Leseprobe Die kleine Pension Küstentraum

Julia

Fassungslos blickte ich zu Boden und starrte sie an. Oder zumindest das, was von ihr übrig war. Sie war hinüber, nicht mehr zu retten. Und ich hatte sie auf dem Gewissen. Ausgerechnet! Dabei war es meine Lieblingstasse gewesen. Doch wenn der eigene Freund und Vater des gemeinsamen Kindes einem mitteilt, dass er ausziehen wird, weil er sich in seine Kollegin verliebt hat, dann kann einem schon mal etwas aus der Hand rutschen. Da lag sie nun, in eintausend Teile zerbrochen. Genau wie mein Herz. Nach einem kurzen Moment wurde mir klar, dass Clemens mich ansah und offenbar eine Reaktion von mir erwartete.

»Dann nehme ich an, dass du während der letzten Wochen nicht wirklich Überstunden gemacht hast, oder?« So langsam ergab sich ein klares Bild für mich: das ständige zu späte Nachhausekommen, seine Unzufriedenheit, die er oft an mir und sogar an Leon ausgelassen hatte. Wie hatte ich nur so blind sein können?

»Nein, es tut mir leid, Julia. Ich habe in den letzten Monaten einfach festgestellt, dass wir zwei doch nicht so gut zueinander passen, wie ich dachte.« Mitleidig sah er mich mit seinen blauen Augen an, die mir früher so liebevoll entgegengestrahlt hatten.

»Ach, und das fällt dir nach sieben Jahren ein? Nachdem wir ein Kind zusammen bekommen haben?« Hätte ich doch nur eine weitere Tasse in der Hand, die ich ihm an den Kopf werfen könnte! Na ja, bei meinem Glück würde ich eh danebenzielen und stattdessen die Fensterscheibe treffen.

»Versteh mich doch, das Leben in diesem Kaff hier, mit all den neugierigen Leuten … das ist einfach nicht meins, verstehst du?«

»Nein, ich verstehe dich überhaupt nicht! Du wusstest doch, worauf du dich einlässt, als wir den alten Hof gekauft haben.« Ich hatte noch lebhaft im Ohr, wie begeistert er damals von dem Haus und den dazugehörigen Gebäuden gesprochen hatte. So günstig kommen wir nie wieder an ein Eigenheim, und du kannst endlich deine eigene Pension eröffnen. Tja, von seinem Enthusiasmus war offenbar nicht viel übrig geblieben.

Mein wässriger Blick schweifte durch den Raum und blieb an dem hübsch gedeckten Frühstückstisch hängen, mit dem ich ihn eigentlich hatte überraschen wollen. Dabei hatte er heute nur freigenommen, um mir in Ruhe seine Überraschung zu servieren. Kurzerhand fing ich an, den Tisch abzuräumen, damit er mir nicht länger meine eigene Naivität unter die Nase rieb.

»Jetzt werd' nicht ungerecht, Julia. Du bist schließlich hier aufgewachsen, ich bin ein Stadtkind. Hier gibt es ja noch nicht mal vernünftiges Internet. Auf so ein Leben am Ende der Welt war ich nicht vorbereitet. Das hättest du eigentlich wissen müssen.«

Das war er. Der Moment, in dem die Pferde mit mir durchgingen. Zu Clemens’ Unglück hielt ich gerade das Schälchen mit Erdbeerkonfitüre in der Hand. Den Inhalt klatschte ich ihm mit voller Wucht ins Gesicht! Er sah aus wie Sissy Spacek in Carrie, nachdem man sie mit Schweineblut übergossen hatte. Im selben Moment noch tat es mir leid. Die Marmelade meiner Oma Magda war wirklich lecker und an Clemens absolut verschwendet. Leider hatte auch die Wand etwas abbekommen.

»Sag mal, spinnst du oder was?« Seine Augen funkelten wütend aus dem Marmeladengesicht hervor.

Wortlos reichte ich ihm die Küchenrolle von der Anrichte. Er säuberte sich grob und starrte mich finster an. »Mir reicht’s, ich packe jetzt meine Koffer.«

Damit verließ er die Küche. Ich hörte, wie er seine Reisetasche aus dem Kleiderschrank hievte und ließ mich auf einem Stuhl nieder. Wie sollte ich das nur Leon beibringen?

Sebastian

Missmutig starrte ich auf meine zur Faust geballte Hand, in der sich ein zerknüllter Brief befand. Meine Fingerknöchel traten weiß hervor.

»Du siehst aus, als wolltest du jemanden umbringen.«

Ich saß bei meinem Kumpel Stefan auf dem Sofa. »Tja, bin leider schon zu spät dran«, brummte ich.

Mein Vater war vor zwei Tagen gestorben. Vom Garten hinterm Haus drang das Gelächter von Paul und Clara herein, die mit ihrer Mutter eine Wasserschlacht veranstalteten. Eddie, der Golden Retriever der Familie, mischte kräftig mit.

»Tut mir leid, dass ich euch den Sonntag versaue. Ich haue ab.« Ich wollte mich erheben, da drückte Stefan mich wieder sanft auf das Sofa.

»Red keinen Blödsinn. Dein Vater ist gestorben, ist doch klar, dass dich das mitnimmt.« Er nahm neben mir Platz und seufzte tief. »Also, weißt du schon, was du tun wirst?«

Ich zuckte nur mit den Schultern. »Nein, keine Ahnung. Meine Mutter glaubt, ich würde es bereuen, nicht zur Beerdigung zu gehen.«

«Glaubst du das auch?« Er lehnte sich zurück und reichte mir wortlos ein Bier.

»Warum sollte ich? Er war ein absoluter Versager. Als Vater und als Ehemann. Ein egoistisches Arschloch, das sich nie für mich interessiert hat. Ich sollte keinen einzigen Gedanken an ihn verschwenden.«

»Nicht so laut, Mann! Paul bringt schon genug Schimpfwörter aus der Kita mit, da musst du ihm nicht auch noch welche beibringen.« Stefan warf einen besorgten Blick Richtung Garten. Aber bei dem Lärmpegel, den die drei veranstalteten, würden sie wahrscheinlich nicht mal mitbekommen, wenn hier drinnen der Rauchmelder losginge.

»’Tschuldige«, brummte ich. Manchmal musste man eben Dampf ablassen. Es nervte mich, dass sich in meinem Kopf alles nur um ihn drehte, seit ich den Brief erhalten hatte. Das wollte ich gar nicht.

»Weißt du, wenn ich daran denke, wie ich als Kind um seine Gunst gebettelt habe, wird mir heute noch schlecht.«

Stefan klopfte mir auf die Schulter. »Nun mach mal einen Punkt. Das ist nichts, wofür du dich schämen musst. Jedes Kind sehnt sich nach der Aufmerksamkeit seiner Eltern. Das ist doch völlig normal.«

»Kann sein.« Ich zuckte mit den Schultern. Als Teenager hatte ich mir manchmal vorgestellt, ihm wiederzubegegnen und ihm die Meinung zu geigen. In meiner Vorstellung hatte ich viele nicht jugendfreie Worte verwendet.

»Ihr sitzt da wie zwei Hühner auf der Stange.« Meike rettete sich ins Wohnzimmer und ließ sich lachend in den Sessel fallen. Sie strich sich eine nasse Strähne ihres blonden Haares aus dem Gesicht.

Ich bemühte mich, meine grimmige Laune zu verstecken. »Na, wer hat die Schlacht gewonnen?«, fragte ich betont locker.

»Das ist noch nicht raus. Ich habe mir mit dem Angebot, Eis zu holen, nur einen Waffenstillstand erkauft.«

»Dann besorge ich der Meute mal ihr Eis«, bot Stefan großzügig an und marschierte in Richtung Küche.

Meike nahm mich ins Visier. »Das ist unter den Umständen vermutlich eine blöde Frage, aber … wie geht es dir?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Es ging mir schon besser. Ich weiß einfach nicht, ob ich zur Beerdigung gehen soll oder nicht.«

»Ich weiß nicht, ob dich meine Ansicht dazu interessiert, aber ich sage sie dir trotzdem.«

»War ja klar.« Ich lachte. Meike hielt selten mit ihrer Meinung hinterm Berg.

»Stefan hat mir von der komplizierten Beziehung zwischen dir und deinem Vater erzählt. Ich kann verstehen, dass du den Kontakt abgebrochen hast. Aber das hier ist jetzt deine letzte Chance, wirklich mit ihm abzuschließen.«

Ich schnaubte nur. »Wie denn? Er ist tot. Ich kann wohl kaum an seinem Grab eine Szene machen.«

»Sicher, du kannst dich nicht mehr mit ihm aussprechen. Aber du könntest ihm einen Brief schreiben. Mit all den unausgesprochenen Dingen, die dich belasten. Du könntest ihn mit ins Grab legen.«

Ich atmete einmal schwer aus und ließ mich in die Kissen zurücksinken. Begeistert war ich von der Idee nicht.

»Außerdem solltest du hingehen, weil es das Richtige ist. Weil du dann das Richtige tust und dir nichts vorwerfen musst. Das wird dir helfen, glaub mir.«

Zum Glück enterten Paul und Clara in diesem Moment unter lautem Gebrüll das Wohnzimmer, gefolgt von Eddi.

»Mami, wo bleibt das Eis?«, fragte der gefürchtete Pirat Paul mit tiefer Stimme. Clara zielte mit ihrer Wasserpistole auf ihre Mutter.

»Los, Eis her, oder du gehst über die Tanke!«, drohte sie.

Wir kringelten uns auf unseren Sitzen. Clara verzog ihr Gesicht zu einer wütenden Grimasse. Sie sah mit ihren drei Jahren, ihren blonden Löckchen und ihren blauen Kulleraugen zu goldig aus.

»Das heißt Planke«, ermahnte ihr großer Bruder sie genervt. Zum Glück nahte die Rettung in Form von Stefan. »Wer will ein Eis?«

Sofort stürmten die beiden Rabauken auf ihn zu. Bei dem Anblick ergriff mich ein ganz eigenartiges Gefühl. Ich beschloss, mich an einem anderen Tag um meine Probleme zu kümmern, und zog nach dem Eis essen in den Kampf gegen die fiesen kleinen Piraten. Ich bekam die Abreibung meines Lebens. Am Ende hatte ich das Wasser sogar in den Schuhen, sodass ich bei jeder Bewegung lustige Quietschgeräusche machte. Die Kinder amüsierten sich prächtig. Genau wie ich.