Leseprobe Die gefallene Stadt

Kapitel 1

Ist die Hochbahn zu dieser Zeit sonst auch so voll? Oder bin ich einfach in den falschen Wagon gestiegen? Jedenfalls habe ich das miese Gefühl, die Luft meines Sitznachbarn zu atmen, bevor der etwas davon hat. Muss meine Knie fest geschlossen halten, damit sie nicht an der schwitzigen Haut eines anderen kleben bleiben.

Gerade jetzt, gerade in dieser Nacht hätte ich mir eine unbesetzte Bahn gewünscht, oder einfach mehr Luft zum Atmen. Nicht das Gefühl, den Typen neben mir gleich abzuschlecken, wenn ich den Kopf zur Seite drehe, um auf der Anzeige nach den Stationen zu sehen.

Stocksteif und bewegungslos verharre ich auf meinem Sitz, die Hände fest auf meine Oberschenkel gedrückt, und starre geradeaus. Auf der mir gegenüberliegenden Seite sitzen die anderen Menschen Schulter an Schulter und werfen ihre zwei Schatten gegen das spiegelnde Fensterglas: Den Schatten ihres Körpers, der mit schemenhaften Silhouetten die Scheibe verdunkelt und den, den der Chip in ihrem Kopf wirft; ihren richtigen Schatten, der sie so viel besser abbildet. Ihre Timeline.

In der Hochbahn, zeigt jede von ihnen an. Manchmal ist diese Offensichtlichkeit der Timelines fast schon ein bisschen unerträglich. Darunter Bilder, Verlinkungen, Aktionsfelder der letzten Minuten und Stunden; alles, was der Chip aufgesaugt hat, jeden Satz, jeden Schritt, eine endlose Chronik von: Spricht mit … Arbeitet an … Fühlt sich … gut, müde, gestresst, motiviert … Ich müsste nur ein paar Minuten länger daran hängenbleiben und ich wüsste alles über ihren Tag. Doch ich entschärfe meine Sicht, lasse die Szenerie zu einem unruhigen Lichterbrei verschwimmen. In Nächten wie diesen sind Gelächter, Gespräche, schöne Momente, die kleinen Erfolge und geistreichen Momente von fremden Menschen kaum auszuhalten.

Ich lasse meinen Kopf gegen die Fensterscheibe hinter mir sinken und blinzele. Meine verdammten Fingerspitzen vibrieren, als wären sie die Hochbahn selbst.

Spitze Finger in meinem Haar.

Ich presse die Zähne aufeinander. Knirsche. Atme flach und hart, hoffend, dass mein Sitznachbar es nicht hört. Genug, dass mein Puls über meine Timeline zuckt wie ein Up-Tempo-Song.

Spitze, sanfte Finger.

Ich pfeife Luft durch die Zähne, einen zittrigen Schwall angestauter, angehaltener Luft.

Warum tue ich mir das an?

»Nächste Station: Apple Square«, säuselt es glockenklar aus den unsichtbaren Lautsprechern über unseren Köpfen. Das bisher noch abgedunkelte Licht im Wagon flammt hell auf und frisst alle natürlichen Schatten. Wir rauschen in den nächsten Bahnhof ein. In den Bahnhof. Ich kratze mit den Fingernägeln so unauffällig wie möglich über den glatten Stoff, der meine Beine bedeckt, in der Hoffnung, darin ein Ventil zu finden. In mir staut sich Hitze. Gedankenhitze.

Der Geruch nach Parfüm.

Hier ist sie ausgestiegen. Genau hier, genau eine Station zu früh. Ich drehe den Kopf zur Seite und lasse meinen Blick unruhig über den Bahnsteig gehen. Plötzlich kann ich ihre Anwesenheit fast spüren. Physisch. Kann ihre Schritte auf dem dämpfenden Boden hören. Kann ihren Schweiß riechen, der sich mit dem subtil-zitronigen Aroma der Klimaanlage mischt.

Nervös warte ich darauf, dass sich die Türen wieder schließen, als drei letzte Fahrgäste mit langen Schritten in den Wagon steigen. Sie bleiben im Stehabteil stehen – und trotzdem wird der Wagon schlagartig enger. Ihr Auftreten macht aus drei Leuten zwanzig und ihre Stimmen, die sich ganz natürlich zwischen die elektronischen Ansagen mischen, füllen plötzlich auch im gedämpften Tonfall den ganzen Hochbahnwagen. Ich presse meinen Hinterkopf noch fester gegen die Glasscheibe, so fest, dass es wehtut. Warum bin ich hier? Warum tue ich mir das an? Es wird nichts verbessern, wird mich nicht vom ganzen Müll in meinem Kopf befreien. Und ich hatte vergessen, dass ich solchen Menschen jederzeit über den Weg laufen kann.

Paradiser.

Es sind zwei Frauen und ein Mann, vielleicht zwei, drei Jahre älter als ich. Große helle Uhren kleben an ihren Handgelenken wie gewonnene Pokale. Ihre Hemden sind weißer als das Licht der Hochbahn und ihre Zähne noch mehr. Jede ihrer Bewegungen ist wohlüberlegt, natürlich und spontan, eine Choreographie immerwährender Coolness.

Dabei geht es nicht um eine Bewegung, um ein Lachen, oder eine Uhr. Es geht nicht um einen Abend, es geht um viele. Es geht um ihre Timelines. Sie sind die eigentlichen Pokale.

Ich kann mich nur schwer davon abhalten, zu scrollen. Es wäre nur eine Augenbewegung, oder ein Fingerzeig, aber ich bin schon labil genug in diesem Moment.

Ihre Blicke schweifen durch den Gang, in dem ich sitze und scrollen fast unbemerkt durch die Timelines aller Anwesenden. Ganz leicht nur zucken ihre Pupillen. An meiner Timeline sind sie ebenso schnell vorbei wie an jeder anderen. Doch ich bin mir sicher, hätte man ihre gut kontrollierten Gesichter in Zeitlupe versetzt, hätten sie sich verzogen.

Jetzt wissen auch sie es.

Ich blicke an mir hinab auf den blauen Stoff meines Jumpsuits. In ein, zwei oder drei Monaten wird der Schnitt aus der Mode sein, irgendwo ein Fleck sitzen … Und ich werde mit einem Schlag sehr weit von diesen Menschen entfernt sein – nach jahrelangen Bemühungen, mich ihnen anzunähern. Da hatte ich schon meinen Platz zwischen den Sternen und nun blicke ich wieder zu ihnen hinauf. Rakete abgestürzt.

Ich kneife die Augen zusammen und zwinge mich, mein Gesicht abzuwenden. Es ist ohnehin nur noch eine Station. Ich wünschte, ich könnte wenigstens aus dem Fenster sehen, doch die Scheiben spiegeln stark und mich muss ich gerade noch weniger begaffen, als die Timelines fremder Leute.

Die Sekunden vergehen zäh.

»Nächste Station: Eden Park.« Endlich fährt die Hochbahn unter leisem, rasselndem Bremsen in den nächsten Bahnhof ein.

Kurz bevor ich aussteige, fällt mein Blick noch in den Spalt zwischen Hochbahn und Bahnsteig, in dem sich die unvorstellbare Tiefe unserer Stadt auftut. Ein Mann neben mir lässt ein Kaugummipapier hineinfallen und mein Blick bleibt daran haften, wie es sich in die Dunkelheit hinabschraubt und irgendwann einfach verschluckt wird. Es muss ein weiter Weg nach dort unten gewesen sein. Ein langer Fall … Ich wünschte, ich könnte verstehen, warum sie genau das gewählt hat. Und ich wünschte, ich müsste mich jetzt nicht fragen, warum.

Der Eden-Park-Bahnhof spuckt mich auf einen schmalen Übergang aus, der, begrenzt von einem knapp brusthohen Geländer, an einer Hausfassade entlangläuft. Ich lasse mich von dem kleinen Strom der Menschen mitziehen, die wie ich über die nächste Brücke in die Fahrstuhlhallen wollen und klebe dabei mit dem Blick an der gläsernen Fassade zu meiner Rechten. Die Büroräume dahinter sind hell erleuchtet und geben in ihrer Gleichförmigkeit den Effekt zweier sich gegenüberliegender Spiegel. Ein Büroraum, dahinter noch einer und noch einer, alle verbunden durch eine Wand aus Glas. Nur die unterschiedlichen Menschen, die darin arbeiten, heben den Spiegeleffekt auf. Nicht, dass ich sie ums Arbeiten beneide, aber ihr Leben sieht wenigstens geregelt aus, wenn sie ihre Zahlenkolonnen und Computeranweisungen in ihre Schreibtische hämmern.

Der Knoten in meinen Eingeweiden, der da seit Tagen sitzt wie ein schmerzhafter Emotionstumor, zieht sich noch ein bisschen fester zusammen. Ich wende den Blick ab.

Der Übergang leitet mich weiter auf eine größere Brücke, auf der sich der Menschenstrom verteilt. Ich lege kurz den Kopf in den Nacken und blicke in den Himmel, der viel zu hell ist für Sterne. Nur die Lichter von Hyalopolis scheinen sich darin zu spiegeln und wenn ich die Augen zusammenkneife, scheint die ganze Stadt im Nachtblau des Himmels zu verschwimmen. Darunter fahren die stromlinienförmigen Hochbahnen auf zwanzig Ebenen durch die erleuchteten Häuserschluchten; verwischen in ihrer Geschwindigkeit zu einem langen, chromfarbenen Pinselstrich, der Schleifen um die niemals endenden Wolkenkratzer malt. Dazwischen spannen sich gläserne Brücken und Gänge wie Spinnenweben, tragen die Menschen als kleine helle Punkte über die verschiedenen Ebenen der Stadt.

Ich sauge einen Schwall süßlicher Luft in meine Lungen, schmecke die Stadt auf meiner Zunge. Ihren feinen, schönen, künstlichen Geschmack. Ein kräftiger Wind bläst über die Brücke, über meine Haut und in meine Kleidung. Fröstelnd vergrabe ich die Hände in den Taschen und beschleunige meinen Schritt, vorbei an den anderen Menschen, die in meinem Sichtfeld zu Silhouetten verschwimmen, begleitet vom sanften Klappern meiner High Heels.

Ihre Finger gleiten durch mein Haar. Ihre Fingerspitzen kitzeln auf meiner Kopfhaut, ihre leise Stimme in meinen Ohren. Wenn sie einen Knoten findet, zieht sie daran bis er sich löst …

Mein Herz hämmert gegen meine Brust, als ich die Fahrstuhlhalle erreiche. Wie ein gehetztes Tier laufe ich zwischen den hohen Marmorsäulen hindurch, mit unruhig hin- und herspringendem Blick.

Nummer zwölf, Nummer achtzehn, Nummer siebenundzwanzig.

Die öffentlichen Fahrstühle er Stadt sehen alle gleich aus. Nur die verchromte Nummer weist sie aus.

Nummer dreiundsechzig. Nummer …

Die Parfümflasche zerschellt auf dem Boden. Winzige Splitter fliegen durch die Luft, bilden ihr eigenes Sonnensystem.

Nummer siebzig. Da ist er.

Mit glühendem Gesicht und zittrigen Fingern erreiche ich den Fahrstuhl. Ihren Fahrstuhl. Es dauert ewig, bis sich endlich die Türen öffnen. Durch meinen bisher so mühsam kontrollierten Körper geht ein Ruck und ich stolpere ins Innere. Drücke unkontrolliert, fast panisch, alle Knöpfe, bis sich die Türen endlich schließen und ich allein bin.

Der Fahrstuhl beginnt die Stockwerke abzuzählen. 463, 462, 461 …

Es dauert etwa sechs oder sieben Minuten, bis man die unteren Ebenen der Stadt erreicht, selbst mit den öffentlichen Hochgeschwindigkeitsfahrstühlen.

Derweil stehe ich dumm in der Mitte, übergossen von viel zu hellem Licht. Die verspiegelten Wände, eingerahmt in glänzende Stromlinienornamente, beglücken mich mit meinem geradezu bemitleidenswerten Spiegelbild und meiner noch bemitleidenswerteren Timeline. Ich bin froh, dass ich sie gerade spiegelverkehrt sehe. Mir ist zum Kotzen zumute und meine Timeline ist das große Stück Kuchen, das man während seiner Magen-Darm-Grippe nicht sehen will.

Endlich geht ein leichter Ruck durch den ganzen Raum, kaum spürbar, doch ungemein erleichternd. Ein helles Pling begleitet die aufleuchtende Zahl: 50. Stock. Der tiefste Punkt, den man mit einem öffentlichen Fahrstuhl erreichen kann. Die Stockwerke darunter sind nicht mehr zugänglich.

»Die Fahrt endet hier«, plärrt es aus den Lautsprechern. »Bitte verlassen Sie die Kabine. Die Fahrt endet hier. Bitte …«

Ich sehe in den Spiegel, wo sich ein seltenes Schauspiel ereignet. Meine Timeline beginnt zu flackern wie ein alter Fernsehbildschirm. Suchend kreiselt der Empfang, die Aktualisierungen halten inne. Und dann verschwindet sie einfach. Sie hat den Empfang verloren und sich nun von selbst in den Ruhezustand versetzt.

Ich bin allein. Wirklich allein. Analog allein.

Tief atme ich aus. Verharre noch ein paar Sekunden und lasse mich dann gegen eine der verspiegelten Wände sinken, rutsche daran zu Boden und verschränke die Knöchel. Entschärfe meinen Blick. Blinzelnd sehe ich in mein verschwimmendes Spiegel-Ich, dessen platinblonde Haare mit dem gleißenden Fahrstuhllicht verschmelzen.

»Es ist ein langer Weg nach unten, Java. Ich weiß nicht, ob du ihn allein gehen möchtest.«

Ein Ruck geht durch meinen Körper. Ein Lidschlag später fluten Tränen meine brennenden Augen. Ich zittere, bebe. Der Weinkrampf schüttelt mich wie ein Orkan, bricht in hohen Wellen über mir zusammen. Wasser rinnt aus meinen Augen, Rotz aus meiner Nase. Dicke Tropfen färben das Blau meines Jumpsuits dunkel. Ich ziehe die Beine an die Brust, umklammere meine Knie und presse mein Gesicht in meine offenen Handflächen.

»Scheiße!«, schreie ich, dass meine Stimmbänder weh tun. »Scheiße. Warum?« Heiße, salzige Tränen tropfen in meinen Mund, während der Knoten in meinem Bauch mit jedem Schrei noch einmal explodiert. »Warum hast du das gemacht?« Ich schlage mit den Fäusten gegen die Wand, krümme mich. »Warum?«

Ich schreie sie an. Immer und immer wieder, weil ein Teil von mir wohl glaubt, dass sie das hören kann. Hier ganz unten. In der Tiefe, in die sie sich gestürzt hat.

»Was wird jetzt aus mir?«, presse ich unter heftigen Schluchzern hervor. »Sag es mir!« Meine Stimme erstirbt, ich ringe nach Luft. Was ist aus meinem verdammten Leben geworden? Was wird daraus, wenn sie nicht mehr da ist? Sich einfach verpisst hat? Wir wussten doch beide, wie das funktioniert. Wir wussten beide, dass sie immer der einzige Strohhalm war, an dem ich mich festklammern konnte.

Irgendwann werden meine Schluchzer leiser. Hyperventilierend und erschöpft sitze ich da und starre wieder mit aufgeweichten Augen mein Spiegelbild an. Wirres Haar, aufgedunsenes Gesicht. Ein bemitleidenswerter Anblick.

Die Fahrstuhltür beginnt, sich zu schließen, doch ich hebe den Arm und schlage hinter mir kräftig auf den Knopf, der sie offenhält.

Eine Weile lang bleibe ich apathisch so sitzen. Das Licht schmerzt in meinen Augen.

Dann reißt mich ein unerwartetes Geräusch aus meiner Zurückgezogenheit. Schritte. Schritte, die laut an den Wänden der dämmrigen Fahrstuhlhalle widerhallen.

Schnell drehe ich meinen Kopf zur Seite und blicke durch die geöffnete Tür. Die Halle dahinter scheint leer. Nichts als abgetretene Böden und aufplatzender Putz. Mattes Licht fällt über den Boden und überzieht ihn mit einem gelbgräulichen Schleier.

Ich richte mich langsam auf, kneife die Augen zusammen und gebe dem Fahrstuhl gleichzeitig die Anweisung, mich wieder nach oben zu bringen. Doch kaum, dass sich die Türen ein Stück geschlossen haben, öffnen sie sich auch schon wieder. Jemand muss von außen den anderen Knopf drücken.

Ich bekomme Panik. So weit unten lebt nur noch menschlicher Unrat, sonst verirrt sich niemand hierher. Wieder drücke ich auf den Knopf und versuche damit, die Tür dazu zu bringen, sich endlich zu schließen. Doch es ist das gleiche Spiel. Kurz schließt sie sich, dann gleitet sie wieder auf.

Angespannt starre ich nach draußen ins matte Licht, horche auf die Schritte, aber sie sind verklungen. Und weiterhin sieht es so aus, als wäre die Fahrstuhlhalle leer. Bis plötzlich ein langer Schatten über den Boden fällt. Ich zucke zusammen. Da ist tatsächlich jemand.

Ein leises Räuspern.

Ich bin bewegungslos. Wie zur Statue erstarrt, blicke ich auf den unförmigen Schatten, der sich vor der Tür bewegt. Dem Schatten folgt eine Person, die so plötzlich in der Tür steht, dass ich zusammenfahre und instinktiv ein paar Schritte ins Innere der Kabine zurückweiche.

Ein junger Mann. Tief hängt ihm sein Hut ins Gesicht, ein langer Mantel verhüllt seine Silhouette. Für den Moment steht er genauso regungslos da wie ich. Er blinzelt. Ich blinzele. Ich kann seinen Atem hören. Laut und rasselnd geht er, wie der eines Asthmatikers nach einem langen Lauf.

Mein Herz schlägt dumpf und schnell, ich weiche noch ein Stück zurück. Fast berührt mein Rücken die Wand. Wer ist das? Ein Verrückter? Ein Krimineller? Ein Mörder, der darauf gewartet hat, dass jemand sich hierher verirrt?

Seine Schuhe glänzen und unter seinem dunklen Mantel blitzt das helle Grün einer Seidenkrawatte. Ein Obdachloser ist er nicht.

Sekunden lang passiert gar nichts, außer dass er mich mustert. Immer wieder gleitet sein Blick auf und ab, seine Mundwinkel zucken dabei und seine Stirn zieht Falten, als würde er etwas arg infrage stellen. Besonders lange bleibt er an dem einzelnen Handschuh hängen, den ich an der rechten Hand trage.

»Du bist hier«, sagt er dann plötzlich. Ich weiß nicht, ob das eine Frage, oder eine Feststellung ist. Soll ich antworten?

Er runzelt noch einmal die Stirn, eine seiner Fußspitzen zuckt nervös.

»Ohne Maske«, sagt er. Seine Stimme ist rau. Mitgenommen. Wie mit grobem Schleifpapier abgerieben. »Und so viel jünger, als …« Die Fußspitze tappt unruhig auf und ab, jedes Mal mit einem lauten Klacken. Ich weiß nicht, was ich mit seinen Worten anfangen soll. Ich bin mir sicher, ich bin diesem Mann in meinem ganzen Leben noch kein einziges Mal begegnet. Diese Stimme hätte ich nicht so einfach vergessen.

»Aber du bist da«, fügt er hinzu. »Das … Das ist gut.« Er scheint sich an seiner eigenen Stimme zu verschlucken, räuspert sich, atmet hektisch ein und aus.

»Wir haben darüber nachgedacht und wir vertrauen dir. Unser Deal steht also.«

Ich starre ihn noch einen Augenblick lang an, da geht es mir auf. Er verwechselt mich. Anscheinend hat er hier jemanden erwartet und nun hält er ausgerechnet mich für diese Person. Ich will schon abwinken, doch er redet einfach weiter.

»Unser Deal steht«, wiederholt er und macht eine dramatische Pause. »Du hilfst uns, aus dieser … Sache rauszukommen und dafür bekommst du eine neue Timeline. Nach deinen Wünschen. Wie verlangt.«

Was hat er da gerade gesagt? Neue Timeline? Das kann er nicht ernst meinen! Das ist nicht möglich. Doch sein Gesicht ist ganz ernst, nicht verwirrt, nicht fanatisch. Er meint es so. Aber ich dachte immer, das wären nur Gerüchte, Geschichten …

Ich brauche einen Moment, um mich zu sammeln. Dann macht es Klick. Ich weiß nicht, wie genau er das gemeint hat. Ich weiß nicht, in was für eine Situation ich gerade hineingestolpert bin. Aber ich habe genau eine Chance es herauszufinden.

»Gut«, sage ich und verschränke die Arme vor der Brust. Man muss mir ansehen, wie bitter ich geflennt habe, aber darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen. »Der Deal steht.«

»Dann … dann ist gut«, sagt der Mann und streicht sich nervös den Mantel glatt. Sein Blick geht hin und her, einmal dreht er blitzschnell den Kopf nach hinten, als erwarte er jemanden hinter sich. »Dann ist gut«, wiederholt er noch einmal, scheinbar mehr für sich selbst und bläst laut Luft durch seine Zähne.

Kurz herrscht Schweigen zwischen uns und ich drehe und wende Möglichkeiten von Fragen, Möglichkeiten von Antworten. Möglichkeiten, wie ich herausfinden kann, wie er das gemeint hat, was er sagte.

»Ihr haltet euch auch an die Abmachung?«, frage ich. »Dass es auch klappt, meine ich.«

Er sieht mich einen Moment lang mit geweiteten Augen an.

»Natürlich«, antwortet er dann. »Du weißt, er ist gut. Er ist der Beste in diesem … Geschäft. Wenn man das so sagen kann.«

Wer ist gut?, frage ich mich. Doch das kann ich nicht fragen.

»Aber das mach mit ihm aus«, fährt er fort. »Ich kann … ich will damit nichts weiter zu tun haben. Will nur …« Schon wieder scheint er sich an seiner eigenen Spucke zu verschlucken und seine Worte weichen unausgesprochen einem lauten, unkontrollierten Husten.

Ich weiß nicht, was ich mit diesem Menschen anfangen soll. Was ich von ihm denken soll. Oder dieser Situation.

Dafür bekommst du eine neue Timeline. Das könnte alles verändern.

Endlich fängt er sich wieder. Streicht bedächtig seinen Mantel glatt, wie im Versuch, ein Stück verlorene Würde wiederherzustellen.

»Wo?«, frage ich, was wohl erst einmal die wichtigste Frage ist. Ich muss herausfinden, ob Wahrheit in dem steckt, was er sagt.

»Ja, also …« Er beginnt in seiner Manteltasche herumzuwühlen, fingert darin herum, bis er einen dünnen Filzschreiber hervorholt. Wie wild kritzelt er damit auf seiner Handfläche herum. Fest drückt er das Ding in seine Haut, als wolle er die Farbe hineintätowieren. Als er fertig ist, steckt er den Stift wieder ein und kommt dann plötzlich so schnell auf mich zu, dass ich nicht mehr die Möglichkeit habe, auszuweichen. Noch bevor ich realisieren kann, was er vorhat, packt er auch schon meinen Arm, zieht meine Hand zu sich heran und umschließt sie fest mit seiner eigenen. Wie eine Schraubzwinge drückt er meine Finger zusammen, bohrt fast seine Nägel in meine Haut. Ich schnappe nach Luft, will meine Hand reflexartig wegziehen, doch er hält sie eisern umklammert, sodass seine eisige Handfläche sekundenlang an meiner klebt. Ich sehe ihm kurz in die Augen, in blank glänzende, weit geöffnete Augen mit riesigen, starrenden Pupillen. In einen hektischen Blick, der mir Eiseskälte durch den Körper jagt.

Dann lässt er plötzlich los. Wie eine gespannte Feder schnellt meine Hand zurück, prallt gegen meine Brust und ich umklammere sie, wie ein Kind, sein wiedergefundenes Spielzeug. Laut geht unser Atem. Seiner und meiner. Und ich kneife die Augen zusammen, weiche seinem Blick aus, dem ich nicht noch einmal so begegnen möchte.

Er zieht die Nase hoch, richtet seinen Hut und entfernt sich wieder um ein paar Schritte.

Ich werfe einen Blick auf meine Hand, die sich warm und feucht und zerquetscht anfühlt. Als ich sehe, was sein fester Griff auf meiner Handfläche hinterlassen hat, verstehe ich seine unheimliche Aktion. Ziemlich schief, blass und etwas verwischt stehen Zahlen und eine kurze Zeile auf meiner Haut. Ein Abdruck des Filzschreibers, mit dem er zuvor seine Hand bemalt hat.

21:00 Uhr.

036783.

Mad Casino – Mad Hatter’s Street.

Eine Uhrzeit, eine Adresse; was ich mit der Zahlenkolonne anfangen soll, weiß ich nicht. Kann ich ihn das fragen? Vermutlich nicht.

Der Fremde zuckt, beinahe entschuldigend, mit den Schultern und wischt seine flache Hand am Mantel ab.

»Wo«, stellt er fest und tippt sich an seinen Hut. »Und bitte … wir haben nicht mehr viel Zeit. Es muss alles schnell gehen, ich meine … wirklich, wirklich schnell.« Er leckt sich einmal kurz über seine Lippen. »Ist das machbar?«

Ich habe nicht die leiseste Ahnung, worum es geht. Ob es überhaupt um etwas geht, oder ob ich nur Futter für die Illusionen und Hirngespinste eines Verrückten bin. Trotzdem nicke ich mit Selbstverständlichkeit. Der junge Mann schiebt seinen Hut zurück und wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn, auf der winzige Schweißperlen glänzen. Fast unmerklich schüttelt er den Kopf, als würde er mir nicht glauben.

Ich sehe noch einmal hinab auf meine Handfläche.

»Mad Casino«, sage ich und nicke ihm zu.

Er antwortet nicht. Hat seinen Blick längst von mir abgewandt und blickt aus leeren, fahrigen Augen. Dann tippt er schweigend an seine Hutkrempe, nickt leicht und verlässt meinen Fahrstuhl. Ich schiebe einen Fuß zwischen die Türen, damit sie sich nicht schließen und sehe ihm nach. Er geht zügigen, fast gehetzten Schrittes durch die Halle, wartet kurz, bis der nächste Fahrstuhl eintrifft und steigt ein. Er blickt kurz auf seine Hand, in der ich von Weitem die Ziffern schimmern sehe. Dann drückt er mehrere Knöpfe. Als sich die Türen schließen, steht er wieder in der Mitte der Kabine und verschränkt die Arme vor der Brust. Legt den Kopf ein wenig in den Nacken und lässt helles Licht unter seine breite Hutkrempe. Sein Blick trifft meinen. Blutunterlaufene Augen, eisiger Schauer. Die Tür schließt sich. Ich höre das leise Rattern, als der Fahrstuhl sich in Bewegung setzt. Und zum zweiten Mal in den letzten Minuten geschieht etwas, das ich nicht für möglich gehalten hätte: Der kleine Bildschirm über dem Fahrstuhl, der die Stockwerke anzeigt, die die Kabine passiert, beginnt zu zählen. Aber nicht aufwärts. Sie zählt abwärts. 49, 48, 47 … Ich starre auf die Zahlen, bis sich meine eigene Tür langsam schließt. Wie hat er das gemacht? Die Fahrstühle fahren für den normalen Nutzer nicht weiter als bis zum 50. Stockwerk. Darunter kommt nichts mehr. Nichts mehr als leere, verdreckte, unbewohnte Stadt, die vermutlich nicht einmal mehr von Wartungsarbeitern betreten wird.

Es schüttelt mich und ich brauche ein paar Sekunden, um mich wieder zu fangen. Was habe ich da gerade gesehen? Was ist gerade passiert? Ich schüttele einmal den Kopf, weiß noch nicht, was ich damit anfangen soll, oder ob ich gleich aus einem wirren Traum aufschrecke.

Meine verheulten Augen brennen wie Chlorreiniger und die Haut darum spannt von meinen getrockneten Tränen. Meine Situation – dieser exakte Moment eigentlich – hätte keine seltsamere Wendung nehmen können.

Nun setzt sich auch mein Fahrstuhl wieder in Bewegung und ich fahre aufwärts.

Ich starre auf die blasse Farbe in meiner Handfläche. Soll ich wirklich zu dieser Adresse gehen? Ich habe das Gefühl, nicht anders zu können.

Dann bekommst du eine neue Timeline.

Timelines lassen sich nicht verändern, nicht erneuern, das ist fast eine Art Naturgesetz unserer Zeit. Eine Timeline ist wie ein weiteres Organ, untrennbar, fast lebensnotwendig, mit dem Menschen verbunden, zu dem sie gehört.

Doch nun ist sie tot und ich bin verloren und würde nichts lieber tun, als mein altes Ich abzustreifen, zu vergessen, neu anzufangen. Eine neue Timeline, ein neues Leben.

Ich weiß nicht, womit ich es hier zu tun habe. Aber ich bin verzweifelt genug, um nach jedem Strohhalm zu greifen. Jedem Hirngespinst nachzugehen.

Ich weiß, es ist ein Fehler. Denn ich glaube, was ich in den Augen dieses Mannes gesehen habe, bevor die Türen des Fahrstuhls sich schlossen, war nackte Todesangst.

Bewusstlos

Metallischer Geschmack. Das Erste, was ich für einen kurzen Moment spüre; und schon wieder das Letzte.

Eine zähe, dickflüssige Masse, die mich umschlossen hält. Schwere, bleierne Dunkelheit.

Metallischer Geschmack, ein Klirren zwischen meinen Ohren.

Luft.

Ich schnappe nach Luft, richte meinen Oberkörper auf, öffne die Augen. Ein stechender Schmerz fährt in meinen Schädel, ich schlage mir reflexartig die Hände vors Gesicht und wiege meinen Brustkorb vor und zurück, vor und zurück – und warte. Ich warte auf … Bilder, Namen, Orte, Geräusche. Auf irgendetwas. Auf Erinnerungen.

Mein Name ist … ist …

Da ist nichts. Da kommt nichts. Kein dumpfes Pochen in den Windungen meines Gehirns, keine aufblitzenden Lichter und keine Stimmen zwischen meinen Ohren. Da ist nichts als grässlicher Schmerz. Und in meinem Schock muss ich feststellen, dass nicht nur in meinem Kopf nichts ist, sondern auch auf ihm. Mit beiden Händen fahre ich über meine Schädeldecke und finde nur blanke, eiskalte Haut. Ertaste knapp über den Schläfen harten, pulsierenden Schorf. Alles schmerzt unter meinen Berührungen, brennt und sticht und hämmert. Ich bin mir ganz sicher, dass das nicht richtig ist. Das ist ganz und gar nicht richtig, ich bin mir sicher, dass da mehr sein sollte als nur Haut. Da sollten Haare sein. Das weiß ich. Aber sonst … Bilder fluten meinen Kopf, Bilder von Häusern, Bilder von Händen und Füßen. Von Straßen und Regentropfen und Telefonhörern. Das Wissen, wie die Welt funktioniert. Ich weiß, was ein Spiegel ist, sehe ihn vor mir, nur mein Spiegelbild daraus ist verschwunden.

Wer bin ich? Wo bin ich?

Mir ist schlecht.

Die Augen zu öffnen, ist ein weiterer Kraftakt. Und es dauert ewig, meinen Blick zu schärfen. Ich fühle mich hilflos wie mit einer alten, analogen Kamera vor den Augen, bei der ich die Schärfe nicht finde, egal in welche Richtung ich das Objektiv drehe.

Verschwommene Umrisse.

Ich friere. Langsam kehren meine Sinne zu mir zurück. Aber keine Erinnerungen. Als meine Augen sich endlich an Licht gewöhnt haben, scanne ich blinzelnd meine Umgebung.

Ein Badezimmer. Hell gekachelt und mit einer Armatur, die meinen Kopf geschmacklos schreien lässt. Von der Decke hängt eine einzelne Glühbirne, nackt und kahl, als hätte ihr jemand die Haut abgezogen. Sie blutet ihr flackerndes Licht in großen Tropfen aus, die zu Boden fallen und sich in langen, unregelmäßigen Schlieren zwischen den Kacheln ausbreiten.

Ich selbst sitze in einer Badewanne, oder so etwas in der Art. Schmutzig und mit abgeplatzten Stellen, die Keramik schmerzt in meinem Rücken. Ich versuche, mich mühsam aufzurichten und auch wenn mir das gelingt, endet die Aktion in einem schmerzhaften Würgereiz, der brennende Säure in meinen Rachen treibt. Ich schlucke ihn wieder herunter und stütze mich, mit wankenden Knien, am Badewannenrand ab. Schnappe nach Luft.

Wo bin ich? Wie bin ich hierhergekommen? Und da ist eine Frage, die mir sehr große Angst macht: Wer bin ich?

Mein Blick wandert über den schwindelerregend weit entfernten Kachelboden auf zittrige Hände, die versuchen, meinen Körper auf der Wanne abzustützen.

Ich zähle meine Finger zweimal, auch wenn sie immer wieder verschwimmen. Den kleinen Finger der linken Hand muss jemand abgebrochen haben, jedenfalls sieht es so aus. Der Teil bis zum ersten Gelenk fehlt, abgebrochen wie ein Streichholz.

Und da ist noch etwas: Eine Zahl. Quer über meinen blassen Handrücken geschrieben, groß und fast so kantig wie ich mich fühle.

354

Ich weiß nichts damit anzufangen. Ich weiß mit überhaupt nichts etwas anzufangen.

Kapitel 2

Es dämmert noch nicht, als ich mich auf den Weg nach Hause mache. Erst als ich das Haus erreiche, wird die Stadt von einer fahlen Sonnenlichtglasur überzogen. Mir ist schweinekalt, mein Kopf hämmert und ich sehne mich nach der Wärme meiner Wohnung. Der beginnende Herbst kühlt die Nächte runter auf Kühlschranktemperatur.

Den ganzen Weg habe ich über die Begegnung im Fahrstuhl nachgedacht. Habe in der Hochbahn die Adresse gesucht, die auf meiner Hand steht. Es gibt keine Mad Hatter’s Street hier oben und es hätte mich auch gewundert. Nur, wenn sie hier oben nicht ist … wenn sie wirklich unten ist – was ist dann dort unten?

Neue Timeline. Die Worte prallen zwischen meinen Schädelwänden hin und her wie ein gefangenes Echo. Mein gesunder Menschenverstand sagt mir, dass ich dort unten wahrscheinlich einer ziemlich heiklen Situation entkommen bin. Dass ich diese Sache wohl lieber vergessen sollte. Mit dem Daumen reibe ich über die blassen Zahlen und Buchstaben auf meiner Haut. Manchmal wird gesunder Menschenverstand wahrscheinlich überbewertet …

Ich laufe einige Schritte an der hellgläsernen Fassade meines Wohnblocks vorbei, biege dann ab, drücke die schwere Tür auf und laufe die wenigen Treppenstufen hinab in den Eingangsbereich meiner Wohnungseinrichtung. Auf der Tür leuchtet Tag und Nacht: Jugendeinrichtung Vanderlife – Digitales Erziehungs- und Wohnprojekt. Gesponsert durch Vanderdam Inc.

Weißes Licht flammt aus dem Nirgendwo auf und lässt den kargen Flur erstrahlen.

Hier bin ich jetzt wieder. Obwohl ich so kurz davor war, dem zu entkommen. Ich muss wieder an die Paradiser denken, die ich in der Bahn gesehen habe; an ihre entspannten Gesichter, die keinen Schmerz zu kennen scheinen und keine Steine in ihrem Weg. Und mir ist schon wieder zum Heulen zumute. Doch ich reiße mich zusammen. Diese eine Nacht habe ich mir einen Aussetzer erlaubt, das wird nicht noch einmal vorkommen. Ich muss meine Timeline ja nicht schmutziger machen, als sie es schon ist.

Ich zögere noch, bevor ich aufschließe. Aber die Standpauke hinauszuzögern, macht es auch nicht besser. Die Tür springt auf und ich würde mir am liebsten sofort die Ohren zuhalten.

»Hallo, Java.« Ihre Stimme klingt unerbittlich. »Es ist halb fünf Uhr morgens. Du solltest in deinem Bett liegen.«

Gequält schließe ich die Augen.

»Ich weiß«, sage ich, während ich im Gehen meine Schuhe abstreife und barfuß über den kühlen Flurboden weiter in Richtung Küche laufe.

»Und warum hältst du dich dann nicht daran?«

Ich wünschte, ich könnte mich einfach in meinem Zimmer einschließen und ihr so entfliehen, doch sie ist in dieser Wohnung überall. Kein Entkommen.

»Ich bin siebzehn Jahre alt …«, sage ich gedehnt und kenne die Antwort bereits.

»Das heißt nicht, dass du nach zwölf Uhr nachts außer Haus sein darfst.«

»Mmh.« Ich lasse mir ein Glas Wasser einlaufen, setze mich damit an den Küchentisch und werfe eine zischende Kopfschmerztablette hinein. Mit halb geöffneten Augen beobachte ich, wie sie sich in weißen Schlieren langsam auflöst.

»Hast du noch irgendwas zu sagen?«, fragt sie mich.

»Nein«, würde ich gern patzig zurückgeben, »habe ich nicht.« Aber eine Software lässt sich nicht provozieren. Statt sich zu ärgern, würde sie mein Fehlverhalten einfach dem Jugendamt melden, das sich dann wieder genötigt fühlt, hier vorbeizuschauen. Damit möchte ich mich nicht auch noch herumschlagen.

»Tut mir leid. Jetzt bin ich da«, sage ich also schwach und nippe an der bitteren, halb aufgelösten Brühe.

Echte Mütter können sicher eine Plage sein, aber wenigstens steckt echtes Leben in ihnen, Emotionen, die man auslösen kann. Die künstliche Intelligenz, die meinen Alltag zu begleiten versucht, wird hingegen immer unbeeindruckt bleiben, immer besonnen reagieren.

»Ich habe das Gefühl, dass es dir nicht gut geht, Java. Willst du darüber reden?« Wahnsinnig gut erkannt, Spürnase.

Ich drehe mein Glas hin und her, dann streife ich den einzelnen Handschuh ab, den ich immer noch trage. Bewege ein paarmal prüfend meine Finger. Die Phantomschmerzen sind wieder da, seit ich erfahren habe, dass sie tot ist. Vorsichtig berühre ich das Stück meines kleinen Fingers, an das sich eigentlich noch ein weiteres Fingerglied anschließen sollte, und zucke sofort zusammen. Verdammt. Es ist so bescheuert. Wo nichts mehr ist, da sollte auch kein Schmerz mehr sein. Gilt auch für die Sache mit ihr.

»Ich mache mir Sorgen um dich, Java«, sagt meine KI-Erzieherin in sanftem Tonfall. Ihre Stimme ist auf eine ganz ekelhafte Art lauwarm. Sie haben ihr eine echte Stimme gegeben, eine echte, warme Frauenstimme. Sie soll wohl die Illusion einer ruhigen, mütterlichen Person erzeugen. Aber es ist die Art, wie sie im Raum klingt. Dass sie aus allen Richtungen kommt und niemals greifbar wird. Das kühlt sie ab.

»Ich bin müde, ich gehe jetzt schlafen«, sage ich, stehe auf und kippe den restlichen Inhalt des Glases runter. Klirrend landet es in der Spüle, ich verlasse die Küche und gehe in mein Zimmer.

Dort lege ich mich noch angezogen auf mein Bett, schließe die Augen und lasse eine angenehme Dunkelheit in meinen Kopf, die meine brennenden Netzhäute kühlt.

»Du sollst vorher Zähneputzen!«, schallt es aus den Wänden, doch ich ignoriere es. Gegen das Innere meines Schädels hämmern die Gedanken und ich bin mir sicher, dass sie der Auslöser für die Kopfschmerzen sind. Mein Kopf ist ein vollgesogener Schwamm, vollgesogen mit emotionalem Ballast, mit Fragen, mit Kram, den ich gerne auswringen würde.

Eine neue Timeline …

Mit einem Ruck richte ich mich wieder auf und setze mich im Schneidersitz auf mein Bett. An der Glaswand gegenüber lasse ich meine Timeline aufleuchten. Eine halbe Zitronenscheibe, das Logo meines Anbieters, verblasst im Hintergrund und macht Platz für mein ganzes Leben, aufgesplittet in tausende Aktionen, Links, Interessen … Die Größeren, Wichtigeren sind hervorgehoben, andere treten in den Hintergrund. Alles, was ich in meinem Leben getan habe, in einer Chronik und wenn man will, auch auf einen Blick. Von ungefähr meinem fünften Lebensjahr an, als ich die Timeline bekommen habe, bis jetzt. Und es wird immer so weiter gehen.

Ich schlucke schwer. Dann wische ich die Timeline mit einem Blick beiseite und zögere einen Augenblick.

»News«, sage ich dann leise und im selben Moment erscheint die Bilder- und Videoflut einer Nachrichtenseite. Ihr Gesicht ist das Erste, was ich sehe.

Suizid noch immer ungeklärt.

Es sind zwei Wochen vergangen, seit sich eine junge Frau vom Gebäude der Hummingbird Timelines Cooperations in die Tiefe gestürzt hat … Noch immer sind die Gründe für ihren Freitod unbekannt … Sie war fester Teil der kulturellen Lebens in Hyalopolis …

Immer noch dasselbe. Immer noch ist sie der Skandal.

Ihr bewegtes Foto tritt im Halbhologramm ein Stück aus dem Glas hervor, blinzelt mit der immer gleichen Bewegung auf mich herab.

Vista.

Blasses Lachen, leichtes Blinzeln und dann der forschende Blick, der mir ins Mark geht. Genauso war es immer.

Tausend kleine Splitter. Sie wird sie nie wieder zusammensetzen können.

Sekundenlang starre ich das Bild einfach nur an und es verquirlt einen schwer verträglichen Emotionsbrei in meinem Inneren. Als meine Augen leicht zu brennen beginnen, blinzele ich schnell und schlage die Augen nieder.

»Schläfst du immer noch nicht?«, schallt es plötzlich durch den Raum und reißt mich aus dem Moment.

»Ich würde ja, würdest du mich lassen«, zische ich. Ich würde mich gern mit jemandem streiten in diesem Moment, aber sie ist nicht auf Streit programmiert. Nichts was ich sage, wird eine andere Reaktion in ihr auslösen als sanfte Strenge. Mit den Jahren habe ich mich an diese Art der Einsamkeit gewöhnt, bei der man ständig mit jemandem spricht und dennoch vollkommen allein ist.

Mit einem resignierten Seufzen wische ich den Bildschirm fort, lasse mich auf den Rücken fallen und starre an die Decke. Neue Timeline, geht es mir noch einmal durch den Kopf. Ein neues Leben anfangen. Ein Leben ohne meinen Erziehungs-Big-Brother und mit perfekter Timeline. Sein wie die Paradiser aus der Hochbahn. Dann wäre ich jemand, auch ohne sie. Könnte das wirklich sein?

»Ich sage das nicht gern, aber dein Verhalten in letzter Zeit wird Konsequenzen haben, Java!«

Ich verziehe das Gesicht.

»Gute Nacht«, sage ich frustriert und meine eigene Stimme vibriert durch meinen Brustkorb.

Das Telefon schrillt. Es schrillt durch meine Träume, bis ich verschwitzt aufschrecke und ein paar Sekunden brauche, bis ich überhaupt realisiert habe, wo ich bin.

»Warum hast du nicht abgehoben?«

Ich blinzele in die unangenehme Helligkeit, die durch die Fenster fällt. Wann legt dieser Idiot endlich auf?

Stöhnend drehe ich mich auf den Bauch und drücke das Gesicht in die Laken. Das Telefon schrillt. Kneife die Augen fest zusammen. Aussichtslos. Jetzt ist an Schlaf nicht mehr zu denken. Mein Rhythmus ist seit Jahren so zerschossen, dass ich mich schon fast daran gewöhnt habe.

Das Telefon klingelt und klingelt. Das Geräusch treibt Schweiß auf meine Haut. Aber ich denke überhaupt nicht dran abzuheben. Irgendwann gibt es endlich Ruhe.

Die Wange ins Kissen gedrückt, starre ich mit unscharfem Blick ins Zimmer.

Mir fällt meine Hand auf, die weit von mir gestreckt über der Bettkante baumelt. Die verschwommenen, schwarzen Flecken auf meiner Haut. Da ist die Erinnerung wieder voll da.

Heute. 21:00 Uhr. Mad Hatter’s Street. Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet.

Ich gebe mir einen Ruck und schwinge meine bleischweren Beine aus dem Bett. Mein Kopf schmerzt noch immer, als hätte ich zu viel getrunken. Ich habe zu viel gedacht, deshalb. Das ist viel schlimmer, als zu viel zu trinken.

Ich reiße mich zusammen und gehe, schwankend vom Gedankenkater, durchs Zimmer in Richtung Bad.

Währenddessen warte ich auf ein Guten Morgen meiner Erzieherin, oder ein paar wütende Worte, weil ich nicht ans Telefon gegangen bin. Doch sie schweigt. Ich wünsche mir, sie wäre beleidigt wegen gestern. Aber wahrscheinlich lädt sie einfach ein Update.

Der Blick in den Spiegel ist zum Fürchten. Meine völlig zerstörte Frisur und das zerknautschte Gesicht, in das sich sämtliche Bettfalten gepresst haben, beachte ich trotzdem nur kurz. Spritze mir ein bisschen Wasser ins Gesicht und schrubbe an meinen Zähnen herum.

Am Spiegel wacht meine Timeline auf, die während der vier Stunden, die man mich hat schlafen lassen, im Ruhezustand ihre Updates geladen hat. Ihr hat das wohl gereicht, ihr Ton ist frisch und monochrom wie immer. Im hellen Balken, der meine letzte Aktion wiedergibt, leuchtet ein kleiner Mond.

Ich wende mich von der Timeline ab und sehe mir stattdessen in die eigenen Augen. Um das dunkle Graublau meiner Iris hat sich ein schwammiger Schleier geplatzter Äderchen gebildet. Es fühlt sich so an, als hätte man meine Augäpfel über Nacht in Seife gebadet. Man sollte Kontaktlinsen rausnehmen, bevor man einschläft, das gilt auch für DigiLenses. Ich zwinkere ein paarmal mit schweren, klebrigen Lidern, entferne dann die Linsen und schmeiße die trockenen Dinger in den Müll. Sie kommen mir irgendwie schmutzig vor nach dieser Nacht und ich kann mich auch nicht überwinden, ein frisches Paar einzusetzen.

Für einen Moment ist meine Welt analog. Und fühlt sich seltsam verlangsamt an. Statt pulsierendem Informationsüberfluss spiegeln sich nur Lichtreflexionen auf den gläsernen Badezimmerflächen. Ein paar Sekunden lang genieße ich diese visuelle Stille, dann suche ich in der Schublade unter dem Waschbecken nach meinen DigiGlasses, dem Brillenäquivalent zu den Kontaktlinsen und erwecke die bunte, digitale Welt um mich herum wieder zum Leben.

Ich schlurfe in die Küche und zuerst zum Kühlschrank, der mich sofort registriert. Ungefragt zeigt er mir etwa dreißig Lebensmittel an, die ich meiner aktuellen Blutzusammensetzung nach essen sollte. Nichts von dem, was er mir vorschlägt, habe ich da.

Kurz horche ich in die untypische Stille, warte auf einen Kommentar, oder ein verspätetes: »Guten Morgen, Java.«

Doch sie schweigt noch immer.

Eine Stunde später klingelt es plötzlich an meiner Tür. Klingeln ist dafür allerdings kein Ausdruck. Es handelt sich eher um ein Attentat – ein Attentat auf meine Türglocke, die wahrscheinlich in den nächsten Augenblicken explodiert. Mehrere Sekunden lang vergewaltigt jemand den Sensor vor meiner Tür und versetzt die Wohnung damit in ein ohrenbetäubendes Bimmeln, das mich vom Surfen in der Webciety aufschreckt wie ein Feueralarm.

Ich weiß genau wer dieser jemand ist. Ich hätte es ahnen müssen, als der Computer nichts mehr gesagt hat. Er hat mein Fehlverhalten von letzter Nacht dem Jugendamt gemeldet.

Mein Schädel pocht.

»Ich hab’s gehört!«, rufe ich durch die Wohnung.

Mit zusammengekniffenen Augenbrauen stürme ich zur Tür und versuche, ein einigermaßen entspanntes Gesicht aufzusetzen, bevor ich sie öffne.

Da steht sie.

»Java! Du weilst also noch unter den Lebenden.«

Ich hasse ihre billigen, fliederfarbenen Blusen, die ihr nicht stehen. Ich hasse die Art, wie sie auf ihren Schuhen herumwackelt. Ich hasse den Blick, mit dem sie durch meine Küche schielt, während sie gleichzeitig versucht, mir in die Augen zu sehen.

»Ich denke, du kannst dir vorstellen, warum ich hier bin?«

Sie sitzt an meinem Küchentisch, die Ellenbogen aufgestellt und starrt mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich muss mich zurückhalten, um sie nicht zu packen und aus der Wohnung zu schleifen, bevor sie noch einmal den Mund aufmachen kann. Nur macht sich das leider nicht gut auf der Timeline. Stattdessen stelle ich ihr also mit einem vielleicht etwas zu falschen Lächeln ein Glas Wasser vor die Nase und setze mich ihr gegenüber an den Küchentisch.

»Ich weiß, ich habe in letzter Zeit ein paar Fehler gemacht. Wird nicht wieder vorkommen«, sage ich und setze ein beschwichtigendes Lächeln auf. Ein kleiner Teil von mir hofft, sie innerhalb der nächsten fünf Minuten loszuwerden.

Frau Arlas Brauen wandern noch ein Stück höher.

»Wir machen uns Sorgen um dich!«, sagt sie dann und verzieht dabei die sorgfältig nachgezogenen Lippen.

Wir? Wer sind wir? Sie und ein Computer? Sie und die anderen Behördenfuzzis? Ich bezweifle es.

»Niemand muss sich Sorgen machen, mir geht es bestens«, erwidere ich und nippe an meinem eigenen Wasserglas. Sie soll bitte einfach wieder gehen. Ihr Besuch ist so nutzlos, dass es fast schon wehtut.

»Laut der Meldung, die das Erziehungsprogramm vor ein paar Stunden gesendet hat, warst du gestern die ganze Nacht nicht zu Hause. Bist erst um halb fünf zurückgekommen. Heute Morgen gehst du nicht ans Telefon, als ich dich anrufe. Du sollst unter ziemlichen Stimmungsschwankungen gelitten haben in der letzten Zeit. Und wenn ich mir deine Timeline so ansehe … Ich finde, das ist ein Grund zur Sorge.«

Ich presse meine Lippen aufeinander.

»Mir geht es bestens«, wiederhole ich.

Frau Arla seufzt leise und streicht sich das dunkle Haar glatt, das sie in imposanten Locken hochgesteckt trägt.

»Wird es nicht langsam Zeit, erwachsen zu werden?«, fragt sie. »Bald bist du volljährig. Du musst Verantwortung für dich selbst übernehmen.« Verantwortung für mich selbst … Was glaubt sie denn, was ich mache?

Ich nicke und lächele breit.

Sie verdreht leicht die Augen und streicht über den Glastisch, um einen Bildschirm zu erzeugen.

»Hast du noch Kontakt zu Schulkameraden?« Ich bemühe mich, nicht die Augen zu verdrehen. Ein Blick in meine Timeline würde genügen, um das herauszufinden.

»Manchmal«, antworte ich und das ist ziemlich beschönigt.

Sie tippt auf dem Tisch herum und ich beobachte, wie sich ihre flinken Finger bewegen. Noch während sie schreibt und ohne aufzusehen, fragt sie weiter.

»Du bist seit einem halben Jahr mit der Schule fertig«, sagt sie. »Hast du mit den Bewerbungen angefangen? Vielleicht nach einer Universität geschaut?« Universität? Ich war auf einer billigen Charter School, mit mittelmäßigen Noten. Habe keine vorzeigbare Timeline. Ich weiß nicht, was sie sich für Illusionen macht, aber mich wird keine einzige Uni nehmen.

»Oder weißt du mittlerweile, wie es sonst weitergehen soll?«

In mir zieht sich wieder dieser grässliche Knoten zusammen. Ich wusste es. Ganz genau. Und alles hätte so verdammt perfekt sein können.

»Ich habe einen Job«, gebe ich zurück und nippe wieder an meinem Glas. Einen Job im Burgerladen …

Frau Arla seufzt wieder, diesmal tiefer und länger. Ihre schlecht gemachten Fingernägel trommeln auf dem Tisch herum.

»Dein Job wird dir keine eigene Wohnung finanzieren«, sagt sie dann und ihre Stimme ist merklich dunkler geworden. »Und auch nicht den Rest deines Lebens. In ein paar Monaten wirst du achtzehn Jahre alt, dann kannst du nicht mehr hier wohnen. Dann musst du dein Leben selbstständig führen. Ohne uns.«

Sie weiß es nicht, denn ich lasse es mir nicht anmerken, doch ihre Worte lösen eine Angst in mir aus, die ich seit zwei Wochen erfolgreich verdränge. Heiß und brennend kriecht sie aus meinem Bauch hoch in meine Kehle.

»Ich finde schon etwas«, sage ich, lehne mich in meinem Stuhl zurück. Widerstehe dem Drang, die Arme um meinen Körper zu schlingen und bleibe bei meinem künstlichen Lächeln.

Frau Arla schweigt für eine anstrengend lange Zeit. Ich kratze mit den Fingern auf dem Stoff meiner Hose herum, um mich zu beruhigen. Hoffe, dass ihr nichts mehr einfällt und sie endlich geht.

»Java, erinnerst du dich an das Gespräch, das wir vor ein paar Jahren hatten? Als du mir gesagt hast, dass du hier rauskommen wirst? Aufsteigen wirst? Dass du ganz oben ankommen willst?«

Ich zucke nur mit den Schultern und kann nicht glauben, dass ich ihr damals noch solche Sachen gesagt habe. Mit welcher Naivität ich diesen Menschen vertraut habe. Geglaubt habe, dass man das einfach so schaffen könnte.

»Hab ich ja noch Zeit zu«, sage ich schließlich, als sie nicht aufhört, mich anzustarren wie ein verhungernder Informationsgeier, der unbedingt etwas in seine Akte tippen muss. Doch sie tippt nicht. Sie schweigt. Ihr Blick wirkt unruhig.

»Hat dein Verhalten in letzter Zeit mit dem … Ereignis vor zwei Wochen zu tun?«, fragt sie plötzlich.

Augenblicklich verkrampfe ich mich auf meinem Stuhl, verziehe das Gesicht. Dieses Mal kann ich es nicht verhindern.

»Nein!«, antworte ich und weiß im selben Moment, dass es zu harsch klingt.

Frau Arla zieht beide Augenbrauen hoch und schürzt ihre Lippen.

»Auf deiner Timeline ist das eine … schwierige Zeit«, sagt sie.

»Nein«, erwidere ich noch einmal und beginne heftig, auf meiner Wange zu kauen. Sie soll einfach gehen und mich endlich in Ruhe lassen.

Sie betrachtet mich mit einem langen, forschenden Blick.

»Ich weiß, es ist schwer … Vielleicht würde es dir helfen, mit einer Psychologin zu sprechen. Damit du ein paar Dinge verarbeiten kannst.« Das wäre das Letzte, was ich will.

»Ich werde … Ich muss mit niemandem sprechen«, sage ich forsch.

»Ich glaube aber, dass es dir helfen -«

»Ich spreche mit niemandem!« Ist das jetzt deutlich genug?

Frau Arla seufzt wieder, doch anscheinend hat sie verstanden.

»Dann eben nicht«, sagt sie und klingt dabei fast wie ein bockiges Kind. Sie schüttelt leicht den Kopf. »Wir haben dir so viel durchgehen lassen, Java. So viel …« Ihre Stimme klingt abwesend.

Ich kaue weiter auf meiner Wange herum.

»Ich habe in letzter Zeit wieder ein bisschen Scheiße gebaut, ist mir schon klar«, sage ich. »Wird nicht wieder vorkommen.« Ich mache eine kurze Pause und unterdrücke den Drang, meine Schläfen zu massieren. Mein Kopf schmerzt und ich will, dass sie endlich geht. »Was muss ich machen?«

Da lacht sie plötzlich leise auf, als hätte ich einen Witz gemacht.

»Ich werde keine Strafen mehr verhängen, Java, damit ist jetzt Schluss. Ich möchte, dass du verstehst, wo du mittlerweile stehst. Und dass du verantwortlich für dein eigenes Leben bist. Hast du immer noch dieselben Ziele wie damals?«

Ich schweige sie an.

»Wenn ja, solltest du anfangen, danach zu handeln.« Ich hasse solche Sprüche.

»Mein Leben ist ja noch nicht vorbei«, sage ich schließlich leise, hauptsächlich, um das Gespräch in Richtung Ende zu drängen. »Ich kriege das schon alles auf die Reihe, machen Sie sich mal keine Sorgen.«

In ihr Gesicht schiebt sich ein Ausdruck von Erschöpfung und Resignation. Für diesen Moment schweigt sie tatsächlich.

»Alles, was fällt, zerbricht. Ist das nicht so?«

Ich blicke auf die Tischplatte, kaue auf meiner Wange herum und lasse mir nicht anmerken, was in mir vorgeht.

Sie seufzt, ganz leise, aber so, dass ich es trotzdem höre. Dann steht sie langsam auf und stützt dabei theatralisch die Hände auf der Tischplatte auf, als hätte unser Gespräch sie mit fünfzig Kilo schwerem Ballast beladen.

»Denk darüber nach«, sagt sie und sieht mich prüfend dabei an. Meine Antwort kommt leicht verzögert.

»Mache ich.«

Ich begleite sie zur Tür.

»Auf Wiedersehen«, sage ich betont höflich und lächele breit.

Sie beachtet mich noch mit einem langen Blick, zieht die Augenbrauen hoch, wie sie das immer macht, dann seufzt sie leise.

»Auf Wiedersehen.«

Als ich die Tür schließe, sinke ich mit der Stirn dagegen. Presse meine Haut fest gegen das kühle Holz und kneife die Augen zusammen. Die Gedanken trommeln durch meinen Kopf, bringen ihn zum Pochen und pulsieren.

Ich hasse dieses Leben. Ich hasse diese Wohnung, ich hasse diese Menschen, ich hasse die Computer-Erzieherin. Ich hasse die Ebene, auf der ich lebe, ich hasse meinen Job. Doch das Schlimmste ist, dass ich weiß, dass ich mein zukünftiges Leben noch mehr hassen werde. Ich habe keine Chance, jemals auf den oberen Ebenen der Stadt anzukommen, jemals jemand zu sein. Ich werde nur weiter fallen.

Fallen. Das Glas zersplittert, als es fällt. Zerberstet in tausend winzige Stücke, die sich explosionsartig zu allen Seiten ausbreiten.

Scharf sauge ich Luft durch meine Zähne und sehe auf meine Hand.

21:00 Uhr, Mad Hatter’s Street.

Keine Zweifel mehr. Man hat mir dieses Spiel angeboten. Ich werde es spielen.

Und wenn ich dabei draufgehe.

Namenlos

Es gibt hier einen Spiegel. Ich sehe ihn aus dem Augenwinkel, zu weit oben und ein bisschen schief angebracht. Dreck und Lippenstift kleben an seiner, von Rissen und Sprüngen durchzogenen Oberfläche. Ich habe Angst hineinzublicken, wirklich schreckliche Angst. Aber ich hoffe sehr, mich dann zu erinnern. Zu wissen … wer ich bin und warum ich hier bin.

Noch immer ist mir speiübel und ich habe nicht das Gefühl, dass das bald vorbei sein wird. Ebenso wie die Kopfschmerzen, die unter meiner Schädeldecke mit Meißel, Hammer und Kettensäge arbeiten. Angesichts dieser Qualen kommt mir die Badewanne sehr verlockend vor. Eine schöne, harte Kante, gegen die ich meinen Kopf donnern könnte, so sehr schmerzt es. Aber zuerst der Spiegel. Das zuerst.

Es sind nur wenige Schritte durch den Raum, aber bei jedem drohe ich umzukippen. Oder mich zu übergeben. Oder vielleicht beides gleichzeitig. Habe ich auch das Laufen verlernt? Wenn das so ist, hoffentlich auch das Reihern, denn ich will nicht, dass es hier auch nach Kotze stinkt. Neben all den anderen seltsamen Gerüchen, die langsam meine Schleimhäute erreichen, jetzt wo meine Sinne langsam wieder zu sich kommen.

Und dann blicke ich in den Spiegel. Sehe ein namenloses Mädchen mit aufgesprungenen Lippen, verquollenen Augen und einer blanken, frisch rasierten Glatze, die die Sicht auf verkrustete Nähte entblößt. Sie ziehen sich seitlich an ihrem Kopf entlang, ein Farbspektrum von Purpurrot bis Grünblau. Fäden stehen ausgefranst daraus hervor, die Haut darum ist blutverfärbt.

Mir wird schwindelig.

Ich kann nicht glauben, dass das ich sein soll. Ich. Schlage mir dir Hände ins Gesicht, ziehe an meinen Wangen, ziehe an meinen rissigen Lippen, dass es weh tut. Greife nach den Narben, zucke zurück vor glühendem Schmerz.

Ich erinnere mich nicht.

Meine Knie geben noch im selben Moment unter mir nach und ich falle unsanft zu Boden. Ein stechender Schmerz schießt durch meine Knie und für einen Moment bleibt mir alle Luft weg. Vielleicht fangen deshalb die Tränen an zu laufen. Denn ich habe nicht das Gefühl, dass ich jemand ist, der viel weint. Oder viel geweint hat.