Leseprobe Die Kinder der Seerosenvilla

Prolog

Seerosenvilla, September 2023

Wie ein schwarzes Tuch breitete sich die Nacht über dem Grundstück der Villa Gleißner aus. Das Geräusch des Streichholzes, das grob angerissen wurde, durchbrach die Stille für einen Moment, bevor der kleine Feuerschein einen Lichtkegel in die Dunkelheit brannte. In derselben Sekunde wurde künstliches Licht in der Villa angeknipst und erhellte ein Fenster im ersten Stock. Erschrocken ließ die Gestalt das eben entzündete Streichholz ins Gras fallen und trat die Flamme aus. Wie konnte das sein? Warum brannte Licht in der Villa? Hanna Gleißner war tot. Wer trieb in diesem verfluchten Haus sein Unwesen?

Hinter der Fensterscheibe zeichnete sich der Schatten einer jungen Frau ab, die mit langsamen Schritten ans Fenster trat. Hastig verbarg sich der Eindringling in den Büschen.

Das Fenster wurde aufgerissen. „Hallo? Ist da jemand?“, rief die junge Frau aus dem Fenster. Durch das dichte Gestrüpp war sie nur ansatzweise zu erkennen: klein, blond und jung. Der Geist von Hanna?

„Tom, bist du das?“, durchbrach der Ruf der Fremden erneut die Stille.

Eine männliche Gestalt wurde sichtbar und umarmte die Rufende von hinten. „Nein, mein Schatz, ich bin hier. Bestimmt nur eine Katze in den Büschen. Komm, mach das Fenster zu, es wird kalt.“

Kalt. Es war kalt. Und es würde kalt bleiben. Die dunkle Gestalt drückte sich tiefer ins Gebüsch. Das Feuer, das sie hatte legen wollen, musste warten. Die Villa Gleißner sollte brennen. Aber nicht heute. Einige Minuten wartete sie, bis sie sicher war, dass das junge Paar seine unruhigen Blicke nicht mehr suchend durch den Garten schweifen ließ. Dann holte sie tief Luft und rannte durch die Dunkelheit davon.

1

Seerosenvilla, September 2023

Behaglich kuschelte sich Emilia an ihren Ehemann und sah den Flammen des Kaminfeuers bei ihrem flackernden Tanz zu. Tom fühlte sich gut an: groß, stark und unfassbar gemütlich. Schon zu Beginn ihrer Beziehung hatten sie darüber gefeixt, dass Emilias Kopf perfekt in die Kuhle unterhalb seines Schlüsselbeins passte. Seither war dies ihr Lieblingsplatz zum Entspannen. Besonders in Situationen wie dieser, wenn sie gemeinsam im Schein des Kaminfeuers auf dem Sofa saßen und die Villa in nächtliche Ruhe gehüllt lag. Emilias Mutter Erika saß im Schaukelstuhl, in ihren Armen döste Ellis, die erst vor zwei Monaten das Licht der Welt erblickt hatte. Die frisch gebackene Großmutter konnte gar nicht genug von dem kleinen Würmchen bekommen. Emilia schmunzelte. Ihr Leben hatte eine neue Form der Gemütlichkeit erreicht.

Das laute Knacken eines Holzscheits ließ sie jäh zusammenzucken. Funken stoben in die Luft, verglühten dort und schwebten sachte als Ascheflöckchen herab.

Tom lachte kurz auf, zog sie näher an sich und küsste sie aufs Haar. „Du bist aber auch schreckhaft.“

Beeindruckt deutete Emilia auf die kleine Ellis, die unbekümmert weiterschlummerte. „Unsere Tochter hat diese Eigenschaft jedenfalls nicht geerbt. Sie hat nicht einmal gezuckt.“

Auch Erika betrachtete den schlafenden Säugling auf ihrem Schoß und strich ihm zärtlich über das Köpfchen. „Ach, unsere kleine Prinzessin ist ja erst acht Wochen alt. Die weiß noch nichts vom Ärger der Welt.“

Das stimmte allerdings. Das Einzige, wofür Ellis sich interessierte, war die Brust der Mutter, eine trockene Windel und die Wärme eines menschlichen Körpers, wenn sie einschlafen wollte. Wohlig seufzend kuschelte sich Emilia noch etwas enger an Tom und betrachtete das niedliche Großmutter-Enkelin-Duo. Wärme breitete sich in ihrem Inneren aus und verschmolz mit der des Kaminfeuers zu einem fast unwirklichen Gemisch aus Liebe. Das Bewusstsein, dass man Glück nicht festhalten konnte, war in Momenten, in denen sich alles so richtig anfühlte, seltsam schmerzlich.

In Tom hatte Emilia die Liebe ihres Lebens gefunden. Von Anfang an hatte zwischen ihnen alles gepasst. Auf den ersten Blick hatte er ihr gefallen, damals, 2019, als sie unverhofft in Edelsbrunn und in seinem Gasthaus aufgetaucht war. Er hatte sie für eine verrückte Geisterjägerin gehalten, die in der Villa Gleißner nach übersinnlichen Phänomenen suchen wollte. Wie oft hatten sie inzwischen über den Irrtum gelacht. Und nun, vier Jahre später, war sie nicht nur mit ihm verheiratet und Mutter der kleinen Ellis, sondern auch stolze Besitzerin der Villa. Keine Sekunde bereuten sie, hier eingezogen zu sein, auch wenn dem Haus bei den Menschen im Dorf noch immer der Ruf einer Spukvilla anhaftete. Wer wollte es den Edelsbrunnern verdenken? Fast ein Jahrhundert lang hatten sie in dem Glauben gelebt, dass sich in der Villa grausame Dinge zugetragen hatten, und das stimmte ja auch. Zwar nicht vollständig den Gerüchten entsprechend, aber das machte die Taten der Familie nicht weniger schrecklich. Kein Wunder, dass sich die Gleißners aus dem Dorfleben vollständig zurückgezogen hatten. Lediglich um die Kinder der Seerosenvilla tat es Emilia leid. Ihnen hätte sie ein schöneres Leben gewünscht. Die älteste Tochter, Hanna, hatte ein einsames Dasein in dieser Villa gefristet und das Haus mangels Erben bei ihrem Tod vor vier Jahren der Stadt Edelsbrunn vermacht. Traurig, dass manche Leben einfach so vergingen ‒ in Einsamkeit, Traurigkeit und ohne etwas zu hinterlassen. Nein, das stimmte so nicht. Immerhin hatte Hanna Gleißner der Welt diese wundervolle Villa hinterlassen, die trotz aller Spukgeschichten ein zauberhaftes Zuhause bot und optisch einem kleinen Schloss ähnelte. Emilia und Tom hatten sich fest vorgenommen, dem Haus eine zweite Chance zu geben. Es mit Leben zu erfüllen, mit Kinderlachen und Familienglück. Und mit der kleinen Ellis hatte die Einlösung dieses Versprechens bereits begonnen. Dass nun auch Emilias Mutter Erika mit in die Villa eingezogen war, war ein zusätzlicher Bonus. Nicht nur, weil die Fünfundsechzigjährige die kleine Familie mit ihrer tatkräftigen Art wunderbar ergänzte, sondern auch, weil sie außer ihnen keine weitere Familie mehr hatte. Einsamkeit ‒ freiwillige oder unfreiwillige ‒ konnte ganze Menschenleben auffressen.

Emilia hob den Blick und betrachtete Toms Gesicht, der sie noch immer fest im Arm hielt. Seine Augen bewegten sich beim Lesen hin und her. Als spürte er ihren Blick, ließ er das Buch in seiner Hand sinken und wandte sich ihr zu. „Was ist?“

„Ach nichts.“ Leicht neigte sie den Kopf und seufzte. „Ich bin nur glücklich.“

Sein Lächeln bewies, dass sie mit diesem Gefühl nicht allein war. Im darauffolgenden Kuss lag all jene Innigkeit, die ihre Beziehung von Anfang an geprägt hatte.

Erika grinste. „Soll ich euch allein lassen, ihr zwei Turteltäubchen? Ich kann Ellis auch in ihr Bett bringen. Es ist ohnehin schon spät.“ Vorsichtig wand sie das Handgelenk mit der Armbanduhr unter dem Baby hervor und warf einen Blick darauf. „O nein, viel zu spät!“, korrigierte sie sich. „Schon nach Mitternacht. Ich muss dringend ins Bett. Warum habt ihr auch so einen behaglichen Kamin, das gehört doch verboten.“

„Du kannst gern davor einschlafen“, schlug Emilia vor.

Erika wehrte sofort ab. „Und dann fällt mir das Kind vom Schoß! So weit kommt es noch, nein, nein. Ich gehe in mein Bett. Soll ich die Kleine in ihr eigenes Bettchen legen oder dir geben?“

„Du kannst sie mir geben, sie will demnächst eh wieder gestillt werden.“ Emilia streckte die Arme aus, damit Erika ihr die Kleine hineinlegen konnte.

Die übergab das Enkelkind an seine Mutter. Dann hielt sie inne und betrachtete die junge Familie. „Ich bin stolz auf euch. Stolz und wahnsinnig froh, dass ihr euer Glück gefunden habt, habe ich euch das schon mal gesagt?“

Emilia und Tom grinsten gleichermaßen. „Jeden Tag“, sagte Emilia zärtlich. „Gute Nacht, Mama. Wir gehen auch gleich schlafen.“

Kaum dass sie zur Tür hinaus war, fing Ellis an zu quäken. Vorsichtig legte Emilia den Winzling an ihre Brust, woraufhin nur noch ein zufriedenes Schmatzen zu hören war.

„Ich sollte mich auch hinlegen“, sagte Tom leise, klappte sein Buch zu und erhob sich.

„Du hast doch morgen frei.“

„Schon, aber ich wollte eigentlich früh aufstehen und im Haus noch ein paar Reparaturen vornehmen. Nichts Schlimmes, keine Angst, nur ein paar Kleinigkeiten, die in den vergangenen Monaten liegengeblieben sind. Soll ich noch auf dich warten?“

„Nein, geh ruhig schon hoch. Hierbei kannst du mir eh nicht helfen.“ Sie deutete auf die saugende Ellis. „Wir kommen gleich nach. Vielleicht sind vier Stunden Schlaf drin, bevor sie wieder Hunger hat.“

„Ganz schön anstrengend, so ein kleines Baby.“ Tom hob die Hand, um Ellis zu streicheln, zog sie aber dann zurück, um sie nicht beim Trinken zu stören.

„Anstrengend schon, aber so süß. Ich will noch ganz viele davon, Tom.“

„Dein Wunsch ist mir Befehl, mein Schatz.“ Vorsichtig küsste er Emilia auf die Wange und verließ dann ebenfalls den Raum.

Mit der nuckelnden Ellis und einem inneren Glücksgefühl blieb Emilia zurück. Was für ein Geschenk, so ein Leben führen zu dürfen. Andere Menschen hatten so viel Pech und mussten so vieles erleiden und erdulden in ihrem Leben, dass sie sich manchmal für ihr Glück fast schämte. Dabei war ihr durchaus bewusst, dass es anderen im Umkehrschluss nicht besser ginge, wenn sie darauf verzichtete. Das Unglück anderer Menschen war nicht von ihrem Glück abhängig. Trotzdem war es zeitweise eigenartig, so viel davon zu haben.

Von der einen auf die andere Sekunde wich dieses Gefühl einem beklemmenden. Die Temperatur im Raum schien drastisch zu sinken, obwohl das Feuer im Kamin nach wie vor loderte. Gänsehaut breitete sich auf Emilias Armen aus. Noch während sie fröstelte, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Ellis gab unzufriedene Geräusche von sich. Spürte sie es auch? Dieses Gefühl einer unbestimmten Bedrohung, die einen mit tausend Augen aus allen Richtungen beobachtete?

Langsam atmete Emilia ein und aus. Die Einsamkeit, es war bestimmt nur die Einsamkeit, die sie so seltsam empfinden ließ. Es spukte nicht in diesem Haus, es spukte überhaupt nirgends. Geister gab es nicht, das war Unsinn. Es war nur die plötzliche Stille, die unheimlich war, Einsamkeit und Hormone. Sie musste sich beruhigen.

Das Gefühl ließ sich nicht weg argumentieren. Der Raum wurde immer enger und die Luft immer dünner. Kohlenmonoxid, zwang sich Emilia zu einem logischen Gedankengang. Vielleicht stimmte etwas mit dem Feuer nicht. Doch, alles bestens. Es loderte gleichmäßig und behaglich weiter. Ihr Blick wanderte durch den Raum und blieb am Fenster hängen. Da! Ein Schatten! Da war was. Augen?

„Tom?“ Hoffentlich war er noch in Hörweite. „Tom! Komm schnell, bitte!“

Sie hörte hastige Schritte die Treppe herabstürmen. Dann erschien er, die Zahnbürste noch in der Hand. Mit einem schnellen Blick auf die trinkende Ellis vergewisserte er sich, dass mit dem Kind alles in Ordnung war.

„Was ist los?“, fragte er alarmiert.

„Da! Am Fenster!“ Ihre Stimme klang dünn. „Da war jemand.“

Mit einem Satz war Tom dort und riss es auf. Gefährlich weit beugte er sich hinaus, während Emilias Herz schneller und schneller schlug.

„Und?“, flüsterte sie.

„Ich kann niemanden erkennen. Es ist aber auch stockduster. Ich geh schnell hinaus und sehe nach.“ Schon setzte er sich mit schnellen Schritten in Bewegung.

„Nein, bleib hier!“

Abrupt hielt er in der Bewegung inne. „Schatz, wenn da jemand auf unserem Grundstück herumrennt, will ich wissen, wer das ist und was er hier zu suchen hat.“

„Und ich will, dass mein Mann nicht mitten in der Nacht den Helden spielt und sich in Gefahr bringt. Du bist jetzt Vater, Tom. Es ist deine Verantwortung, darauf zu achten, dass dir nichts passiert.“

„Ach komm, da passiert doch nichts. Ich nehme eine Taschenlampe mit und von mir aus ein Messer.“

„Tom, du hast keine Ahnung, wie man sich mit einem Messer verteidigt. Wenn das ein Verbrecher ist, nimmt er es dir ab und ersticht dich. Bleib bitte einfach hier drin und schließ alle Türen und Fenster ab. In jedem billigen Horrorfilm lernt man, dass man nicht allein in die Dunkelheit rennt.“

„Das ist unser Garten, kein Horrorfilm.“

„Dann lass nicht zu, dass es einer wird. Schließ einfach die dämlichen Türen ab, sei so gut.“

„Die Türen sind abgeschlossen.“

„Na also. Dann lass uns ins Bett gehen und morgen früh nachsehen. Bitte. In der Dunkelheit ist mir das echt zu gefährlich.“

Mit einem widerwilligen Brummen gab Tom nach, ließ es sich aber nicht nehmen, mit der Taschenlampe aus jedem einzelnen Fenster zu leuchten. Zu ihrer beider Erleichterung war auch weiterhin niemand zu sehen.

Vorläufig beruhigt legten sie sich schlafen, doch schon nach wenigen Minuten nahm Emilia die kleine Ellis aus ihrem Beistellbettchen und legte sie zwischen sich und Tom ins Ehebett.

2

Villa Gleißner, 1947

„Ich mag nicht“, murrte Lea und drehte immer wieder den Kopf zur Seite, sodass es der dreizehnjährigen Hanna nahezu unmöglich war, die strengen Zöpfe zu Ende zu flechten.

„Bitte halt doch endlich still“, wies sie die kleine Schwester zurecht.

„Ich will aber nicht diese doofen Zöpfe. Die tun mir am Kopf weh.“

„Das ist doch Unsinn, Lea.“

„Außerdem sehen sie total blöd aus. Ich will meine Haare offen tragen.“

„Was du willst, zählt hier leider nicht“, tröstete Hanna und nahm zum wiederholten Mal das Flechtwerk auf. „Bitte, Lea. Du weißt genau, dass Papa nur diese Zöpfe duldet. Möchtest du eine Tracht Prügel riskieren?“

Endlich hielt Lea still. Die Erinnerung an die Schläge von vergangener Woche war noch zu frisch. Da hatte sie sich geweigert, den vom Vater so geliebten Hitlergruß vor dem Essen zu erwidern. Der Krieg war seit zwei Jahren vorbei, Hitler war tot, und längst waren neue Zeiten in Deutschland angebrochen. In Deutschland, nicht hier in der Villa. Hier war nichts von Bedeutung außer dem Willen des Hausherrn, Heinrich Gleißner, ihrem Vater, und dieser führte, ungeachtet jeglicher Realität, seine glühende Verehrung für Hitler und alles, was mit dem nationalsozialistischen Gedankengut zusammenhing, weiter ‒ im Verborgenen, versteht sich. Nach Kriegsende hatte eine für die kleinen Kinder nicht immer einfach zu verstehende Umkehrung der Verhältnisse stattgefunden. Was zuvor als vorbildlich gegolten hatte, war nun verboten, was gut gewesen war, war nun böse, was böse war, gut. Die Nationalsozialisten, die zuvor als Helden hatten verehrt werden müssen, sollten nun verachtet werden und aus dem Leben und Alltag verschwinden. Gedankengut, das ihnen regelrecht eingeprügelt worden war, musste aus den Köpfen gelöscht werden, da es plötzlich falsch war. Hanna seufzte. Natürlich war es das. Es war schon immer falsch gewesen. Auch wenn es ihr lange Zeit normal erschienen war, dass sie die Ermordung von Menschen gutheißen sollte, nur weil sie anderen Glaubens waren, eine Behinderung hatten oder auf irgendeine sonstige Art nicht ins System passten. Im Nachhinein war das nicht mehr zu rechtfertigen. Die Hanna, die sich dem System gehorsam und eifrig gefügt hatte, war ihr heute zuwider, obwohl sie sie niemals vollständig vergessen konnte. Wie eine unsichtbare Hülle aus Vorwürfen klebten die alten Überzeugungen an ihr, moderten und gammelten und waren doch nicht abzustreifen. Zwar hatte sie begriffen, was für ein Irrsinn der Nationalsozialismus mit seinen Ideen gewesen war, doch der Gehorsam, mit dem sie zwangsweise aufgewachsen war, haftete unwiderruflich an ihrer Persönlichkeit. Umso schlimmer, dass der Vater weiterhin an diesem schrecklichen Gedankengut festhielt, wo doch der Rest der Welt längst zur Vernunft gekommen war. Hanna hatte keine Wahl. Mit ihren dreizehn Jahren hatte sie ausgiebig erfahren und erlebt, wozu ihr Vater fähig war. Die einzige Möglichkeit, die ihr und ihren Geschwistern blieb, wenn sie ein einigermaßen passables Leben führen wollten, bestand darin, sich seiner Herrschaft zu beugen und seinen Willen zu befolgen. Alles andere war gefährlich. Selbstverständlich funktionierte dieses Leben nur innerhalb der Villa. Außerhalb fand ein ganz anderes statt, von dem die siebenjährige Lea und ihr nur ein Jahr jüngerer Bruder Heinz bisher nichts mitbekommen hatten. Jahrelang waren sie vom echten Leben abgeschirmt worden, zuerst durch die Mutter, dann durch Hanna. Lea und Heinz hatten ihre Kindheit bisher in der Villa verbracht wie in einer Festung. Jetzt jedoch war er da, der Tag, vor dem sich Hanna so sehr gefürchtet hatte: Leas erster Schultag. Nun konnte sie noch so sehr große Schwester, Beschützerin und Aufpasserin sein, sie vermochte nicht länger zu verhindern, dass die unschuldige Lea mit der realen Welt in Berührung kommen würde. Hoffentlich ging das alles gut.

Hanna befestigte das letzte Zopfgummi und beendete ihr Flechtwerk mit einem tiefen Seufzer. Liebevoll drehte sie die kleine Schwester an den Schultern zu sich um, lächelte sie an und sah ihr tief in die Augen. „Na siehst du, mein Schatz, war doch gar nicht schlimm. Du siehst zauberhaft aus. Auch mit den Zöpfen.“

Lea bemühte sich sichtlich, zurückzulächeln, konnte aber ihren Unmut nicht verbergen und produzierte infolgedessen eine seltsame Grimasse. Hanna musste lachen, gab der Schwester einen Kuss auf die Stirn und nahm sie fest in den Arm. „Und denk daran, mein Schatz: Nichts, was in der Villa geschieht, darf in die Außenwelt dringen. Und nichts, was in der Außenwelt geschieht, darf umgekehrt in die Villa gelangen. Draußen und hier, das sind zwei verschiedene Welten. Es ist ein Spiel, verstehst du? Du musst die Spielregeln einhalten, sonst verlierst du. Die Welten müssen immer getrennt bleiben, sonst bricht alles zusammen. Dann haben wir vielleicht kein Zuhause mehr, oder Papa wird uns sehr wehtun, das willst du doch nicht, oder?“

Lea schüttelte den Kopf.

„Du wirst dich an die Spielregeln halten, oder mein Schatz?“, bohrte Hanna nach. Die Sache war zu wichtig, um sich mit einer einfachen Geste zufriedenzugeben.

„Ich versuche es.“

„Versuchen reicht nicht, mein Liebes.“ Erneut küsste sie die Siebenjährige auf die Stirn. Dann schob sie sie eine Armeslänge von sich und sah sie eindringlich an. „Du musst es versprechen, Lea. Sonst habe ich keine ruhige Minute mehr.“

„Ich versuche ja, es zu versprechen, aber ich bin mir nicht sicher, dass ich es kann.“

„Du kannst es. Du kannst alles, was du willst. Du bist so ein starkes Kind. Du kannst es, Lea.“

Ihre Schwester nickte. Hanna wusste, dass es keinen Sinn hatte, weiter zu drängen oder sie zu einer Lüge zu zwingen. Sie konnte nur hoffen, dass Leas Bemühen ausreichen würde, um das Schlimmste zu verhindern.

Noch einmal umarmte sie das kleine Mädchen und drückte es fest an sich. Wie absurd das Leben in der Villa war, fiel nur ihr als Ältester auf, weil die Geschwister damals zu klein gewesen waren, als die Mutter noch gelebt hatte. Als draußen die Nationalsozialisten an der Macht gewesen waren, Krieg geherrscht hatte und die Villa schon einmal wie eine Parallelwelt gewesen war. Damals hatte die Mutter verboten, dass irgendetwas von Politik oder Krieg in das Gebäude drang. Sie hatte darauf bestanden, dass das Leben hier weiterging wie vor der Machtergreifung Hitlers. Und nun? Nun gestaltete sich das Leben draußen wie vor diesem Zeitpunkt, aber ihr Vater hielt krampfhaft an den Zuständen fest, die im Dritten Reich geherrscht hatten. Es war grotesk. Beide Eltern waren realitätsfremd und lebten in ihrer eigenen Welt, nur dass diese gegensätzlicher nicht hätte sein können. Es tat weh, diese Ironie zu begreifen.

Noch immer steckte die Erinnerung wie ein Stachel in Hannas Herz. Zum Glück war es ihr nach dem Tod der Mutter vor zwei Jahren überraschend leichtgefallen, die Mutterrolle für die beiden kleineren Geschwister zu übernehmen. Wobei Lea und Heinz es ihr auch ziemlich einfach gemacht hatten. Heute wusste Hanna, dass sie schon immer mehr eine Art zweite Mutter als eine große Schwester für die Kinder gewesen war. Im ersten Moment hatte der Gedanke sie erschreckt, inzwischen war sie froh darum, denn auf diese Weise konnte sie ihnen die fehlende Mutter zumindest notdürftig ersetzen. Wie gern hätte auch sie selbst jemanden gehabt, der sich um sie kümmerte. Doch das Schicksal hatte viele Menschen noch viel mehr gebeutelt als sie. Es stand ihr nicht zu, darüber zu klagen. Sie hatte zwei Geschwister, einen Vater und ein Zuhause. Auch wenn das Leben nicht leicht war, so war es doch eines in Sicherheit und Gesundheit, was nicht alle Menschen von sich behaupten konnten. Manchen hatte der Krieg alles genommen. Man musste dankbar sein.

Sie zwang sich zu einem Lächeln und klatschte in die Hände. „So, und nun lass uns frühstücken, mein Schulkind.“

Leas Lächeln zeigte ihr, dass auch ihre Schwester stolz auf den nächsten Lebensabschnitt war.

Wenig später standen sie in Reih und Glied vor dem Frühstückstisch, als der Vater mit großen Schritten den Raum betrat. Bei jedem Schritt gaben seine Militärstiefel einen dumpfen Schlag von sich.

„Heil Hitler!“, rief Heinrich und reckte die Hand mit entsprechender Geste in die Luft.

„Heil Hitler“, antworteten die Kinder gehorsam. Erleichtert atmete Hanna auf. Diesmal hatte Lea den Gruß nicht verweigert.