Leseprobe Die Gräber von Tanfield Hill

Kapitel 1

Tanfield Hill, Dienstag, 7. Juli 1812

Es hatte wenig Würde, wie Reverend Malcolm Earnshaw nach Luft schnappen musste, als er von der Hauptstraße des Dorfes auf den Kirchhof abbog und mit ausholenden Schritten durch das hochgewachsene Gras eilte. Er war ein kleiner, plumper Mann mittleren Alters, dessen spärliches Haar bereits ergraute, und bewegte sich auf steifen Knien. Als er aufblickte, sah er den Glockenturm der Dorfkirche als dunkle Silhouette vor dem weißen Abendhimmel und unterdrückte ein Stöhnen.

»Was habe ich getan? Was habe ich nur getan?«, murmelte er in einer Art Singsang vor sich hin. Er hätte sich nicht so lange bei der alten Misses Cummings aufhalten dürfen. Ja, die Frau lag im Sterben, aber er hatte getan, was er vermochte, um ihr das Ableben zu erleichtern, und man ließ den Bischof von London nicht warten – besonders nicht, wenn man als niedriger Diener der Kirche der bischöflichen Familie seinen Lebensunterhalt verdankte.

Atemlos und von der Eile erhitzt erreichte der Reverend den Kiespfad vor der Kirche. Die kleinen Steine knirschten unter seinen Ledersohlen, als er den Schritt verhielt. »Gütiger Himmel«, flüsterte er, und sein Kinn sackte beim Anblick der bischöflichen Kutsche herunter. Der Kutscher döste auf dem Kutschbock vor sich hin. »Er ist schon da.«

Earnshaw schluckte mühsam und ließ suchend die Blicke über den altertümlichen Kirchhof streifen. Trotz der länger werdenden Schatten waren die gezackten Steinhaufen und die alten Holzbalken gut zu erkennen, die nach der Zerstörung des Beinhauses noch übrig waren, welches einst an der Nordmauer des Chors gestanden hatte. Nur Bischof Prescott war nirgends zu sehen.

Der Reverend zögerte. In ihm kämpfte der Drang, voranzueilen, gegen den feigen Wunsch, in die Sakristei zu hasten, um eine Laterne zu holen. Er lief weiter, und das Herz schlug ihm schmerzhaft in der Brust, als er sich dem klaffenden Loch näherte. Die Arbeiter waren an diesem Nachmittag versehentlich durch die dünne Backsteinmauer gebrochen. Die Mauer hatte eine vergessene Treppe verborgen, deren abgetretene Steinstufen in eine alte Krypta hinabführten. Die war sogar noch weit älter als das ehrwürdige normannische Hauptschiff darüber.

In den zehn Jahren, seit er hier in St. Margaret’s Priester war, hatte Malcolm Earnshaw vage Gerüchte über eine Krypta gehört, die Jahrzehnte zuvor aus Gründen der allgemeinen Gesundheit versiegelt worden war. Doch nichts, was dem Reverend zu Ohren gekommen war, hatte ihn auf die grauenhafte Entdeckung der Arbeiter vorbereitet.

Er zog sein Schnäuztuch aus der Tasche und presste sich das Leinen gegen Mund und Nase, als die faule Luft der Krypta ihm entgegenwaberte. Er war jetzt nahe genug heran, um auf den abgetretenen Stufen den Schein des Laternenlichts zu sehen, das von unten heraufschien. Der Bischof war tatsächlich bereits vor ihm hinuntergestiegen.

Earnshaw zögerte erneut, dieses Mal nicht aus Unschlüssigkeit, sondern aus Zurückhaltung ob des Schreckens, der ihn dort unten erwartete. Die Bibel lehrte, dass die Trompeten erschallen und die Toten unversehrt erweckt werden sollten. Und in Ezechiel stand geschrieben, dass Gott das Fleisch auf die Knochen der Toten legen und ihnen den Lebensodem einhauchen werde. Das wusste Earnshaw. Und doch stand er hier und zitterte bei der Unumgänglichkeit, sich wieder diesem Anblick zu stellen, der aus den schlimmsten Visionen von Dantes Inferno heraufbeschworen schien.

Er griff nach dem rostigen Geländer, das auf einer Seite der Treppe verlief, und stolperte die schattigen Stufen hinunter, dem flackernden Licht entgegen. »Ich muss Euch untertänigst um Verzeihung bitten, Bischof Prescott«, begann er, und seine Stimme hallte in dem düsteren Gewölbe wider. »Ich hoffe sehr, ich habe Euch nicht zu lange warten lassen?«

Die bedrückende Stille der Krypta schloss sich um ihn. Der Raum war aus grob gehauenen Steinen und Kalkmörtel erbaut worden. Die niedrige Gewölbedecke, die von angeschlagenen Säulen getragen wurde, erstreckte sich vor ihm gleich schattenhaften Phalangen des Todes über bogenförmige Seitenschiffe hinweg bis weit in die Tiefe. Unter fast jedem Bogen hatte man Särge in mehreren Stapeln zu je fünf oder sechs Stück in die Seitenschiffe gepresst. Das von Gewicht und Druck verzogene und gesplitterte Holz gab hier und da den Blick auf grabgeschwärzte Überreste zerfledderter Kleidung und den einen oder anderen unverkennbaren, bleichen Schimmer eines Schädels oder länglichen Knochens frei.

Doch diese sauberen Zeichen der Zeit waren die Ausnahme. Was den Reverend weit mehr entsetzte und ihn zwang, die Hand fester um das Treppengeländer zu schließen, war die Art und Weise, wie die trockene Luft in Verbindung mit der hohen Konzentration an Kalk die meisten Grabmale konserviert hatte. Allzu oft ragte aus diesen zusammengedrückten Grabstätten ein Arm oder ein Bein hervor, welche noch immer als menschlich zu erkennen waren. Oder er erblickte ein haariges, alptraumhaftes Antlitz, das mit seiner geschrumpften Haut und den Verfärbungen an eine Mumie aus Ägypten erinnerte.

»Bischof Prescott?«, rief Earnshaw erneut mit zitternder Stimme. Durch das Licht der Laterne irregeführt, hatte er sich offenbar darin getäuscht, sogleich hierher zu kommen. Der Bischof musste die Lampe schlicht in der Krypta stehengelassen haben und zurück in die Sakristei gegangen sein, um auf ihn zu warten.

Von seinem Irrtum entsetzt, wandte Earnshaw sich gerade wieder zur Treppe um, da fiel sein Blick auf das andere Ende der Krypta. Ein Mann lag mit dem Gesicht nach unten neben der letzten antiken, spiralförmig gewundenen Säule. Allerdings war dies keine alte, ausgetrocknete Leiche, die aus ihrem zerbrochenen Sarg gefallen war.

»Bischof Prescott«, keuchte Earnshaw, der nun die großgewachsene, magere Gestalt, den purpurroten Rock und das dünne, weiße, ungewöhnlich lange Haar wiedererkannte.

Der Reverend taumelte zu der Stelle, an der der Bischof lag, den Kopf leicht zur Seite gedreht. Seine blassgrauen, aufgerissenen Augen starrten blicklos ins Leere. Unter der verdeckten, zerschmetterten Seite seines Kopfes hervor rann langsam ein breiter werdendes, dunkles Rinnsal aus Blut über den antiken Steinboden.

Kapitel 2

London, Mittwoch, 8. Juli 1812, in den frühen Morgenstunden

Der Rundsaal in Carlton House war ein innenliegendes Privatgemach, das nur den intimsten Freunden Seiner Königlichen Hoheit, des Prinzregenten George, vorbehalten war. Hier versammelten sich bis spät in die Nacht die Privilegierten, denen Einlass gewährt war, und tranken inmitten des Glanzes der kristallenen Kronlüster und der blauen Seide, mit der, römischen Zelten nachempfunden, die Wände bespannt waren, ihren Wein, lauschten musikalischen Darbietungen und aalten sich in all den Vorzügen, die es mit sich brachte, in der königlichen Gunst zu stehen.

Heute Abend war der Prinz jedoch gereizter Stimmung, und seine volle, fast feminin anmutende Unterlippe schob sich trotzig vor. »Wie ich hörte, beabsichtigt der Bischof von London, am Donnerstag im House of Lords eine Rede gegen die Sklaverei zu halten«, sagte der Regent und verlangte mit einem Fingerschnippen nach einer weiteren Flasche.

Der Prinz war einst ein ansehnlicher Mann gewesen. Doch jetzt, in seinen Fünfzigern, hatte sein Leben der übermäßigen Hingabe an verschiedenste fleischliche Gelüste seine Spuren hinterlassen. Sein Gesicht war gerötet, die Züge verwaschen, und nicht einmal die Fähigkeiten der besten Schneider Londons – oder das Tragen festgeschnürter, starrer Korsetts – konnten seine Korpulenz überspielen.

Seine Korsettstangen knarrten gefährlich, als der Regent sich umdrehte, um seinem Vetter Charles Lord Jarvis einen finsteren Blick zuzuwerfen. Dieser agierte als allseits anerkannte Macht im Hintergrund des Prinzen und seiner zerbrechlichen Regentschaft. »Was sagt Ihr, Jarvis? Sicherlich gibt es eine Möglichkeit, ihn aufzuhalten?«

Sein Vetter Jarvis war ebenfalls ein großer, beleibter Mann, der im Stehen 183 Zentimeter maß. Allein seine Größe hätte bereits beeindruckend gewirkt. Doch es war die Mischung aus ehrfurchtgebietendem Intellekt, seiner außerordentlichen Skrupellosigkeit und einer wahren Hingabe an König und Vaterland, die ihn zum mächtigsten Mann der Monarchie hatten werden lassen. Er nahm sich Zeit für einen Schluck seines Weines, bevor er antwortete: »Ich sehe kaum eine andere Möglichkeit, als ihn zu töten.«

Ein nervöses Kichern lief durch die Reihe der Männer, die nahe genug standen, um seine Worte zu hören. Jeder wusste, dass Menschen, die Jarvis als seine Feinde betrachtete – oder einfach als unbequem – die hässliche Gewohnheit hatten, tot zu enden.

Die Schmollgrimasse Seiner Hoheit vertiefte sich noch. Einer seiner Vertrauten – ein schlanker Höfling mit dem Gesicht eines Habichts namens Lord Quillian – zog eine Braue hoch und sagte: »Der Mann ist verflucht noch mal auf einem Kreuzzug. Fühlt Ihr Euch davon nicht beunruhigt?«

Jarvis ließ mit seinem Finger nachlässig eine goldene Schnupftabakdose aufschnappen. »Sollte ich das Eurer Meinung nach?«

»Wenn man bedenkt, dass Prescott vor fünf Jahren maßgeblich für diesen Slave Trade Act, das Gesetz zur Abschaffung des Sklavenhandels, verantwortlich war, würde ich das allerdings sagen, ja. In diesem Land wachsen frömmlerische Bestrebungen heran, kombiniert mit einer gefühlsduseligen Empfindsamkeit, die mich besorgen.«

»Es ist einfach, die Abschaffung der Sklaverei in der Theorie zu unterstützen.« Jarvis hob eine Prise Tabak an seine Nase und schnupfte. »In der Praxis werden die Dinge jedoch erheblich komplizierter.«

Eine Bewegung an der Tür erregte Jarvis’ Aufmerksamkeit. Ein großer, militärisch wirkender Mann in einem Reitmantel und Stulpstiefeln sprach leise mit den Lakaien, dann durchmaß er den Raum zu Lord Jarvis und flüsterte ihm ins Ohr.

»Entschuldigt mich, Eure Hoheit«, sagte der mächtige Vetter des Königs und verbeugte sich. »Ich werde in einem Augenblick zurück sein.«

Sie zogen sich in einen verborgenen Alkoven zurück, und Jarvis schnappte: »Was gibt es?«

Der große, militärisch aussehende Gentleman, ein ehemaliger Hauptmann des Neunten Regiments, lächelte. »Der Bischof von London ist tot.«

 

Im kühlen Licht des frühen Morgens ritten Vater und Sohn einmütig nebeneinander auf ihren im Schritt gehenden Pferden durch den Hyde Park. Hier und da hingen noch zarte Nebelschleier zwischen den Bäumen, doch die stärker werdende Sonne brannte den vom nahegelegenen Fluss aufsteigenden Nebel weg.

»Es ist jetzt zwei Monate her, dass Perceval erschossen wurde«, grummelte Alistair James St. Cyr, fünfter Earl of Hendon. Mit seiner Trommel von einem Bauch, seinem dichten weißen Haarschopf und den lebhaften, blauen Augen gab der Earl auf seinem grauen Wallach das Bild eines stattlichen Mannes von sechsundsechzig Jahren ab. »Zwei Monate!«, wiederholte er, als sein Sohn nichts dazu sagte. »Und Liverpool agiert noch immer wie ein inkompetenter Hinterbänkler und nicht wie ein Premierminister. So kann es nicht weitergehen. Wir liegen schon mit halb Europa im Krieg. Nicht mehr lange, und die verfluchten Amerikaner greifen Kanada an, du wirst sehen.«

Sebastian Viscount Devlin, der einzige noch lebende Sohn und damit Erbe des Earls, saß auf seiner hübschen schwarzen Araberstute, die er in seinen Jahren als Offizier der Army erworben hatte, und senkte den Kopf, um ein Lächeln zu verbergen. Der Viscount war sogar noch größer als sein Vater, dazu schlank, dunkelhaarig und mit ungewöhnlichen, gelb und katzenartig wirkenden Augen gesegnet. »Nun, du hast die Einladung des Regenten zur Regierungsbildung abgelehnt«, sagte er.

»Das will ich doch meinen«, sagte der Earl, der seit drei Jahren die Position des Schatzkanzlers bekleidete. »Warum sollte ich meine Tage damit zubringen, mit Jarvis um die Loyalität meines Kabinetts zu konkurrieren? Früher hätte man mich vielleicht dazu überreden können. Aber heutzutage nicht mehr.«

»Ich hätte angenommen, dass du diese Gelegenheit ergreifen würdest«, sagte Sebastian. »Und sei es nur, um Jarvis eins auszuwischen.« Der gefürchtete, fast unheimlich allmächtige Vetter des Königs schüchterte die meisten Männer ein, nicht jedoch Hendon. Die beiden lagen bereits miteinander im Streit, solange Sebastian sich zurück erinnern konnte. So mächtig Jarvis jedoch war, würde er doch niemals selbst eine Regierung bilden. Der große Mann zog es vor, seine Autorität diskret – und effektiver – aus den Schatten heraus auszuüben.

Hendon stieß kräftig den Atem aus. »Ich werde wohl alt. Ich habe Besseres mit meiner Zeit zu tun, finde ich.«

Sebastian zog eine Augenbraue hoch.

»Du hast mich richtig verstanden«, sagte Hendon. »Ich würde meine verbliebenen Jahre gern umgeben von einer Schar Enkel verleben. Unglücklicherweise hat sich mein einziger lebender Sohn noch nicht dazu bereit erklärt, mir welche zu schenken.«

»Du hast bereits einen Enkel. Und eine Enkelin.«

»Bayard?« Hendon tat die Kinder seiner einzigen legitimen Tochter, Amanda, mit einem Winken seiner Hand ab. »Bayard ist ein Wilcox und noch dazu fast so verrückt wie sein Vater, nebenbei bemerkt. Ich rede von Enkelsöhnen der St. Cyrs. Von denen, die nur du mir schenken kannst. Erben. Du bist jetzt fast dreißig Jahre alt, Sebastian. Es ist höchste Zeit, dass du dich niederlässt und eine Familie gründest.«

Sebastian blickte starr auf die Stelle zwischen den Ohren seines Pferdes und sagte nichts. Die Entfremdung, die sich im vergangenen Herbst zwischen Vater und Sohn gebildet hatte, war in den letzten paar Wochen zwar geringer geworden, aber Hendon begab sich gerade auf gefährliches Terrain.

Für eine Weile herrschte angespanntes Schweigen, dann gab der Earl ein Schnauben von sich. Seine Augen verengten sich, als er durch den Park blickte. »Wie ich sehe, hältst du dir noch immer diesen impertinenten Taschendieb als Laufburschen.«

Sebastian folgte dem Blick seines Vaters und sah einen Jungen mit spitzem Gesicht, der in die Livree des Hauses Devlin gekleidet war und ungeschickt auf einem von Sebastians Kutschgäulen heranritt. Er reckte einen Ellbogen himmelwärts, um seine Mütze an Ort und Stelle zu halten. »Was zum Teufel?«

Tom, Sebastians junger Bursche, lenkte sein Pferd neben sie. Er war dreizehn Jahre alt, sah mit seinem Zahnlückengrinsen und der schmalen Gestalt aber jünger aus. Mit einem Kopfnicken in Hendons Richtung sagte er atemlos: »Ich bitt’ um Entschuldigung, Eure Lordschaft.« Er wandte sich an Sebastian. »Meister, in der Brook Street is Besuch für Euch. Eure Tante, die Herzogin von Claiborne, und der Erzbischof von Canterbury!«

Devlin sagte: »Der Erzbischof von Canterbury?«

»Henrietta?«, sagte sein Vater, dessen Augen sich ungläubig weiteten. »Um diese Uhrzeit?« Die Herzogin von Claiborne war dafür bekannt, dass sie das Bett nie vor Mittag verließ. Hendon schnaufte. »Der Junge ist offensichtlich besoffen.«

»Ich hab nich getrunken«, sagte Tom und zügelte sein Pferd. »Es is ehrlich Ihre Ehren, sie sitzt mit dem Erzbischof selbst im Salon.«

Hendons misstrauisches Stirnrunzeln vertiefte sich noch. »Ich habe zuletzt gehört, dass Erzbischof Moore sozusagen auf der Schwelle zum Tod stünde. Nun, Jarvis zieht im Hintergrund schon die Strippen bezüglich seines Amtsnachfolgers.«

»Na, so richtig propper sieht er nich aus, das is mal klar«, stimmte Tom zu. »Aber ich schätz, das kann man erwarten, wenn man bedenkt, was ihm passiert is.«

»Was ist denn passiert?«, fragte Sebastian.

»Na, da is einer hin und hat den Bischof von London gekillt. Gestern Abend, in der Krypta von soner Kirche in der Nähe von Hounslow Heath.«

Kapitel 3

Neben einem bescheidenen Anwesen in Hampshire, das ihm eine unverheiratete Großtante vermacht hatte, besaß Sebastian ein elegantes kleines Stadthaus mit Erkerfront in der Brook Street. Sein immer etwas leidender Majordomus Morey empfing ihn mit einem tiefen Diener an der Tür. »Der Erzbischof von Canterbury und die Herzogin von Claiborne erwarten Euch im Salon, Mylord.«

»Großer Gott.« Sebastian übergab dem Majordomus seine Reitgerte, den Hut und die Handschuhe. »Dann stimmt es also.«

Morey verbeugte sich erneut. »Ja, Mylord. Ich habe mir die Freiheit erlaubt, Tee anzubieten, doch Ihre Ladyschaft lehnte ab.«

Sebastian stieg, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf, wo er im Salon auf seine Tante Henrietta traf. Sie hatte sich auf einem der edlen Stühle neben dem Bogenfenster des Salons niedergelassen. Ihr gegenüber saß ein grauhaariger, klapperdürrer Geistlicher mit dem blassen Teint eines Mannes, der ein finales Stadium der Schwindsucht erreicht hatte. Seine Tante und der Erzbischof von Canterbury waren gute, alte Freunde. Sebastian wusste, dass das anhaltende Leiden des Erzbischofs, das ihn nun dem Tode entgegenführte, seiner Tante erheblichen Kummer bereitete.

»Ich bitte um Verzeihung, dass ich in dieser Aufmachung zu Euch komme«, sagte Sebastian. »Aber soweit ich es verstanden habe, ist der Grund Eures Besuchs dringlich.«

Erzbischof John Moore streckte seine dünne, von blauen Adern überzogene Hand aus. Sie zitterte sichtlich. »Und ich entschuldige mich dafür, dass wir Euch genötigt haben, Euren Morgenausritt abzubrechen. Verzeiht, wenn ich mich nicht erhebe.«

Sebastian verbeugte sich tief über die gebrechliche Hand des Erzbischofs, dann drehte er sich um und küsste die Wange seiner Tante. »Soll ich nach Tee klingeln?«

»Ich habe heute Morgen bereits ausreichend Tee gehabt«, sagte Tante Henrietta mit einem wenig damenhaften Schnauben. »Was ich jetzt brauche, ist ein Brandy.«

Die Dowager Duchess of Claiborne war fünf Jahre älter als ihr Bruder Hendon und galt als eine der großen alten Damen der feinen Gesellschaft. Ebenso robust gebaut wie ihr Bruder, besaß sie Hendons breites, fleischiges Gesicht und die leuchtend blauen Augen der St. Cyrs. An diesem Morgen wirkte sie ausgesprochen erschöpft, und Sebastian kam in den Sinn, dass sie so früh bereits ausgegangen war, weil sie es noch gar nicht in ihr Bett geschafft hatte.

»Du hast doch Brandy im Hause, oder nicht?«, sagte sie scharf, als er zögerte.

Sebastian warf Erzbischof Moore einen fragenden Blick zu.

»Brandy hört sich nach einer wunderbaren Idee an«, sagte der Erzbischof mit einem zittrigen Lächeln.

»Ich gehe davon aus, dass du bereits vom Tod des Bischofs von London gehört hast?«, sagte Henrietta.

»Just vor wenigen Augenblicken.«

Der Erzbischof räusperte sich. »Allem Anschein nach hat ihm heute Nacht jemand in der Krypta der St. Margaret’s-Kirche in Tanfield Hill den Schädel eingeschlagen.«

Sebastian goss Brandy in drei Gläser und fragte sich insgeheim, was das mit ihm persönlich zu tun hatte.

»Die Krypta war über Jahrzehnte verschlossen«, sagte der Erzbischof, als Sebastian ihm ein Glas reichte. »Meines Wissens hatten die Gerüche dieser Räumlichkeiten Einfluss auf die Benutzung der Kirche und riefen die Sorge vor Krankheit hervor. Es wurde beschlossen, die Krypta zuzumauern.«

Sebastian hatte die Praxis, Särge in offenen Krypten übereinander zu stapeln, seinerseits immer bizarr, wenn nicht gar barbarisch empfunden. Diese Ansicht behielt er allerdings für sich. Er reichte seiner Tante ihren Brandy und sagte: »Wenn die Krypta verschlossen war, wieso war der Bischof dann dort unten?«

»Arbeiter sind gestern versehentlich durch den mit Backsteinen verschlossenen Eingang gebrochen und haben eine unangenehme Entdeckung gemacht«, sagte der Erzbischof. »Aufgrund der enormen Skandalträchtigkeit ihres Fundes hielt der Reverend es für das Beste, sogleich Bischof Prescott mit einzubeziehen.«

Sebastian ging zum Kamin und lehnte sich gegen die Umrandung. »Skandal? Wieso das?«

»Wegen des Leichnams.«

Sebastian hielt sein Glas auf halbem Weg zu seinem Mund in der Luft. »Leichnam?«

»Der Tote in der Krypta«, sagte seine Tante in einem Ton, als würde er sich bewusst begriffsstutzig gebärden.

Sebastian nahm einen Schluck Brandy und erschauerte. Er hatte einen ziemlichen Ruf, viel zu trinken und ein wildes Leben zu führen, aber halb acht Uhr morgens war selbst für ihn ein bisschen früh für den Genuss von Brandy. »Ich stelle mir vor, dass es in der Krypta von St. Margaret wohl eine beachtliche Zahl Toter geben muss. Sie stammt aus – welcher Zeit? Dem zwölften Jahrhundert?«

»Tatsächlich ist die Krypta sogar noch älter als die Kirche«, sagte der Erzbischof. »Sie stammt bereits aus der Zeit der Angelsachsen.«

»Also Hunderte von Toten«, sagte Sebastian, »wenn nicht sogar über tausend.«

Henrietta beugte sich vor, ihr Brandyglas vorsichtig mit der Hand balancierend. »Der Leichnam, den die Arbeiter fanden, war keiner der Bestatteten, Sebastian. Der Mann ist ganz offensichtlich dort unten ermordet worden.« Sie senkte die Stimme. »Bereits bevor die Krypta versiegelt wurde. Er wurde hinter einer der Säulen auf dem Boden ausgestreckt gefunden. Mit einem Messer im Rücken

Sebastian blickte von seiner Tante zum Erzbischof. »Entschuldigt, Eure Gnaden, aber … Warum seid Ihr hergekommen, mir das zu berichten?«

»Du weißt doch sehr genau, weshalb wir hier sind, Sebastian«, schnappte seine Tante. »Wir sind hier, weil der Erzbischof wünscht, dass du die Mordfälle löst.«

»Warum?«

»Warum?«, echote sie indigniert. »Was meinst du mit der Frage? Natürlich, weil du so etwas gut kannst.«

Sebastian stand reglos da. Er hatte bereits befürchtet, dass dies käme. »Ich habe Verständnis dafür, wenn der örtliche Untersuchungsrichter durch diese Angelegenheit überfordert ist, aber ich sollte doch annehmen, dass die Bow Street-Behörde mehr als fähig ist, den Fall zu klären.«

Der Erzbischof räusperte sich erneut. »Ich habe die Angelegenheit bereits mit der Bow Street durchgesprochen. Sir Henry Lovejoy ist mit meiner Entscheidung, Euch in die Ermittlungen einzubinden, einverstanden. Die Bow Street leistet durchaus gute Arbeit, wenn es um die Aufklärung eines Mordes an einem Ladenbesitzer oder einem Kaufmann geht. Doch hat sie schlicht nicht die nötige Expertise, um mit einem Zwischenfall in diesen gesellschaftlichen Schichten zurechtzukommen. Und das weiß man in der Behörde.«

Sebastian löste sich von der Kaminumrandung und trat zu dem Fenster, das auf die Straße hinauswies. Es stimmte, dass er in den letzten anderthalb Jahren in mehrere Mordermittlungen hineingezogen worden war. Diese Mordfälle hatten ihn allerdings entweder auf die eine oder andere Weise persönlich betroffen, oder ihre Opfer hätten ansonsten niemals Gerechtigkeit gefunden. Und jeder dieser Fälle hatte eine weitere Schicht von seiner Seele abgetragen.

Er sagte: »Als ich das letzte Mal in Mordermittlungen einbezogen wurde, sind etwa ein Dutzend Menschen gestorben.«

»Ich habe Verständnis für Eure Zurückhaltung davor, in diesen Fall verwickelt zu werden«, sagte der Erzbischof in seiner begütigenden Beichtvater-Stimme.

Hatte er das wirklich?, fragte Sebastian sich. Hatte er die geringste Vorstellung, welche Art von Gefühlsaufruhr um einen Mord herumwirbelte? Die Geheimnisse und Lügen, der Zorn und die Verzweiflung?

Die wässrigen, grauen Augen des Erzbischofs zogen sich zusammen. Der Mann mochte alt und krank sein, doch niemand stieg zur Position des mächtigsten Klerikers in ganz England auf, wenn er nicht zugleich intelligent und außerordentlich gerissen war. »Doch frage ich mich, ob Ihr versteht, wie entscheidend es für das Wohlergehen der ganzen Nation ist, dass dieser Mordfall gelöst wird – und zwar rasch?«

Als Sebastian nicht antwortete, fuhr Moore fort: »Es ist kein Geheimnis, dass meine Tage gezählt sind. Man arbeitet bereits daran, meinen Nachfolger zu bestimmen, und das ist gut und richtig. In Zeiten wie diesen ist eine längere Amtsvakanz nach Möglichkeit zu vermeiden. Wie der Zufall es will, war Bischof Prescott ein starker Anwärter auf mein Amt. Tatsächlich war er sogar mein Favorit.«

Sebastian runzelte die Stirn. »Ihr meint, diese Tatsache könnte etwas mit seinem Tod zu tun haben?«

»Es wäre denkbar. Im Augenblick haben wir keine Möglichkeit, es genauer zu wissen.« Der Erzbischof stellte seinen Brandy beiseite, beugte sich vor und legte die Hände wie zum Gebet zusammen. »Doch berücksichtigt bitte, dass seit der Ermordung des Premierministers gerade einmal zwei Monate vergangen sind. Nun ist der Bischof von London getötet worden. Wenn ich morgen sterbe …« Er brach ab und hob beide Hände hoch, als wolle er Sebastian dazu einladen, sich eine Nation auszumalen, die sowohl ihrer geistigen wie auch der politischen Führer beraubt wäre. »Dies ist eine gefährliche Zeit in der Geschichte unserer Nation«, fuhr er in feierlichem Tonfall fort. Seine Hände legten sich wieder aneinander, während Sebastian noch immer schwieg. »Bereits seit annähernd zwei Jahrzehnten sind wir ohne Unterbrechung im Krieg. Im Volk herrschen großes Leid und Unfrieden. Und nun drohen die Amerikaner uns auch noch anzugreifen.«

Sebastian stieß ein leises Lachen aus. »Ich verstehe. Es ist sowohl meine geistige als auch meine patriotische Pflicht, diesen Mord aufzuklären, nicht wahr?«

Seine Tante warf ihm einen missbilligenden Blick zu.

Sebastian ignorierte sie und sagte: »Die zweite Leiche – die mit dem Messer im Rücken. Um wen handelt es sich dabei?«

Die plötzliche, zielstrebige Frage schien den Erzbischof zu überraschen. »Das wissen wir nicht.«

»Aber Ihr sagtet, er ist vor Jahren getötet worden?«

»Allem Anschein nach, ja. Nach seiner Kleidung zu schließen, so wurde mir gesagt, ist er vermutlich irgendwann im letzten Jahrhundert gestorben.«

Dieses Puzzle war zweifellos faszinierend – zwei Mordopfer in einer Krypta, deren gewaltsamer Tod Jahrzehnte auseinander lag. Sebastian blickte zum Fenster hinaus und sah einen Bäckerjungen, der mit seinem Tablett vor der Brust, das durch ein Band um seinen Hals gehalten wurde, seine Runden machte. »Warme Brötchen«, rief er, »frische warme Brötchen!«

Tante Henrietta konnte nicht mehr länger stillsitzen. »Also?«, forderte sie eine Antwort. »Wirst du es tun?«

Sebastian wandte sich um und erwiderte den besorgten Blick seiner Tante. Wäre der Erzbischof allein mit der Bitte um Hilfe zu Sebastian gekommen, so hätte er diese ohne zu zögern zurückgewiesen. Übertriebene Appelle an seinen Patriotismus fielen bei Sebastian keineswegs auf fruchtbaren Boden. Noch dazu würde die wahre Natur von Sebastians Haltung zu Fragen des Glaubens dem alten Kirchenmann einen heftigen Schlag versetzen. Doch diese Tatsachen schien der gewitzte alte Erzbischof zumindest teilweise zu ahnen, weshalb er seine liebe, langjährige Freundin, die Herzogin von Claiborne, mit hergebracht hatte.

Sie mochte mürrisch und schonungslos unsentimental sein. Doch als Einzige aus Sebastians Familie hatte sie ihn niemals im Stich gelassen, und er hatte immer gewusst, dass ihre Liebe rein und bedingungslos war. Sebastian konnte sie nicht zurückweisen.

Er hob seinen Brandy an die Lippen und leerte sein Glas. »Ich werde es tun.«