Leseprobe Die Kinder meiner Tochter

Kapitel 1: Die Grossmutter

Im Hintergrund läuft Radio 2 in angemessener Lautstärke, damit die Nachbarn nicht gestört werden. Samstagnachmittags höre ich mir gern Rylans Sendung an. Ich glaube, es liegt daran, dass er so eine starke Bindung zu seiner Mutter Linda hat. Was für ein guter Sohn er doch zu sein scheint. Die Fenster in der Küche stehen offen, und ich kann draußen die hängenden Blüten der violetten Glyzinien und die Rosen sehen, deren Farben an spanische Kleider erinnern. Ach, wie sehr wünschte ich, jetzt im Garten zu sein, um all die verlockenden Düfte zu riechen. Doch aus meiner Küche dringen auch etliche Aromen bis zu mir vor, bei denen mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Heute backe ich Brot und fülle meine selbst gemachte Marmelade in Gläser um. Die Himbeeren dafür habe ich in meinem Schrebergarten gepflückt, und während ich arbeite, habe ich eine Handvoll davon im Mund. Der Geschmack bewirkt genauso wie ihre leicht raue Oberfläche eine regelrechte Explosion auf meiner Zunge.

Als ich die Brotlaibe aus dem Backofen hole, riechen sie nach Malz, und ihre Kruste ist goldfarben. Mein Magen knurrt vor Hunger. Eines der Brote ist für Mr Burgess gleich nebenan, der mit seinen zweiundsiebzig Jahren noch älter ist als ich. Das andere ist für unseren Vorsitzenden des Schrebergartenverbands, Einfach-nur-Ken Church. Schrebergärten sind hier so selten wie Goldstaub, deshalb ist es das Beste, wenn man sich mit ihm gut steht. Beide bekommen auch noch ein Glas rubinroter Marmelade zu ihrem Brot, wenn ich später bei ihnen vorbeischaue.

Ich fühle mich versucht, eine Scheibe Brot abzuschneiden und mit Butter zu beschmieren, um es dabei zu essen, wenn ich aus dem Fenster sehe. Aber ich habe bereits Übergewicht, also entscheide ich mich dagegen. Mit meinen fünfundsechzig Jahren habe ich die Wechseljahre schon lange hinter mir, aber ich nehme permanent zu, obwohl ich Sport treibe. So etwas entmutigt einen, vor allem, da ich jeden Tag eine Stunde spazieren gehe. Die Arbeit im Schrebergarten ist ebenfalls körperlich anstrengend. Allerdings hat es auch etwas Befreiendes, Beruhigendes, wenn man allmählich alt wird. Unsichtbar zu sein hat seine Vorteile. Alte, grauhaarige, konservative Ladies werden von anderen nicht bemerkt, und das kann mir nur recht sein. Mich versetzen die Frauen in Erstaunen, die in meinem Alter sind, aber zwanzig Jahre jünger aussehen, angesagte zerrissene Jeans tragen und dazu butterblonde Haare haben, die ihnen in weichen Wellen in den Rücken fallen. Aber ich beneide sie um nichts davon. Ich mag die Dinge so, wie sie sind. Ein strenger Bob, eine Brille und eine Hose mit einem Gummiband im Bund genügen mir.

Jeder weiß, dass ich vor drei Jahren nach dem Tod meines geliebten Ehemanns Charles ins Dorf Ryhall in Rutland zurückgezogen bin. Das einzeln stehende Haus aus den Sechzigerjahren mit seinen fünf Schlafzimmern an der Thorpe Road in Peterborough, in dem wir die gesamten einunddreißig Jahre unserer Ehe gelebt hatten, war für mich allein einfach viel zu groß. Deshalb hatte ich mich ein Jahr nach seinem Tod für ein deutlich kleineres Wisteria Cottage entschieden. Es war die beste Entscheidung, die ich hatte treffen können, schließlich liebe ich das Leben auf dem Land. Außerdem wurde ich von den Menschen hier mit offenen Armen empfangen. Meine Bereitschaft, ehrenamtlich aktiv zu sein, hat mir viele neue Freunde eingebracht. Oder besser gesagt: Bekannte, denn ich ziehe es vor, für mich zu bleiben, und neige nicht zu engen Bindungen mit anderen Leuten. Ich gehöre jetzt zu allen wichtigen sozialen Gruppen innerhalb der Gemeinde, unter anderem zum Women's Institute, zur Gemeindesaal-Verbindung, zur Nachbarschaftswache und zum Dorffestkomitee. Außerdem besuche ich regelmäßig die morgendliche Messe in der St. John the Evangelist.

Mit seinem pittoresken Umfeld aus Kalkstein-Cottages, der Steinbrücke und dem Fluss mit Namen Gwash, der sich durch die Landschaft schlängelt, zählt die Gemeinde von Ryhall und Belmesthorpe rund zweitausend Einwohner. Es ist so idyllisch, dass ich manchmal das Gefühl habe, in einem jener Inspector Barnaby-Krimis zu leben, die ich mir gelegentlich im Fernsehen anschaue. Ich habe das große Glück, mittendrin direkt am Dorfplatz zu wohnen, wo ich die Menschen kommen und gehen sehen kann. Mein Haus liegt gleich gegenüber vom Dorfladen, und bis zum Pub The Green Dragon sind es auch nur ein paar Schritte. Mein dicker plattgesichtiger Kater Hero und ich können Stunden damit verbringen, vom Wohnzimmersofa aus zuzusehen, wie die Welt vorbeizieht. Es stimmt, dass die Menschen ihren Haustieren ähneln, denn so wie mein grauer gefleckter Freund habe auch ich eine eingedrückte Nase und einen ausgeprägten Bauch. Als mein inzwischen einziger Gefährte wird er über alle Maßen hinaus verwöhnt. Aber ich habe ja sonst niemanden, mit dem ich das machen kann.

Als ich das Läuten der Video-Türklingel von Ring höre, die der Dorfhandwerker mir freundlicherweise eingebaut hat, reagiere ich nicht. Nicht etwa, weil ich das nicht will, sondern weil ich mir unsicher bin, wie es machen soll. Üblicherweise brauche ich so lange, um auf meinem Smartphone die App zu starten und zu fragen, wer da ist, dass mein Besucher längst aufgegeben hat und weggegangen ist. Ich habe nichts gegen Technologie, aber für jemanden wie mich schreitet sie zu schnell voran, um noch mithalten zu können.

Als ich ins Wohnzimmer gehe, da ich wissen will, wer vor der Tür steht, überprüfe ich mit einem wachsamen Blick, ob die mit Goldrand besetzten Kissen aufgeschüttelt sind und ob die Landschaftsgemälde auch wirklich absolut gerade hängen. Ich lege Wert darauf, immer nach Staub Ausschau zu halten. Ich bin sogar bekannt dafür, dass ich probeweise mit dem Finger über die Theke im Dorfladen wischte. Ich kann Unordnung und Schmutz nicht ausstehen. Ich komme aus einer Generation, die in der Überzeugung erzogen wurde, dass Sauberkeit gleich nach Gottesfürchtigkeit kommt. Man sagt schließlich nicht umsonst, dass der Teufel umso weniger Macht über einen hat, je näher man Gott ist. Als ich ins Wisteria Cottage einzog, waren meine Nachbarn entsetzt, dass ich die Gardinen von den Fenstern nahm. Sie warnten mich, dass Passanten immer einen Blick nach drinnen werfen würden. Da ahnten sie noch nicht, dass ich diejenige war, die die anderen beobachten wollte, aber nicht umgekehrt.

Und genau das mache ich in diesem Moment. Ich verstecke mich hinter dem bis zum Boden reichenden, mit Blumen gemusterten Vorhang und sehe durch das Flügelfenster nach draußen auf den Platz. Wie für diese Tageszeit typisch drängen sich die Autos auf der Straße. Die Leute parken hier, um in den Dorfladen und in den Pub zu gehen. Lokale Wandergruppen nutzen diesen Platz außerdem als Treffpunkt. Womit ich nicht gerechnet habe, das ist der Polizeiwagen, der vor meinem Haus steht. Angst durchzuckt mich so, als würde man einen Spaten in geweihte Erde treiben, und mein Herz beginnt in meiner Brust heftig zu schlagen. Als ich die Türklingel ein zweites Mal höre und draußen eine Stimme aus einem Funkgerät ertönt, habe ich die Gewissheit, dass sie tatsächlich mich sprechen wollen.

Ich eile aus dem Wohnzimmer in den Flur und fürchte, mein Herz könnte explodieren. Ich bleibe kurz stehen und verkrampfe mich, als ich durch die Scheibe in der Haustür die Silhouetten von zwei Personen in schwarzer Uniform erkennen kann. Wenn ich „eilen“ sage, dann ist das mehr ein zügiges Humpeln, denn seit ich vor drei Monaten eine künstliche Hüfte bekommen habe, bin ich nicht mehr so schnell zu Fuß wie früher. Außerdem bin ich jetzt auf einen Gehstock angewiesen. Ich bin noch keine Rentnerin, trotzdem halte ich es für eine gute Idee, lieber etwas vorsichtiger zu sein. Deshalb klebt an meiner Haustür auch ein Schild mit dem Text „Keine Werber und keine unangemeldeten Besucher“. Obwohl ich weiß, dass da bloß die Polizei vor der Tür steht, aber kein Dieb oder ein Betrüger, zittern meine Finger, als ich die Sicherheitskette zur Seite schiebe. Als ich dann schließlich die Tür öffne, fällt mir sofort die ernste Miene der beiden Polizisten auf. In bester Miss-Marple-Manier folgere ich daraus, dass sie nicht von Tür zu Tür gehen, um typisch ländliche Verbrechen aufzuklären wie zum Beispiel den illegalen Einsatz von Metalldetektoren oder einen Schwund beim Viehbestand.

„Mrs Castle?“ Die junge Polizistin wirft mir dabei einen Blick von der Sorte „Unterschätz mich lieber nicht, nur weil in dieser Uniform eine Frau steckt“ zu.

Ich setze mein Lächeln Marke „nette alte Lady“ auf und erwidere gut gelaunt: „Ja.“

Kapitel 2: Der Vater

Als ich abgeholt und vorsorglich zur Wache gebracht wurde, schien sich die Polizei mehr für die Verletzungen in meinem Gesicht zu interessieren, als es meine Freundin Leah zwei Tage zuvor getan hatte, als ich so zugerichtet nach Hause gekommen war. Nachdem ich herausgefunden hatte, dass ihr Ex Wayne ihr WhatsApp-Nachrichten schickte und ihre Postings in den sozialen Medien mit einem Like versah, da war ich sofort zu ihm nach Hause gerannt, um ihn zur Rede zu stellen. Auf Leah bin ich aber auch sauer, weil sie mich belogen hat. Und weil sie Bikinifotos von sich auf TikTok gepostet hat. Sie ist die Mutter meines Kindes, verdammt noch mal. Ich warf ihr sogar vor, mich zu betrügen, aber darüber konnte sie nur lachen und erwidern: „Na, mit dem Thema musst du dich ja wohl auskennen, wie, Vince?“ Sie hat recht. Ich kenne mich damit aus. Aber Scarlet – die Frau, die ich für Leah verlassen habe – ist die Mutter meiner Töchter und meine Ex-Frau, und sie wäre niemals so tief gesunken, sexy Fotos von ihrem Körper ins Netz zu stellen.

Ich war ein verdammter Idiot, dass ich mich auf eine Prügelei mit einem viel jüngeren Kerl eingelassen habe, der auch noch viel größer und körperlich viel fitter ist als ich. Ich war derjenige, der am Ende mit einem blauen Auge und einer aufgeplatzten Lippe dastand. Ich bin auch davon überzeugt, dass Leah mich wortlos dafür bestraft, dass ich den Kürzeren gezogen habe, so als wäre ich in ihren Augen irgendwie herabgesetzt worden. Anders als Leahs Ex bin ich keine zwanzig mehr, sondern zweiunddreißig und dreifacher Vater. Wie zum Teufel konnte das nur passieren? Das Problem ist, dass ich noch nie in der Lage gewesen bin, mein Temperament zu bändigen.

Als ich noch mit Scarlet zusammen war, haben wir uns einige Male ziemlich böse gefetzt – sie wusste, wie sie mich auf die Palme bringen konnte – und wir gingen heftig aufeinander los, meistens nur verbal, aber gelegentlich auch auf schlagkräftige Weise. Vor allem, wenn wir getrunken oder Drogen genommen hatten und high waren. Unsere Beziehung war von der toxischen Sorte, aber ich Idiot habe geglaubt, dass diese Zeit hinter mir liegt. Und jetzt ist alles wieder so wie vorher, nur diesmal mit Leah. Allmählich glaube ich, dass es ein Fehler war, meine Frau für eine Zweiundzwanzigjährige zu verlassen. Vielleicht bin ich selbst ja der Grund dafür, dass meine Beziehungen scheitern. Der gemeinsame Nenner, wenn man so will.

Das Verhörzimmer ist dreckig und düster. So wie mein Leben. Es stinkt nach Schweiß und Pisse, und es erinnert mich an meine Heroin-Zeit – die beste und die schlimmste Zeit meines Lebens. Inzwischen bin ich clean. Heute brauche ich nur Alkohol, Zigaretten und ab und zu mal einen Joint. Man hat mir meine Rechte vorgelesen, aber seit über zwanzig Minuten warte ich darauf, dass sie herkommen und mit dem Verhör anfangen. Die Polizisten, die mich festgenommen haben, wollten von mir nur wissen, wo ich am Abend zuvor gewesen war, woher meine Verletzungen stammten und wann ich Scarlet das letzte Mal gesehen hatte. Ich habe ihnen wiederholt erklärt, dass sich mein Streit mit Wayne am vorletzten Abend abgespielt hatte, nicht am Abend zuvor, und dass man für eine Schlägerei immer zwei braucht. Daher verstehe ich nicht, warum ich hergebracht wurde. Und wieso sie sich so für meine Ex interessieren, wenn sie mit der Angelegenheit gar nichts zu tun hatte.

Als ich höre, wie sich Schritte nähern und dann die Tür quälend langsam aufgeschlossen wird, muss ich ein paar Mal tief durchatmen. Ich habe zumindest dieses Mal bestimmt nichts Illegales angestellt, und trotzdem habe ich die Hose gestrichen voll. Schon seit Jahren versuchen die Schweine mich einzubuchten, darum traue ich denen auch ohne Weiteres zu, dass sie versuchen, mir irgendwas anzuhängen.

Ich vergrabe das Gesicht in meinen Händen und stöhne auf, als die Tür auffliegt und eine laute, überhebliche Stimme amüsiert sagt: „Na, sieh mal einer an. Wenn das nicht mein alter Kumpel Vincent Spencer ist.“ Das ist nicht das erste Mal, dass ich mit Detective Sergeant Alan Mills zu tun habe. Es wird auch nicht das letzte Mal sein.

DS Mills wird von einer großen schlanken Polizistin mit eindringlichen Augen begleitet, die er als DC Fox vorstellt. Sie packt eine Speicherkarte aus und legt sie ins Aufnahmegerät ein, dann nimmt sie neben Mills Platz.

„Lange nicht mehr gesehen“, schnaubt Mills.

„Was soll das Ganze?“ Eifersüchtig sehe ich zu, wie Mills – ein großer bärtiger Mann mit dichtem schwarzem Haarschopf auf dem Kopf – laut schlürfend aus seinem dampfenden Starbucks-Becher trinkt.

„Alles zu seiner Zeit“, vertröstet mich Mills.

Trotzig verschränke ich die Arme vor der Brust und murmele mürrisch: „Ich wurde nicht mal gefragt, ob ich einen Anwalt anrufen will.“

„Wollen Sie einen?“

Ich zögere, ehe ich erwidere: „Nein, aber darum geht es nicht.“

Als Mills' stechende jadegrüne Augen mich so erfassen, als wollte er „Und worum geht es?“ fragen, kann ich den Blickkontakt mit diesem Riesen nicht aufrechterhalten. Er sieht mich immer so an, als wollte er mich verprügeln, und davon habe ich nun wirklich die Nase voll. Nein, danke.

„Bin ich verhaftet?“, frage ich und ziehe meine Schultern hoch.

„Bis jetzt noch nicht“, klagt ein missgelaunter Mills.

Ich setze mich gerader hin, bereit nach draußen zu stürmen. „Dann kann ich also gehen?“

„Nicht so schnell“, warnt mich Mills. „Das hier ist zwar im Moment nur ein freiwilliges Gespräch mit der Polizei, aber wenn es sein muss, können wir das sehr schnell ändern.“

Ich lasse die Schultern sinken und nehme die Hände hoch, als würde ich kapitulieren. „Es war eine Schlägerei zwischen zwei Erwachsenen, weiter nichts.“

Mills pustet entrüstet die Wangen auf. „Eine Schlägerei, die zum Tod einer jungen Frau geführt hat.“

Angst steigt in mir auf, und das Gefühl von Gefahr macht mir das Atmen schwer. Ich zittere vor Angst und Adrenalin, als ich mit erstickter Stimme frage: „Wovon reden Sie? Von welcher Frau?“

Als sich die beiden Detectives kopfschüttelnd ansehen, starre ich auf meine abgewetzten gefälschten Adidas-Sportschuhe und kämpfe gegen das Gefühl an, von grauen Gefängniswänden umgeben zu sein, die mir immer näherkommen. Die mich zerquetschen und mir die Luft rauben.

„Wo waren Sie gestern Abend?“, will Mills wissen.

„Das habe ich bereits Ihren Kollegen gesagt. Ich war zu Hause, zusammen mit meiner Freundin Leah.“

„Aber davor waren Sie doch bei Ihrer Ex-Frau Scarlet Spencer zu Hause?“, redet Mills weiter. „Ist das richtig?“

„Ja, natürlich. Ich habe die Kinder nach der Schule bei ihr abgesetzt. So wie jeden Tag. Wieso?“

Die Detectives sehen sich wieder an und bringen mich zu der Überzeugung, dass sie etwas wissen, wovon ich nichts weiß. Das macht mich nur noch nervöser. Meine Handflächen und meine Stirn sind mit einem Mal schweißnass. Mir ist übel.

„Die Nachbarn sagen, sie hätten am Tag des Mordes laute Stimmen aus dem Haus des Opfers gehört. Können Sie bestätigen, dass Sie und Scarlet sich gestritten haben?“

Mein Blick zuckt zwischen den beiden Detectives hin und her, während ich zu begreifen versuche, was sie mir sagen wollen. Als mir dann klar wird, dass ihre Fragen nicht meinen Streit mit Wayne betreffen, sondern meine Ex-Frau, springe ich auf und brülle sie an: „Mord? Was für ein Mord? Was wollen Sie damit sagen? Ist Scarlet etwa tot?“

Ohne auf meine Aktion einzugehen, fragt Mills nachdrücklich: „Um was ging es bei dem Streit?“

„Sie wollte von mir Geld haben, das ich gar nicht habe“, antworte ich in Panik. Meine Augen sind vor Fassungslosigkeit weit aufgerissen. Meine Gedanken überschlagen sich so sehr, dass ich nicht mehr klar denken kann. „Ich würde Scarlet niemals wehtun. Das würde ich einfach nicht. Fragen Sie, wen Sie wollen“, flehe ich die beiden an.

„So ganz stimmt das ja wohl nicht, oder, Vincent?“ Triumphierend kneift Mills die Augen ein wenig zusammen. „In der Zeit, in der Sie in 7 The Green gewohnt haben, hat Ihre Ex-Frau sich bei sieben verschiedenen Gelegenheiten wegen häuslicher Gewalt an uns gewandt, die jedes Mal von Ihnen ausgegangen war.“

Kapitel 3: Die Grossmutter

„Hier bitte, meine Lieben“, säusele ich, als ich zwei Porzellanbecher Tee auf den Wohnzimmertisch stelle, der abends auch für Bridge-Partien herhält. Beide hatten höflich abgelehnt, als ich ihnen etwas zu trinken anbot. Aber ich bin so beharrlich geblieben, wie es nur ältere Ladies beherrschen. „Bedienen Sie sich bei den Keksen“, füge ich an, lege die Hände zusammen und setze mich ihnen gegenüber auf die vorderste Kante des altrosa Sessels mit Rosenmuster. Mir wird bewusst, dass ich noch immer meine Rüschenschürze trage. Ich ziehe sie aus und falte sie sorgfältig zusammen, ehe ich sie auf die Armlehne des Sessels lege. Die rosé getönten Gläser meiner Brille sind immer noch beschlagen, da ich das heiße Brot aus dem Backofen geholt habe. Ich wische kurz über die Gläser und setze die Brille wieder auf. Die Polizistin blickt die ganze Zeit über missmutig drein, als hätte ich sie absichtlich in die Defensive gedrängt.

Der männliche Kollege hat dieses Problem nicht. Er lächelt mich so freundlich an, als wäre ich seine Mutter. Ich beobachte, wie er eine Hand anerkennend um den Becher legt, während er mit der anderen einen Keks nimmt. Die Frau scheint mittlerweile mehr daran interessiert zu sein, sich das Zimmer anzusehen. Sie ist sehr jung, vermutlich erst Mitte zwanzig. Daher muss ihr mein altmodisches Wohnzimmer mit dem hochflorigen Teppich, dem rosa Läufer, den gemusterten Sofas, den auf Hochglanz polierten Möbeln in dunklem Holz, den mit Fransen verzierten Lampenschirm und den Ölgemälden mit ihren ausladenden Goldrahmen antiquiert und wie aus dem letzten Jahrhundert stammend vorkommen.

Ich lächelte flüchtig und sage: „Und über was möchten Sie an diesem wunderschönen, sommerlichen Nachmittag mit mir reden?“

„Ich finde, wir sollten dabei stehen“, erklärt die Polizistin und stellt sich hin. Ihr Kollege scheint sich unbehaglich zu fühlen, als er den Becher wegstellt, den Keks runterschluckt und ihrem Beispiel folgt.

Ich bekomme einen roten Kopf und sage: „Meine Güte, so schlimm kann es doch nicht sein, oder etwa doch?“ Meine Hand legt sich wie von selbst auf mein Herz, während ich frage: „Sie wollen mich doch nicht etwa verhaften, oder?“

„Nein, Mrs Castle, natürlich nicht“, mischt sich der Kollege ein, um mich zu beruhigen. PC Carter heißt er, wenn ich mich nicht irre.

Die Polizistin schlägt ihren Notizblock auf und sieht mich forschend an. „Wir haben Grund zu der Annahme, dass Sie eine Frau namens Scarlet Spencer kennen könnten.“

Ich muss nervös schlucken, nehme die Schürze von der Armlehne und falte sie noch einmal von vorn. „Ja“, gebe ich mit einem niedergeschlagenen Nicken zu. „Sie ist meine Tochter.“

„Ihre Tochter?“ PC Carter keucht und wirkt schockiert. Ich gebe mir Mühe, nicht verärgert dreinzublicken, als ich sehe, dass Kekskrümel an seiner Unterlippe kleben. Ich möchte nicht, dass die auf meinen Teppich fallen, denn ich habe erst heute Morgen Staub gesaugt.

„Sie wirken überrascht. Sehe ich nicht alt genug aus, um eine Mutter sein zu können?“ Ich kichere schelmisch, aber in Wahrheit macht mir innerlich entsetzliche Angst zu schaffen. Allein zu hören, dass jemand Scarlets Namen laut ausspricht, hat mich in Panik geraten lassen. Aber habe ich nicht andererseits schon immer gewusst, dass die Polizei mich eines Tages aufspüren würde, um mir von ihr zu berichten?

„Wir haben mit Mrs Spencers Nachbarn und den unmittelbaren Angehörigen gesprochen, aber alle hatten den Eindruck, dass es sich bei Ihnen um eine entfernte Verwandte handelt, nicht um ihre Mutter“, stammelt die Polizistin, um ihr eigenes Erstaunen zu erklären.

Ich erwidere beleidigt: „Es hört sich ganz nach Scarlet an, dass ich so beschrieben werde. Sie müssen wissen, dass es zu einem Streit gekommen war, auch wenn der jetzt schon über zehn Jahre zurückliegt. Ihr Vater – Gott sei seiner Seele gnädig – war von ihrem Lebenswandel nicht sehr angetan und … warten Sie. Sie haben eben gesagt, dass Sie mit Scarlets Nachbarn und den unmittelbaren Angehörigen gesprochen haben, aber nicht mit ihr selbst. Geht es ihr gut?“

Als ich die nervösen Blicke bemerke, die die beiden Polizisten sich zuwerfen, wird mir klar, dass sie hergekommen sind, weil sie mir mitteilen müssen, dass etwas Schreckliches geschehen ist. Mir stockt der Atem. Die Frau ergreift die Initiative und stellt sich ein wenig gerader hin, als wollte sie salutieren. Dann sagt sie in einem ernsten, sachlichen Tonfall: „Es tut mir sehr leid, Mrs Castle, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass Ihre Tochter tot ist.“

„Tot?“, rufe ich und springe auf, merke dann aber, dass ich vor Angst weiche Knie bekommen habe und zurück in den Sessel plumpse, wo ich dann sitzen bleibe.

PC Carter ist sofort bei mir, tätschelt meine Hand und fragt: „Geht es Ihnen gut? Kann ich Ihnen irgendetwas bringen? Ein Glas Wasser?“

Ich schüttele den Kopf, während ich das Gefühl genieße, von einem anderen Menschen berührt zu werden. Er ist ein guter Junge, das kann ich ihm anmerken. Ich gehe davon aus, dass er seine Mutter gut behandelt, ganz im Gegensatz zu … aber darüber kann ich jetzt nicht nachdenken, wenn die beiden versuchen, mich davon zu überzeugen, dass Scarlet …

„Wie?“ Mit Tränen in den Augen drehe ich mich zu der Polizistin um. Erst da erkenne ich, dass ihr Name auf ein Stück schwarzes Klettband auf ihrer weißen Bluse aufgedruckt ist.

PC Anderson presst die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen, dann erklärt sie: „Momentan sind wir uns noch nicht sicher. Es kann sein, dass sie im Schlaf verstorben ist, aber das muss es nicht sein.“

Ich reiße die Augen weit auf, als ich das höre. „Sie war erst zweiunddreißig. Damit ist sie doch bestimmt viel zu jung, um auf eine solche Weise zu sterben. Und was meinen Sie damit, dass es sein kann, aber nicht sein muss?“

PC Anderson senkt vor Unbehagen kurz den Blick, ehe sie mich wieder ansieht. „Ihr Leichnam wurde für eine Autopsie zur Gerichtsmedizin gebracht. Wir können bis dahin nichts mit Gewissheit sagen, aber …“

„… aber“, fällt PC Carter ihr in sanftem Tonfall ins Wort, „die Fasern, die an und in ihrem Mund waren, deuten darauf hin, dass sie mit einem Kissen erstickt worden sein könnte.“

„Oh, mein Gott, nein“, stöhne ich. In meiner Stimme schwingt ein Hauch von Entsetzen mit. Da ich das Gefühl habe, jeden Moment ohnmächtig zu werden, stütze ich meine Ellbogen auf die Knie und lasse den Kopf nach vorn sinken.“

„Sie stehen unter Schock. Das ist nur allzu verständlich“, sagt PC Carter.

Ungläubig murmele ich: „Wer würde Scarlet so etwas antun?“ Ich brauche einen Moment, da ich meine Brille abnehmen muss, um meine Tränen mit dem Baumwolltaschentuch abzuwischen, das ich immer in meiner Tasche bei mir habe. Als ich dann meinen von Trauer erfüllten Blick auf PC Anderson richte, bei der ich inzwischen weiß, dass sie mir wahrscheinlicher als ihr Kollege die Wahrheit sagen wird, frage ich: „Wissen Sie, wer ihr das angetan hat?“

„Wir haben einen Verdächtigen festgenommen, von dem wir glauben, dass er Scarlet als Letzter lebend gesehen hat. Von ihren jungen Töchtern natürlich abgesehen.“

„Wer ist es?“

„Es tut mir leid, aber das dürfen wir derzeit nicht sagen.“ PC Anderson beißt sich auf die Unterlippe. „Ihm wird bislang noch nichts zur Last gelegt.“

„Sie sagen 'ihm', also reden wir über einen Mann“, stelle ich zynisch fest, dann spüre ich ein beunruhigendes Kribbeln im Nacken und sage: „Es ist Vincent Spencer, nicht wahr? Scarlets Ehemann. Von dem ist die Rede.“

Die gegenseitigen zögerlichen Blicke und das Schweigen der beiden scheinen meinen Verdacht zu bestätigen, und ich fahre aufgebracht mit einer Hand durch meine ordentlich geföhnten Haare und bringe sie durcheinander. „Ich habe Scarlet gewarnt, dass er einen schlechten Einfluss auf sie hat, aber sie wollte nicht auf mich hören! Er war zu nichts zu gebrauchen, und er hatte schon damals, vor zehn Jahren, immer wieder Ärger mit der Polizei. Wie ich sehe, hat sich nichts geändert.“

PC Anderson ignoriert meine wütenden Kommentare und wirft stattdessen einen Blick auf ihre Notizen, ehe sie sagt: „Die Töchter Daisy und Alice werden momentan vom Jugendamt betreut, da ihr Dad … verhindert ist. Als ihre Großmutter sind Sie die nächste lebende Verwandte der beiden, die sonst von niemandem aufgenommen werden können.“

Als ich stur schweige, nehme ich eine Veränderung in ihrem Tonfall wahr, so als wollte sie unsere Unterhaltung zum Abschluss bringen, da sie anderweitig wichtigere Dinge zu tun hat. Sie ist ehrgeizig, das muss ich ihr lassen. So wie ich auch mal war. Allerdings ist sie bei mir an der falschen Adresse, wenn sie meint, dass meine Enkel bei mir leben sollten. Das wäre der pure Wahnsinn.

„Aber ich habe sie nie gesehen, und sie kennen mich auch nicht“, wende ich ein und drehe mich so, dass ich PC Carter ansehen kann, der sicher mehr Verständnis für meine Situation aufbringen wird. Doch er sieht mich nur verlegen an, ganz so, wie es auch mein Sohn machen würde, wenn ich einen Sohn gehabt hätte.

„Dann bekommen Sie jetzt die Gelegenheit dazu.“ Er sagt es so, als hätte ich dem Vorschlag bereits zugestimmt. Aber nun kann ich mich ja wohl schlecht weigern, nicht wahr? Was würden die beiden von mir halten? Eine Großmutter, die ihren eigenen Enkelinnen kein Dach über dem Kopf geben will, obwohl sie das jetzt mehr als alles andere brauchen?

Ohne es eigentlich zu wollen, rede ich vor mich hin: „Ich weiß nicht, ob ich dieser Herausforderung gewachsen bin. Ich meine, ich habe meine eingefahrenen Routinen, und in meinem Alter bin ich es nicht gewöhnt, sehr junge Kinder um mich zu haben. Ich bin unglaublich stolz auf meinen Haushalt. Das war ich schon immer. Und Kinder bringen Unordnung, nicht wahr?“

„Sehr viel“, stimmt PC Carter mir zu.

„Was ist, wenn sie gar nicht zu mir wollen?“, frage ich voller Hoffnung.

„Das werden sie. Entweder sie kommen hierher, oder sie müssen zu einer Pflegefamilie oder ins Heim“, warnt mich PC Andrews mit unheilvoller Miene. Ich vermute, dass sie über mich urteilt. Aber gleich darauf gelange ich zu der Erkenntnis, dass mir die Meinung von zwei anderen Menschen viel wichtiger ist als die der Polizistin. Nämlich die meiner Enkelinnen.

Vor Sorge sehe ich sie mit aufgerissenen Augen an und frage: „Aber was ist, wenn sie mich nicht leiden können?“

„Unmöglich, Mrs Castle. Völlig ausgeschlossen“, erklärt PC Carter voller Überzeugung.

Als ich das höre, senke ich den Blick und versinke in unheilvolles Schweigen, während ich denke: Hmm, aber ihr kennt nicht mein wahres Ich. Niemand kennt es.

Kapitel 4: Der Vater

Ich habe die beschissensten anderthalb Tage hinter mir, sechsunddreißig Stunden lang eingeschlossen in einer Zelle, während ich immer wieder zum Mord an meiner Ex-Frau befragt wurde. Was mich aber wirklich stinksauer gemacht hat, das war die Tatsache, dass mir gesagt wurde, ich sei völlig freiwillig da und könne jederzeit gehen. Verdammte verlogene Schweine. Die sind noch korrupter als jeder Einzelne von diesen Wegelagerern in der Nene Fields-Siedlung, wohin ich jetzt unterwegs bin. Es ist mein Zuhause, ein Drecksloch, aus dem man niemals entkommen kann, wenn man dort geboren ist. Scarlet ist der einzige Mensch, den ich kenne, der dort nicht aufgewachsen ist. Sie kam aus einer bessergestellten Familie, während ich als Schlüsselkind groß wurde. Das hier sind meine Straßen. Als ich Scarlet wegen Leah verließ, zog ich nur zwei Straßen weiter.

Nach dem Tag, den ich hinter mir hatte, beschloss ich, dass ich heute Abend was zu trinken brauche. Also bin ich zu Spar gegangen, um ein paar Flaschen Bier zu kaufen. In unserem Viertel gibt es keine überteuerten Filialen von Waitrose und M&S. Die sind nichts für uns. Aber Armut, Arbeitslosigkeit und Verbrechen sind was für uns. Scheiße. Ich kann's noch immer nicht fassen, dass die Polizei dachte, ich hätte Scarlet umgebracht. Gott sei Dank gab mir Leah das Alibi, das ich brauchte. Wäre sie mal wieder zu einem ihrer Spielchen aufgelegt gewesen, dann wäre ich am Arsch gewesen. Aber dafür hat sie mich auf eine andere, aber genauso schlimme Art verarscht, denn während ich verhört wurde, wollte die Polizei wissen, ob sie sich um die Mädchen kümmern könnte. Sie meinte nur: „Die will ich verdammt noch mal nicht hier sehen. Ich habe mein eigenes Baby, um das ich mich kümmern muss.“ Ich kochte vor Wut, als ich herausfand, dass die Cops die beiden bei diesem Miststück von Großmutter unterbringen wollten, die ihre eigenen Enkelinnen nicht erkannt hätte, wenn sie ihnen auf der Straße begegnet wäre. Aber wie es aussieht, kann ich absolut nichts dagegen unternehmen.

Leah. Was für ein Miststück. Sie hat mich damit ordentlich an den Eiern zu fassen gekriegt. Aber kann mich das wirklich so überraschen? Was Leah will, bekommt Leah auch. Ich weiß nicht warum, aber mich wollte sie auch, und sie bekam mich auch. Nur bin ich mir nicht sicher, ob sie mich immer noch will. Sie wollte ein Kind haben, ich nicht. Ich habe schon zwei, für die ich keinen Unterhalt zahlen kann. Aber sie wurde trotzdem schwanger, weil sie mich belogen hatte, als sie sagte, sie würde verhüten. Als ich es erfuhr, zuckte sie nur mit den Schultern.

„Wenn du so unbedingt kein Baby haben wolltest, hättest du halt ein Kondom benutzen müssen. Ich bin nicht für dein Versagen verantwortlich“, hatte sie argumentiert.

Und damit habe ich nun drei Kinder, eines davon erst ein paar Monate alt. Ich liebe alle meine Mädchen, aber solange ich nicht bei Leah ausziehe und mir eine andere Wohnung suche – keine Chance, dass das passiert, wenn ich bedenke, wie abgebrannt ich bin – kann ich nicht darauf hoffen, Daisy und Alice zu mir holen zu können. Sie müssen sich im Stich gelassen vorkommen, vor allem jetzt, wo sie gerade erst ihre Mum verloren haben. Bei dem Gedanken daran wird mir ganz übel. Aber wenn ich Leah verlasse, dann heißt das, dass ich die kleine Saffy im Stich lasse.

Mit dem billigsten Sechserpack Bier, den ich finden konnte, gehe ich zur Kasse. Die junge Frau hinter der Theke ist neu. Ich habe sie hier noch nicht gesehen. Sie ist jung, ihr Gesicht ist unverbraucht und hübsch. Unwillkürlich denke ich darüber nach, dass sie es in diesem Laden nicht lange aushalten wird, hier, wo man sie beschimpfen und anbrüllen und wohl auch auf sie losgehen wird. Angesichts der vielen hormonsteuerten Teenager aus dem Viertel hier möchte ich für kein Geld der Welt mit ihr tauschen.

„Ein Päckchen Amber Lear, dreißig Gramm, bitte“, sage ich und schiebe den Sechserpack Dosen in ihre Richtung, damit sie ihn scannen kann. Doch anstatt sich umzudrehen und den Zigarettenständer zu öffnen, rümpft sie angewidert die Nase und hält sich die Hand vor den Mund, als müsste sie jeden Moment kotzen. Ah, verstehe. Mein Atem stinkt nach Aschenbecher. Ich konnte mir fast zwei Tage lang nicht die Zähne putzen. Trotzdem bin ich ein menschliches Wesen und habe Gefühle wie alle anderen auch. Schließlich kriegt sie sich wieder ein und zieht meine Sachen über den Scanner. Aber ihre Reaktion, als sie von mir zwei schmuddelige, zerknitterte Zwanzig-Pfund-Scheine annehmen muss, ist so maßlos übertrieben, als müsste sie mir gerade den Arsch abwischen.

Ich bedanke mich nicht bei der hochnäsigen Kuh, sondern stürme aus dem Laden und springe in meinen klapprigen alten Renault Megane, der neben einer doppelten gelben Linie in zweiter Reihe parkt. Einen Strafzettel habe ich nicht bekommen, da die Gemeinde schon vor Jahren aufgehört hat, die Leute von der Verkehrsüberwachung ins Viertel zu schicken, da die permanent beschimpft, mit dem Tode bedroht und angespuckt wurden.

Ich werfe die Bierdosen auf den Beifahrersitz und drehe mir mit dem eben gekauften Tabak eine Zigarette. Ich zünde sie an, atme tief ein, lehne mich auf dem Sitz nach hinten und lasse meine Schultern kreisen, um etwas von meiner Anspannung loszuwerden. Der Nikotinschub hilft mir dabei, aber ich kann einfach nicht vergessen, wie mich diese Frau angestarrt hat. So als wäre ich ein elender Penner mit den Augen eines Serienmörders. Ich bin vielleicht kein toller Fang, und mit meinen knapp eins zweiundsiebzig komme ich einfach nicht an die eins neunzig heran, die heutzutage eine Mindestanforderung der Frauen zu sein scheint. Aber schlecht sehe ich nicht aus.

Ich habe schon mein ganzes Leben lang Untergewicht, das mich manchmal richtig unterernährt aussehen lässt. Aber es ist egal, wie viel ich esse, ich nehme einfach nicht zu. Leah sagt, ich sollte meinen Bürstenschnitt wachsen lassen, damit mein Wolfstattoo im Nacken nicht mehr zu sehen ist, weil ich damit immer besoffen aussehe – oder als würde ich noch immer kiffen. Sie hat schon recht damit. Im Moment habe ich keinen Job, so wie die meisten Leute hier. Aber ich verdiene was zur Stütze dazu, indem ich gefälschte Markenware verkaufe. Ich höre mich an wie ein Versager, aber wenn es um das andere Geschlecht geht, scheine ich mich immer zu übernehmen. Zum Beispiel Scarlet. Oder Leah. Beide Frauen sind attraktiv, aber jede auf ihre ganz eigene Art.

Anders als die meisten Typen, die ich kenne und von denen ich weiß, dass sie Frauen insgeheim hassen und nur für eine Sache benutzen, fühle ich mich in der Gesellschaft von Frauen wohl. Oder anders ausgedrückt: Ich hänge lieber mit Frauen rum als mit Männern. Frauen sind immer wieder überrascht, wenn sie merken, wie gern ich mich mit anderen unterhalte, und zwar nicht nur über Fußball und Autos. Laut Scarlet war es genau das, was bei ihr den Wunsch weckte, mich kennenzulernen. Verdammte Scheiße. Sie kann nicht tot sein. Sie war meine erste Liebe. Wir sind uns begegnet, als wir beide zwanzig waren. Wie sollen meine Kinder ohne ihre Mum klarkommen? Und was soll ich ohne meine beste Freundin machen? In letzter Zeit habe ich viel darüber nachgedacht, wie sehr ich sie durch die Affäre mit Leah verletzt habe, und dann auch noch damit, dass ich sie mit zwei kleinen Kindern habe sitzenlassen, als sie Depressionen hatte. Ich war so dumm zu glauben, dass ich mit Leah glücklicher sein würde, aber so ist es nicht gekommen.

Aber ich bin nicht der Einzige, der Scarlet das Herz gebrochen hat. Dieses starrköpfige Miststück von Mutter trifft auch ein Teil der Schuld. Als wir vor ein paar Jahren mit der Miete im Rückstand waren und wir kurz davor waren, aus der Wohnung geschmissen zu werden, da brach Scarlet das Versprechen, das sie sich selbst gegeben hatte, nämlich nie wieder ein Wort mit ihrer Mutter zu reden. Aber obwohl Mrs Castle genug Kohle hat, weigerte sie sich eisern, uns etwas zu geben, und dann legte sie einfach den Hörer auf, nachdem sie noch erklärt hatte: „Du wirst von mir nicht einen einzigen Penny bekommen, solange du mit diesem Mann zusammen bist.“

Dieser Mann war ich.

Scarlet zuliebe werde ich dafür sogar, dass die alte Frau ihre Worte bereut. Ihr werdet schon sehen. Aber jetzt hat sie erst mal meine Kinder, und ich bin davon überzeugt, dass sie alles geben wird, um die beiden gegen mich aufzubringen.

Kapitel 5: Die Grossmutter

In meinem Wohnzimmer stehen zwei ähnlich aussehende Kinder – es sollen meine Enkelinnen sein, aber dieser Gedanke will mir nicht in den Kopf gehen, da ich sie noch nie zuvor gesehen habe – und halten den Kopf gesenkt, sehen mich aber zwischen den Wimpern hindurch an. Mit ihrem feuerroten Haar, den Sommersprossen auf der Nase und ihrem blassen Teint ist Daisy ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Für mich sieht es so aus, als sei sie entschlossen, ihre jüngere Schwester Alice vor der bösen Großmutter in Sicherheit zu bringen. Sie verhält sich ihr gegenüber wie eine Mutter, indem sie schützend einen Arm um Alice' schmale, spitze Schultern legt. Daisy ist neun, Alice sieben. Daisy hält eine gruselig aussehende und beängstigend realistische Puppe mit weitaufgerissenen Augen an sich gedrückt, bei deren Anblick ich eine Gänsehaut bekomme. Ich habe den Eindruck, dass sie diese Puppe überallhin mitnimmt, auch wenn sie vermutlich schon zu alt ist, um sich einem Spielzeug so verbunden zu fühlen. Beide Schwestern sind von großer Statur, ihre bis zur Taille reichenden Haare hängen wie Gardinen vor ihren Gesichtern und scheinen schon seit einer Weile nicht mehr gewaschen worden zu sein.

Als PC Carter und die Sozialarbeiterin, eine unscheinbare, mausgraue Frau mit einer Ponyfrisur und gelangweilt dreinblickenden Augen die Mädchen ins Wisteria Cottage gebracht hatten, da hielt jede von ihnen einen Plastikbeutel mit Kleidung und Toilettenartikeln an sich geklammert. Sie waren so in mein Haus gestolpert, als hätte ihnen jemand einen Stoß versetzt. Mit finsterer Miene hatten sie den für den Tee gedeckten Küchentisch betrachtet, als wären die appetitlichen Sandwiches, die Kanne voll Tee, der Kuchen und die Marmelade allesamt vergiftet.

„Später vielleicht“, schlug die Sozialarbeiterin vor und dirigierte uns stattdessen ins Wohnzimmer. Mich ärgerte das, weil das hier mein Haus ist. Ich hatte mir sehr viel Mühe gemacht, um den Mädchen das Gefühl zu geben, dass sie willkommen sind: Ich habe Scones gebacken und speziell für sie einen Wackelpudding in Hasenform gekocht. Aber als wir uns dann wie eine düstere kleine Prozession ins Wohnzimmer begaben, wo die Sonne durch die Fenster fiel, um uns zu begrüßen, da nahmen sie kaum Notiz von mir. Aber ich halte mir vor Augen, dass alles so rasend schnell gegangen ist und dass es für jeden von uns ein gewaltiger Schock war. Noch vor sechsunddreißig Stunden hatten sie eine Mutter gehabt – und keine Ahnung davon, dass ich existiere.

Alice sieht mich forsch an, ehe sie mich fragt: „Bist du unsere Granny?“ Von ihrer Schwester bekommt sie daraufhin den Ellbogen in die Rippen gestoßen.

„Ja“, antworte ich und zwinge mich zu einem fröhlichen Lächeln, während ich zwischen den beiden hin und her sehe.

Daisy wirkt ruhig und reserviert, aber sie hat eindeutig das Sagen. Alice ist impulsiver und sagt geradeheraus das, was ihr in den Sinn kommt. Das gefällt mir an ihr. Wenigstens werde ich wissen, wo ich bei ihr dran bin. Daisy ist nicht so einfach zu durchschauen.

„Und wieso haben wir dich dann noch nie gesehen?“, will Alice skeptisch wissen.

„Das ist eine lange Geschichte“, murmele ich betreten. „Warum setzt ihr euch nicht schon mal hin? Kann ich euch irgendetwas zu trinken bringen? Vielleicht einen selbst gemachten Holunderblütensirup?

„Coke“, platzt Daisy prompt heraus, als wollte sie mir unbedingt widersprechen. Es ist das erste Mal, dass ich sie reden höre. Ihr eindringlicher Blick soll mich einschüchtern.

„Du meinst Coca-Cola? Tut mir leid, aber die habe ich nicht.“

Ich habe Mitleid mit Daisy, als ich sehe, wie ihre Unterlippe zu zittern beginnt. Also schlage ich vor: „Wenn ihr wollt, können wir später im Dorfladen Cola holen. Der ist gleich gegenüber.“

„Gibt es da auch Süßes?“, will Alice wissen.

„Auf jeden Fall“, gebe ich amüsiert zurück.

Aus dem Augenwinkel bemerke ich, dass PC Carter versucht, meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Als sich unsere Blicke begegnen, deutet er unauffällig auf die Tür.

„Wenn ihr mich für einen Moment entschuldigen würdet.“ Ich sehe von der Sozialarbeiterin zu den Mädchen und schlucke nervös. „Ich muss nur kurz etwas mit dem netten Polizisten besprechen.“

„Nett?“ Daisy zieht die Augenbrauen zusammen und rümpft die Nase, als könnte sie sich nicht vorstellen, dass es nette Polizisten geben könnte. Alice schnaubt spitzbübisch und ahmt die Reaktion ihrer Schwester nach.

Als wir in die Küche gehen, tastet PC Carter seine Taschen ab, als würde er nach etwas suchen. Ich bin so enttäuscht von ihm, als wäre ich tatsächlich seine Mutter, als ich das Feuerzeug in seiner Hand sehe und einen Hauch von Tabak in seinem Atem rieche.

„Sie rauchen“, sage ich und verziehe den Mund.

„Bedaure, aber in diesem Job muss man irgendwas gegen den Stress tun“, räumt er auf entwaffnende Weise ein, ehe er in verschwörerischem Tonfall fortfährt: „Jedenfalls wollte ich Sie auf den neuesten Stand bringen.“

„Wegen Scarlet?“ Ich schnappe nach Luft. „Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?“

„Sie haben ihn gehen lassen.“

Mein Blick kehrt von den vertrocknenden Sandwiches und der Kanne mit dem immer kälter werdenden Tee zu ihm zurück. „Vincent Spencer?“, frage ich und ziehe die Augenbrauen hoch.

PC Carter ist anzusehen, dass er mir lieber bessere Neuigkeiten überbracht hätte. „Er hat ein wasserdichtes Alibi.“

„Hmm, das ihm zweifellos seine Freundin gegeben hat“, erwidere ich zynisch. Bei einem vorangegangenen Telefonat mit der Sozialarbeiterin habe ich alles erfahren, was sich im Leben von Scarlet und den Kindern bis zum Tag ihres Todes abgespielt hat. Die Affäre. Die Trennung. Die Scheidung. Das neue Baby. Die Agoraphobie.

PC Carter zuckt mit den Schultern. Als er zu der Tür sieht, die in den Flur führt, kann ich ihm anmerken, dass er hier raus möchte und dass der Lockruf des Nikotins zu stark ist, um es noch viel länger hier bei mir auszuhalten. „Wir haben keinen Grund, ihr nicht zu glauben.“

„Aber hätten die Mädchen nicht irgendetwas sehen oder hören müssen, wenn Scarlet in der Nacht aufgestanden war, um den Mörder ins Haus zu lassen?“ Ich senke meine Stimme zu einem leisen Murmeln. „Wenn Vincent lügt, was sein Alibi angeht, und er Scarlet doch umgebracht hat, dann könnte es doch sein, dass die beiden ihn beschützen. Immerhin ist er ihr Vater.“

Er sieht mich so mitleidig an, als hätte ich gerade einen Schlaganfall gehabt, dann enthüllt er mir: „Ihre Tochter hat niemanden ins Haus gelassen. Das hat der Mörder selbst gemacht.“

„Was soll das heißen?“, rufe ich verdutzt.

„Wir konnten uns nicht sicher sein, solange der Laborbericht noch nicht vorlag. Aber es sieht so aus, als hätte jemand ein Loch in die Glasscheibe der Hintertür geschlagen und wäre dann die Treppe raufgeschlichen, während Scarlet und die Kinder fest geschlafen haben. Eingeschlagene Scheiben sind in der Gegend nichts Ungewöhnliches. Deshalb mussten wir Gewissheit haben, dass sich dieser Vorfall zur Zeit ihres Todes abgespielt hat, aber nicht deutlich früher. Erst dann konnten wir sagen, ob es etwas Verdächtiges ist oder nicht.“

„Oh, meine Güte! Was, wenn die Mädchen aufgewacht wären? Vielleicht hätten sie den Mörder gesehen … und dann wären sie vielleicht auch …“ Entsetzt presse ich eine Hand auf meinen Mund. Nein, eine so entsetzliche Szene kann ich mir nicht ausmalen.

„Danach zu urteilen, wie Scarlett gefunden wurde, scheint es alles sehr schnell gegangen zu sein“, sagt PC Carter leise und bemüht sich um einen tröstenden Tonfall. „Durch die Schlaftabletten, die sie genommen hatte, kann sie gar nicht erst aufgewacht sein, weshalb es auch keine Anzeichen für einen Kampf gab.“

„Dem Himmel sei Dank für diese kleine Gnade“, merke ich verbittert an.

Er hält die Hand vor den Mund und hustet, dann fügt er hinzu: „Es tut mir leid, was mit Ihrer Tochter geschehen ist, Mrs Castle.“ Er geht bis zur Tür, bleibt wieder stehen und ergänzt bedächtig: „Aber zumindest haben Sie jetzt Ihre Enkelinnen bei sich, und die beiden brauchen Sie.“

Da ich unbedingt will, dass er noch etwas länger in meiner Küche bleibt, rufe ich: „Warten Sie.“ Ich tue alles, um noch etwas Zeit zu schinden, bevor ich ins Wohnzimmer zurückkehren und mich den vorwurfsvollen Blicken meiner Enkelinnen stellen muss – die ihre Mutter verloren haben und jetzt bei einer völlig fremden Frau leben sollen. Die armen Kinder verdienen jemand Besseren als mich, weil ich überhaupt keine Ahnung habe, wie ich damit klarkommen soll. „Wer hat Scarlets Leichnam gefunden? Und sagen Sie jetzt bitte nicht, dass es die Kinder waren.“

„Bedauerlicherweise ja“, seufzt er. „Ihre älteste Enkeltochter ist wesentlich reifer, als es ihr Alter vermuten lässt. Und sie ist sehr tapfer. Nachdem sie ihre Mutter tot vorgefunden hatte, hat sie darauf geachtet, dass ihre kleine Schwester nicht ins Schlafzimmer geht. Sie hat ihr sogar erst noch Frühstück gemacht und sie an den Küchentisch gesetzt, bevor sie den Notruf gewählt hat.“

Ich nicke betrübt, und mit Tränen in den Augen sage ich tonlos: „Danke, dass Sie mir das gesagt haben.“ Dann verabschiede ich mich von ihm und lasse ihn gehen. Dabei ist mir klar, dass ich diesen netten jungen Mann niemals wiedersehen werde. Aber ich bin daran gewöhnt, dass Menschen in mein Leben treten und wieder weggehen. Gerade als ich den kalten Tee ins Spülbecken gießen will, ertönt aus dem Wohnzimmer ein durchdringender Schrei.