Kapitel 1 – Aus der Not geborene Ideen
Dornheim bei München, 12. November 1918
Heinrich Hopfstädter war während der Novemberrevolution gefallen, als er für die Neuordnung und Ausrufung der ersten demokratischen Republik in Deutschland gekämpft hatte. Er war ein Freidenker und Philosoph gewesen, auch wenn das Schicksal ihn in eine Dynastie von Landwirten hineingeboren hatte.
Annie hatte ihren Schwiegervater für diese Haltung immer bewundert und sich vier Jahre zuvor in genau diesen fortschrittlichen Geist verliebt, der auch in seinem Sohn Ferdinand brannte. Doch dann war der Krieg gekommen und hatte sich weder von der Liebe noch von wagemutigen Ideen aufhalten lassen.
Kurz nach der Hochzeit war Ferdinand genau wie sein Vater einberufen worden. Und für die Frauen auf dem Hof hatte eine ganz neue Ära begonnen. Plötzlich waren sie alleine für das Bestellen der Felder, das Vieh und die Ernte verantwortlich gewesen.
Vier Jahre lang hatte Annie fest daran geglaubt, dass bald wieder alles beim Alten sein würde. Dass die Männer zurückkehren und ihre Rollen wieder übernehmen würden. Doch auch das war anders gekommen.
Die Beerdigung ihres Schwiegervaters Heinrich Hopfstädter fand an einem verregneten Sonntag statt, drei Tage nachdem Philipp Scheidemann die Weimarer Republik ausgerufen und gegründet hatte. Es herrschte wieder Frieden und die Welt hatte sich neu geordnet.
Das erste Mal überhaupt durften Frauen wählen. Doch alles, was Annie spürte, war Angst. Solch eine Angst, dass sie selbst die tiefe Trauer um den Verstorbenen überdeckte. Denn obwohl der Krieg vorüber war, gab es noch immer kein Lebenszeichen von ihrem Mann. Ferdinand galt offiziell als vermisst.
Heinrich war ihr, seit sie ihn kannte, väterlich zugetan gewesen. Er hatte ihr Mut zugesprochen, als sie sich als Vorstadtmädel auf dem Hof verloren und fehl am Platz gefühlt hatte. Doch Ferdinand hatte sie seine Visionen von der Zukunft sehen lassen. Jetzt waren nur noch die Frauen übrig.
Seit sie den Brief mit der schrecklichen Nachricht über den ungewissen Verbleib ihres Ehemannes erhalten hatte, quälten sie Albträume von seinem Tod. Im Wirtshaus tuschelte man, er könnte sich womöglich unerlaubt abgesetzt haben. Einen feigen Deserteur schimpfte man ihn hinter vorgehaltener Hand. Das zumindest hatte Marie ihr erzählt, eine der Mägde, die ihre dralle Figur nutzte, um sich an ihren freien Tagen hie und da als Aushilfe ein paar Groschen dazuzuverdienen.
Denn das Leben auf dem Land war durch den Krieg nur noch härter geworden. Die meisten Arbeiten mussten von Hand verrichtet werden, weil die Soldaten die Pferde für den Kriegstross geholt und große Teile des Viehs geschlachtet und zu Trockenfleisch verarbeitet hatten. Dennoch wollte das Land bestellt werden. Eine Mühsal, die Annie als Tochter eines Tabakhändlers zwar nicht vollkommen fremd war, die ihren Körper aber ohne die Unterstützung der Männer Stück für Stück in die Knie zwang.
Immer wieder brach sie unter der Last der Vorratssäcke zusammen, die für den bevorstehenden Winter sicher und trocken eingelagert werden mussten. Nicht nur deshalb betete sie jeden Abend dafür, dass Gott ihr ihren Ferdinand zurückbringen mochte. Doch die Wege des Herrn waren nicht nur unergründlich, sondern bisweilen auch grausamer, als der menschliche Geist es sich zu erdenken vermochte.
Ende November fiel der erste Schnee, begrub das Land unter einer eisigen Decke und brachte einen unerwarteten Besucher auf den Hof.
Es war noch dunkel, als Annie im Stall die verbliebenen Kühe melkte. Trotz der frostigen Temperaturen draußen war es in dem engen, niedrigen Stall verhältnismäßig warm. Die Geräusche des Viehs, ihr gemächliches Wiederkäuen und ungeduldiges Aufstampfen, gaben Annie ein Gefühl von Geborgenheit.
Die frische Milch, die sich schäumend im Eimer sammelte, war wie ein Schatz, den sie täglich barg. Denn Milch war nahrhaft. Man konnte daraus Butter und Käse machen – die Grundbausteine einer reichhaltigen Mahlzeit.
Als das Tor hinter ihr unvermittelt aufschwang und der Wind weiße Flocken in den Stall trieb, zuckte Annie auf ihrem Schemel erschrocken zurück und hätte dabei um ein Haar mit dem Fuß den halb vollen Kübel umgestoßen.
Fluchend raffte sie ihren Rock zusammen und erhob sich, um das Tor wieder zu verschließen, als sich eine Gestalt aus dem Schatten schälte. Dick in Schal und Decke gehüllt, trat ein Mann in den Raum.
„Wenn du um Almosen bitten willst, dann geh in die Küche. Dort wird man dir ein Stück altes Brot und etwas Warmes zu trinken geben“, sagte Annie mit energisch erhobener Stimme. „Aber Arbeit haben wir keine zu vergeben und Raufbolde oder Diebespack haben auf dem Hof nichts zu suchen.“
Sie blickte dem Vermummten mit erhobenem Kinn entgegen, doch innerlich flatterte ihr Herz wie ein unsteter Schmetterling. In Kriegszeiten war es keine Seltenheit gewesen, dass Männer die Höfe besucht hatten, um sich an den Frauen zu vergehen oder das wenige zu plündern, das nach all dem Leid noch übrig war.
Als der Mann etwas Unverständliches in seinen Schal nuschelte und einen Schritt auf sie zu machte, griff Annie entschlossen nach der Mistgabel. „Ich sagte, geh!“
Sie konnte zwischen den Lagen der über den Kopf geschlungenen Decke sehen, wie er die Augen aufriss. Die eine Hand erhoben, stolperte er rückwärts, während er sich mit der anderen unbeholfen den Schal abstreifte.
„Ich bin es, Annie. Der Arno“, nuschelte er. Doch diesmal verstand sie seine Worte.
Und als sie endlich sein Gesicht sah, erkannte sie, dass er halb erfroren war. Seine Lippen waren blau. Auf seinen unrasierten Wangen prangten violett verfärbte Flecken. Ob durch Kälte oder Schläge war nicht auszumachen.
Arno. Unschlüssig starrte sie ihn an. Diese kleinen, stechenden Augen kamen ihr tatsächlich bekannt vor. Hatte ihr Mann nicht einen Cousin, der diesen Namen trug?
„Beweis es“, sagte Annie und drohte erneut mit der Mistgabel.
„Ich bin heim nach dem Krieg. Wollte dort mein kaputtes Bein auskurieren, nachdem sie mich aus’m Lazarett entlassen hab’n. Aber … aber der Hof ist dem Feuer zum Opfer gefallen. Ma und meine Schwester sind verbrannt, zusammen mit’m Vieh und … und so gut wie allem, was die Familie besaß. Und Pa ist ja schon zu Beginn gefallen. Da … da hab ich nicht gewusst, wohin“, erzählte Arno stotternd. Ob nun vor Kälte, Aufregung oder Schock.
Doch noch war das eine Geschichte, die auf jeden Dritten in der Gegend zutreffen konnte. Also blieb Annie, wo sie war, und wartete ab.
„Ich weiß, wir hatt’n keinen großartigen Kontakt. Weil mein Vater und sein Bruder, der alte Hopfstädter Heinrich, zerstritten waren. Wegen der alten Kesselanlage. Aber als der Ferdl uns zur Hochzeit eingeladen hat, sind wir gekommen. Weil’s doch wichtig ist, die Familie zusammenzuhalten.“
Sein Tonfall bekam etwas Flehendes und Annie glaubte ihm. Sie erinnerte sich an die alte Fehde zwischen Heinrich und seinem Bruder Franz, auch wenn sie nie ins Detail hinterfragt hatte, was der eigentliche Streitpunkt gewesen war. Ihr Ferdinand hatte mit der Einladung Frieden stiften wollen. Doch die Streithähne waren sich den ganzen Tag über aus dem Weg gegangen.
Für sie war Arno kein Feind. Ihre Schwiegermutter würde das allerdings womöglich anders sehen. Annie senkte die Mistgabel und nickte. „Ich kenne dich. Und trotzdem muss ich wissen, was du hier willst.“
„Ich schaff es nicht, den Hof alleine wieder aufzubauen. Mir ist nichts geblieben als mein Leben. Aber ich kann noch zupacken, was wegschaffen“, sagte er und seine Worte kamen ihm nun flüssiger über die bebenden blauen Lippen. „Ich weiß, ihr schuldet mir nichts. Aber ich bin nicht mein Vater. Gebt mir Arbeit. Weil’s Blut dicker ist als Wasser oder einfach, um wie der liebe Gott Gnade zu zeigen.“
Arno machte einen weiteren Schritt auf sie zu, wobei er sein rechtes Bein deutlich nachzog. Mit flackerndem Blick sah er sie an. So hoffnungsvoll und gleichzeitig verzweifelt, dass Annie schluckte. Dieser verdammte Krieg tat auf so vielfältige Weise weh. Durch Entbehrung, Krankheit, Hunger und Tod und weil man die Menschen leiden sah und nicht helfen konnte.
Heinrich war gerade erst gestorben und Ferdinand immer noch verschollen. Herrin über Haus und Hof war damit Heinrichs Frau Sophie. Trotzdem mühte sich Annie um ein Lächeln und stellte die Mistgabel endgültig beiseite.
„Komm, wärm dich ein wenig im Stall und trink einen Schluck Milch, während ich die restlichen Kühe melke. Danach sehen wir, was sich tun lässt.“
Sie sprach es nicht aus, aber Arno verstand auch so, dass die Entscheidung nicht bei ihr lag. Dankbar kauerte er sich ins Stroh und achtete darauf, nichts zu verschütten, als Annie ihm die volle Schöpfkelle reichte.
„Wie bist du hergekommen?“, fragte sie, während sie den Schemel richtete und mit beiden Händen nach jeweils einer Zitze griff.
„Zu Fuß die meiste Zeit. Oder mal mit aufm Karren, wenn einer vorbeikam. Aber die Leut sind misstrauisch und müd. So viel Grau in ihren Gesichtern. So viel Gram. Als würd das Kanonenfeuer vom Schlachtfeld immer noch durch die Straßen und über die Feldwege weh’n und einen einnebeln.“
Ein Lächeln huschte über Annies Lippen. Trotz seines heruntergekommenen, ja fast schon wilden Aussehens steckte ein überraschend poetischer Geist in diesem Mann.
Seine Hände waren mit Stofffetzen umwickelt, die vielleicht einmal ein Hemd gewesen waren. Er trug noch immer seine Regimentsstiefel und die zugehörige Hose, soweit Annie das unter den mit Frost überzogenen Decken, in die er sich gewickelt hatte, erkennen konnte.
Sie war versucht, ihn nach Ferdinand zu fragen. Doch wenn er etwas gewusst hätte, hätte er es wohl erzählt. Schon, um seine Chancen zu verbessern. Zu hören, dass immer noch Männer heil, wenn auch nicht völlig unversehrt, heimkehrten, gab ihr dennoch neue Kraft.
Sie würde auf ihren Liebsten warten, ganz egal, was Sophie dachte. Sie kannte ihren Sohn eben nicht gut genug. Er würde alles tun, um zu ihr zurückzukommen. Weil sie aus Liebe geheiratet hatten. Aus wahrer, tief empfundener Liebe.
Noch heute konnte sie diesen letzten innigen Kuss auf ihren Lippen spüren, als er sich von ihr verabschiedet hatte, um für Kaiser Wilhelm II. in die Schlacht zu ziehen.
Heute, vier Jahre später, gab es keinen Kaiser mehr. Und das alles nur, weil Österreich-Ungarn die Deutschen in ihren Konflikt mit Serbien hineingezogen hatte. Ein Funke, der nicht nur ein Land, sondern die ganze Welt in Brand gesteckt hatte. Zumindest war das ihr politisches Verständnis, wenn sie zwischen den Zeilen der Kriegsparolen und Propaganda las. Aber wer fragte in diesen Zeiten schon eine Frau?
„Ihr könnt die Kessel haben, wenn’s hilft“, sagte Arno in ihre Gedanken hinein. Dabei rieb er sich mit einer Handvoll Stroh die Hosenbeine ab, um sie von Nässe und Eiskrusten zu befreien. „Viel mehr ist nicht übrig von der Anlage.“
„Wie soll man die denn den ganzen Weg herschaffen?“, fragte Annie, während sie sich daran machte, die letzte Kuh zu melken.
Doch Arnos Angebot pflanzte eine Idee in ihre Gedanken. Eine schier wahnwitzige, fürwahr, und doch könnte sie die Zukunft bedeuten und den Hof auf lange Sicht retten.
Die Anlage, um die sich die Brüder gestritten hatten, war früher einmal zum Brauen verwendet worden. Ferdinands Großvater hatte das Hopfstädter Bräu noch ganz ohne die modernere Kühltechnik allein in den Wintermonaten hergestellt und damit für den Wohlstand gesorgt, von dem selbst seine Enkel noch gezehrt hatten. Bis sich der Kaiser gnadenlos an ihrem Vieh und den Vorräten bedient hatte.
Die Konzession zum Bierbrauen musste immer noch in den Büchern der Familie stehen. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf stand Annie schließlich auf, verteilte eine Fuhre Heu und trat dann auf Arno zu.
„Lass uns nachsehen, was die Mägde für ein Frühstück zubereitet haben und ob Sophie gewillt ist, dich über ihre Türschwelle zu lassen.“
Arno nickte und rappelte sich auf. Sein rechtes Bein schien wegen einer Verletzung am Knie steif zu sein. Auch seine Hüfte wirkte dabei unnatürlich eingeknickt. Doch seine Augen strahlten trotz seines jämmerlichen Zustandes immer noch Kraft aus. Kraft und etwas Dunkles, das Annie gleichzeitig abschreckte und neugierig machte.
Familienfehde hin oder her, eine billige Arbeitskraft konnten sie gut gebrauchen. Zumindest, solange seine Arme noch funktionierten und er vertrauenswürdig war. Das musste selbst Sophie einsehen. Hoffentlich.
Kapitel 2 – Nicht gewollt, aber geduldet
„Der kommt mir auf keinen Fall ins Haus!“, hatte Sophie gerufen und sich dann doch erweichen lassen, nachdem Annie ihr die Vorteile aufgezählt hatte, die ein Mann im Haus bieten würde. Auch wenn es nur ein Halber sein mochte.
„Eine Woche zur Probe. Und er muss in der Scheune schlafen. Essen gibt es nur, wenn er gearbeitet hat. Wir füttern keine Faulpelze und Schmarotzer durch, nur weil sie vom gleichen Blut abstammen.“ Harte Worte, doch Annie kannte ihre Schwiegermutter gut genug, um zu wissen, dass ihr Verstand die Vor- und Nachteile bereits abgewogen hatte. Arno würde bleiben, wenn er sich nichts allzu Schlimmes leistete.
Während es draußen langsam hell wurde, saßen sie zusammen in der Küche, frühstückten und besprachen die anstehenden Arbeiten, als wäre dies ein ganz normaler Tag.
Arno war klug genug, sich nicht mit seiner Leidensgeschichte in den Vordergrund zu spielen. Stattdessen trank er dankbar seinen starken Kaffee und konzentrierte sich auf das Essen.
Seine Hände hatte er vorher notdürftig in der Spüle gewaschen. Doch er würde Salbe und frischen Verband benötigen, dazu ein Bad und eine anständige Rasur, um aus ihm wieder einen ansehnlichen Menschen zu machen. Marie, die Magd im Haus, würde das sicherlich gerne erledigen.
Und wenn es Sophie recht war, würde Annie ein paar alte Wintersachen ihres verstorbenen Schwiegervaters heraussuchen. Heinrich hatte zwar deutlich breitere Schultern gehabt und war ein wenig größer gewesen, aber das ließ sich mit ein paar zusätzlichen Nähten und Hosenaufschlägen leicht beheben.
Das Wetter beruhigte sich, also würde Annie nach getaner Arbeit im nahen Wald Tannenzweige sammeln, am Abend ein paar Kränze daraus binden und aus den Wachsresten neue Kerzen gießen. Die Tage wurden zusehends kürzer und die Adventszeit stand kurz bevor.
Die Familie Hopfstädter legte großen Wert darauf, die alten Bräuche zu pflegen. Besonders die kirchlichen. Annie hingegen wollte vor allen Dingen, dass ihr Heim Wohnlichkeit und Geborgenheit ausstrahlte, wenn ihr Mann zurückkam. Er sollte sehen, dass sie den Hof in seiner Abwesenheit so gut, wie es eben möglich gewesen war, am Laufen gehalten hatten.
Ihre Schwiegermutter war wegen ihres Rückenleidens zumeist an das Haus gebunden. Sie würde mit Marie und der alten Erna Gemüse und Obst einkochen und den Sauerteig für die nächste Woche vorbereiten.
Bis zur Brotzeit am Mittag hatte sich Arno dank Maries Hilfe wieder in einen ansehnlichen Kerl verwandelt. Sein rabenschwarzes Haar war gewaschen und gestutzt, seine fleckigen Wangen wirkten bereits rosiger. Der Bart war bis auf einen schmalen Schnauzer verschwunden.
Sophie hatte sich offenbar nur von den ältesten und bereits mehrfach geflickten Kleidungsstücken ihres toten Mannes trennen können, aber auch das genügte, um Arno wieder menschlich aussehen zu lassen.
Annie zeigte ihm, wo er in der Scheune schlafen konnte und wie er das Heu für die Kühe vorbereiten musste. Dabei war sein Bein immer wieder ein Hindernis. Dennoch mühte er sich ohne Klagen die Leiter auf die Tenne hinauf und humpelte tapfer mit der vollen Schubkarre über die Rampe hinunter in den Innenhof, während Annie sich um die Hühner und die zwei verbliebenen Schweine kümmerte.
Eines davon würde wohl als Weihnachtsbraten herhalten müssen. Das andere war ihre Fleisch- und Fettreserve, wenn der Winter zu lang andauern oder besonders hart werden würde. Damit blieben ihnen nur noch das Rindvieh und die fünf Hektar Grund, auf denen sie vor dem Krieg Gerste angebaut hatten. Mittlerweile pflanzten sie stattdessen vorwiegend Kartoffeln auf den Äckern. Das war billiger und sie brauchten weniger Hilfskräfte für die Pflege und später im Herbst die Ernte.
„Warum hat dein Vater die Kesselanlage nie in Betrieb genommen, nachdem sie ihm zugefallen war?“, fragte Annie, während sie den Schweinemist in einen Eimer schaufelte. Sie wusste, dass sie damit vielleicht ein sensibles Thema ansprach, doch der Gedanke an die Möglichkeiten, die sich daraus ergaben, ließ sie nicht mehr los.
Arno hielt bei seiner Arbeit inne. „Es gab viele Gründe, die mein alter Herr dazu parat hatte. Aber wenn ich’s recht bedenke, ging’s ihm wohl vor allem ums Rechthaben und Gewinnen. Er wollt’ seinen Bruder ausstechen. Weil der ja sonst immer der Bessere war. Mit dem Klugsein, den Mädchen und auch sonst.“
Annie schmunzelte. „Ist doch immer das Gleiche mit Geschwistern, oder?“
„Kann ich nicht sagen. Bei mir hat’s für einen Bruder nicht gereicht. Und die erste Schwester is’ damals noch im Kindbett gestorben. Hätt’ meine Ma fast mit umgebracht, weil die Geburt so schwierig war“, antwortete Arno und hob die Schultern an.
„Umso mehr Zuckerl sind dir dann geblieben“, sagte Annie.
Arno wiegte den Kopf hin und her und grinste dann fast schon verschämt. „Und umso mehr Hiebe, wenn was angestellt wurde. Weil’s keinen anderen gab, der dafür infrage kam.“
Annie lachte auf. Es war erfrischend, mit jemandem reden zu können, der so offenherzig seine Meinung sagte, statt sich immer nur in geheimniskrämerisches Schweigen zu hüllen. So wie es Ferdinand gerne tat.
Arno mochte vielleicht nicht der Gebildetste sein, aber das lag wohl eher daran, dass es für Kinder wie ihn schwer war, zur Schule zu gehen. Sie mussten von klein auf auf dem Hof mithelfen. Da blieb wenig Zeit und Gelegenheit für anderes. Die Söhne sollten den Hof übernehmen, statt die Nasen in Bücher zu stecken und von einer Karriere in der Stadt zu träumen.
Bei Annie war das anders gewesen. Ihre Eltern hatten nicht das Glück gehabt, einen Sohn als Stammhalter zu bekommen. Stattdessen hatten sie mit zwei Töchtern vorliebnehmen müssen, hatten sie großgezogen und alles darangesetzt, um sie zu guten Ehefrauen zu erziehen und sie möglichst gut zu verheiraten. Elise war die Ältere. Für sie hatte ihr Vater einen verwitweten Geschäftsfreund gefunden, der geeignet war, die Firma Sonnreith Tabakwaren Import nach seinem Abdanken zu übernehmen. Damit war Annie frei gewesen, mitzuentscheiden und eine Wahl zu treffen, die auf Liebe fußte statt auf finanzielle oder gesellschaftliche Vermählungsgründe.
Ferdinand war ihr bei einem Bankett vorgestellt worden, das die Familie seines besten Freundes gegeben hatte, um die jüngste Tochter in die Gesellschaft einzuführen. Ein Blick in seine warmen braunen Augen hatte genügt, um sich Hals über Kopf in ihn zu verlieben.
Kaum ein Jahr später feierten sie Hochzeit. Ihr Glück schien geradezu perfekt, als sich die politische Lage im Süden drastisch zugespitzt hatte und Deutschland wenige Wochen später bereits an der Seite Österreich-Ungarns in den Krieg gezogen war. Auf einen Schlag waren alle kampffähigen Männer zu Soldaten geworden.
Annie sah zu, wie Arno sich weiter mit der Schubkarre abmühte. Das Gesicht vor Anstrengung und unerbittlichem Willen zu einer Grimasse verzogen.
Er musste einige Jahre älter sein als Ferdinand und hatte von der Bruder-Fehde zwischen Franz und Heinrich wahrscheinlich deutlich mehr mitbekommen. Oder aber Ferdinand hatte sich aus Respekt vor seinem Vater einfach nie vor Annie dazu geäußert. Umso mehr wollte sie es jetzt wissen. Schließlich waren Franz und Heinrich beide bereits tot. Das hier war womöglich die letzte Gelegenheit, um aus dem brachliegenden Gut doch noch etwas zu machen.
Denn auch für sie war es vielleicht die letzte Chance, dem drohenden Ruin zu entgehen. Genau der stand ihnen bevor, sollte Ferdinand trotz aller Gebete nicht mehr heimkehren. Nicht so sehr, weil er geschickter darin wäre, den Hof zu führen. Es lag viel mehr an dem Altherrenklüngel, der ihnen das Überleben schwer machte. Als Frauen bekamen sie auf dem Markt selten das nötige Saatgut oder nur zu einem völlig überhöhten Preis. Das war einer der Gründe, warum sie von Getreide auf Kartoffelanbau umgestiegen waren.
Für die Bierproduktion würde es hingegen ausreichen, nur auf einem Teil der eigenen Fläche erneut Gerste anzubauen und dafür vorzugsweise eigenes Saatgut zu verwenden. Auf dem Stück im Süden, das Hanglage hatte, könnten sie stattdessen Hopfen ziehen, während der Rest weiterhin als Kartoffelfeld erhalten bleiben konnte. Das bedeutete zwar, dass sie sich zusätzliches Wissen aneignen müssten, dafür wären allerdings die Parzellen, die jeweils zu bestimmten Zeiten bearbeitet werden mussten, kleiner und leichter zu bewirtschaften.
Zumindest für Annie klang das nach der Lösung all ihrer Probleme. Wenn Arno denn der Sache offen gegenüberstand und sie es irgendwie bewerkstelligen würden, die Kessel zu sich auf den Hof zu schaffen. Denn an zwei Standorten zu arbeiten, kam nicht infrage. Und dann war da natürlich noch Sophie und ihre Sicht auf die Welt.
Annie seufzte bei dem Gedanken und ihre Schultern sackten ein Stückchen tiefer. Sophie war die Herrin von Hof und Haus, solange Ferdinand verschollen blieb. Was, wenn sie Heinrich zuliebe nichts von einer Zusammenarbeit wissen wollte? Würden sie die Kessel holen, wäre Arno im Grunde so etwas wie ihr Partner. Die Brauereilizenz war höchstwahrscheinlich in seinem Besitz, wenn sie nicht verbrannt war. Genau wie die Rezeptbücher der alten Hopfstädter Braumeister.
Es würde einen Vertrag brauchen, um sich abzusichern. Um einem weiteren Familienstreit vorzubeugen. Würde Sophie sich darauf einlassen? Und was würde Ferdinand bei seiner Heimkehr dazu sagen? Er war einverstanden gewesen, mit der Einladung zur Hochzeit Frieden zu stiften. Aber würde er Arno als Geschäftspartner akzeptieren? Immerhin war das Unternehmen auch ein Risiko. Was, wenn sie scheiterten und eine ganze Ernte für ungenießbare Plörre verschwendeten?
Die Fragen türmten sich in Annies Gedanken zu einem schier unüberwindlichen Berg auf und ließen ihre Euphorie schrumpfen. So weit, dass sie schließlich den Kopf schüttelte und sich selbst schimpfte: „Du blauäugiges Huhn, was bildest du dir ein? Glaubst du, du könntest den Hof mit so einer Schnapsidee retten? Mit Bier? Auslachen wird man dich, sonst nichts.“
Einmal mehr schüttelte sie den Kopf, verbannte diese Gedanken in die hinterste Ecke ihres Verstandes und ging wieder an die Arbeit.
Am Abend saßen Annie und Sophie zusammen mit Erna und Marie in der Küche. Annie arbeitete an ihren Kränzen, während die anderen mit dem Einkochen des Obstes und sauer Einlegen von Gemüse beschäftigt waren.
Vor den Mägden vermied Annie es, über Themen zu sprechen, die den Hausstand und die Finanzen betrafen. Dafür lud Sophie sie neuerdings in das Arbeitszimmer ihres verstorbenen Mannes ein. Vielleicht würde sich morgen eine Gelegenheit ergeben, die Idee mit dem Bierbrauen anzusprechen. Auch wenn Annie das Ganze nicht mehr so rosarot wie zu Beginn sah.
Im Ofen prasselten die frisch eingelegten Holzscheite, malten tanzende Schatten an die Wände und spendeten wohlige Wärme. Hier auf dem Land war das immer noch die gängige Art, sein Heim zu heizen. Auch wenn es in den großen Städten wie München oder Berlin bereits Rohrsysteme in den Zimmern gab, durch die stattdessen heißes Wasser gepumpt wurde. Aber auch das musste erst mit Holz oder Kohle erhitzt werden. Wo also lag der Sinn bei dieser Erfindung?
Solchen und noch viel mehr Gedanken ging Annie im Geiste nach, während sie sich stumm ihren Haus- und Handarbeiten widmete. Es gefiel ihr, über die Welt und all die Sonderbarkeiten darin nachzudenken. Die Zeitungen berichteten seit Beginn der Industrialisierung Mitte des letzten Jahrhunderts fast wöchentlich von neuen, sagenhaften Erfindungen. Und auch wenn der Krieg diese geballte Kraft vornehmlich in den Aufbau einer möglichst zerstörerischen Kriegsmaschinerie umgelenkt hatte und die Ausrufung der Republik nur wenige Tage zurücklag, spürte man in den Nachrichten den Aufwind zwischen den Zeilen. Warum also nicht selbst etwas wagen?
Kapitel 3 – Konkrete Tagträumereien
Voller Pläne und Hoffnungen stand Annie am nächsten Morgen auf, schlüpfte in ihre Kleidung, zog sich ein extra Paar dicker Wollsocken über und band sich ihre Haare mit einem Kopftuch zurück, um bei der Arbeit keine lästigen Haarsträhnen im Gesicht hängen zu haben.
Als sie die knarrende Treppe nach unten ging, blickte ihr die alte Erna noch im Nachthemd und mit Öllampe entgegen.
„Ist hundskalt draußen“, sagte sie mit missbilligender Miene. Als hätte Annie Schuld am Wetter, so wie sie immer Schuld hatte, wenn etwas auf dem Hof nicht zum Besten stand. Und davon gab es mehr als genug.
„Hast wohl deinen Teller gestern wieder nicht leer gegessen“, entgegnete Annie und grinste. Erna mochte durch ihre vielen Dienstjahre die Gunst der Hausherrin besitzen und sich so bärbeißig wie ein alter Wachhund benehmen, aber mehr als bellen konnte sie nicht.
„Schau lieber, dass dein Landstreicher nicht in der Nacht mit dem Vieh auf und davon ist“, meckerte die alte Haushälterin und schlurfte in die Küche.
Annie hingegen zog die Stiefel an, warf sich eine dicke, verfilzte Strickstola über und ging in die Scheune, um Arno zu wecken.
Der Hof lag noch im Dunkeln und obwohl es wirklich bitterkalt war, genoss sie den Blick in einen klaren Nachthimmel. Der Mond war bereits hinter den Bergen im Westen verschwunden. Umso heller strahlten die Sterne. Winzige Stecknadelköpfe auf dem riesigen Firmament, dass es einen ganz ehrfürchtig machte, aber auch hoffnungsvoll. Wenn die Welt so unvorstellbar groß war und sich so weit erstreckte, dass es ihre Vorstellungskraft überstieg, dann gab es vielleicht auch hier unten noch Wunder, an die sie aus Kleingeistigkeit nicht mehr glauben konnte.
Bitte, ihr Sterne, bringt mir meinen Ferdl zurück. Ein Gebet, das Annie jeden Morgen gen Himmel schickte.
„Gut’n Morgen“, sagte Arno.
Er stand bereits am Tor und sah ihr erstaunlich gut gelaunt entgegen.
„Du bist also noch da“, erwiderte Annie und lächelte.
„Ich würd eure Barmherzigkeit nie enttäuschen. Es war nicht gelogen, dass ich für die Bleibe arbeit’n tu. Wirst seh’n. Mit mir wirste wieder Fleisch ansetzen.“
Seine direkte und doch herzliche Art ließ Annie auflachen, während sie zusammen Richtung Stall liefen. „Du findest mich also hässlich dünn?“
Arno neben ihr riss die Augen auf und hob abwehrend die Hände. „So war’s nicht gemeint. Gar nicht. Du warst die schönste Braut, die ich je geseh’n hatte bei der Hochzeit.“
„Aber?“, fragte Annie mit einem Schmunzeln nach.
„Bisschen Polster sind besser, statt aufm knöchrigen Hintern hocken. Da friert man auch nicht so sehr.“
Zu Annies Überraschung grinste Arno. Im Schein der Lampe wirkte sein Gesicht immer noch eingefallen und zerschunden. Aber da blitzte auch etwas Spitzbübisches auf. So ehrlich und unbedarft, wie es Annie sonst nur von Kindern kannte.
„Du willst also alleine die Kühe melken, während ich danebenstehe und mir Speck anfuttere?“ Sie wippte herausfordernd mit den Augenbrauen.
„Ich wär fürs Teilen. Sowohl mit der Arbeit als auch mit’m Speck. Dann ist die Arbeit schnell getan, ohne dass die Hände bluten. Und am Ende bleibt einem Kraft genug, um sich’s gut gehen zu lassen.“
Annie schob die Stalltür auf, hängte die Lampe an den Wandhaken und griff nach Eimer und Schemel. „In Ordnung. Ich melke die Kühe und du versorgst sie mit Heu. Dabei musst du mir aber erzähl’n, was du mit der Kraft anstellen wirst, die dir übrig bleibt.“
Arno nickte mit einem Grinsen auf den Lippen und machte sich eifrig an die Arbeit. Genau wie Annie.
„Ich würd in den Wald gehen, mir ’n gutes Stück Holz suchen und daraus ’ne Pfeife für kalte Winterabende schnitzen.“
„Du kannst schnitzen?“, fragte Annie, während sie nach dem Euter der ersten Kuh griff, über die Zitzen strich und schließlich mit geübter Hand die Milch in den Eimer spritzen ließ.
„Mit’m Messer von meinem Pa, das er mir als Kind geschenkt hat. Damals war’s mit der Zeit noch anders bestellt. Obwohl ich immer mit angepackt hab. Von klein auf.“
„Und wenn es Sommer wäre, was würdest du dann mit deiner zusätzlichen Kraft tun?“, fragte Annie nach. Es tat gut, wieder mit jemandem sprechen zu können, der einen nicht von morgens bis abends tadelte.
„Ich würd beim Sonnenschein über ’ne Wiese laufen. Zwischen all den Gräsern und Blumen durch. Mit den Fingern dran entlang, um den Duft aus den Blüten zu schütteln und darin zu baden. Weißte, wie ich mein?“
„Und sich dann einfach mit ausgebreiteten Armen in die Wiese fallen lassen und den Wolken beim Fliegen zusehen“, ergänzte Annie.
„Bis die Vögel zum Abend hin zwitschern und man die Kraft wieder braucht, um heimzukommen.“ Arno sagte es so versonnen, als würde er die Szene vor sich sehen. Wie ein Tagtraum oder eine Erinnerung an Kindertage.
Annie hörte, wie er das Heu aufgabelte, den Gang entlang verteilte und dabei immer wieder schleifend sein Bein nachzog. Ohne Murren, obwohl ihm sicher noch der Körper von der mühseligen Reise schmerzte.
Er war ganz anders als Ferdinand. Wenn der träumte, dann ging es darum, den Hof zu vergrößern. Es ging um das Feilschen mit den Händlern, um das Bewirtschaften der Felder und das Erledigen von Arbeiten.
Er liebte es, sich die neuesten Erfindungen anzusehen. Fuhr dafür extra nach München rein, wenn im Oktober auf der Wiesn die große Ausstellung für Landwirtschaftstechnik stattfand.
Annie hatte sich in ihrer Zeit dort eher von den bunten Lichtern und Buden angezogen gefühlt. Von den wandernden Schaustellern und fremden Düften. Ein bisschen so, wie Arno mit seiner Blumenwiese.
„Denkst du, man könnte mit den Kesseln wieder eine Brauereianlage aufbauen?“, fragte Annie nach einer Pause.
„Dafür bräucht’s mehr als nur Kessel.“
„Zum Beispiel ein Rezeptbuch?“
„Und frische Schläuch’, Geräte für’n Druck und das alles. Dazu am besten ’nen Keller und Eis für die Kühlung.“
„Und die nötigen Zutaten“, sagte Annie sinnend.
Die Ausgaben dafür würden das Ersparte auffressen, wenn es überhaupt reichen würde.
„Ich glaub, die Flaschen haben den Brand überlebt“, sagte Arno. Er war mittlerweile dazu übergegangen, mit einer Schaufel den Dung aufzusammeln.
„Und das Rezeptbuch?“
„Müsst noch da sein“, erwiderte Arno. „So gut wie alles aus’m Keller. Ist nur ein bisschen angekokelt, aber heil. Weil’s die Flammen nicht übern Stein hinuntergeschafft haben.“
Annie wanderte mit Eimer und Schemel durch die Reihen der Kühe und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Sie roch das Heu, hörte das ungeduldige Stampfen der Tiere und das rhythmische Mahlen ihrer Zähne. Doch auf der Zunge meinte sie bereits das kühle Prickeln eines Bieres zu schmecken. Das neue Hopfstädter Bräu.
Frisch und süffig müsste es sein. Ein Helles, das klar und gülden in der Sonne glänzte, wenn es im Biergarten serviert wurde.
Sie würden es nicht in Flaschen, sondern in Fässer abfüllen, um es besser in die umliegenden Dörfer transportieren zu können. Die Qualität würde sich herumsprechen und irgendwann würden sie selbst ein Zelt auf dem Oktoberfest haben. Neben all den anderen großen Marken.
Bier und Feste waren eine sichere Geldanlage. Sie überlebten jeden Krieg, egal wie sehr die Bevölkerung gelitten hatte. Bier gehörte zur bayrischen Kultur, wie der weiß-blaue Himmel, die grünen Wiesen und die Berge.
„Ich will es versuchen“, sagte Annie.
Arno hielt in seiner Arbeit inne. „Was genau meinste?“
Sie sah auf, sah ihn an. In seine kleinen, gar nicht mehr so stechenden Augen. „Ich will Bier brauen. Hier am Hof. Ein gutes Bier, das sich verkaufen lässt.“
Annie fürchtete, er würde lachen oder ihr klarmachen wollen, dass es dafür mehr Männer brauchte, weil die Arbeit schwer sein würde. Arbeit, die zusätzlich anfallen würde. Aber nichts davon tat Arno. Er stand da, die Arme auf die Mistgabel gestützt und blickte sie an.
„Du müsstest mir wohl helfen“, sagte Annie in die eingetretene Stille hinein. „Nicht nur mit den Kesseln und dem Rezeptbuch. Du müsstest mir zeigen, wie es funktioniert. Wie man eine Biersorte ansetzt. Welche Schritte es braucht, damit es gelingt.“
Immer noch sah Arno sie einfach nur an. Sie war zu weit weg, um ihm seine Gedanken von den Augen ablesen zu können.
„Und du wärst natürlich beteiligt“, ergänzte Annie. „Es wäre ein Familienbetrieb zu Ehren der beiden Brüder. Heinrich und Franz Hopfstädter.“
„Lass die Großväter ruhen“, sagte Arno. „Zwei tote Streithähne wären keine guten Schirmherren.“
Annie senkte den Blick und nickte. Wahrscheinlich hatte er recht. Es war eine Schnapsidee gewesen.
„Ich fänd Annies Bräu viel besser.“
Als sie erneut zu ihm sah, grinste er über das ganze Gesicht.
Und auch Annie strahlte. „Darüber reden wir, wenn wir Sophie von der Idee überzeugt haben.“
Das würde schwer genug werden. Aber Annie war fest entschlossen, etwas zu unternehmen. Sie würde mit allem, was sie aufbringen konnte, dafür kämpfen, den Hof zu halten. Solange, bis ihr Mann zurückkommen würde.
An diesen Gedanken klammerte sie sich voller Inbrunst und Verzweiflung fest, egal wie schlecht die Chancen dafür stehen mochten. Denn der Glaube versetzte Berge, so hieß es in der Bibel und so hatten ihre Eltern es sie gelehrt.
Bitte, Herrgott, ich weiß, dass du mich mit meinem Leben schon genug beschenkt hast. Dass ich aus Liebe heiraten durfte und den Krieg überlebt habe. Aber bitte, Herr, gib ihn mir zurück. Wenn nicht für mich, dann für Sophie. Ihr bleibt doch sonst nichts mehr auf dieser Welt.