Leseprobe Die Lady der Highlands

Prolog

Loch Gruinart, Insel Isla, Schottland, März 1366

Die Flut ging schon zurück und noch immer war er nicht zu ihr gekommen. Dabei hatte er versprochen, früh da zu sein, damit sie noch vor dem Dunkelwerden nach Hause kam. Sie war ohnehin schon spät dran, und wenn sie nicht rechtzeitig das Abendessen auf den Tisch brachte, würde es ihr schlecht ergehen.

Sie spazierte über den Strand in Richtung auf die Klippen an der Nordküste und versuchte, nicht daran zu denken, wie sehr sie sich nach ihm sehnte. Wie jedes Mal, wenn sie an das Risiko dachte, das sie einging, überlief sie ein Schauer. Doch andererseits kam es ihr ganz gelegen; es brachte ein wenig Abwechslung in ihr eintöniges Dasein.

Er hatte gesagt, er wolle nach Kilchoman reiten und sie auf dem Rückweg treffen, also würde er bald da sein. Diesmal musste er zu seinem Wort stehen und sich um sie und das Kind kümmern. Dann wäre sie endlich in Sicherheit.

Während die Sonne langsam dem Horizont entgegensank, stand sie da und schaute aufs Meer hinaus. Sie zwang sich zur Ruhe und nahm bewusst das Wechselspiel des Lichts in sich auf. Bald würden die düsteren grauen Regenwolken rosig überhaucht im Sonnenuntergang leuchten, doch dann wäre sie schon wieder zu Hause. Sie wagte es nicht, so lange fortzubleiben.

Da knackte ein Zweig. Sie fuhr herum, doch ihr freudiges Lächeln erstarb, als sie sah, dass es nicht der war, den sie erwartet hatte.

„Du!“

„Ja, ich“, knurrte er, kam auf sie zu und packte sie so grob bei den Schultern, dass sie aufschrie.

„Nicht! Lass mich los!“

„Oh nein. Ich habe dich gewarnt, nicht länger deine Spielchen mit mir zu treiben, Mädchen. Aber jetzt ist Schluss, jetzt werde ich dir Respekt beibringen. Ich fordere meinen Tribut, wie Seine Gnaden sagen würde.“

Niemand hörte ihre Schreie, außer ihrem Peiniger. Und ihn scherte ihr Wehklagen nicht mehr als das Geschrei der Möwen am Himmel. Eher steigerte es noch seine Genugtuung darüber, dass sie jetzt endlich teuer bezahlen musste für das, was sie ihm in der Vergangenheit angetan hatte.

Es sollte ihr letzter Sonnenuntergang sein.

Bald schon verstummten ihre Schreie.

1

Nahe der Ostküste von Isla, vierzehn Tage später

Wie unter einer schweren Decke ruhte das Meer im dichten Nebel. In dieser unheimlichen grauen Stille gingen Wasser, Land und Himmel unmerklich ineinander über. Der Nebel konnte Ian Burk das Leben kosten.

Mit jeder Minute kam die Schlinge des Henkers näher, doch ohne Wind konnte die schlanke königliche Galeere, die vielleicht die Rettung brachte, nur mit der Strömung treiben. Ihr großes quadratisches Segel war nutzlos und die achtzehn Ruderer hatten die Riemen längst sinken lassen, da sie jegliche Orientierung verloren hatten. Auf ihnen und ihren drei Passagieren lastete das Schweigen ebenso schwer wie der alles dämpfende Nebel. Sie lauschten angestrengt.

Die siebzehnjährige Lady Mairi von Isla zog den pelzgefütterten, leuchtend roten Kapuzenumhang noch enger um sich und versuchte, ihre Ungeduld zu zügeln. Selbst ihr Vater, der mächtigste Mann der Inseln, wenn nicht gar von ganz Schottland, konnte dem Nebel nicht befehlen, sich aufzulösen.

Neben ihr murmelte ihre Zofe Meg Raith: „Was für ein scheußlicher Nebel! Wenn man bedenkt, dass wir bei Wind um klarem Himmel von Dunyvaig abgelegt haben. Jetzt muss ich immer daran denken, was dort unten in der Tiefe lauern mag.“ Bei diesen Worten zitterte ihre Stimme.

„In den Gewässern hier gibt es keine Seeungeheuer“, erwiderte Mairi mit fester Stimme.

„Nein, hierher würde sich keines wagen“, stimmte ihr Meg zu, als hätte sie niemals auch nur einen Gedanken an Ungeheuer verschwendet. Doch dann setzte sie ein wenig unsicher hinzu: „Seid Ihr auch sicher, Mistress?“

„Ja, und außerdem geht die Sonne bald auf. Es ist schon ein wenig heller geworden“, antwortete Mairi und schob sich eine feuchte dunkle Locke wieder unter die Kapuze. „Überhaupt“, fuhr sie fort, „ist es doch hierzulande ganz normal, wenn der Nebel so plötzlich fällt. Es wäre auch nicht so unheimlich, wenn wir nicht im Dunkeln unversehens hineingeraten wären.“

„Vielleicht habt Ihr ja recht, Mistress, aber schaurig ist es schon.“

Da musste Mairi ihr zustimmen. Normalerweise liebte sie das Meer und die Fahrt in einer der Hochlandgaleeren, die so geschwind durch die Wogen glitten, besonders wenn Wind und Gezeiten günstig waren. Zudem waren es nicht viel mehr als zwanzig Meilen von Dunyvaig, der Burg ihres Vaters an der Südostküste von Isla, bis zum Amtssitz am Loch Finlaggan im Norden. Und eine Fahrt mit dem Schiff wurde nie langweilig. Dafür sorgten schon die stetig wechselnde Szenerie und die verspielten Otter und Seehunde, die die Reisenden mit ihren Kapriolen unterhielten.

Allerdings war sie noch nie in einer mondlosen Nacht übers Meer gefahren, wenn der Steuermann nach den Sternen navigieren musste. Und gerade jetzt, wo doch für Ian jede Stunde zählte, hielt sie auch noch dieser Nebel auf.

In diesem Augenblick blies der Steuermann zwei Töne auf seinem Widderhorn. Das tat er alle zehn Minuten, zum einen, um andere Schiffe zu warnen, die dumm genug gewesen waren, sich in dieser Suppe hinauszuwagen. Zum anderen wartete er auf ein Signal von Claig Castle, das ihnen verraten sollte, wie weit sie von der Küste entfernt waren. Die wuchtige Festung auf Heather Isle bewachte die Einfahrt in den Sund von Isla, der für Mairis Vater MacDonald, den Lord der Inseln und König der Hebriden, von großer strategischer Bedeutung war.

Sie drehte sich zum Heck der Galeere um, wo ihr Halbbruder mit dem blonden Bart es sich neben dem Steuermann auf einem Stapel Häute bequem gemacht hatte und mit grimmigem Blick in die wallenden Nebelschwaden ringsumher starrte.

Leise fragte sie: „Was glaubt Ihr, wie weit es noch ist, Ranald?“

Seine Miene wurde weicher, als er sie ansah. Ebenso wie ihre beiden anderen älteren Halbbrüder war auch der einundzwanzigjährige Ranald ein großer, breitschultriger, gut aussehender Mann, der eine natürliche Autorität ausstrahlte. Mit leisem Lächeln sagte er: „Nicht mehr weit, Mädchen. Aber ich kann dir trotzdem nicht versprechen, dass du dir schon in ein, zwei Stunden die Füße am Feuer wärmen kannst.“

„Das Wasser ist so still“, sagte sie. „Ich weiß gar nicht, ob sich der Nebel bewegt oder das Schiff. Haben wir schon Flut?“

„Nein“, antwortete er. „Wir treiben noch immer nach Norden und sind bestimmt bald am Eingang zum Sund angelangt. Wahrscheinlich haben die Leute auf Claig schon unser Horn gehört und wollen mit ihrer Antwort nur warten, bis sie ganz sicher sind. Bei Nebel klingen alle Geräusche auf dem Wasser verzerrt.“

Sie nickte. Wie jeder, der an der See aufgewachsen und mit ihren wechselnden Launen vertraut war, würde sie es an der stärkeren Strömung merken, wenn sie in den schmalen Sund einfuhren. Sie wusste auch, dass die Besatzung von Claig Castle nicht nur die Aufgabe hatte, auf die Hornsignale von Schiffen zu antworten, sondern auch den Wegzoll von denjenigen Schiffen einzufordern, denen der Lord der Inseln die kürzere Durchfahrt durch die Meerenge gestattet hatte. Schon allein aus diesem Grund spähten die Wächter auf Craig scharf aus.

Im trüben Zwielicht des Morgens verging die Zeit so unmerklich, dass ihr eine Minute lang und zugleich so kurz wie ein Herzschlag erschien.

Unvermittelt kehrten ihre Gedanken wieder zu dem Thema zurück, um das sie seit der vergangenen Nacht unablässig kreisten. Da hatte sie von Ranald, der aus Knapdale zurückgekehrt war, erfahren, in welcher Gefahr Ian Burk schwebte. Zwei Tage war ihr Bruder fort gewesen und hatte währenddessen die Burg ihrer Obhut überlassen, denn der Lord der Inseln vertrat die Auffassung, dass seine Kinder ebenso gut wie seine Untergebenen wissen sollten, wie man eine Burg führte. Was in diesem Fall keine allzu schwere Bürde darstellte, denn der Burgkommandant war einer der zuverlässigsten Leute der MacDonalds. Dunyvaig gehörte zu den wichtigsten Besitztümern des Lords. Die Burg kontrollierte den Seeweg nach Süden und bot Galeeren, Lastschiffen und großen Kriegsschiffen einen sicheren Ankerplatz. Vom hohen Burgfelsen aus ging der Blick übers Meer bis zur Küste der Halbinsel Kintyre. Der dazugehörige wohlbefestigte Hafen lag versteckt unterhalb der Burg in der Lagavulin Bay.

Ranald hielt sich zurzeit auf Dunyvaig auf, um das Kielholen der claneigenen Boote zu überwachen. Bei dieser Prozedur, die zweimal im Jahr stattfand, waren Dutzende von Männern damit beschäftigt, die Boote mithilfe von Baumstämmen auf den Strand zu rollen, um dann die Bootskörper von anhaftenden Muscheln und Seegetier zu befreien.

Bereits zum zweiten Mal begleitete ihn Mairi nach Dunyvaig. Ihre Aufgabe war es, ihm den Haushalt zu führen, dafür zu sorgen, dass die Speisekammer gefüllt und alles auf der Burg gut in Schuss war. Denn der tüchtige Kommandant war noch unverheiratet, und daher hatte es sich Mairis Mutter, Lady Margaret, zur Gewohnheit gemacht, mindestens einmal im Jahr auf Dunyvaig nach dem Rechten zu sehen. Als diese Pflicht ein Jahr zuvor auf Mairi übergegangen war, hatte sie sie mit Bravour gemeistert und war vor einem Monat wieder guten Mutes hergekommen.

Sie hatte auch nicht mit der Wimper gezuckt, als Ranald auf MacDonalds Geheiß nach Knapdale reisen musste, um den neuen Häuptling dort zur Zusammenkunft des Inselrates nach Finlaggan einzuladen. Es machte ihr nicht das Geringste aus, mit ihrer Zofe eine Nacht auf der Burg zu verbringen, deren Besatzung ausschließlich aus Waffenknechten bestand. Kein treuer Gefolgsmann ihres Vaters würde ihr oder Meg auch nur ein Härchen krümmen und die Männer auf Dunyvaig gehörten zu den Getreuesten.

Nach Beendigung der Ratssitzung gedachte die Familie nur noch vierzehn Tage in Finlaggan zu bleiben, da sie Ostern wie gewöhnlich auf Ardtornish verbringen wollte. MacDonalds Lieblingssitz lag fünfzig Meilen weiter nördlich an der Küste von Morvern am Sund von Mull. Im Hochsommer wollten sie dann alle nach Isla zurückkehren, wo Lady Margaret mit den Kindern ihre Sommerresidenz Kilchoman beziehen würde. Das Schloss, erst zwei Jahre zuvor an der Westküste von Isla erbaut, war wunderschön, doch reichlich ungemütlich, wenn die Frühjahrsstürme um die Mauern heulten. Dagegen lag Ardtornish wesentlich geschützter.

Ein so großer Haushalt wie der ihre konnte sich nie lange an einem Ort aufhalten. Der Bedarf der vielen Menschen an Essen, Trinken und Garderobe hatte die Möglichkeiten einer Burg bald erschöpft, und darüber hinaus hatte das Gesinde ohnehin schon alle Hände voll zu tun, die Burg sauberzuhalten, auch ohne ständig die einzelnen Familienmitglieder bedienen zu müssen.

Vor vierzehn Tagen hatte Lady Margaret Ian Burk mit einer Nachricht nach Dunyvaig gesandt, um Mairi und Ranald daran zu erinnern, dass sie auf Befehl Seiner Gnaden ihre Arbeit erledigt haben mussten, wenn der Rat zu Ende war. Dann sollten sie sich für ihre Reise in den Norden bereitmachen.

Mairi war nicht traurig darüber, dass ihre Pflichten auf Dunyvaig ihr nicht erlaubten, am Inselrat teilzunehmen, denn nur wenige Männer brachten zu dieser Gelegenheit ihre Familie mit. Die meisten warteten, bis Seine Gnaden in den Norden aufgebrochen war, bevor sie ihre Frauen und heiratsfähigen Kinder nachkommen ließen. Der Grund dafür war zum einen die zentralere Lage von Ardtornish und zum anderen das Tinchal, die große Hirschjagd. Ursprünglich veranstaltet, um Ardtornish mit frischem Wildbret für die Osterfeiertage zu versorgen, hatte sich die Jagd mit der Zeit zu einem gesellschaftlichen Ereignis entwickelt.

Als Ranald vergangene Nacht nach Dunyvaig zurückgekehrt war, hatte Mairi sofort an seiner Miene gesehen, dass etwas nicht stimmte. Auf ihre Frage hin antwortete er: „Wir haben eines der Kriegsschiffe Seiner Gnaden getroffen, das auf dem Weg nach Loch Tarbert war. Die Besatzung erzählte uns, dass die meisten Ratsmitglieder bereits in Finlaggan eingetroffen seien. Morgen soll der Gerichtstag beginnen und  na ja “ Er wich ihrem Blick aus.

„Und was?“, drängte sie ihn.

„Das willst du wahrscheinlich gar nicht hören, Mädchen“, sagte er und fügte dann unwillig hinzu: „Kann sein, dass Seine Gnaden Ian Burk aufhängen lässt.“

„Ian?“ Ihr wurde vor Schreck ganz schlecht. „Wie kann er nur? Ian ist absolut vertrauenswürdig, Ranald. Seit ich ein Kind war, hat er sich um meine Pferde gekümmert – und um mich auch! Was soll er denn bloß verbrochen haben?“

„Die Anklage lautet auf Mord, Mairi. Ich kann mir vorstellen, dass du auf der Stelle nach Finlaggan zurückwillst, aber wir können nichts unternehmen, sofern die Ankläger Beweise vorlegen. Nach unseren Brehon-Gesetzen 

„Ich kenne unsere Gesetze, Ranald. Aber die Ankläger müssen einfach verrückt sein. Wer wurde denn überhaupt umgebracht?“

„Elma MacCoun“, sagte er. „Sie sagen, Ian habe sie von einer Klippe gestoßen.“

„Das ist undenkbar! Ich sage dir, Ranald, Ian ist zu einer Gewalttat gar nicht fähig.“

Es gelang ihm nicht, seine Schwester zu beruhigen. „Wir dürfen keine Zeit verlieren“, sagte sie nur.

„Wir können doch nicht Knall auf Fall abreisen, Mädchen“, erwiderte er ruhig.

„Mag sein, doch sobald wir gepackt haben und eine Galeere bereit gemacht ist, müssen wir los.“

„Morgen vor Sonnenaufgang ist noch früh genug. Wie üblich werden vorher bestimmt noch andere Klagen verhandelt, und außerdem hieß es nur, die meisten – nicht alle – Ratsmitglieder seien schon eingetroffen.“

„Aber das war schließlich gestern, nicht wahr?“ Als er nickte, fuhr sie fort: „Und um Recht zu sprechen braucht Seine Gnaden sowieso keinen der Ratsherren, wie du wohl weißt. Wenn wir also zu viel Zeit verlieren, wird Ian es mit seinem Leben bezahlen. Das darf einfach nicht sein, Ranald. Also beeil dich!“

Er verdrehte die Augen, da er das ganze Unternehmen für zwecklos hielt, widersprach ihr jedoch nicht länger. Von allen ihren sechs Brüdern und Halbbrüdern konnte sie Ranald am leichtesten um den Finger wickeln. Doch auch bei den anderen fiel ihr das nicht allzu schwer, denn so stur die Männer auch manchmal sein konnten, gegen Mairis Dickkopf kamen sie nicht an.

Nachdem Ranald einmal eingewilligt hatte, verlor er keine Zeit, und jetzt saßen sie hier in diesem Nebel fest, der stetig dichter, kälter und schauriger wurde, bis sogar die beherzte Mairi anfing, Gespenster zu sehen.

Doch endlich ertönte das erhoffte Hornsignal auf den Mauern von Claig Castle.

Die Ruderer beschleunigten ihren Schlag.

„Immer langsam“, warnte Ranald. „Gebt noch einmal das Signal und hört dann genau hin.“

Der Steuermann gehorchte und blies abermals in sein Horn.

Kaum waren die Töne verklungen, vernahm Mairi den rhythmischen Schlag von Rudern, den Ranalds feinere Ohren bereits ausgemacht hatten.

Eine tiefe Stimme dröhnte durch den Nebel: „Wer will hier passieren?“

„Ranald von Isla, du alter Halunke!“, blaffte Ranald zurück.

„Lasst die Ruder an Steuerbord einziehen, Mylord. Wir kommen jetzt längsseits“, erwiderte die Stimme mit einem kleinen anerkennenden Lachen.

Schon wurden an Steuerbord die Umrisse der anderen Galeere sichtbar, und Ranalds Ruderer hoben die Riemen hoch. Der Fremde gab den Befehl zum Anhalten. Unverzüglich stießen seine Männer die Ruder senkrecht ins Wasser, worauf die andere Galeere rasch an Fahrt verlor.

„Willkommen, Mylord!“, dröhnte die Stimme Murdos von Knapdale, des Kommandanten der Burg Claig. „Auf dem Rückweg nach Finlaggan, Sir?“

„Ja“, erwiderte Riley. „Ihr habt uns ja schnell gefunden, Murdo. Hättet Ihr das auch geschafft, wenn wir kein Hornsignal gegeben hätten?“

„Aber ja“, antwortete Murdo selbstbewusst. „In meinen Gewässern höre ich die Fische schwimmen, Sir. Und für den unwahrscheinlichen Fall, dass mich meine Ohren doch einmal im Stich lassen, patrouillieren noch weitere sechs Schiffe im Sund. An denen kommt keiner vorbei, der sich einbildet, er könnte sich bei diesem Höllennebel um den Zoll drücken.“

„Du meine Güte, Sir“, mischte sich Mairi mit besorgter Stimme ein. „Halten uns die jetzt alle an und fragen uns aus?“

„Nein, Mylady“, sagte Murdo. „Ich gebe ihnen das vereinbarte Zeichen, Euch ungehindert passieren zu lassen. Es ist jeden Abend ein anderes Signal und wird von einem Schiff zum nächsten weitergegeben. Und nun gehabt Euch wohl.“

Auf Murdos Zeichen hin stieß sein Steuermann ins Horn und blies eine hohe Tonfolge. Gleich darauf ertönte abermals der einzelne langgezogene Ton von Claig, dem wie ein Echo von fern ein höherer Ton antwortete.

„Wenn Ihr zuseht, dass die hohen Töne immer von Backbord und die tiefen von Steuerbord kommen, könnt Ihr nicht auf Grund laufen und kommt sicher durch den Sund, Mylord“, sagte Murdo.

„Gut.“ Ranald nickte seinen Ruderern zu, die daraufhin die Riemen senkten und sie im Takt, den der Steuermann schlug, mit gleichmäßigen Bewegungen durchs Wasser zogen. Jetzt konnten sie sicher sein, dass sie auf dem rechten Kurs bleiben würden.

Meg spähte noch immer ängstlich voraus, doch Mairi war erleichtert, denn sie näherten sich Port Askaig, dem letzten Hafen vor Finlaggan, und es bestand die Hoffnung, dass sie ihr Ziel noch rechtzeitig erreichen würden. Da die Männer schweigend und aufmerksam auf die Hornsignale lauschten, war Mairi wieder ihren Gedanken überlassen. Es kam ihr in den Sinn, dass ihre Zukunft ebenso hinter Nebelschleiern verborgen lag wie Land und Wasser um sie herum, denn seit einiger Zeit schien das ihr vorbestimmte Leben in weite Ferne gerückt.

Oftmals hatte ihr Vater ihr ihre Zukunft ausgemalt und ihr erklärt, dass sie unter gewissen Umständen sogar Königin der Schotten werden könne. Doch bis es soweit war, konnte sie nur mit dem Wind der hohen Politik segeln und hoffen, dass er sie in die Richtung treiben würde, die Seine Gnaden für sie erhoffte. Doch wie auf dem Meer konnte sich auch in der Politik der Wind ohne Vorwarnung drehen.

Auf diese Winde und Strömungen, die ihr Leben bestimmten, hatte sie nicht mehr Einfluss als auf die Wellen des Meeres, doch sie war immer zufrieden gewesen. Sie fühlte sich glücklich und geborgen im Schoße ihrer Familie, die ihre Fähigkeiten und zuweilen auch ihre Meinung zu schätzen wusste. Im Unterschied zu ihrer jüngeren Schwester Elizabeth, die mit jedem Mann flirtete, der ihr unter die Augen kam, hatte Mairi kein großes Verlangen zu heiraten. Zumal Alasdair Stewart, den ihre Familie als Ehemann für sie ausgesucht hatte, weder Interesse an ihr noch an einer gemeinsamen Zukunft zeigte. Auch Mairi hatte nicht viel für Alasdair übrig. Von allen Söhnen, die ihr königlicher Großvater mit seinen zwei Ehefrauen und einer ganzen Reihe von Mätressen gezeugt hatte, mochte sie ihn am wenigsten.

Überdies bestand zwischen ihr und dem vier Jahre älteren Alasdair eine Blutsverwandtschaft zweiten Grades, und die Kirche untersagte Ehen zwischen Leuten, die die so eng miteinander verwandt waren. Ihr Vater und Großvater waren davon überzeugt, dass sie zu gegebener Zeit vom Papst einen Dispens für diese Heirat erlangen konnten, doch obwohl Alasdair recht gut aussah, hatte Mairi nicht die geringste Lust, ihren Onkel zu ehelichen.

Ihre Halbschwester Marjory hatte es dagegen kaum abwarten können, bis sie Roderic Macleod von Lewis und Glenelg heiraten durfte. Mairi beneidete sie nicht, denn Marjory lebte jetzt weit von Isla und Ardtornish entfernt auf der Insel Lewis, die weit im Norden Schottlands lag. Da Marjory bereits stolze Mutter von drei kleinen Kindern war und ein Viertes erwartete, würde sie dieses Jahr auch nicht zum Osterfest nach Ardtornish kommen.

Mittlerweile waren links und rechts die Umrisse der Küste aufgetaucht, und gleich darauf hörten sie vier hohe Töne, das Signal von Port Askaig. Da tauchte auch schon der Anlegeplatz aus dem Dunst auf. Sie erkannten hin und her eilende Männer und vernahmen Stimmengewirr. Daraufhin gab ihr Steuermann den Befehl zum Anlegen.

Kaum war die Galeere vertäut worden, konnte Mairi ihre Ungeduld nicht länger zügeln. Sie stieg auf eine Ruderbank, raffte mit einer Hand ihre Röcke und streckte die andere einem Burschen am Kai entgegen. Mit seiner Hilfe kletterte sie behände auf den hölzernen Landungssteg hinaus.

„Immer mit der Ruhe, Mädchen“, hörte sie Ranalds Stimme hinter sich. „Ich habe Ned schon befohlen, gleich unsere Pferde zu satteln, aber wir müssen noch warten, bis unser Gepäck 

„Ihr könnt ja warten, wenn es Euch beliebt, Sir“, fiel ihm Mairi ins Wort. „Doch ich kann mich nicht mit Gepäck aufhalten, wenn es um Ians Leben geht. Sattle auf der Stelle zwei Pferde für mich und Meg; wir müssen uns beeilen“, fügte sie an Ned gewandt hinzu. Dabei warf sie Ranald einen herausfordernden Blick zu. Sollte er es doch wagen, ihren Befehl zu widerrufen!

Doch er seufzte bloß und sagte: „Sattle auch mein Pferd, Ned.“ Dann schaute er Mairi fest an. „Deine Frau Mutter will dich bestimmt so bald wie möglich sehen.“

„Ja, Sir“, antwortete Mairi. „Aber schickt doch noch einen Mann, der Ned helfen soll. Dann geht es schneller. Ihr habt es ja nicht so eilig wie ich und könnt das Ausladen überwachen, wenn Ihr es für nötig haltet.“ Dann warf sie dem Jungen, der ihr an Land geholfen hatte, einen fragenden Blick zu. „Kannst du mir sagen, wann Seine Gnaden mit der Verhandlung gegen Ian Burk beginnen will?“

Der Bursche zog die Stirn kraus. „Das weiß ich nicht, Mylady, obwohl die Männer in den letzten drei Tagen von nichts anderem geredet haben. Sie meinten, Seine Gnaden würde anfangen, sobald es zur Terz läutet. Aber ich möchte wetten, er wartet, bis sich der Nebel aufgelöst hat, denn sonst sind alle pitschnass, bevor der Gerichtstag zu Ende ist.“

„Ich weiß aber nicht, wie spät es jetzt ist“, sagte Mairi.

„Du hast noch Zeit genug“, erwiderte Ranald.

„Außer wenn Seine Gnaden Ian Burks Fall vorzieht und ihn drinnen verhandelt“, wandte der Junge ein. „In dem Fall wird er wohl anfangen, wann es ihm beliebt.“

„Dann dürfen wir jetzt wirklich keine Zeit mehr verlieren.“ Mairis bekam Angst, dass Ians Schicksal schon besiegelt sein könnte. „Kommst du nun mit oder nicht, Ranald?“

„Er wird nicht drinnen zu Gericht sitzen, Mairi. Das Gesetz schreibt vor, dass ein Gerichtstag unter freiem Himmel stattfinden muss. Also wird er ihn wie immer auf der Council Isle abhalten.“

„Er kann doch unmöglich so grausam sein und Ian im Ungewissen lassen“, entgegnete sie entrüstet. „Sieh dich doch nur um, Ranald. Dieser Nebel kann sich noch tagelang halten.“

Seufzend wies er den Steuermann an, das Ausladen ihrer Gepäckstücke zu überwachen. Dabei hielt er Mairis Arm fest, als hätte er Angst, sie könnte ohne ihn aufbrechen.

„Seine Gnaden hätte dich Gehorsam lehren sollen“, brummte er kurz darauf, als sie über den Hafendamm zu der Treppe eilten, die ins Dorf hinaufführte. „Ich finde, er tut dir keinen Gefallen damit, dass er dir diese Aufsässigkeit Männern gegenüber durchgehen lässt. Aber wenn du erst mal verheiratet bist, wird dein königlicher Gemahl dir schon Manieren beibringen.“

Mit frechem Grinsen antwortete sie: „Noch bin ich nicht einmal verlobt, geschweige denn verheiratet, Sir. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass so ein Möchtegern-König wie Alasdair es mit mir aufnehmen kann.“

Ranald gluckste vor Lachen. „Die Steward-Söhne haben alle das Blut von Robert the Bruce in sich und sind dementsprechend stolz, Mairi. Außerdem ist Alasdair älter als du und so groß und stark wie sein Vater. Wahrscheinlich wird er auch zum Gerichtstag hierher oder nach Ardtornish kommen und dann werden wir ja sehen, was er von einer Frau hält, die Widerworte gibt.“

Mairi reckte das Kinn, entschlossen, sich keine Angst einjagen zu lassen. Mit Alasdair würde sie sich später befassen. Jetzt musste sie erst einmal verhindern, dass ein Unschuldiger hingerichtet wurde.

 

Die Pferde waren rasch gesattelt und bald lagen die drei Meilen zwischen Askaig und Loch Finlaggan hinter ihnen. Finlaggan diente dem Lord der Inseln als Verwaltungszentrum. Von einer Anhöhe blickten die Reiter auf das Loch und seine Umgebung hinab. Wegen des noch immer dichten Nebels konnten sie nur undeutlich das winzige Dörfchen am Westufer des Sees und die ausgedehnten Schlossgebäude mit den niedrigen Mauern erkennen, die auf Eilean Mòr, der größeren der beiden Inseln in Loch Finlaggan lagen. Ein Steindamm verband die Insel mit dem Dorf.

Von Eilean Mòr führte ein weiterer Damm bis an die Südostspitze der wesentlich kleineren Council Isle, die jetzt noch im Dunst verborgen lag. Hier fand der alljährliche Inselrat statt, eine Zusammenkunft von Clanchiefs, Familienoberhäuptern, Lairds und anderen treuen Gefolgsleuten des Lords der Inseln. Nur jeweils vierzehn bis sechzehn von ihnen fungierten als offizielle Ratsmänner, doch zu den Gerichtsverhandlungen hatte jedermann Zugang. Die Rechtsprechung des Lords der Inseln brauchte das Licht der Öffentlichkeit nicht zu scheuen.

Gerichtsprozesse sowie Berufungsverhandlungen gegen Urteile, die ein Brehon – der Inhaber eines erblichen Richteramtes – auf dem Territorium des Lords gefällt hatte, fanden entweder auf der Council Isle statt oder auf dem Judgment Knoll, einem Hügel nahe Loch Indaal an der Südküste Islas. Auf diesem Hügel wurden in der Regel auch die zum Tode verurteilten Verbrecher gehängt. Während des Gerichtstages saßen die Ratsmitglieder und Seine Gnaden gewöhnlich an einem großen Steintisch, an dem der Legende nach schon Somerled, der alte Herrscher der schottischen Inseln, Recht gesprochen hatte.

Der Junge hatte recht, dachte Mairi. Bei diesem Wetter wären alle bald bis auf die Haut durchnässt. Womöglich verfehlte jemand bei dem dichten Nebel sogar den Damm und fiel ins Wasser.

Obwohl sie von ihrem Hügel aus weder die Inselchen erkennen noch sehen konnte, was innerhalb des Schlossgeländes vor sich ging, verriet ihr das scharfe Klirren von Hammerschlägen, dass die Dachdecker bereits ihre Arbeit am neuen Schieferdach der Kapelle aufgenommen hatten. Doch sie durfte nicht länger trödeln. Bei dem Gedanken an Ians Prozess gab sie ihrem Pferd eilig die Sporen.

Mairi und ihre Begleiter ritten über den Damm nach Eilean Mòr hinüber, zügelten ihre Pferde auf einer Weide und saßen ab. Da kam auch schon ein Junge, der nicht mehr als zehn oder elf Sommer zählen mochte, angerannt, um Ned mit den Pferden zur Hand zu gehen.

„Ist Seine Gnaden schon auf der Council Isle?“, fragte Mairi ihn.

„Nein, Mylady. Bei diesem Nebel hat er beschlossen, in der Halle Gericht zu halten.“

„Aber ist das denn zulässig, Ranald?“, fragte sie, als Ned die Pferde wegführte. Der Junge lief neben ihnen her.

„Ich denke schon“, erwiderte Ranald, während sie über einen Rasenplatz gingen, auf dem sich die Kapelle, die Unterkünfte der Wachen und einige Wohnhütten befanden. „Seine Gnaden darf die Gesetze nach seinem Gutdünken auslegen, und dabei ist er immer gerecht gewesen.“

„Ja, das stimmt“, pflichtete ihm ihr junger Begleiter in ernstem Ton bei. Er hatte sich an Megs Seite in Trab gesetzt, um mit den Erwachsenen Schritt halten zu können. „Der Laird hat gesagt, in die große Halle passen alle, die kommen wollen. Und dann hat er mich und noch ein paar Männer losgeschickt, um den Besuchern den Weg zu zeigen. Ich glaube, Seine Gnaden wird sich zuerst mit Ian Burks Fall befassen, weil es der neueste ist und die Gegend hier betrifft. Wahrscheinlich geht es jetzt bald los.“

„Dann bleibt mir gerade noch Zeit zum Umziehen“, sagte Mairi. Sie war erleichtert, dass sie nicht in ihren feuchten Kleidern vor der Versammlung erscheinen musste.

Sie bat Ranald, sie bei ihrer Mutter zu entschuldigen, dann hasteten sie und Meg durch den überdachten, gepflasterten Vorhof zum Privatflügel der Familie. Als sie den Wohnturm mit seinen drei Meter dicken Mauern erreicht hatten, liefen sie die steile Treppe zu der Schlafkammer hinauf, die Mairi mit ihrer jüngeren Schwester Elizabeth teilte. Dort legte sie mit Megs Hilfe flugs ein hermelinbesetztes Untergewand an und zog darüber ein Kleid aus feiner scharlachroter Wolle, die als tiretain bekannt war, da sie von weither aus Tyros stammte.

Meg flocht Mairis glänzendes schwarzes Haar zu zwei Zöpfen, die sie einrollte und am Hinterkopf feststeckte. Darüber kam ein kunstvoll besticktes goldenes Haarnetz. Zum Schluss setzte Meg ihr noch einen schmalen Goldreif auf, der Mairis Rang auswies.

„Eure Handschuhe, Mistress“, mahnte sie in strengem Ton, als Mairi aufstand und zur Tür gehen wollte. „Und ein Spitzentüchlein solltet Ihr auch bei Euch tragen.“

„Sei doch nicht dumm, Meg. Ich habe mich schon viel zu lange aufgehalten.“ Die Handschuhe zog sie trotzdem an, da sie wusste, dass ihre Mutter schimpfen würde, wenn sie mit bloßen Händen auf der Versammlung erschien. Dann lief sie ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer und die steile Treppe hinab, wobei sie leicht die Röcke anhob und sich mit den Fingerspitzen der anderen Hand flüchtig an der Mauer abstützte. Von oben hatte sie männliche Stimmen im Hof gehört, doch als sie unten ankam, war wieder alles still. Selbst das Hämmern auf dem Dach der Kapelle hatte aufgehört. Zweifellos wollten auch die Arbeiter beim Prozess gegen Ian dabei sein.

Um ungehindert gehen zu können, raffte Mairi ihre Röcke und legte sich die Stofffülle achtlos über den linken Arm. Dann zog sie sich im Laufen die Handschuhe an und eilte durch das Tor zum Vorhof der großen rechteckigen Halle. Als sie die Holztreppe hinauflief, die am südöstlichen Ende der Halle zu einem Vorraum führte, bemerkte sie die beiden Männer, die soeben vor ihr die Halle betraten. Beide waren groß und ihren kurzen farbenprächtigen Samtumhängen und den engen Seidenhosen nach zu urteilen von vornehmem Stand. Gerade zog der zweite Mann, der ein wenig kleiner und leichter gebaut wirkte, die schwere Tür hinter sich zu. Das Stimmengewirr in der Halle verstummte, ein sicheres Zeichen dafür, dass ihr Vater seinen Platz auf dem Podium eingenommen hatte. Gleich würde die Verhandlung beginnen.

„Einen Augenblick!“, sagte Mairi leise, aber energisch, hob ihre Röcke noch ein wenig höher und beschleunigte ihren Schritt für den Fall, dass der Mann die Tür von innen zusperren wollte.

Sie schaffte es im letzten Augenblick, die Tür festzuhalten. „Wartet, ich will auch rein!“, rief sie jetzt schon lauter und versuchte, die Tür aufzuhalten, die ihr von innen fast aus der Hand gerissen wurde.

Unvermittelt ließ der Zug nach. Mit einem Seufzer der Erleichterung zwängte sie sich durch den Türspalt und wäre um ein Haar gegen die breite Brust eines Mannes in einem himmelblauen Gewand geprallt. Von Nahem gesehen stellte sich heraus, dass sie selbst dem kleineren der beiden Gentlemen noch nicht einmal bis zur Schulter reichte.

Wie überall auf den Inseln trugen auch in Finlaggan die einfachen Männer die gleichen Schaffelle, safrangelben Kittel und deckenähnlichen Überwürfe wie die Leute im Hochland, doch von den Inselbewohnern, die ein Schiff besaßen, kleideten sich viele nach der feineren, höfischen Mode, die sie auf ihren Fahrten in fremde Länder kennengelernt hatten.

Da auch Mairis ältere Brüder ähnliche Kleidungsstücke besaßen, erkannte sie auf den ersten Blick, dass der Fremde eine kurze Tunika im französischen Stil trug. Sie musste daran denken, wie oft sich ihre Mutter abfällig über die herrschende Männermode aus kurzem Obergewand und eng anliegenden Beinlingen geäußert hatte, da sie sowohl Gesäß als auch Geschlechtsteile in unziemlicher Weise zur Geltung brachte. Mairi widerstand der Versuchung, den Blick nach unten wandern zu lassen, und sagte: „Tretet bitte beiseite, Sir. Euch ist doch sicher bekannt, dass diese Tür offenbleiben muss.“

„Seine Gnaden, der Lord der Inseln, wird gleich einen Mann wegen Mordes anklagen. Dabei hat ein Mädchen nichts zu suchen, sei es auch noch so schön.“

Seine Stimme war tief und klang belustigt.

Entrüstet schaute Mairi auf und wollte dem impertinenten Fremden, der sich als selbst ernannter Türhüter aufspielte, gerade die Meinung sagen, da traf ihr Blick seine lustig funkelnden blauen Augen, und es verschlug ihr förmlich die Sprache.

Später hätte sie nicht mehr sagen können, was für ein Gefühl in diesem Augenblick von ihr Besitz ergriff. Eine Hitze stieg in ihr auf, zweifellos eine Reaktion auf sein unverschämtes Zwinkern, doch zugleich war sie völlig überrumpelt. Im Nachhinein redete sie sich ein, dass es nur an seinen strahlend blauen Augen gelegen hatte, Augen, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie erinnerten an das stille Wasser des Firth of Lorn beim Gezeitenwechsel, wenn die Sonne vom wolkenlosen Himmel strahlte. Gleichzeitig empfand sie ein merkwürdiges Kribbeln an Stellen, wo sie noch nie etwas Ähnliches verspürt hatte.

„Lasst mich durch“, sagte sie, doch da ihr Mund auf einmal wie ausgetrocknet war, brachte sie nichts als ein heiseres Flüstern heraus.

Er schüttelte bloß den Kopf.

Daraufhin befeuchtete sie die Lippen, schluckte krampfhaft und versuchte, sich dem Bann dieser erstaunlichen Augen zu entziehen, doch vergeblich. Sie war wie verzaubert.

„Was zum Teufel ist denn hier los?“

Der Fremde, der ihr den Weg versperrte, drehte sich um, doch bevor Mairi die Geistesgegenwart aufbrachte, an ihm vorbei in die Halle zu schlüpfen, schob sich schon ein zweiter, noch größerer Mann in die Lücke und starrte sie verwundert an.

„Du lieber Himmel“, sagte er ungehalten zu dem ersten, „Ich werde dich daran erinnern, wenn du mir das nächste Mal Vorwürfe machst, weil ich mich von ein paar schönen Augen aufhalten lasse. Schick sie fort, Lachlan, und schließ die Tür. Seine Gnaden schaut schon ganz böse zu uns herüber. Er will bestimmt anfangen.“

Mairis Empörung loderte erneut auf. Sie reckte sich zu voller Höhe, straffte die Schultern und sagte in scharfem Ton: „Diese Tür muss offenbleiben. So verlangt es unser Gesetz.“

„Was weiß ein Mädchen schon vom Gesetz?“, fragte der zweite Mann.

„Vielleicht gar nichts“, erwiderte der erste gleichmütig und setzte dann, noch bevor Mairi protestieren konnte, hinzu: „Trotzdem könnte sie recht haben. Weil wir das erste Mal bei einem Gerichtstag dabei sind, der drinnen abgehalten wird, habe ich ganz vergessen, dass er nach dem Gesetz jederzeit und für alle zugänglich sein muss. Ich danke Euch für den Hinweis, Mistress. Wir wollen doch Seine Gnaden nicht verärgern.“

„Wenn Ihr meint, mein Vater sei jetzt schon verärgert, Sir“, antwortete sie, „dann wartet nur, bis er erfährt, dass Ihr beide mich daran hindern wolltet, die Halle zu betreten. Dazu habe ich nämlich das gleiche Recht wie Ihr.“

Da machten beide Männer große Augen, und Mairi bemerkte, dass der zweite fast ebenso blaue Augen hatte wie sein Begleiter.

„Euer Vater?“, riefen beide wie aus einem Munde.

„Ja, denn ich bin Mairi von Isla. Und jetzt tretet zur Seite und lasst mich durch.“

Statt angemessene Zerknirschung zu zeigen, fixierte derjenige mit Namen Lachlan sie schon wieder und zwinkerte ihr erneut zu. Dabei dachte er gar nicht daran, auch nur einen Schritt beiseite zu gehen. Doch dieses Mal löste sein Verhalten bei Mairi nur Zorn aus.

Blitzschnell schoss ihre Hand nach oben, doch nicht schnell genug für ihn. Mit einer knappen Bewegung packte er zu und hielt sie fest.

Noch immer funkelten seine Augen mutwillig, und der Griff seiner Finger in dem Lederhandschuh war sanft. Dennoch vermochte sie ihre Finger nicht wegzuziehen.