Kapitel 1
Mit dem pinkfarbenen Nackenkissen unter dem Arm greife ich wahllos nach einer Klatschzeitung und schnappe mir eine Cola aus dem Kühlregal im Duty-free-Shop am Bangkoker Flughafen. Pink ist zwar nicht meine Lieblingsfarbe, aber um Welten besser als dieses Giftgrün das auch zur Auswahl gestanden hat.
Vollgepackt quetsche ich mich an einer übertrieben parfümierten Blondine vorbei, die vertieft die Inhaltsstoffe einer Diätlimonade studiert.
Mist! Steffi. Ihr heute zum zweiten Mal zu begegnen, macht es nicht leichter, den gestrigen Abend samt ihrer demütigenden Worte zu vergessen, die sie mir vor der gesamten Reisegruppe entgegengeschleudert hat: Ich wäre die bedauernswerteste Person, der sie je begegnet sei. Das hat sie tatsächlich behauptet. Und das nur, weil ich mit meinen zweiunddreißig Jahren als Single an einer Gruppenreise teilgenommen habe. Eine bodenlose Frechheit. Schmerzhaft obendrein. Noch immer bekomme ich einen Kloß im Hals, wenn ich daran denke, wie mich sämtliche verliebte Pärchen mitleidig beäugt haben und Steffi sich mit einem fetten Grinsen im Gesicht triumphierend an ihren schlaksigen Freund geschmiegt hat. Ich hatte gehofft, sie nach der Abschiedsrunde, zu der uns die Reiseleiterin in einem Restaurant zusammengetrommelt hatte, nie wieder sehen zu müssen.
Reflexartig drücke ich mir die Klatschzeitung vor die Nase, mache zwei Schritte rückwärts und remple so heftig gegen jemanden, dass mir die Coladose aus der Hand rutscht.
»Können Sie nicht aufpassen?«, mault ein dickbäuchiger Anzugträger mittleren Alters und macht mit seiner energischen Stimme prompt meine unliebsame Urlaubsbekanntschaft auf uns aufmerksam.
Ich habe keine Chance, ihr wie am Gate in Phuket zu entkommen. Dort habe ich ein Telefonat vorgetäuscht und ihr nerviges Gequassel ist mir erspart geblieben.
»Ach, das ist ja witzig, dass wir uns schon wieder über den Weg laufen«, säuselt sie aufgedreht und fährt mit ihren manikürten Fingern durch das golden schimmernde Haar. Dann winkt sie mit der Hand ab und lacht gekünstelt. »Aber wir haben ja auch das gleiche Ziel.«
Ich bücke mich und greife nach der Coladose. Der Gummi meines Pferdeschwanzes löst sich und die widerspenstigen Locken fallen mir ins Gesicht.
»Hallo! Ja, wirklich komisch«, antworte ich knapp und schiebe eine Haarsträhne hinter das Ohr. Ohne sie weiter zu beachten, steuere ich auf die Kasse zu.
»Lust auf einen Kaffee?«, ruft sie mir hinterher.
Wie kann sie nur annehmen, dass ich nach allem, was gestern vorgefallen ist, auch nur eine weitere Sekunde freiwillig mit ihr verbringen will?
»Keine Zeit, mein Flieger startet gleich.« Ich hoffe, dass sie mich nun endlich in Ruhe lässt. Und noch mehr hoffe ich, dass sie einen anderen Flug zurück nach Hamburg gebucht hat.
Ich habe Glück, denn sie gibt sich mit meiner Abfuhr zufrieden und wendet sich wieder der Diätlimonade zu.
An der Kasse reihe ich mich in die Schlange der wartenden Kunden ein.
»Leider ist nur Barzahlung möglich«, klärt die Verkäuferin einen großgewachsenen Kerl vor mir auf. Sie hämmert mit der flachen Hand auf das defekte Kartenlesegerät auf dem Tresen.
»Ich habe kein Bargeld bei mir.« Er dreht sich zur Seite und schiebt die Kreditkarte zurück in seine Ledergeldbörse. Schulterzuckend drückt er ihr das Mineralwasser in die Hand.
Wie leichtsinnig von ihm, sich ausschließlich auf Plastikgeld zu verlassen. Meine Oma hat mir schon als Kind eingebläut, dass man jederzeit zumindest einen Notgroschen in der Tasche haben sollte.
»Ich zahle das«, sage ich kurzentschlossen, obwohl die Preise am Flughafen unverschämt hoch sind. Aber heißt es nicht: Jeden Tag eine gute Tat?
Der Mann dreht sich zu mir um.
Ich schnappe nach Luft. Die leuchtendsten blauen Augenpaare, die ich je in meinem Leben gesehen habe, strahlen mich an. Stahlblau, um genau zu sein. Mit seinem Fassonschnitt und dem Dreitagebart sieht dieser dunkelhaarige Kerl absolut umwerfend aus. Ich schätze ihn auf ungefähr so alt wie mich, höchstens fünfunddreißig. Er erinnert mich an meinen ehemaligen Kollegen Markus, in den ich mal unsterblich verknallt war.
Kurz hält der gut aussehende Mann vor mir inne und mustert mich eingehend. Dann räuspert er sich und grinst breit. »Das ist aber nett von Ihnen.« Seine Augen umspielen kleine Fältchen, die ich zugegeben ziemlich anziehend finde. Seine Stimme ist angenehm tief und er strahlt eine Ruhe aus, die mich fasziniert.
Ohne den Blick von ihm abzuwenden, türme ich meine Einkäufe auf den Tresen und lege sein Wasser dazu. »Es ist ja nicht Ihre Schuld, dass das Gerät kaputt ist.«
»Trotzdem ist es sehr großzügig von Ihnen.« Wieder dieses Lächeln.
»Keine Ursache«, sage ich in möglichst belanglosem Tonfall, obwohl mein Mund plötzlich ganz trocken ist. Mit leicht zittrigen Fingern krame ich in meiner Umhängetasche und finde die Geldbörse schließlich zwischen Handcreme, Kaugummis und meiner Strickjacke. Ich ziehe einen Schein heraus und bezahle.
Als ich ihm die Wasserflasche überreiche, streift seine Hand meinen Unterarm und ein wohliges Kribbeln wandert mir durch den Körper.
»Na dann, auf Wiedersehen und guten Flug.« Er macht auf dem Absatz kehrt und verschwindet eiligen Schrittes. Zurück bleibt nur eine herb-holzige Wolke seines Aftershaves. Wäre ich Parfümhersteller, würde ich diesen Geruch als Duft für selbstbewusste Siegertypen beschreiben. Seufzend sehe ich ihm nach.
***
Das Boarding ist in vollem Gange und ich reihe mich in die lange Schlange der wartenden Fluggäste ein. Zum Glück sehe ich Steffi nicht und meine Hoffnung steigt, dass sie in einem anderen Flieger sitzt.
»Katja Karmann«, liest die thailändische Flugbegleiterin meinen Namen auf dem Boardingpass vor, scannt ihn und lässt mich durch die Schranke.
An Bord begrüßt mich eine weitere Flugbegleiterin in einem schicken, fliederfarbenen Kostüm, das mit einer echten Orchidee an der Schärpe versehen ist. Ihre Kollegin überreicht mir ein Tütchen mit Krabbenchips und schon werde ich erbarmungslos von den hinter mir wartenden Passagieren weitergeschoben.
Mit dem Trenchcoat unter dem Arm – der in Thailand aufgrund der Hitze völlig überflüssig war – und der Tasche um die Schulter schlängle ich mich durch den engen Flugzeuggang und bin schon durchgeschwitzt, als ich meinen Fensterplatz in der Economyclass erreiche.
Geschafft!
Ich kann es kaum erwarten, Thailand zu verlassen und nach Deutschland zurückzufliegen. Zwei Wochen Gruppenreise mit turtelnden Paaren um mich herum reichen vollkommen. Wie konnte ich nur annehmen, dass ich damit locker klar käme? Dass ich nicht an Julian denken würde und daran, dass wir diesen Urlaub eigentlich zusammen geplant hatten.
Ein Flugbegleiter verteilt mit einer Kneifzange feuchte, dampfende Tücher, die nach Kamille duften.
»Kannst du die Turnschuhe nicht anbehalten?«, meckert in der Reihe vor mir eine Frau ihren Begleiter an.
Die zehn Stunden Rückflug fangen ja großartig an.
Hastig presse ich mir mit der einen Hand das warme Tuch vor die Nase und verstaue mit der anderen die Krabbenchips in der Umhängetasche. Dabei entdecke ich in dem Chaos der Tasche die zerknitterte Spielquittung, die ich bei der Abgabe meines Lottoscheins auf dem Weg zum Flughafen bekommen habe. Die habe ich völlig vergessen. Das passiert mir sonst nie, dass ich die Lottozahlen zwei Wochen nicht vergleiche. Bevor ich das Handy in den Flugmodus schalte, checke ich die Gewinnzahlen und knabbere an meinen Fingernägeln.
War ja klar. Wieder nichts gewonnen. Bisher hatte ich kaum Glück beim Lotto. Trotzdem ist es wie eine Sucht, Woche für Woche einen neuen Schein abzugeben. Wie heißt es so schön? Pech im Spiel … na ja, lassen wir das.
Auf dem Gang herrscht weiterhin reges Treiben. Ich blättere in der Klatschzeitung und habe Mühe, die Augen offen zu halten. Immerhin bin ich seit sieben Stunden unterwegs. Es ist kurz vor Mitternacht und ich nehme wie beim Hinflug eine Schlaftablette, die ich mit der Cola runterspüle. Ich zwänge meinen Hals in das aufgeblasene Nackenkissen und ziehe eine Schlafmaske über.
Die plappernden Passagiere um mich herum erinnern mich an meine schnatternden Kolleginnen im Büro. Der Geräuschpegel hält sich bei uns den ganzen Tag konstant, und manchmal bin ich eindeutig zu lange mit meiner Kaffeetasse zwischen den Büroräumen unterwegs, um den neuesten Tratsch auszutauschen.
Kapitel 2
Die Durchsage des Kapitäns weckt mich. Mein Rücken ist steif und schmerzt. Gähnend ziehe ich die Schlafmaske ab und kneife die Augen zusammen. Die Flugroute auf dem Bildschirm zeigt an, dass wir Bulgarien bereits hinter uns gelassen haben.
Mit dem Nackenkissen um den Hals dehne ich mich in jede Richtung. Der Mittelsitz neben mir ist unbesetzt. Also greife ich nach meiner Handtasche auf dem Boden und lege sie darauf ab. Auf dem Gangplatz sitzt ein Mann im Businessoutfit. Die Beine von sich gestreckt blättert er in einem internationalen Wirtschaftsblatt.
Moment mal! Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen und bemühe mich, ihn nicht anzustarren. Ist das nicht der bargeldlose Kreditkartenbesitzer aus dem Duty-free-Shop? Selbst von der Seite erinnert er mich an Markus.
Im Nullkommanichts richte ich mich auf, schlage die Beine übereinander und gebe mir Mühe, eine damenhaftere Position einzunehmen. Okay, der Schmollmund ist übertrieben. Du meine Güte, warum sind meine Hände so schwitzig?
Er faltet seine Zeitung zusammen und lächelt mich an. Um seine Augenwinkel bilden sich die attraktiven Fältchen, die mir vorhin schon aufgefallen sind.
»Na? Ausgeschlafen?« Er wirft einen Blick auf das pinkfarbene Nackenkissen, das bestimmt ziemlich unsexy an meinem Hals hängt.
Hektisch zerre ich es herunter.
Seine Augen werden größer und er scheint mich zu erkennen. »Ach … Sie? Das ist ja eine Überraschung.«
»Was für ein Zufall, nicht wahr?« Ich lächle zaghaft und atme tief durch. Habe ich etwa Mundgeruch?
»Ein schöner Zufall«, antwortet er mit einem Zwinkern. Dann mustert er meine gebräunten Arme. »Sie waren im Urlaub, stimmt’s?«
»Ja, ich habe eine Rundreise von Bangkok über Chiang Mai und zuletzt Khao Lak gemacht.« Ich versuche, möglichst locker zu wirken, doch bin mir sicher, ich klinge wie bei einem Vorstellungsgespräch. Nervös streiche ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Bestimmt sieht meine Frisur aus, als hätte ich stundenlang mit einem Staubsauger gekämpft.
»Haben Sie auch den Khao-Sok-Nationalpark besucht?«
Ich nicke.
»Da war ich schon zwei Mal.« Er reicht mir eine aufgeklappte Pralinenschachtel. »Mögen Sie?« Die Ärmel seines weißen Hemdes sind hochgekrempelt und bringen seine durchtrainierten Unterarme voll zur Geltung. Mit diesem Aussehen könnte er locker als Model für Designerklamotten arbeiten.
Ich zwinge mich, meine Konzentration auf die schokoladenen Kunstwerke zu lenken. Sie sind fast zu schade, um sie zu vernaschen. Trotzdem suche ich mir ein Stück aus Vollmilchschokolade aus. »Danke!« Ich stecke mir die Praline komplett in den Mund. »Hmm, göttlich!«, sage ich stöhnend. Damit meine ich nicht nur die Praline.
»Ich liebe sie.«
Ich reiße die Augen auf und die Süßigkeit bleibt mir beinahe im Hals stecken. Habe ich mich verhört? Meine Wangen werden heiß.
Er räuspert sich. »Ich meine die Pralinen.« Nun wirkt er etwas verlegen und reibt sich den Nacken.
Wie konnte ich nur annehmen …
»Übrigens … ich bin Sebastian.«
Ich wische die Hand an meiner Jeans ab und reiche sie ihm. »Und ich bin Katja.« Sein Händedruck ist kräftig und angenehm kühl.
Er beißt in eine Praline aus Zartbitterschokolade, auf die ein filigranes Muster gezeichnet ist. »Die gibt es nur an Bord. Jedes Mal, wenn ich fliege, genehmige ich mir eine Packung.«
»Reist du oft?« Genüsslich lecke ich mir über die Lippen, während er mir erneut die Pralinenschachtel über den Mittelplatz reicht.
»Ja, ich bin ständig auf Reisen.«
Sofort schießt mir Julian durch den Kopf. Auch er war zuletzt nur noch unterwegs. Ohne Rücksicht auf unsere Beziehung hat er sich letzten Endes nach Singapur abgesetzt. Wegen seiner Karriere. Ihm war völlig egal, was aus uns … was aus mir werden würde. Noch heute versetzt es mir einen Stich, wenn ich an unsere unerwartete Trennung denke.
Komm halt mit, schlug er mir als einzige Alternative vor.
Spinnt der? Hat er wirklich geglaubt, ich lasse alles stehen und liegen und folge ihm mir nichts dir nichts auf seinen Selbstverwirklichungstrip?
»Und du?« Sebastian sieht mich interessiert an und eine seltsame Wärme erfasst mich.
»Ich?«
»Ja, reist du viel?«
Energisch schüttle ich den Kopf, so als könnte ich damit die Gedanken an Julian von mir abschütteln. »Nein, eher nicht. Nur im Urlaub.«
Er lacht auf. »Urlaub? Könnte ich auch mal wieder brauchen.«
»Was machst du denn beruflich?«
»Ich bin Hotelmanager bei einer Luxushotelkette.« Aus seinem Mund hört sich dieser wahnsinnig aufregend klingende Job überhaupt nicht überheblich an. Ich linse auf sein Handgelenk, an dem, wie ich vermutet habe, keine sündhaft teure Designeruhr hängt. Im Gegenteil, er macht einen bodenständigen Eindruck auf mich.
»Wir haben ein paar Anlagen in Deutschland und einige auf allen Kontinenten verstreut. Deshalb bin ich hier Stammgast.« Er klopft mit den Handflächen auf die Armlehnen seines Sitzes. »Mein zweites Zuhause sozusagen.«
Verstohlen mustere ich seinen teuer aussehenden Anzug. Obwohl er mir keinen Anlass dazu gibt und absolut sympathisch wirkt, fühle ich mich neben ihm plötzlich mickrig und klein. Bestimmt interessiert er sich nicht für eine unbedeutende Frau wie mich. Und ganz sicher kennt er jede Flugbegleiterin beim Vornamen. Ich kann förmlich vor mir sehen, wie er in lauen Sommernächten in einem der Hotels am Infinitypool steht und mit einem Cocktail in der Hand über seinen anstrengenden Arbeitstag plaudert. Womöglich umringt von Pin-up-Girls, deren Körper genauso makellos und perfekt geformt sind, wie sein nackter Oberkörper. Ich wette, dass sich unter seinem figurbetonten Hemd ein definierter Body versteckt.
»Und was machst du beruflich?«, reißt er mich aus meinen Gedanken.
»Ich arbeite als Einkäuferin für eine Möbelhauskette in Rostock.«
»Ah ja. Aus der Gegend bin ich auch.«
Am liebsten würde ich nachfragen, wo er genau wohnt, aber das käme mir zu forsch vor.
»Macht dir der Job Spaß?
»Ja, schon«, antworte ich gedehnt und wiegle ab, ob ich ihn fragen soll. »Wobei ich mir nicht sicher bin, ob ich das bis zur Rente durchhalte. Mein größter Traum ist eine eigene Modeboutique.« Ich halte inne und fasse es nicht, dass ich gerade einem wildfremden Menschen meinen innigsten Wunsch verraten habe. Außer meiner besten Freundin Annabel weiß nämlich niemand davon.
»Und was hindert dich daran, deinen Traum in die Tat umzusetzen?«
»Keine Ahnung, die Selbstständigkeit ist ein riesiger Schritt. Da gehört schon einiges dazu.« Dass ich so ein Vorhaben niemals finanziell stemmen könnte, behalte ich für mich. Wenn ich an meinen Kontostand denke, wird mir übel.
Er sieht mich eindringlich an. »Ich finde, man sollte alles dafür tun, seine Träume zu verwirklichen. Sonst ist man auf Dauer nicht glücklich.« Erneut reicht er mir die Pralinenschachtel.
Ich hänge an seinen Lippen, bis wir abrupt aus unserem Plausch gerissen werden.
»So schnell sieht man sich wieder.«
Mein Sitznachbar schreckt bei dieser schrillen Stimme auf und zieht die Pralinenschachtel unmittelbar zurück.
Steffi, die ich im Duty-free-Shop erfolgreich abwimmeln konnte, hat mich entdeckt. Mit einem Blick auf meinen Sitznachbarn schlägt sie die Handflächen zusammen. »Das gibt es ja nicht.« Ihre Augen leuchten wie ihre wasserstoffblondierten Haare. »Du bist doch nicht etwa Julian?«
Ich verschlucke mich an der Praline und bekomme einen Hustenanfall. Warum habe ich Julian vor ihr erwähnt? Aber ich konnte ja nicht ahnen … Um die gestrige Demütigung von mir abzuwenden, behauptete ich, ohne groß darüber nachzudenken, dass ich sehr wohl vergeben wäre. Leider fiel mir spontan nur der Name meines Ex-Freundes ein.
Sebastian schüttet mir Sprudelwasser in den leeren Colabecher.
Hastig trinke ich ein paar Schlucke.
»Ich war überzeugt davon, dass Katja mich verschaukeln wollte, als sie mir von ihrem supertollen Freund vorschwärmte.« Sie schenkt ihm ein aufgesetztes Zahnpastalächeln und zieht an mich gewandt, eine ihrer perfekt gezupften Augenbrauen nach oben.
Ich stecke in der Klemme. Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich die Ausführungen über meinen Freund maßlos übertrieben und ihn als megatollen Traumtypen beschrieben habe. Hörbar sauge ich die Luft ein.
Sebastian dreht sich zu mir und runzelt die Stirn.
Mein Herz klopft wie verrückt.
Nun zwinkert er mir vielsagend zu, setzt ein charmantes Lächeln auf und wendet sich an Steffi. »Wie du siehst, existiere ich tatsächlich.« Als wäre es das Normalste der Welt, greift er nach meiner Hand.
Ich bekomme Schnappatmung und wieder spüre ich die Ruhe, die er ausstrahlt. Und es ist, als würde sie auf mich überschwappen.
Er schenkt mir einen Blick, wie ich ihn mir früher von Julian gewünscht hätte.
Mir wird heiß, und der Schweiß rinnt über meinen Rücken.
Einen Augenblick später zieht er seine Hand zurück und streckt sie Steffi entgegen. »Nett, dich kennenzulernen.«
Kurzerhand packe ich meine Tasche, stelle sie auf den Boden und rutsche auf den Platz neben Sebastian. Nicht, dass sie noch auf die Idee kommt, sich zwischen uns zu zwängen.
»Hat Katja dich gestern Abend im Hotel versteckt, oder wo kommst du plötzlich her?«
Nach einem kurzen Zögern antwortet er. »Nein, ich war geschäftlich in Hongkong und bin extra für meine Süße einen Umweg geflogen, um mit ihr zusammen nach Hause zu fliegen.« Er grinst breit. »Wir feiern gerade unser Wiedersehen.« Er hält die Pralinenschachtel wie zum Beweis nach oben.
Mein Gesicht glüht und ich lausche dem Gespräch gleichermaßen angespannt wie fasziniert.
»Und Weihnachten geht es auf die Malediven, stimmt’s?«, säuselt sie und klimpert dabei mit ihren falschen Wimpern. »Damit hat Katja gestern geprahlt.«
In Zeitlupe rutsche ich den Sitz nach unten und presse den Hinterkopf an die Rückenlehne. Die Finger kralle ich so fest in die Armlehnen, dass es schmerzt.
»Mal sehen, vielleicht machen wir aber zuvor noch einen Abstecher nach Dubai, damit mein Schatz mal wieder ausgiebig shoppen kann«, antwortet er unverfroren.
In Sekundenschnelle setze ich mich kerzengerade auf. »Wie bitte?«
Er stockt und wirft mir einen irritierten Blick zu. »O nein, jetzt habe ich es verraten. Eigentlich wollte ich dich damit überraschen.« Wie selbstverständlich fährt er mit seinen Fingern sanft über meinen Rücken.
Ich schlucke und wage nicht, mir vorzustellen, wie sich meine verschwitzte Rückseite für ihn anfühlt.
»Dubai? Wie aufregend!«, kreischt Steffi.
Ich glaube, ich brauche einen Schnaps.
»Nimmst du es mir übel, dass es nun raus ist, Schatz?«
Bitte, bitte lieber Gott mach, dass das kein Traum ist und dass der Fremde mein echter Freund ist. »Natürlich nicht.« Mit der Hand auf dem Herzen bemühe ich mich, begeistert zu klingen. »Dubai! Das ist ja nicht zu fassen, Liebling.«
Krampfhaft stelle ich mir vor, dass jedes Detail, über das wir reden, wahr ist. Allmählich werde ich deutlich selbstbewusster und strecke meinen Rücken durch. »Ich war überzeugt, unseren New-York-Trip könnte nichts mehr toppen.« Ha, geht doch. Herausfordernd grinse ich ihn an und komme langsam in Fahrt.
Dann wende ich mich wieder Steffi zu. »Musst du nicht zurück zu deinem Freund? Der wundert sich sicher, wo du so lange bleibst.« Ich drehe mich um und scanne die Sitzreihen hinter mir nach ihm ab.
»Meinst du den Schwachkopf, mit dem ich mir in den vergangenen Tagen die Zeit vertrieben habe?«
»Wie bitte?«
Sie winkt ab. »Tinder-Bekanntschaft! Ein absoluter Reinfall. Eine Lachnummer, um es genau zu sagen. Es war eine Schnapsidee, den gemeinsamen Urlaub zu buchen. Zum Glück wohnt er weit genug von mir weg und sitzt bereits im Flugzeug nach Frankfurt.«
Die Flugbegleiterin unterbricht uns. »Darf ich Ihnen ein hübsches Andenken aus dem Bordshop anbieten?«
Ohne, um Erlaubnis zu bitten, greift Steffi in den Rollwagen vor ihr und setzt sich eine Sonnenbrille mit einem geschwungenen Gestell und grau-rosafarbenen Gläsern auf die Nase. Sie betrachtet sich selbstverliebt im Handspiegel, den ihr die Flugbegleiterin reicht. »Na, wie sehe ich aus?«
»Sieht echt stylish aus«, erkenne ich neidvoll an. Steffi kann bestimmt alles tragen. Mit der Brille wirkt sie wie ein Fotomodell.
»Ich finde, sie verdeckt vollkommen dein zartes Gesicht«, bemerkt mein Sitznachbar unverblümt.
Steffi errötet, zerrt sich das Gestell von der Nase. »Sie gefällt mir nicht.«
»Katja, probiere du sie an«, fordert Sebastian mich auf.
Die Flugbegleiterin reicht sie mir.
Nach einem kurzen Zögern setze ich sie widerwillig auf. Im Vergleich zu Steffi kann sie nur lächerlich an mir aussehen.
»Wow!« Er pfeift durch die Zähne. »Sie steht dir fabelhaft.«
Ich nehme sie von der Nase und lese den Preis. »Neunundsechzig Euro.«
»Heute ist Glückstag, halbe Preis für Brille von letzte Jahr und auch zwanzig Prozent auf alles«, sagt die Flugbegleiterin in herrlich asiatisch klingendem, gebrochenem Deutsch.
Steffi schaut Sebastian herausfordernd an und gibt ihm einen sanften Schubs.
Unerhört!
Er sieht grinsend zu ihr auf und ist sichtlich über das Verwechslungsspiel amüsiert.
»Wenn du sie kaufst, geb ich dir nachher das Geld zurück«, flüstere ich ihm zu.
»Wir nehmen sie«, sagt er selbstgefällig zur Flugbegleiterin und Steffi klatscht begeistert in die Hände, so als wäre sie gerade Zeugin eines Heiratsantrags geworden.
Aus der Hosentasche zieht Sebastian seine Ledergeldbörse und zückt die Kreditkarte. Nachdem die Flugbegleiterin eine Sitzreihe weiter ist, überreicht er mir zwinkernd die Brille. »Für dich, mein Schatz.«
Ich seufze und bedauere nach wie vor, dass das alles nur ein Spiel ist.
Steffi lässt uns keine Sekunde aus den Augen. Los, bedanke dich ordentlich, fordern mich ihre eindeutigen Blicke auf.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm einen zaghaften Kuss auf die Wange zu geben. Seine stacheligen Bartstoppeln elektrisieren meine Lippen und ich habe keine Chance zu verhindern, dass postwendend ein angenehmes Kribbeln durch meinen Bauch wandert.
Kapitel 3
Der Kapitän meldet sich über Lautsprecher und fordert die Passagiere auf, sich anzuschnallen. Der Landeanflug beginnt.
Steffi ist gezwungen, sich auf ihren Sitzplatz zu verziehen.
Ich rutsche auf meinen Fensterplatz und atme auf.
Sebastian lächelt mich an, so als würden wir uns schon Jahre kennen.
»Tut mir schrecklich leid.« Peinlich berührt sehe ich ihn an und gebe ihm das Geld für die Sonnenbrille. Noch immer bin ich völlig von seiner spontanen Art geplättet und darüber, dass er sofort in das Spiel mit einstieg und somit mein kleiner Schwindel nicht aufgeflogen ist.
»Du kannst ja nichts dafür. Deine Bekannte hat schließlich mit dem Verwirrspiel angefangen. Und wenn ich ehrlich bin, fand ich es amüsant. Der Flug war dank dir nun doch sehr kurzweilig.« Er grinst. »Habe ich recht und es gibt gar keinen Julian?«
Erwischt! Sein Blick durchbohrt mich. Kurz und knapp erkläre ich, was es mit dem erfundenen Freund, mit Julian und dem Vorfall am letzten Urlaubstag auf sich hat.
Er scheint mir die Notlüge nicht übel zu nehmen. »Jetzt verstehe ich«, sagt er und lächelt unwiderstehlich.
Wieder diese Lachfältchen. Es fällt mir schwer, nicht dauernd hinzusehen. Ich reiße mich zusammen und verbiete mir, meine Gedanken weiterzuspinnen.
»Du warst geschäftlich in Hongkong? Betreibt ihr dort auch ein Hotel?«, wechsle ich das Thema.
Lachend schüttelt er den Kopf. »Nein, das war eine erdachte Geschichte für deine unnachgiebige Bekannte. Bist du immer so leichtgläubig?« Er schmunzelt.
Bin ich. Wofür ich mich echt schäme …
***
Wir sind gelandet. Kaum sind die Anschnallzeichen erloschen, beginnt das turbulente Gedrängel auf dem Gang. Die Passagiere packen hektisch ihre privaten Utensilien zusammen und verlassen das Flugzeug so eilig, wie ein sinkendes Schiff.
Steffi schlängelt sich an unserer Sitzreihe vorbei und winkt übertrieben übermütig, so als wären wir die besten Freundinnen.
Ich ignoriere sie und werfe einen Blick aus dem Fenster. Der Himmel über Hamburg ist wolkenverhangen und es regnet. Wie ein Magnet klebe ich an meinem Sitz und rühre mich nicht vom Fleck.
Auch Sebastian macht keine Anstalten aufzustehen und verschränkt die Arme vor der Brust. Wenn ich Glück habe, bleibt er mit mir hier. Was ein unrealistischer Wunsch ist. Die Flugbegleiterin lächelt uns höflich an. Mittlerweile ist das Flugzeug nahezu leer.
»Ich hasse die Hektik nach der Landung. Da ist gleich wieder die Entspannung des Urlaubes vorbei«, rechtfertige ich mich und Sebastian nickt zustimmend.
Nachdem der letzte Passagier sich von den Flugbegleiterinnen am Ausgang verabschiedet hat, schiebt er sich aus seinem Sitz, streckt sich, und holt seine Aktentasche aus dem Gepäckfach über unserer Sitzreihe. Sein Hemd rutscht aus der Hose und ich fixiere den Ansatz seiner Lenden.
Er sieht zu mir hinunter und ich zwinge mich, woanders hinzusehen.
Mit ein paar hektischen Handgriffen stopfe ich Nackenkissen, Zeitschrift und ein Prospekt der Fluggesellschaft in meine Tasche und stehe auf.
Er reicht mir die halb leere Pralinenschachtel und wirkt angespannt. »Möchtest du?«
»Gerne.« Schließlich sind sie viel zu schade, um sie zurückzulassen.
»Ist das deiner?« Sebastian hält meinen Trenchcoat in der Hand, den er aus dem Gepäckfach gezogen hat.
Ich nicke und er hilft mir in den Mantel, der in Hamburg wegen des schmuddeligen Aprilwetters bitternötig sein wird.
Einen Wimpernschlag lang hält er inne und mustert meine Beine. Dann verfangen sich unsere Blicke ineinander und es ist, als wolle er etwas sagen. Doch er schweigt.
Der Gedanke daran, dass sich unsere Wege in ein paar mickrigen Minuten für immer trennen werden, macht mich verrückt. Ich will ihn nicht gehen lassen. Dieser Mann hat mich mit seiner spontanen Art und der gelassenen Ausstrahlung innerhalb kurzer Zeit in seinen Bann gezogen. Sein Aussehen ist natürlich auch nicht zu verachten. Was soll ich jetzt tun?
Mit gesenktem Kopf stapfe ich neben ihm zur Gepäckausgabe und beobachte, wie die ersten Koffer aus dem dunklen Loch ausgespuckt werden.
Die Passagiere drängeln und reißen ihre Koffer hektisch vom Band, sobald sie an ihnen vorbei rollen. Jeder hier scheint möglichst schnell wegzuwollen. Jeder, außer mir.
Die Gepäckausgabe geht innerhalb weniger Minuten vonstatten. Auch Steffi hat längst ihren Koffer und beachtet uns glücklicherweise nicht weiter.
Nur noch eine Handvoll Menschen warten mit Sebastian und mir auf ihre Gepäckstücke.
Und ich hoffe auf ein Wunder. Mit jeder verstrichenen Minute wird mir klarer, dass dieser Mann auf keinen Fall so schnell aus meinem Leben verschwinden darf, wie er hineingetreten ist. Irgendetwas muss passieren. Und zwar augenblicklich. Ein versehentlicher Koffertausch zum Beispiel wie er in den amerikanischen Spielfilmen oft passiert. Er nähme nichts ahnend meinen Koffer und ich seinen. Zufälligerweise sähen die natürlich absolut identisch aus. Zu Hause würde er ihn müde auf sein nigelnagelneues Boxspringbett werfen, ihn öffnen und nach seiner knappen Shorts suchen, um damit ins Bett zu steigen. Stattdessen wäre der Koffer voll mit aufregenden Dessous. Irritiert würde er den mit Steinen aus Strass besetzten String und die halterlosen Strümpfe mit Spitzenabschluss eingehend betrachten. Hab ich zwar nicht eingepackt, hört sich aber genial an. Ich stelle mir vor, wie er verblüfft ein Teil nach dem anderen herausnimmt, wie die zarte Seide meines durchsichtigen Nachthemdes durch seine starken Finger gleitet, wie er jedes einzelne Wäschestück betrachtet und sich fragt, wie der Körper jener Frau wohl aussehen mag, die diese bezaubernde Unterwäsche trägt. Und dann würde er sich an mich erinnern. Er würde sich wünschen, dass ich es bin, der der Inhalt des Koffers gehört. Es käme alles, wie es kommen muss. Er würde ein Adressschild entdecken und damit wäre es kein Problem für ihn, mich ausfindig zu machen.
Ein polterndes Geräusch auf dem Kofferband reißt mich aus meinen Träumereien.
Sebastians Blick ist auf einen schwarzen, makellosen Hartschalenkoffer fixiert, der auf ihn zurollt. Schwungvoll hebt er ihn vom Band.
Zeitgleich rollt meine lädierte Sporttasche an. Keine Chance, die zu verwechseln. Warum ist das wahre Leben dermaßen grausam? Ich sehe eindeutig zu viele Liebesschnulzen.
Sebastian ist damit beschäftigt, die lederne Aktentasche an den ausziehbaren Koffergriff zu hängen, und ich warte auf mein zweites Gepäckstück, den geblümten Hippiekoffer. Angespannt starre ich auf das Band und entdecke ihn.
Wie soll ich nur verhindern, dass Sebastian verschwindet, ohne dass ich seine Telefonnummer habe? Los, frag ihn, fordere ich mich in Gedanken auf und zerre den Koffer vom Band. Warum bin ich so ein Schisser? Ich muss meine Unsicherheit beiseiteschieben. Deshalb räuspere ich mich, atme tief durch und öffne den Mund, um was zu sagen.
Er kommt mir zuvor. »Bist du so weit?«
Ich nicke.
Während er neben mir zielgerichtet auf den Ausgang zusteuert, möchte ich am liebsten die Zeit stoppen. Okay, ich frage ihn, wenn wir uns verabschieden. In Gedanken lege ich mir die passenden Worte zurecht.
Ein Zollbeamter stellt sich Sebastian in den Weg. »Haben Sie etwas zu verzollen?«
»Nein, nichts.«
»Kommen Sie bitte zur Routinekontrolle mit.«
O nein! Er darf jetzt nicht verschwinden. Auf keinen Fall darf er das. Ich nutze meine letzte Gelegenheit und fasse allen Mut zusammen. »Sebastian, ich …«, setze ich an.
Er unterbricht mich rigoros. »Auf Wiedersehen, Katja!« Lächelnd schüttelt er meine nass geschwitzte Hand. »Es war einmalig, dich kennenzulernen. Noch nie habe ich mich auf einem Flug so köstlich amüsiert.«
Wie angewurzelt stehe ich da. Unfähig, ein einziges Wort aus mir herauszupressen. Just in dem Moment lässt er meine Hand los, dreht sich um und folgt dem Zollbeamten mit eiligen Schritten.
Und ich bin nicht in der Lage, es zu verhindern. »Bitte geh nicht«, bettle ich dennoch kaum hörbar.
Als könne er meine Worte hören, dreht er sich um und sieht mir noch einmal tief in die Augen. In seinem Blick liegt etwas Sehnsüchtiges. Oder bilde ich mir das ein? Kurz bevor sich die milchige, gläserne Schiebetür hinter ihm schließt, winkt er mir zu. Dann ist er weg.
Mir ist klar, dass ich meine letzte Chance verpasst habe. Wie eine Idiotin stehe ich da und warte auf ein Wunder. Fehlanzeige!
Als Sebastian bereits einige Minuten verschwunden ist, registriere ich allmählich, was passiert ist. Nämlich nichts. Soll es das gewesen sein? Wo ist der vertauschte Koffer? Und wo ist die romantische Szene am Ende der Begegnung, bei der wir uns küssend in den Armen liegen? Warum hat er mich nicht gefragt, ob wir uns wiedersehen? Ich seufze. Das, was ich mir hier zusammenspinne, ist alles andere als realistisch. So viel ist klar.
Aber was meinte er damit, als er sagte, er hätte sich noch nie so auf einem Flug amüsiert? Hat er sich etwa über mich lustig gemacht, während ich schon Heiratspläne geschmiedet habe? Ich bin so naiv. Und maßlos enttäuscht.
Ich wage es nicht, mir vorzustellen, dass vor dem Flughafengebäude seine Freundin oder Ehefrau wartet, um ihn liebevoll in Empfang zu nehmen. Ob es die Frau dort drüben vor dem Taxistand ist, die in einem Etuikleid aufgeregt hin und her spaziert? Oder die, die ein zappelndes Kleinkind an der Hand hält?
Ich sollte schnellstmöglich von hier verschwinden. Die Peinlichkeit, ihm mit seiner besseren Hälfte zu begegnen – falls es sie gibt – muss ich mir ersparen. Auf dem Weg zum Shuttleservice wird mir klar, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als den Tag abzuhaken.
Nach der knapp zweistündigen Busfahrt sind wir am Bahnhof von Warnemünde angekommen. Von dort aus mache ich mich zu Fuß auf den Weg zu dem Haus, in dem ich wohne. Zum Glück hat die Sporttasche ebenfalls Rollen, sonst hätte ich mir wohl ein Taxi rufen müssen.
Ich gehe im Laufschritt. Das mache ich ständig, seit ich in einem Psychoratgeber gelesen habe, dass der Laufschritt bedeutet, immer einen Schritt voraus zu sein. Extrapunkte gibt es, wenn man nebenbei telefoniert, weil das auf andere intelligent und zielorientiert wirkt. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass es mit meinem Gepäck im Schlepptau gar nicht so leicht ist, das Tempo zu halten.
Ich überquere die Bahnhofsbrücke und erreiche den Alten Strom. Touristen schlendern über die beliebte Flaniermeile, wo ein renoviertes Kapitänshäuschen an das andere grenzt. Sie bewundern die bunten Fischkutter oder geben sich die Klinken der Läden mit Ostsee-Andenken, blau-weiß-gestreifter Kleidung und unzähliger Restaurants in die Hand. Für April ist relativ viel los. Kein Wunder, heute sind die Temperaturen ungewöhnlich mild und das Wetter ist deutlich besser als noch bei meiner Landung in Hamburg. Eine leichte Ostseebrise weht mir um die Nase. Möwen kreisen mit gellenden Schreien um die Stände von Backfisch und Makrelenbrötchen, in der Hoffnung, etwas Nahrung zu erhaschen. Obwohl es streng verboten ist und sogar unter Strafe steht, sie zu füttern, teilen Urlauber immer wieder ihre Fischbrötchen mit ihnen.
Im Grunde ist es fantastisch, dass ich da leben darf, wo andere ihre Ferien verbringen. An einem Sehnsuchtsort, an dem die Ostsee den weichen Sand küsst und der maritime Flair die Luft erfüllt. Nicht zu vergessen ist die beste Eiscreme der Welt und die einladendste Strandpromenade von ganz Deutschland. Und sicher darüber hinaus.
Egal, wie sehr ich renne, Sebastian saust weiterhin wie zwei Tornados durch meinen Kopf. Natürlich habe ich nicht erwartet, dass ich ihn einfach so vergessen kann. Doch dass er sich derart in mein Hirn brennt und ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann, damit habe ich nicht gerechnet.
Warum sind Männer so eiskalt? Okay, ist er nicht gewesen. Aber hat er nicht gespürt, was da zwischen uns war? Dieses Knistern, die Magie? Die tiefen Blicke, die mir binnen Sekunden völlig den Verstand geraubt haben? Hat er meine Gänsehaut nicht bemerkt, als er mich berührt hat? Ist es ihm nicht genauso ergangen? Oder ist da nichts zwischen uns gewesen? Interpretiere ich zu viel in unsere Begegnung hinein? Und weshalb bin ich zu feige gewesen, ihn um seine Nummer zu bitten? Warum ist er weggegangen, ohne mir zu sagen, dass er mich wiedersehen will? Ist er tatsächlich vergeben? Die Antworten auf all meine Fragen werde ich niemals erfahren. Ich muss ihn vergessen. Zumindest ab morgen. Noch bis Mitternacht werde ich mir die wildesten Gedanken an ihn erlauben, die wirklich in alle Richtungen ausschweifen dürfen. In den schillerndsten Farben werde ich mir ausmalen, wie es hätte sein können. Danach ist Schluss, schwöre ich mir, dann wende ich mich wieder der Realität zu.
Kapitel 4
Nicht zu fassen! Der Aufzug ist schon wieder kaputt. Und das zum was weiß ich wievielten Mal in den vergangenen drei Monaten. Stöhnend hieve ich zunächst die prall gefüllte Sporttasche in den vierten Stock hinauf. Oben angekommen, übersehe ich die letzte Treppenstufe und knalle auf den harten Marmorboden.
Autsch! Ich reibe die schmerzenden Knie und rapple mich wieder auf. Dabei schnaufe ich wie eine Herzkranke. In meinem Magen grummelt es. Nachher werde ich eine E-Mail an die Hausverwaltung schreiben, die sich gewaschen hat. Darauf können die sich verlassen. Wozu zahle ich jeden Monat pünktlich meine Miete? Immer ist irgendetwas kaputt. Und die Erholung ist dank der elenden Schlepperei ohnehin längst dahin.
Ich stecke den Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür und betrete mein geliebtes Zuhause. Der erste Blick fällt auf das Porträt meiner Eltern, das über dem auf alt getrimmten Sideboard im Flur hängt. Vater wirkt auf dem Bild besonnen, doch Mutters mahnender Miene entnehme ich, dass ich mir die Schuhe ausziehen soll, damit ich den Berber-Teppich nicht versaue.
Rasch streife ich meine Sneakers ab und laufe barfuß in die Küche, die durch eine breite Holztheke vom Wohnzimmer getrennt ist. Auf der Küchenarbeitsplatte erwartet mich eine Flasche Prosecco samt einer Packung Schokofrüchte, für die ich sterben würde.
Willkommen daheim. Hab dich vermisst. Knutscher, Annabel.
Lächelnd nehme ich den mit Herzchen verzierten Zettel meiner besten Freundin in die Hand und gebe einen dicken Schmatzer drauf. Sofort fallen mir die gepflegten Pflanzen auf. Sicher war sie jeden Tag hier, um sich um deren Wohlergehen zu kümmern. Sie hat wirklich einen grünen Daumen.
Ohne vorher meinen Mantel abzulegen, reiße ich die knisternde Packung Schokofrüchte auf und beiße genüsslich in eine mit Vollmilchschokolade überzogene Ananas. Der Geschmack auf der Zunge, wenn die Schokolade langsam schmilzt und die Frucht im Inneren zum Vorschein kommt, ist einmalig. Beim Gedanken an Bitterschokolade bekomme ich eine Gänsehaut. Annabel kennt mich zu gut, als dass sie die kaufen würde.
Ich öffne die Fenster und atme die kühle Frühlingsluft tief ein. Es gibt nichts Schöneres, als nach dem Urlaub in sein trautes Heim zurückzukehren, und alles an seinem Platz vorzufinden. Egal wo ich meinen Krempel liegengelassen habe, er ist noch da.
Auch wenn ich nicht superordentlich bin, hasse ich offenstehende Schubladen. Meist mache ich vor dem Verlassen der Wohnung extra einen Rundgang, um zu überprüfen, ob alle geschlossen sind. Keine Ahnung, woher ich diese Angewohnheit habe.
Am Küchenschrank, an dem haufenweise Notizen hängen, von denen die meisten nicht mehr relevant sind, fällt mir ein Zettel ins Auge, den Annabel für mich geschrieben hat. Er klebt mitten auf der To-do-Liste, die wir vergangenes Silvester im Proseccorausch zusammengestellt haben. Mit fettem Rotstift haben wir uns gegenseitig Aufgaben aufgeschrieben, die bis zur nächsten Silvesterparty erfüllt sein müssen.
Und? Kannst du schon was abhaken?, lautet ihre Frage, die sie mit einem Kuss-Smiley verziert hat. Beim Durchlesen der einzelnen Punkte grinse ich.
Einen knorrigen, alten Baum umarmen. Kann ja nicht schwer sein.
Nackt im Meer schwimmen. Ist seit dem Urlaub abgehakt. Ich war allein.
Blau machen, ohne dass ich ernsthaft krank bin. Das wird eine Herausforderung.
Meinen Lieblingssong im Wagen mitgrölen, obwohl jemand neben mir sitzt. Wird schwierig. Erstens fahre ich meist mit den öffentlichen Verkehrsmitteln und zweitens bin ich dann allein unterwegs.
Ich liebe dich, zu einem Mann sagen und es so meinen. Wird in meinem Alter langsam Zeit. Sofort denke ich an Sebastian und verwerfe den Gedanken wieder.
In dem Moment fällt mir ein, dass der Koffer noch vor dem Aufzug im Erdgeschoß steht. Ich laufe nach unten und leere auch gleich den Briefkasten. Außer ein paar Rechnungen und dem kostenlosen Ostseeblatt habe ich keine Post. Die Rollen des Koffers helfen mir bei den Treppenstufen herzlich wenig und ich brauche eine gefühlte Ewigkeit, bis ich ihn endlich durch den schmalen Flur schiebe. Zwischen dem vollgetürmten Schuhregal und dem Sideboard werfe ich einen Blick in den zwei Meter hohen Standspiegel. Niemals verlasse ich die Wohnung, ohne kurz mein Aussehen zu checken. Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Tick oder ein Ritual ist. Wenn ich allerdings nach einem langen, feuchtfröhlichen Abend mit Annabel heimkomme und drei Mojitos intus habe, spare ich mir den Blick. Das ist besser so.
Im Schlafzimmer knalle ich den Koffer mit Schwung auf das Himmelbett.
Meine Erinnerungskiste spitzt unter dem Bett hervor. Ich bücke mich, greife nach ihr und setze mich damit auf die Matratze. Vorsichtig öffne ich den Deckel. Das Püppchen, das Oma für mich gehäkelt hat, als ich ein Kleinkind war, lächelt mich an. Damals hatte ich Püppi niemals aus der Hand gegeben. Dementsprechend ramponiert sieht sie aus. Liebevoll streiche ich ihr über den Kopf und gebe ihr einen Kuss auf die Wange. Dann verstaue ich sie wieder in der Kiste und schiebe sie zurück unter das Bett.
Mit einem Satz falle ich in die flauschigen Kissen, die trotz zwei Wochen Abwesenheit erstaunlich frisch riechen. Mit geschlossenen Augen überlege ich, was Sebastian in diesem Augenblick macht, und erinnere mich an sein supersüßes Lächeln.
***
Das schrille Klingeln des Telefons reißt mich unbarmherzig aus dem Schlaf. Verpeilt setze ich mich im Bett auf und reibe mir die Augen. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigt vierzehn Uhr. Ganze drei Stunden habe ich geschlafen. Ich schwinge die Beine aus dem Bett und torkle schlaftrunken zum Telefon, das auf dem Beistelltisch neben der Couch liegt. In dem Moment, in dem ich nach dem Hörer greifen will, übernimmt der Anrufbeantworter. Ich lasse ihn laufen, und gehe schwankend zurück ins Schlafzimmer. Ich bin fix und fertig. Erschöpft sinke ich wieder ins Bett.
Von weitem vernehme ich die lebhafte Stimme meiner besten Freundin. »Huhu Katja, hier ist Annabel.« Im Hintergrund höre ich ihre Zwillingsjungs streiten. »Bist du zurück? Melde dich mal. Bussi.«
Sicher wartet sie schon sehnsüchtig darauf, jedes unspektakuläre Detail meines Urlaubes zu erfahren. Vor allem die Geschichte mit dem heißen Urlaubsflirt. Die es nicht gibt. Ob ich ihr von Sebastian erzähle? Besser nicht. Ich will ihn ja eh vergessen. Jetzt, wo er wieder durch meine Gedanken schweift, habe ich Mühe, erneut einzuschlafen.
In Thailand ist es schon Abend. Um mich an die deutsche Zeit zu gewöhnen, bleibe ich besser den Rest des Tages wach. Allerdings bin ich zu müde, um auszupacken oder einzukaufen.
Gähnend schmökere ich im Ostseeblatt. Ich lese, dass der orthopädische Laden direkt am Leuchtturm demnächst schließt. Die Größe wäre ideal für meine eigene Boutique, stelle ich seufzend fest.
***
Die Frühlingssonne scheint mit ihren wohligen Strahlen durch das Fenster der Dachschräge und kitzelt meine Wangen. Gestern Abend habe ich vergessen, das Rollo zu schließen, bevor ich völlig erledigt ins Bett kroch.
Meine Gedanken wandern erneut zu Sebastian. Hör auf damit, ermahne ich mich schroff und presse mir das Zierkissen vor das Gesicht. Wieso tackert sich dieser Mann bloß so in meinem Hirn fest?
Ich muss mich ablenken. Und zwar sofort. Voller Tatendrang springe ich aus dem Bett, schüttle das Federbett aus und öffne den überquellenden Koffer. Der Föhn knallt mir vor die Füße, gefolgt von einer winkenden Katze und einem mit Lotusblumen bedruckten Sommerkleid, von dem ich mir plötzlich nicht mehr sicher bin, ob ich es jemals tragen werde.
Während des Auspackens trinke ich einen schwarzen Kaffee mit einem gehäuften Teelöffel Zucker. Für Cappuccino fehlt mir zu meinem Leidwesen die Milch. Der Kühlschrank ist gähnend leer. Heute ist Einkaufen angesagt. Und einen neuen Lottoschein will ich ebenfalls abgeben.
Eine Stunde später bin ich geduscht und mache mich auf den Weg zum Supermarkt. Mit den vollbepackten Papiertüten im Schlepptau schaue ich auf dem Rückweg am Kapitänskiosk vorbei. Der kleine Laden, der als Geheimtipp unter Urlaubern zählt, hat seinen ganz eigenen Charme.
Ich spaziere durch den winzigen Raum, in dem Tages- und Klatschzeitungen wild durcheinander gestapelt liegen. Im hinteren Teil des Geschäftes führt ein Durchgang in einen nach modrigem Papier riechenden Gewölbekeller, in dem haufenweise Bücher unterschiedlichster Genres zu finden sind. Ich bin regelmäßig überwältigt, welche Mengen an Literatur in den winzigen Laden passen. Klaas, der graubärtige Besitzer, den ich seit Kindheitstagen kenne, steht mit seiner unverwechselbaren Kapitänsmütze an dem geöffneten Kioskfenster. Sie sieht aus, als hätte sie schon manchen Sturm überlebt. Als er mich entdeckt, winkt er mir zu.
»Tach, Katja!« Er ist gerade dabei einem Touristen mit einer blauen Basecap mit Ostseelogo, eine Tageszeitung zu verkaufen.
»Haben Sie auch Postkarten?«, erkundigt sich der Mann und Klaas tippt an die blaugestrichenen Fensterläden, an denen in einem Metallgestell unterschiedliche Postkarten mit Ostseemotiven, dem imposanten Hotel Neptun und dem Leuchtturm von Warnemünde zur Auswahl angeboten werden.
»So viele, dass man sie glatt übersehen kann«, sagt Klaas mit seiner rauen, aber herzlichen Stimme und schmunzelt.
Mein Blick fällt auf die Schulkinder, die sich um die runden, mit knallbunten Süßigkeiten gefüllten Plastikboxen scharen, die auf dem wackeligen Fensterbrett platziert sind, das nach Ladenschluss eingeklappt wird. Wie oft habe ich als Kind selbst dort mit Annabel gestanden und mein letztes Taschengeld zusammengekratzt.
Jede Woche bin ich bei Klaas, um die Lottozahlen zu vergleichen. Ja, es ist altmodisch einen Kiosk aufzusuchen und nicht durch eine Handy-App zu scrollen. Aber das gehört nun mal zu meinem wöchentlichen Ritual.
Bitte, bitte, bitte, bete ich regelmäßig im Geiste, wenn ich prüfe, ob ich gewonnen habe. Leider hat es bisher nichts gebracht. Da ich die aktuellen Zahlen gestern im Flugzeug verglichen habe, fülle ich heute nur den Lottoschein für die nächste Ziehung aus. Bevor ich den Schein bezahle, drehe ich mich kurz zur Seite, damit Klaas mein Gesicht nicht sieht, und spucke dreimal drauf. Schadet sicher nicht.
Kapitel 5
Vollgepackt drücke ich auf die Pfeiltaste des Aufzugs. Er reagiert noch immer nicht. Ich hämmere mit der Faust mehrmals hintereinander darauf. Ihn damit in Gang zu setzen, stellt sich als Fehlanzeige heraus. Ein Grummeln macht sich in meinem Magen bemerkbar.
Vor Müdigkeit habe ich die Beschwerde-E-Mail an die Hausverwaltung gestern nicht mehr verschickt, was ich nun bereue. Mir reicht es langsam. Stöhnend schleppe ich die Tüten nach oben und lege mir in Gedanken eine saftige Formulierung zurecht, die meine Wut halbwegs gezügelt ausdrückt. Der Schweiß schießt mir aus allen Poren, als ich endlich im vierten Stock angekommen bin. Ich sollte definitiv mehr trainieren. Nachher werde ich eine Runde an der Seepromenade joggen.
Keuchend stelle ich die Einkaufstüten im Flur ab, hänge meinen Mantel an die Garderobe und bin gerade auf dem Weg ins Badezimmer, als es Sturm klingelt.
»Jaja, ich komme schon«, rufe ich atemlos und falle fast über den Berg ungewaschener Wäsche, der im Flur verteilt liegt. Rasch stopfe ich die herausgefallene Packung mit Zwiebelringen in die Einkaufstüte zurück und reiße die Tür auf.
»Du lebst«, kreischt Annabel. Sie stürmt herein und wirft sich mir an den Hals. Ihre krausen, pechschwarzen Locken sehen zerdrückt aus. Sicher kommt sie direkt von ihrer Arbeit im Krankenhauslabor.
»Ich kriege keine Luft«, japse ich. »Warum denkst du, dass ich tot bin?« Mühsam befreie ich mich aus ihrer Umklammerung.
»Du hast auf meinen Anruf gestern nicht reagiert«, sagt sie gespielt beleidigt. Dann schiebt sie mich von sich und mustert mich eingehend. »Großartig siehst du aus. Deine Haare sind heller geworden. Die Sonne hat dir offensichtlich gutgetan.«
Ich schüttle meine Locken. »Danke, aber guck mal.« Mit gerümpfter Nase zeige ich auf mein mit Sommersprossen übersätes Gesicht.
»Hundertmal habe ich dir schon gesagt, dass das total sexy aussieht.«
Unweigerlich denke ich an meinen Bruder, der mich früher ständig hässliche Kröte genannt hat. Selbst jetzt, wo ich erwachsen bin, sind seine damaligen Sticheleien noch immer präsent. Annabel bestätigt mir zwar ununterbrochen, wie attraktiv ich mit den Sommersprossen aussehe, aber ich finde, sie übertreibt. Doch ich bin mir sicher, jede Frau findet irgendetwas an ihrem Körper, was angeblich zu optimieren wäre. Merit, eine langjährige Freundin meiner Mutter hat mal erzählt, dass ihr Busen früher Tennisbällen gleichgekommen sei und inzwischen wie Teebeutel hinunter hängen. Ich wage nicht, mir vorzustellen, wie das aussieht, und bin heilfroh, dass ich mir über so etwas erst mal keine Gedanken machen muss.
»Los, erzähl, wie war der Urlaub? Waren die Sonne und die Kerle heiß?« Kichernd schiebt sich Annabel an mir vorbei und spaziert schnurstracks in die Küche.
»Was du wieder denkst. Glaubst du, ich habe nichts anderes im Kopf?«
Annabel grinst und ihre weißen Zähne blitzen. »Hast du ihn getroffen, deinen Mr. Right?« Ich sehe sie vielsagend an, und sie scheint vor Neugier zu platzen. »Los, spuck es aus.«
Okay, selbst wenn ich beschlossen habe, ihn zu vergessen, hat zumindest meine beste Freundin das Recht, von Sebastian zu erfahren.
»Ich mach uns erst mal einen Cappuccino«, schlage ich vor, um Zeit zu gewinnen. Urplötzlich bin ich ziemlich nervös. Mein Gesicht fühlt sich heiß an.
»Ich sehe dir an der Nasenspitze an, dass es Neuigkeiten gibt.« Sie macht es sich auf einem Barhocker an der Theke gemütlich.
Geschickt verteile ich den Milchschaum in zwei bauchigen Tassen und gieße frisch gebrühten Espresso darüber. Im Küchenschrank finde ich eine Dose mit Schokokeksen. Die platziere ich mitten auf der Theke auf dem von meiner Oma gehäkelten Deckchen. Ich hole zwei Löffel aus der Schublade, der ich einen Schubs gebe, bevor ich mich auf den anderen Barhocker setze. Die Lade bleibt einen halben Zentimeter geöffnet, und ich stehe nochmals auf, um sie zu schließen.
Annabel schüttelt schmunzelnd den Kopf.
Wir prosten uns mit dem Cappuccino zu, was wir mit jedem Getränk machen, das wir zusammen trinken.
»So, nun sag schon.«
Ich wickle eine Locke um den Zeigefinger und überlege. Soll ich ihr wirklich von Sebastian erzählen? Eine seltsame Wärme breitet sich in meinem Bauch aus.
»Du verrätst dich.« Sie zeigt auf meinen sich drehenden Finger und kichert.
»Wieso?« Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Also, ich bin ihm nicht begegnet.« Ich hole tief Luft. »Oder sagen wir besser, nicht im Urlaub. Keine Ahnung, wie ich es erklären soll.«
»Einfach raus damit.«
Krampfhaft suche ich nach passenden Worten und räuspere mich. »Ich habe auf dem Rückflug meinen Traummann kennengelernt.«
»Wirklich?« Sie greift nach einem Keks.
»Ja!« Ich starre an die Decke und erinnere mich an seine Lachfältchen und seine zuvorkommende Art. »Ach, Annabel … er war so perfekt.« Erneut halte ich inne.
»Und weiter?« Ungeduldig trommelt sie mit der Hand auf ihren Oberschenkel. »Lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.«
»Er strahlte eine Ruhe aus, die mich faszinierte. Obendrein war er höflich, gut aussehend aber dennoch nicht überheblich. Total bodenständig eben.«
»Wie heißt er?«
»Sebastian! Es ist … er ist …«
Sie runzelt die Stirn. »Verheiratet?« Entsetzt schlägt sie die Hand vor den Mund.
»Nein … glaube nicht. Aber keine Ahnung. Auf jeden Fall ist es kompliziert.«
»Wie meinst du das?« Sie trinkt einen Schluck von ihrem Cappuccino und stützt den Kopf in ihre Hände.
»Außer, dass er Hotelmanager ist, weiß ich nichts von ihm.« Ich komme mir vor, wie eine Fünfzehnjährige, die ihrer Mutter beichtet, dass sie schwanger ist.
»Verstehe ich richtig, du verliebst dich und fragst nicht mal nach seinem vollständigen Namen?«
»Also wirklich. Von Verliebtsein kann doch überhaupt keine Rede sein. Wir hatten nur ein kurzes Gespräch.« Das komplett anders war als alle, die ich je mit einem Mann hatte. »Erinnerst du dich an meinem früheren Schwarm Markus?«
Annabel nickt. »Ziemlich gut sogar. Das war doch der, der nebenbei noch andere Eisen im Feuer hatte.«
»Genau der. Die beiden ähneln sich äußerlich. Aber ansonsten liegen Welten zwischen ihnen. Markus war ein Macho und absolut arrogant.«
»Verstehe! Doch warum hast du nicht nach seinem Nachnamen gefragt?«, wiederholt sie ihre Frage.
»Es gab einfach keinen passenden Augenblick dafür«, verteidige ich mich und weiche ihrem tadelnden Blick aus.
Annabel verzieht das Gesicht zu einem breiten Grinsen und boxt mich in die Seite. »Wie willst du ihn jetzt kontaktieren, nachdem es dich offensichtlich ziemlich erwischt hat?«
»Gar nicht.« Ich zucke mit den Schultern und senke den Blick. Dann berichte ich ihr jedes Detail unserer Begegnung von Anfang an. Bei dem Teil mit Steffi kriegt sie sich vor Lachen kaum ein.
»Er hat echt vorgegaukelt, dein Freund zu sein? Das ist das Beste an der ganzen Story.« Sie schüttelt den Kopf und lacht auf. »Hol mal deinen Laptop.« Mit wedelnder Handbewegung scheucht sie mich aus dem Zimmer.
»Wozu das denn?«
»Wir googeln ihn. Wenn er Hotelmanager ist, finden wir ihn sicher superleicht.« Annabel hat wirklich von Zeit zu Zeit brauchbare Einfälle.
»Gute Idee!« Ich flitze zum Schminktisch im Schlafzimmer, hole den darauf stehenden Laptop und schalte ihn auf der Theke an. Dann schnappe ich die beiden Tassen. »Willst du auch noch einen Cappuccino?«
»Ja, gerne!«
Ich wende mich zur Arbeitsplatte und bereite die zweite Runde der heißen Getränke zu.
»Gibst du mal eben dein Passwort ein?«
Schwungvoll drehe ich mich mit den Tassen in der Hand in Annabels Richtung. Die Milch schwappt über und ergießt sich auf der Arbeitsplatte. »O Shit! Siehst du, das passiert, wenn man zu viel auf einmal macht.« Vorsichtig stelle ich die Tassen ab und wische mit dem Geschirrtuch über den Milchsee. »Wenn du es so eilig hast, gib du das Passwort ein.«
Annabel rutscht auf meinen Barhocker. Ich verrate ihr die Buchstaben-Zahlenkombination, die sie in die Tastatur tippt. Dann setzt sie sich wieder auf ihren Platz zurück.
Ich gieße aufgeschäumte Milch nach und reiche ihr eine der Tassen. »So, und was soll ich nun eingeben?« Ich lege den Kopf zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Alles, was du von ihm weißt.«
»Das ist so gut wie nichts.« Hastig hämmere ich Sebastian und Hotelmanager in das Suchfeld. Es erscheint eine lange Liste, hauptsächlich von Einträgen in sozialen Business-Netzwerken. »Unfassbar, wie viele davon es mit seinem Vornamen gibt.« Ich seufze. »Er hat gesagt, dass er auch aus der Gegend wäre. Aber die um Rostock ist groß.«
»Klick mal auf Bilder. Vielleicht erkennst du ihn irgendwo.«
Langsam scrolle ich die Fotos durch.
»Ist er das?« Annabel zeigt auf einen Mann um die fünfzig, der zwar ziemlich attraktiv aussieht, aber keinerlei Ähnlichkeit mit meinem Sebastian hat und obendrein zu alt wirkt.
Ich schüttle den Kopf.
»Dann nehm ich den«, gackert sie.
»Du hast einen Mann zu Hause, falls ich dich daran erinnern darf. Außerdem ist der hier viel zu alt für dich.« Schmunzelnd scrolle ich weiter. Auf keinem der Bilder erkenne ich ihn. Mit hängenden Mundwinkeln klappe ich den Laptop zu. »Weißt du, was gerade wieder passiert?«
»Was denn?«
»Ich denke an ihn. Dabei hatte ich vor, ihn zu vergessen.«
Sie verschränkt die Hände vor der Brust. »Was anderes bleibt dir wohl nicht übrig.«
Ich senke den Kopf. Annabel streichelt mir über den Rücken.
»Die Chance, ihm durch Zufall wieder zu begegnen, geht gegen null. Wenn wir uns bisher nicht über den Weg gelaufen sind, wieso sollte das in Zukunft passieren?«
»Vielleicht ist er ja tatsächlich vergeben«, gibt Annabel zu bedenken und legt den Kopf schief.
»Daran denke ich auch ständig.« Mutlos lasse ich die Schultern hängen.