

Sie bedachte ihn mit tadelndem Blick. „Vorerst Wasser.“

„Natürlich. Meine Hoffnung war vermessen.“ Er schluckte den ersten köstlichen Bissen herunter. „Lautet ein weiser Rat nicht, sich mit dem zu bescheiden, was man hat? So will ich es versuchen.“

„Daran tun Sie gewiss gut“, erwiderte sie trocken. „Gibt es einen bestimmten Grund, weswegen Sie Ihren Arm so quälen?“

Er wich ihren bernsteinbraunen Augen aus. „Langeweile, fürchte ich. Nichts als Langeweile.“

„Wirklich?“

Ihr konnte man nicht so leicht etwas vormachen, das hätte er sich denken können. Zeit für ein kleines Ablenkungsmanöver. „Besonders weit bin ich mit meinem Märchen gestern Abend ja nicht gekommen“, meinte er und lächelte charmant.

„Haben Sie wirklich eine Nichte?“

„Natürlich. Halten Sie es etwa für möglich, dass ich Sie anlüge?“

„Ehrlich gesagt, ja. Und Sie machen auf mich auch nicht gerade den Eindruck eines Mannes, der sich rührend um seine Nichten und Neffen kümmert.“

„Ah ja. Und welchen Eindruck mache ich auf Sie?“, fragte er, ohne nachzudenken.

Sie legte den Kopf schräg. „Den Eindruck eines Mannes, der sich sehr anstrengt, seine Seele zu verbergen.“

Du liebe Güte. Was sollte er denn darauf erwidern?

Ihre Mundwinkel zuckten in jener berückenden Manier, die ihm bereits gestern aufgefallen war. „Mylord?“

Er räusperte sich. „Ja, wo war ich denn gestern stehen geblieben mit meinem kleinen Märchen?“ Was für ein Feigling er war! Wo war er nur hin, sein Mut? „Die arme Ziegenmagd Angelica, das weiße Schloss und …“

„Der Prinz, der nicht der Schlangenprinz war.“ Sie gab sich geschlagen und griff nach einem Kohlestift. Diesmal hatte sie ein anderes Buch mitgebracht. Es war saphirblau gebunden. Sie schlug es auf und sah ihn gespannt an.

Erleichterung überkam ihn, weil sie es dabei belassen und nicht beharrlich nachgefragt hatte, weil sie nicht herausfinden würde, was ihn umtrieb – zumindest nicht so bald. Wenn er Glück hatte, würde sie es nie herausfinden.

Zwischen zwei Bissen Pastete begann er zu erzählen. „Gut. Der Prinz, der nicht der Schlangenprinz war. Ich muss wohl kaum erwähnen, dass dieser Prinz ausgesprochen nobel und gut aussehend war, mit goldenen Locken und himmelblauen Augen. Er war fast ebenso schön wie Angelica, deren nachtschwarzes Haar ebenso dunkel schimmerte wie der Sternenhimmel und deren Augen so golden wie Sirup waren.“

„Wie Sirup?“, fragte sie ungläubig und mit tonloser Stimme, doch um ihre Lippen huschte ein Lächeln.

Oh, wie sehr er sich wünschte, sie zum Lächeln zu bringen! „Mmmh, ja. Sirup“, sagte er versonnen. „Ist Ihnen noch nie aufgefallen, wie golden Sirup schimmert, wenn das Licht hindurchscheint?“

„Mir ist nur aufgefallen, wie sehr er klebt.“

Diese Bemerkung überhörte er geflissentlich. „Obwohl die arme Angelica so schön wie ein Stern am Firmament war, gab es niemanden, der ihre Schönheit bemerkt hätte, denn sie hatte niemanden auf der Welt als die Ziegen. Weshalb Sie sich gewiss ihr Entzücken vorstellen können, als sie einmal einen Blick auf den schönen Prinzen erhaschte. Er stand weit, weit über ihr – sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne –, doch sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ihm einmal zu begegnen, in seine himmelblauen Augen zu schauen und ihm jeden Gedanken vom Gesicht abzulesen. Mehr nicht, denn sie wagte nicht zu hoffen, jemals mit ihm zu sprechen.“

„Warum nicht?“, fragte Miss Craddock-Hayes irritiert.

„Wegen der Ziegen, um ganz ehrlich zu sein“, antwortete er ernst. „Angelica schämte sich für den strengen Geruch, den sie von den Ziegen angenommen hatte.“

„Natürlich.“ Ihre Mundwinkel zuckten, schließlich lächelte sie.

Und dann geschah etwas sehr Seltsames. Auch bei ihm zuckte es, wenngleich weiter unten – und zum Lächeln fand er das keineswegs. Herrje, wie verworfen, sich wegen des Lächelns einer jungen Dame derart zu erregen! Simon hustete.

„Haben Sie sich verschluckt?“ Das Lächeln war verschwunden – Gott sei Dank –, aber nun sah sie ihn mit aufrichtiger Besorgnis an. Bislang war das keineswegs eine Gefühlsregung, die zu wecken er beim schönen Geschlecht gewohnt war.

Besorgnis! Von diesem neuerlichen Tiefschlag würde sein Stolz sich nicht so bald erholen. „Nein, alles bestens.“ Er trank einen Schluck Wasser. „Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, es sah also so aus, als würde Angelica bis ans Ende ihrer Tage dem goldgelockten Prinzen hinterherschmachten und wäre doch auf immer dazu verdammt, ihm fernzubleiben. Eines Tages allerdings geschah etwas.“

„Das will ich wohl hoffen, sonst wäre es ein ziemlich kurzes Märchen“, bemerkte Miss Craddock-Hayes, die sich wieder ihrem Skizzenbuch zugewandt hatte.

Er beschloss, nicht weiter auf diese abermalige Unterbrechung einzugehen. „Eines Tages, es war schon spät, machte Angelica sich auf, um ihre Ziegen heimwärts zu treiben, und wie an jedem Abend zählte sie ihre kleine Herde. An diesem Abend aber fehlte eine Ziege. Die kleinste, eine schwarze Geiß mit einem weißen Fuß, war verschwunden. Just in diesem Moment hörte sie leises Meckern, das von der Klippe zu kommen schien, auf der das Schloss stand. Sie sah sich um, konnte indes nichts entdecken. Wieder das leise Meckern. Und so folgte Angelica dem Meckern der schwarzen Geiß und kletterte so nah an die Klippen heran wie möglich, und siehe da – auf einmal stand sie vor einem schmalen Felsspalt.“

Er hielt inne und nahm einen Schluck Wasser. Sie sah nicht von ihrem Buch auf. Im warmen Schein des Kaminfeuers wirkte ihr Gesicht ruhig und friedlich, und obwohl sie ihre Hand rasch über die Seite bewegte, strahlte sie tiefe Ruhe aus. Erschrocken wurde Simon gewahr, wie wohl er sich mit dieser Frau fühlte, die er doch kaum kannte.

Er blinzelte verwundert, ehe er mit seiner Geschichte fortfuhr. „Ein flackerndes Licht schien aus dem Spalt zu kommen. Die Öffnung war schmal, doch Angelica gelang es, sich seitwärts hindurchzuzwängen, und als sie endlich hineingelangt war, sah sie Erstaunliches: einen sehr seltsam anmutenden Mann – denn ein Mann schien er schon zu sein. Er war groß und schlank und hatte langes silbernes Haar. Und er war nackt – splitterfasernackt. Das Licht eines blau züngelnden Feuers, das in einem Kessel brannte, schien auf seine schimmernde Haut.“

Ihre dunklen Brauen hoben sich kaum merklich.

„Viel seltsamer war indes, dass seine Gestalt, noch während Angelica ihn so anschaute, zu verschwinden begann. Als sie sich an die Stelle wagte, wo er gestanden hatte, sah sie eine riesige silberne Schlange, die sich um den Feuerkessel wand.“ Gedankenverloren rieb er seinen Zeigefinger, fuhr mit dem Daumen über die Stelle, wo der Ring hätte sein sollen. Auf einmal war er entsetzlich müde.

„Ah, der berüchtigte Schlangenprinz!“ Als sie aufschaute, musste sie den Ausdruck der Erschöpfung in seinem Gesicht bemerkt haben. Sogleich wurde sie ganz ernst. „Wie geht es Ihrem Rücken?“

Entsetzlich. „Famos, ganz famos. Kann sein, dass der kleine Messerstich ihm ganz gutgetan hat.“

Einen Moment betrachtete sie ihn nachdenklich. Und da sollte ihn doch der Teufel holen – jahrelang hatte er sich dem Studium der Frauen gewidmet, aber er hatte nicht die geringste Ahnung, was gerade in ihrem Kopf vor sich gehen mochte.

„Können Sie eigentlich niemals ernst sein?“, fragte sie.

„Nein“, erwiderte er. „Niemals.“

„Das dachte ich mir.“ Ihre unergründlichen Augen waren noch immer auf ihn gerichtet. „Und warum nicht?“

Er sah beiseite, da er ihren eindringlichen, viel zu aufmerksamen Blick nicht ertragen konnte. „Ich weiß es nicht. Ist das wichtig?“

„Ich glaube, Sie wissen es sehr wohl“, sagte sie leise. „Und ob es wichtig ist … Das zu beurteilen steht mir nicht zu.“

„Nein?“ Jetzt war es an ihm, sie anzuschauen, sie zu drängen zuzugeben … ja, was? Er war sich nicht sicher.

„Nein“, flüsterte sie.

Schon wollte er etwas erwidern, aber eine verspätete Regung seines Selbsterhaltungstriebes hielt ihn davon ab.

Sie holte tief Luft. „Sie sollten jetzt schlafen. Ich möchte Sie nicht länger aufhalten.“ Sein Engel klappte das Buch zu und stand auf. „Gestern habe ich den Brief an Ihren Kammerdiener abgeschickt. Er sollte bald eintreffen.“

Er ließ den Kopf zurück in die Kissen sinken und schaute zu, wie sie das leere Geschirr aufs Tablett stellte. „Besten Dank, schöne Dame.“

An der Tür blieb sie stehen und drehte sich noch einmal nach ihm um. Im Kerzenschein sah ihr Gesicht aus wie ein Renaissance-Gemälde – ganz so, wie es sich für einen Engel gehörte. „Sind Sie denn hier in Sicherheit?“

Weil sie so leise gesprochen hatte und er schon dabei war einzuschlafen, war er sich nicht sicher, ob er sich ihre Worte nicht nur eingebildet hatte.

„Ich weiß es nicht“, murmelte er.