Kapitel 1
Juli 1816, St. Thomas, Dänisch-Westindische Inseln
Miss Eugénie Villaret de Joyeuse folgte Gunna, einer alten schwarzen Sklavin, durch eine schmale, von langen Häusern gesäumte Seitenstraße im Kronprinzenviertel. Ihr Dienstmädchen Marisole hielt Wache, als Eugénie und die Frau das Gebäude betraten.
„Er ist hier, Miss.“
Ein Baby, nicht älter als ein Jahr, saß in der Ecke des Raumes und spielte mit einer Stoffpuppe. Seine einzige Kleidung war eine Art Mantel, der dem starken Geruch von Urin nach gewechselt werden musste.
Sie, Gunna und der Junge waren die einzigen, die sich in dem engen, dunklen Raum aufhielten. Sie hockte sich neben das Kind. „Was ist mit seiner Mutter passiert?“
„Verkauft.“
Natürlich; warum hatte sie sich überhaupt die Mühe gemacht zu fragen? Es war grausam, Mutter und Kind zu trennen, aber hier gab es kein Gesetz dagegen.
„Wann?“
„Vor ein paar Tagen.“ Gunna blickte auf das Kind. „Er wird bald auf eine Plantage gehen.“
Schlimmer noch. Er würde wahrscheinlich sterben, bevor er erwachsen war. Eugénie legte die kleine Tasche, die sie trug, auf den Boden. „Hilf mir, ihn umzuziehen. So kann er nicht nach draußen gehen.“
Wenige Minuten später waren Gesicht und Hände des Babys sauber, die Wäsche wurde gewechselt, und es trug ein frisches Gewand.
Sie reichte der Frau zwei Goldmünzen. „Danke, dass du mich informiert hast.“ Gunna wollte das Geld zurückgeben, aber Eugénie schüttelte den Kopf. „Verwende es, um jemand anderem zu helfen. Unser Kampf ist erst beendet, wenn alle frei sind.“
Eine Träne bahnte sich ihren Weg über die faltige Wange der Frau. „Du gehst jetzt besser, bevor dich die falsche Person sieht.“
Eugénie zog dem Kleinen eine dünne Decke über den Kopf, dankbar, dass ihr breitkrempiger Hut sein Gesicht ebenso gut verbergen würde wie ihres, und trat hinaus in den strahlenden Sonnenschein.
„Das ist sie!“, rief eine männliche Stimme.
Sie übergab das Kind Marisole. „Nimm ihn und lauf! Ich hole euch ein.“
Eugénie zog schnell ihren Dolch heraus, verbarg ihn im Grau ihrer Röcke und drehte sich geduckt um. Ein großer Mann stand versteckt im Schatten eines Gebäudes, während ein Junge, gerade noch ein Teenager, auf sie zukam. Sie wartete, bis er nach ihrem Arm griff, dann schnitt sie mit der Klinge durch seine Hände. Bevor er zu schreien begann, rannte sie eine Gasse zwischen den langen Häusern hinunter. Türen schwangen auf, und mehrere Frauen traten hinter ihr auf die Straße. Das würde nicht lange helfen, aber es würde die Verfolgung verzögern.
Der Schweiß rann ihr über das Gesicht, als Eugénie den Hügel hinaufstürmte, um über die Stufen zum Queens Quarter zu gelangen. Sie duckte sich hinter einem großen Flamboyant-Baum und wartete einige Augenblicke, lauschte auf Geräusche von rennenden Verfolgern, aber da war nichts und niemand außer ein paar Männern, die ihren Geschäften nachgingen.
Sie nahm ein Stück Stoff heraus und säuberte die Klinge, bevor sie sie wieder in ihre Beinscheide steckte. Dann nahm Eugénie ihre Haube ab und wandte sich dem Wind zu, wobei sie viel frische Luft einatmete, während sie sich mit dem Hut Luft zufächelte.
Einige Minuten später holte sie ihr Dienstmädchen ein, als Marisole auf dem Weg zum Haus eine weitere Straße hinunterlief. „Wie geht es dem Kind?“
Marisole lächelte. „Sehen Sie selbst. Es geht ihm gut.“
Große grüne Augen starrten Eugénie an, und das Kind blies eine Rotzblase und lächelte. „Komm, mon petit. Nicht mehr lange und du wirst eine Familie haben.“
Die Haustür eines gepflegten Hauses im Queen’s Quarter öffnete sich, als sie sich näherten.
Im kurzen Gang angekommen, lächelte sie. „Mrs. Rordan, danke, dass Sie sich bereit erklärt haben, sich um ihn zu kümmern. Es wird nur für ein paar Tage sein.“
„Als ob ich das nicht gern tun würde.“ Mrs. Rordan grinste, als sie das Baby an sich nahm.
„Kapitän Henriksen hat sich bereits gemeldet. Es gibt eine gute Familie auf Tortola, die ihn adoptieren wird.“ Sie reichte Eugénie einen Blumenstrauß. „Für Ihre Mutter, vielleicht helfen sie dabei, sie aufzumuntern. Sie gehen jetzt besser nach Hause.“
„Merci beaucoup. Sie wird sie lieben.“ Sie küsste den kleinen Jungen auf die Wange. „Gute Reise und ein schönes Leben.“
Als Eugénie und ihr Dienstmädchen zum Haus Wivenly zurückgingen, sagte Marisole: „Sie wären fast gefangen genommen worden.“
So nah war sie noch nie dran gewesen, erwischt zu werden. Sie zog die Brauen zusammen. Wenn sie hinter dem Kind her waren, warum waren die Männer ihr nicht gefolgt? Wussten sie, wer sie war? Doch auch wenn Papa weg war, musste sie weitermachen. „Ja, aber es ist besser, das Schicksal nicht in Frage zu stellen.“
Juli 1816, England
William, Viscount Wivenly, erhaschte durch einen dünn belaubten Teil der hohen Hecke, hinter die er sich geflüchtet hatte, einen Blick auf den geblümten Musselin.
„Sind Sie sicher, dass er hier entlang gegangen ist?“, flüsterte eine aufgeregte Frauenstimme.
Verdammt. Das hörte sich nicht gut an. Will ahnte nun, wie sich ein gejagter Fuchs fühlen musste.
„Ganz sicher“, kam die leise Antwort. „Sie müssen vorsichtig sein, Cressida. Wenn ich Ihnen erzähle, was Miss Stavely mir streng vertraulich erzählt hat, müssen Sie schwören, dass Sie das, was ich Ihnen jetzt sage, niemals wiederholen werden. Ich habe geschworen, nie ein Wort darüber zu verlieren.“
„Ja, ja“, antwortete Miss Cressida Hawthorne eindringlich, „ich verspreche es.“
Seit zwei Tagen war er dieser Hawthorne-Göre ausgewichen, und unglücklicherweise belagerte nicht nur sie ihn. Die andere Frau hörte sich an wie die frisch verlobte Miss Blakely.
„Nun dann …“ Miss Blakely hielt inne. „Dann sollte ich es wirklich nicht tun. Wenn das herauskäme, wäre sie ruiniert!“
„Ich habe Ihnen doch bereits mein Wort gegeben“, bettelte Miss Hawthorne.
Nach ein paar Augenblicken fuhr die andere junge Frau fort. „Miss Stavely erzählte mir, sie sei Lord Wivenly in die Bibliothek gefolgt, damit sie allein seien und er sie heiraten müsse.“
„Was für ein ausgezeichneter Plan.“ Miss Hawthornes Tonfall lag irgendwo zwischen Bewunderung und Wunschdenken.
„Nein, das war es durchaus nicht.“
Schon der Gedanke an den Vorfall mit Miss Stavely ließ Will erschaudern. Nahezu nichts war so schlimm, als ausgerechnet mit ihr verheiratet zu sein. Zum Glück war die Dame nicht so intelligent, wie sie kreativ war. In dem Moment, in dem sie die Tür geöffnet hatte, hatte sie ihm angekündigt, dass er sie heiraten müsse. Dabei hatte sie jedoch die Fenster nicht einkalkuliert, durch die Will entkommen war.
„Was meinen Sie damit, dass es keine gute Idee war?“, fragte Miss Hawthorne.
„Haben Sie etwa eine Verlobungsankündigung gehört?“
Sie blieben stehen. Verflucht, es musste einen anderen Weg hier raus geben. Er betrachtete die Ligusterhecke, die diesen Teil des Gartens an drei Seiten begrenzte. Ihm gegenüber befand sich ein etwa zwei Meter hoher Holzzaun. Große, wuchernde Rosen in zartem Rosa und Gelb rankten sich daran entlang und vervollständigten die Einfriedung. Wer auch immer diesen Ort entworfen hatte, wollte Privatsphäre haben. Wills Aufmerksamkeit wurde wieder zu den Stimmen gelenkt.
„Nein“, sagte Miss Hawthorne langsam, als ob sie ein Rätsel lösen wollte.
„Es hat also nicht funktioniert.“
„Wissen Sie, was Miss Stavely nicht bedacht hat?“
Als Miss Hawthorne nicht antwortete, fuhr Miss Blakely fort. „Sie hat sich nicht darum gekümmert, dass sie einen Zeugen zur Hand hat. Miss Stavely sagte, Lord Wivenly habe sie wie ein Rindssteak angesehen und ihr gesagt, er würde sie ruinieren, wenn sie es wolle, aber sie solle nicht denken, er würde sie zur Frau nehmen.“
Vielleicht nicht sein bester Moment, obwohl Will die Kleine loswerden wollte. Nicht, dass es funktioniert hätte. Sie hatte sich praktisch auf ihn gestürzt.
„Oooh, wie verrucht.“ Miss Hawthorne kicherte. „Er ist so gutaussehend und er hat so schöne braune Haare. Ich würde mich gerne von ihm kompromittieren lassen.“ Sie hielt inne. „Aber nur, wenn er mich heiraten muss, also müssen Sie dafür sorgen, dass Sie Zeuge davon werden.“
Will hatte nicht die Absicht, Miss Hawthorne oder eine andere schöne englische Maid zu heiraten. Verkleidete Harpyien, alle von ihnen. Sie waren mehr daran interessiert, Viscountess Wivenly und die zukünftige Gräfin von Watford zu sein, als ihre Pflichten als Ehefrau zu erfüllen. Nach dem, was er über sie gehört hatte, würde Miss Hawthorne ihn wahrscheinlich nur in ihr Bett lassen, um ein Kind zu zeugen, nicht um Lust auszuleben. Sicherlich konnte er eine bessere Frau finden. Zumindest hoffte er das.
Wenn es an der Zeit war, die Ketten der Ehe anzunehmen, würde er eine Wahl treffen. Doch selbst das würde noch mindestens ein oder zwei Jahre dauern. In der Zwischenzeit würde Will alles daransetzen, zu verhindern, dass man ihn in eine Ehe zwang. Gott sei Dank hatte er bereits Pläne geschmiedet, England für eine Weile zu verlassen.
Das Geräusch der Schuhe der Damen kam näher.
Verdammt. Will schaute sich um. Der einzige Fluchtweg war ein großer Maulbeerbaum in voller Blüte. Sein Kammerdiener Tidwell würde sich über die Flecken aufregen, aber es musste sein. So schnell und leise wie möglich kletterte er den Baum hinauf, wobei er darauf achtete, dass die glatten Ledersohlen seiner Stiefel nicht von den Ästen abrutschten.
„Ich bin sicher, ich habe ihn in diese Richtung gehen sehen“, sagte Miss Blakely.
Von seinem Platz im Baum aus hatte Will einen Blick auf die Spitzen ihrer lächerlichen Hauben. Warum die Frauen all diese Bänder und Schleifen an ihren Hüten brauchten, entbehrte jeder Logik.
„Das dachte ich auch“, antwortete Miss Hawthorne. „Ich frage mich, wo er hingekommen sein könnte.“
„Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde wachsam sein. Wir werden einen Weg finden, um sicherzustellen, dass Sie Lady Wivenly werden.“
Den Teufel wird sie tun. Will runzelte die Stirn. Gab es überhaupt eine Frau, die sich von seinem Titel nicht beeindrucken ließ und ihm die Jagd überließ?
Wahrscheinlich nicht.
„Oh, sehen Sie mal“, rief Miss Hawthorne aus. „Ein Maulbeerbaum. Wir müssen welche pflücken. Vielleicht macht die Köchin Törtchen, oder ich kann sie mit Sahne essen.“
Will unterdrückte ein Stöhnen. Diese anstrengenden Frauen. Warum hatte er seiner Mutter überhaupt erlaubt, ihn am Vorabend seiner Abreise zu den Westindischen Inseln zu dieser Hausparty zu überreden?
Miss Blakely verschränkte ihren Arm mit Miss Hawthornes. „Vielleicht wäre es besser, einen Diener auf die Suche zu schicken. Sie wollen doch Ihr Kleid nicht ruinieren.“
„Sie haben recht.“ Als die beiden zurück in den Garten gingen, fügte sie hinzu: „Aber wir sollten sofort jemanden finden. Lord Wivenly muss hier irgendwo sein.“
Will tippet sich auf seinen Hut. Tut mir leid, meine Damen, dieser Fuchs sagt „Hallo und Gute Nacht“.
Er wartete, bis sie auf halbem Weg zum See waren, bevor er vom Baum runterkletterte. Nachdem er das Haus erreicht hatte, schlich er eine Hintertreppe hinauf und ging zu seinem Schlafzimmer. „Tidwell!“
„Ich bin hier, Mylord.“ Der Diener kam aus dem Ankleidezimmer. „Kein Grund zu schreien. Ich bereite Ihre Abendgarderobe vor.“ Er hielt zwei Westen hoch. „Möchten Sie lieber Grün auf Creme oder Gold?“
„Ich würde es vorziehen abzureisen. Pack alles ein. Du hast eine Stunde Zeit.“
Tidwell verbeugte sich. „Wie Sie wünschen, Mylord.“ Seine Augen verengten sich, als er Will noch strenger ansah. „Wenn ich diese Flecken nicht behandle, werden wir sie nie wieder herauskommen.“
Er blickte an sich hinab. Nicht nur Maulbeersaft, sondern auch Blattflecken.
„Du musst damit klarkommen. Hier ist es nicht sicher für mich.“
„Wieder ein ruinierter Anzug.“ Sein Diener seufzte. „Noch mehr Probleme mit den Damen, nehme ich an.“
Will bekam Mitleid mit Tidwell und sagte: „Pack mir eine Tasche. Du bleibst hier, bis die Wäsche gereinigt ist. Ich nehme meine Kutsche und treffe dich in Watford Hall. Schick dem Kutscher eine Nachricht, wann du fertig bist.“
Tidwells Miene hellte sich sofort auf. „Ja, Mylord.“
Er zog sich frische Kleidung an, zog seinen Mantel an und setzte seinen Hut auf, suchte seinen Gastgeber auf und entschuldigte sich. Als er auf den Stallhof trat, stand seine Kutsche bereit und sein Stallknecht Griff hielt die Pferde fest.
Will kletterte in seine Kutsche. „Gute Arbeit.“
„Ich dachte mir schon, dass es hier ein bisschen zu gefährlich für Sie wird, Mylord.“
„Du hattest recht, wie immer. Lassen wir sie losgaloppieren.“ Griff sprang auf die Rückbank, während Will die Kutsche vom Haus weg durch die Kiesauffahrt manövrierte. Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf Miss Hawthorne. Sie lächelte ihn an, aber als er lächelte, dann den Kopf neigte und die Pferde antrieb, öffnete sich ihr Mund vor Überraschung.
Wieder knapp entkommen.
Fünf Tage später, Dover, England
In den Docks herrschte reges Treiben, denn die Schiffe bereiteten sich darauf vor, mit der Flut auszulaufen. Will hatte seinen Freund Gervais, Graf von Huntley, in London getroffen und war mit ihm in die Hafenstadt gereist.
Der Himmel hellte sich am frühen Morgen auf, als sie das Schiff erreichten, das nach Frankreich fuhr und auf dem Huntley gebucht war.
„Viel Glück auf Ihren Reisen“, sagte Will.
Huntley drückte Wills Hand. „Ich wünsche Ihnen viel Glück bei der Lösung des Problems in St. Thomas. Wir sehen uns im Frühjahr wieder.“
„Nur wenn mir keine gute Ausrede einfällt, um im Ausland zu bleiben.“ Will schnitt eine Grimasse. „Bevor ich abreiste, musste ich meinem Vater versprechen, dass ich nächstes Jahr heiraten würde.“
„Mein Vater hat das Gleiche zu mir gesagt. Wir werden uns gegenseitig unterstützen.“
Huntleys grimmige Miene erinnerte Will an einen Mann, der vor Gericht stand.
„Vielleicht haben Sie ja das Glück, sich zu verlieben.“
Will verschluckte sich fast. „Sie denken, das wäre Glück? Ich müsste mein Leben komplett umstellen. Nein, danke. Ich werde mir wahrscheinlich eine der Damen aussuchen, die meine Mutter mir vorführt. Dann weiß ich wenigstens, was mich erwartet.“
Und er würde es nicht riskieren, wegen einer Frau unter den Fittichen einer Katze zu leben.
„Mylord, das Schiff legt gleich ab“, rief Huntleys Diener.
„Tun Sie, was Sie für richtig halten.“ Huntley klopfte Will auf den Rücken.
„Sie auch.“ Will schritt die Straße hinunter zu einem holländischen Flugboot, einem der kleineren Segelschiffe, die Passagiere und Waren zu den vielen Häfen an der Westküste Englands transportierten.
Griff saß auf einem Pfahl am Kopf des Piers. „Wurde auch Zeit, dass Sie kommen. Tidwell hat die Kajüten arrangiert, und der Kapitän wartet nur noch auf Sie.“
„Dann lasst uns an Bord gehen. Ich darf die Flut nicht verpassen, sonst kommen wir zu spät zu unserem Treffen mit Mr. Grayson.“ Will atmete tief ein, um den salzigen Geruch der Luft zu genießen. Will war einunddreißig und hatte schon länger nicht mehr das berauschende Gefühl einer Herausforderung ausgekostet. „Gibt es sonst noch etwas, das du mir sagen möchtest?“
Ein breites Lächeln huschte über Griffs wettergegerbtes Gesicht. „Mr. Tidwell wurde ganz schön grün im Gesicht, als er auf das Schiff kam.“ Er kratzte sich am Kopf, als würde er über den Vorfall nachdenken. „Ich glaube nicht, dass ihm die Reise allzu sehr gefallen wird.“
„Wenn du“ – Will hielt inne und ließ das Wort sacken – „nicht lernen willst, wie man sich um meine Garderobe kümmert, solltest du hoffen, dass Tidwell nicht allzu krank wird.“
Griff, der schon bei Will war, seit er sein erstes Pony gesattelt hatte, führte eine gutmütige Fehde mit Tidwell, seit der Kammerdiener vor über elf Jahren in den Haushalt aufgenommen worden war. Will milderte seine Stimme.
„Komm schon, ich kann nicht wie ein Zottelkopf herumlaufen, und ich würde nicht ohne dich reisen. Wer würde mir den Rücken freihalten, wenn ich in Schwierigkeiten gerate?“
„Nun, da haben Sie recht.“ Griff nickte. „Dieser Pfau wird Sie sicher nicht aus einigen der Schwierigkeiten herausholen, in die Sie sich selbst oft bringen. Ich erinnere mich, als …“
„Hey, Lord Wivenly, sind Sie das?“ Ein kleiner Mann mittleren Alters mit salz- und pfefferfarbenem Haar schritt auf ihn zu. „Ich bin Kapitän Jones.“
„Ja, Sir. Sind wir bereit zum Ablegen?“
Der Kapitän warf einen Blick auf das Wasser. „Ich warte nur auf Sie, Mylord.“
Kurz nach Mittag des folgenden Tages legte das Schiff im geschäftigen Hafen von Plymouth an. Will stieg zum Pier hinunter und fragte sich, wie er in all dem Trubel Andrew Grayson finden würde, einen alten Freund, der sich bereit erklärt hatte, Will zu begleiten, und entdeckte Andrew, der an einem Pfahl in der Nähe der Mitte des Schiffes lehnte.
„Gut gemacht, Kapitän.“ Andrew richtete sich auf und neigte den Kopf zu Jones. „Ihr seid rechtzeitig angekommen. Wir haben eine Änderung in unseren Reiseplänen. Lord Wivenlys Gepäck muss so schnell wie möglich auf die Sarah Anne gebracht werden.“
„Jawoll“, rief der Kapitän in zufriedenem Tonfall, „Kapitän Black fährt also wieder.“ Jones grinste. „Ich habe meine Wette gewonnen. Ich lasse es sofort erledigen, Mr. Grayson.“
Will runzelte die Stirn. „Woher kennen Sie Jones?“
Andrew warf einen Blick in den Himmel, als ob er nach Geduld suchte. „Mein Großvater mütterlicherseits ist im Handel tätig, wie Sie ja bereits wissen. Ich habe einige Zeit damit verbracht, das Geschäft zu lernen, da ich es zukünftig übernehmen werde.“
Das war einer der Hauptgründe, warum Will Andrew gebeten hatte, ihn nach St. Thomas zu begleiten. Als sie in Richtung des Hauptdocks gingen, sagte er: „Ich wusste nicht, dass Sie vorhaben, das Geschäft tatsächlich zu übernehmen. Ich dachte, Sie wollten sich nur Wissen aneignen. Hat Ihnen nicht irgendeine Tante ein kleines, gemütliches Anwesen inklusive Selbstständigkeit hinterlassen?“
Andrew nickte. „Ja, aber mein Großvater ist durch die Vereinbarungen verpflichtet, mir als zweitem Sohn die Reederei zu überlassen, und ich möchte wissen, wie ich kontrollieren kann, was mir gehören wird.“ Mit einer hochgezogenen Augenbraue blickte er zu Will. „Sagen Sie mir nicht, Sie hätten Angst, dass ich dann danach stinken werde. Das Versandwesen ist so seriös wie das Bankwesen, und sehen Sie sich Lady Jersey an. Sie verbringt sehr viel Zeit in der Bank, die ihr Vater ihr hinterlassen hat.“
Sie erreichten eine weitere Anlegestelle, wo Andrew einen großen, breitschultrigen Mann ansprach, der offensichtlich schon eine Weile auf See war. „Das ist Kapitän Black. Sein Schiff ist eines der schnellsten, die Sie finden können, sogar mit Ladung.“
„Mr. Grayson.“ Der Kapitän grinste. „Wie ich sehe, haben Sie Seine Lordschaft gefunden und zwar rechtzeitig.“
„Sein Gepäck wird gleich hier sein“, sagte Andrew. „Kapitän Jones kümmert sich darum.“
Kapitän Black wandte seine Aufmerksamkeit Will zu. „Willkommen an Bord der Sarah Anne, Mylord. Ich bringe Sie im Handumdrehen nach St. Thomas.“
Eine Stunde später stand Will am Bug des Schiffes, blickte auf das Wasser hinaus und versuchte zu entscheiden, wie er das Problem, bei dem er auf Bitten seines Vaters in St. Thomas helfen sollte, angehen sollte. Obwohl es seine Erkundung der anderen Inseln verzögern würde, wusste er, dass die schützenden Arme des Grafen von Watford alle Mitglieder der Familie umschlossen, egal wo sie sich befanden, und Will fühlte genauso. Jeder aus der Wivenly-Familie oblag seiner Obhut.
Andrew schloss sich ihm an. „Haben Sie sich schon entschieden, wie Sie des Problems annehmen wollen?“
Will wünschte, er wüsste es; die ganze Sache war äußerst seltsam. Er schüttelte den Kopf. „Meine ursprüngliche Absicht war es, der Witwe meines Großonkels Nathan den Respekt zu zollen.“ Es war eigenartig, dass Nathan nur ein paar Jahre älter war als Will. „Dann wollte ich mich mit dem Verwalter, Mr. Howden, treffen. Doch nach ihrem letzten Brief an meinen Vater, in dem sie ihm mitteilte, dass das Geschäft scheitern würde, und nach einem Bericht von Howden, der zeigte, dass es so gut lief wie immer, weiß ich nicht, was ich denken oder wem ich vertrauen soll.“
Andrew lehnte sich gegen das Geländer. „Da geht jemand sparsam mit der Wahrheit um.“
Das war die größte Untertreibung, die Will je gehört hatte. „Die Frage ist, wer? Ich wüsste nicht, warum meine Tante unehrlich sein sollte. Ihre Besorgnis ging aus ihrem Brief klar hervor. Aber Howden hat einen tadellosen Ruf.“
Andrew runzelte die Stirn. „Könnte wer anderes die Finger im Spiel haben?“
Das war etwas, woran Will nicht gedacht hatte. „Es ist möglich. Es wird mir große Freude bereiten, dafür zu sorgen, dass derjenige, der die Probleme verursacht, für seine Verfehlungen bezahlt.“
Kapitel 2
Anfang September 1816, St. Thomas, Dänisch-Westindische Inseln
Eugénie betrat den großen Salon, in dem ihre Mutter gewöhnlich anzutreffen war. Sie saß an einem alten Schreibtisch an einer Wand. „Maman?“ Eine sanfte Brise aus dem Fenster ließ die Blätter, die ihre Mutter in einer Hand hielt, flattern. Die andere war zur Faust geballt und drückte gegen ihre Lippen.
„Gibt es noch mehr schlechte Nachrichten?“ Vor ein paar Monaten war ihr Stiefvater Nathan Wivenly, der einzige Papa, den sie je gekannt hatte, an Bord eines seiner Schiffe gewesen, das aus England zurückkehrte. Kurz vor St. Thomas waren sie von Piraten überfallen worden, die Papa und die Mannschaft ermordet hatten. Seitdem hatte das Import-Export-Geschäft der Familie zu scheitern begonnen. Die Probleme waren auf die verlorenen Waren zurückzuführen, zumindest erzählte Mr. Howden das ihrer Mutter.
Eugénie glaubte ihm nicht. Papa hatte immer eine Versicherung gehabt. Wenn sie nur den Beweis hätte, dass der Geschäftsführer unehrlich war, könnte sie ihre Familie unterstützen. Papa würde es von ihr erwarten. Sie grub ihre Nägel in ihre Handflächen. „Maman, wenn du mir erlaubst, in die Bücher zu schauen, kann ich dir bestimmt helfen.“
„Erinnerst du dich an das letzte Mal, als du die Bücher sehen wolltest?“ Maman stopfte die Unterlagen in die Schreibtischschublade. „Mr. Howden drohte uns zu verlassen.“ Tränen füllten ihre Augen. „Wie soll ich ihn ersetzen? Ich habe keine Ahnung vom Handel.“
Es lag Eugénie auf der Zunge zu sagen, dass sie es nicht schlechter machen konnten, aber das würde ihre Mutter nur noch mehr verärgern, und vielleicht stimmte es auch nicht. Sie hatte gelernt, einen Haushalt zu führen, nicht ein Unternehmen. Da ihr jüngerer Bruder Benet das Geschäft erben würde, hatte Papa keinen Grund gesehen, sie zu unterrichten. „Hast du etwas vom Grafen von Watford gehört?“
Mamans Lippen zogen sich zu einem schmalen Strich zusammen, als sie den Kopf schüttelte. „Dein Vater hat immer gesagt, ich könne mich auf seinen Neffen verlassen. Ich bin sicher, wir werden bald eine Antwort erhalten.“ Doch würden die Briefe, die sie mit schnellen Schonern verschickt hatten, noch rechtzeitig ankommen? Konnte der Graf handeln, bevor sie ruiniert waren? Eugénie verdrängte den Gedanken, dass sich der Graf entgegen dem, was Papa immer geglaubt hatte, nicht wirklich um die Familie seines Onkels auf den Westindischen Inseln kümmerte.
„Vielleicht …“ Sie suchte nach etwas, das ihre Mutter aufmuntern könnte. „Vielleicht könntest du Baron von Bretton oder Mr. Whitecliff um Hilfe bitten.“
Maman stand abrupt auf. „Eugénie!“ Sie holte tief Luft. „Ich schätze es, dass du versuchst, mir zu helfen, aber ich muss mich selbst darum kümmern.“
Seit Papas Tod war Maman nur noch ein Schatten ihrer selbst und nicht mehr in der Lage zu handeln.
Ihre braunen Augen, die früher vor Lachen leuchteten, waren nun leiderfüllt. In nur wenigen Monaten hatten sich kleine Fältchen um ihren Mund gebildet. Es musste etwas getan werden, und zwar bald, bevor sie überhaupt kein Geld mehr hatten.
„Ich bin einundzwanzig. Ich habe ein Gehirn und kann Spalten hinzufügen.“ Warum war ihre Mutter so hartnäckig? „Bitte erlaube mir …“
„Nein. Man kann keine gute Ehe aufbauen, wenn man in Geschäfte verwickelt ist.“ Maman schloss die Schublade ihres Schreibtisches ab. „Dein Papa wäre damit nicht einverstanden gewesen.“
Maman hatte die Worte nicht auf ihre übliche britische Art und Weise ausgesprochen. Die Tatsache, dass ihr französischer Akzent deutlicher geworden war, war ein ausreichender Beweis für die Belastung, der sie ausgesetzt war. Seit sie Nathaniel Wivenly geheiratet hatte, als Eugénie sechs Jahre alt war, und sich der englischen Gesellschaft in Jamaika und dann in Saint Thomas angeschlossen hatte, hatte Maman die englischen Sitten und Gebräuche kultiviert, einschließlich ihrer Art zu sprechen.
„Oui, Maman.“ Nun, Papa war nicht mehr da. Eugénie wollte aus Frustration mit den Füßen stampfen, etwas werfen oder in Tränen ausbrechen. Sie wollte auch trauern, doch wie sollte sie das tun, wenn sich jemand um die Familie kümmern musste? Warum schafften es Männer, selbst so perfekte wie Papa, sich zu den denkbar ungünstigsten Zeitpunkten umbringen zu lassen?
„Wenn es sein muss“, sagte Maman müde, „werden wir nach England reisen. Ich bin sicher, dass Papas Familie uns nicht abweisen würde.“ Der Graf von Watford hatte bisher nichts unternommen, um zu helfen. Eugénie biss die Zähne zusammen. „Naturellement.“
„Englisch, Eugénie“, erinnerte ihre Mutter sie, „sprich Englisch.“
„Ja, Maman.“ Eugénie unterdrückte einen Seufzer. Es hatte keinen Sinn, eine Diskussion fortzusetzen, die ihre Mutter nur verärgerte. „Ich muss nachher in die Stadt gehen, um ein neues Band zu kaufen. Brauchst du irgendetwas?“
Maman lächelte müde. „Ich wäre dir dankbar, wenn du mir etwas Papier bringen würdest. Ich muss die Einladungen für die Geburtstagsfeier deiner Schwester schreiben.“
Ein weiterer Grund, um herauszufinden, was vor sich ging: Die Zukunft ihrer Brüder und Schwestern stand auf dem Spiel. Jeanne, die jüngste Schwester, würde nächste Woche sechs Jahre alt werden. Die anderen waren nicht viel älter. Auch wenn sie trauerten, würde Jeanne Freunde zu Kuchen und Limonade einladen. Eugénie nickte und wandte sich der Tür zu.
„Vergiss deine Haube nicht.“ Ihre Mutter runzelte die Stirn. „Du wirst viel zu braun, und vergiss nicht, dein Dienstmädchen mitzunehmen.“ Eugénie lief zurück zu ihrer Mutter und umarmte sie. Sie würde Maman nicht mehr ärgern, aber sie würde einen Weg finden, ihrer Familie zu helfen, ob es nun richtig war oder nicht. Papa hatte immer gesagt, sie sei die Klügste in der Familie. Sicherlich würde ihr etwas einfallen. Eugénie konnte ihr Wohlergehen nicht den Launen des Schicksals, dem Meer und einem Grafen überlassen, der Tausende von Kilometern entfernt lebte.
***
Will stützte sich mit den Füßen auf dem Schiffsdeck ab und hielt das Fernrohr an sein Auge. Eine große Ansammlung von Gebäuden stand nahe des Ufers. „Das ist er also, der Freihafen von Charlotte Amalie?“
„In der Tat.“ Kapitän Black grinste. „Es wird bald einer der größten Häfen der Westindischen Inseln sein, wenn nicht sogar der gesamten Karibik.“
„Was sind das für Dinger auf den Hügeln?“
Black sah dorthin, wohin Will zeigte. „Treppen, die als Straßen benutzt werden. Man nennt sie Step Streets. Sie erleichtern das Hinauf- und Hinuntergehen auf den Hügeln. Ich habe gehört, dass es in einigen europäischen Städten auch so etwas gibt.“
Alles, was die Besteigung der Hügel leichter machte, wäre ihm willkommen. Verdammt, er hasste Hügel. Er war begeistert gewesen, als seine Familie nach Hertfordshire gezogen war, wo es schön und flach war.
Werften säumten die Küste, jede mit ihrem eigenen Lagerhaus, gefolgt von höheren Gebäuden, die sich auf den drei Hügeln hinter der Stadt ausbreiteten. Palmen unterbrachen die Landschaft in geordneter Weise, und ein großes Fort ragte in den Hafen hinaus. Die zahlreichen vor Anker liegenden Schiffe trugen zu dem malerischen Anblick bei, aber was Will wirklich beeindruckte, war die Farbe des Wassers. Es ging von einem dunkleren Blau bis zu einem Türkis in Ufernähe und raubte ihm den Atem. So etwas Schönes hatte er noch nie gesehen, und in diesem Moment wollte er am liebsten darin eintauchen. Die Sonne stand noch nicht einmal senkrecht über ihm, und schon versprach der Tag heiß zu werden. Wie zum Teufel konnten die Herren hier Anzüge tragen? Oder vielleicht sollte die Frage lauten, warum sich Engländer so benehmen mussten, als ob es selbst in den Tropen nicht wärmer wäre als in den heimischen Gefilden. Er reichte das Fernglas an den Kapitän zurück und strich sich mit der Hand über seinen kurzen Bart. Tidwell hatte damit gedroht, Will mit dem Rasiermesser zu rasieren, aber da sich das Schiff bewegte, hatte sich sein Diener damit begnügen müssen, seinen Bart zu stutzen. An Land würde er sich gründlich rasieren lassen, aber ob ihm seine Mäntel noch passen würden, war ungewiss. Sein normalerweise schlanker Körper war durch den Umgang mit den Leinen und Segeln des Schiffes muskulöser geworden. Will grinste vor sich hin. Segeln zu lernen hatte genauso viel Spaß gemacht, wie sein Freund Marcus ihm gesagt hatte, auch wenn es etwas problematischer gewesen war, sich einige der Begriffe zu merken. Jetzt musste er sich dem Problem der Familie Wivenly in St. Thomas zuwenden.
Während der Überfahrt hatte Will versucht, von Kapitän Black unauffällig Informationen über die Insel und ihre Bewohner zu erhalten. Eines Nachts hatte der Mann gelacht und gesagt: „Sagen Sie mir einfach, was Sie wissen wollen, Mylord, und ich werde Ihnen gerne jede Information geben, die ich habe. Sie brauchen keine Angst zu haben, dass ich indiskret sein könnte. Ich bin stolz auf meine Besonnenheit.“
Will hatte widerwillig eingesehen, dass er die Hilfe des Kapitäns brauchte, und ihm von den offensichtlichen Problemen mit dem Unternehmen seines verstorbenen Großvaters erzählt. „Auf dem Papier sieht alles gut aus, doch die Witwe klagt über baldigen Ruin.“
Kapitän Black rieb sich das Kinn und nahm dann einen Schluck Wein. „Mr. Howden, der Manager, ist ein wohlüberlegter Geschäftsmann, aber er ist ehrgeizig, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er für eine Frau arbeiten will.“ Black hielt einen Moment inne. „Andererseits habe ich Ihre Tante bei einigen Gelegenheiten getroffen. Sie muss über Nathans Tod am Boden zerstört sein. Sie hat sich in allem auf ihn verlassen. Es wäre ein Leichtes, sie auszutricksen.“ Von irgendwo auf dem Schiff kam ein Ruf, und der Kapitän lenkte seine Aufmerksamkeit kurz woanders hin, bevor er fortfuhr. „Wenn sie nur älter wäre, könnte Fräulein Eugénie – das ist Mrs. Wivenlys Tochter aus erster Ehe – helfen.“ Der Kapitän gluckste. „Das wäre eine Herausforderung für Sie.“
„Wie alt ist Miss Eugénie?“ Will konnte sich nicht erinnern, ob er schon von ihr gehört hatte oder nicht. Könnte die Tochter das Problem sein? Will war nicht so naiv zu glauben, dass Frauen nicht zu allem fähig waren, was sie sich in den Kopf gesetzt hatten. Aber warum sollte sie versuchen, ihre Mutter in den Ruin zu treiben? Er kippte den Rest seines Weins hinunter. Das alles machte keinen Sinn.
„Sie müsste so um die zwanzig sein.“ Der Kapitän runzelte die Stirn. „Das letzte Mal habe ich sie vor ein paar Jahren gesehen. Damals war sie noch ein kleines Mädchen. Ein mageres kleines Ding, nur Arme und Beine. Braun gebrannt wie eine Nuss, weil sie ständig ihren Hut verlor. Nathan hat sie über alle Maßen verwöhnt.“
Wunderbar. Zu allem Überfluss musste er sich auch noch mit einer eigensinnigen, wahrscheinlich kleiegesichtigen Göre herumschlagen.
„Wissen Sie, Mylord“, sagte der Kapitän nachdenklich, „St. Thomas ist eine kleine Insel, und Ihre Familie ist bekannt. Wenn Sie den Namen Wivenly verwenden, werden Sie Ihre Interessen nicht verbergen können.“
Will grinste. Er wusste genau, welchen Namen er benutzen würde. „Dann bin ich nun Mr. Munford, Kapitän. Ein bloßes Faktotum für den Grafen. Ich werde mich auf meine Diener verlassen müssen, um überhaupt etwas zu erreichen.“
„Sie waren seit Oxford nicht mehr Munford.“ Andrew lachte laut auf. „Nachdem dieses Mädchen versucht hat, Sie in die Ehe zu drängen, dachte ich, Sie hätten dem Namen abgeschworen.“
„Das ist Jahre her. Niemand in St. Thomas wird den Namen kennen.“ Will füllte sein Glas wieder auf. „Außerdem wird es nicht lange nötig sein.“ Wenigstens hoffte er, dass es das nicht war. Er würde seine Pflicht so schnell wie möglich erfüllen und sich dann dem eigentlichen Zweck seiner Reise widmen: Spaß haben und heiratswillige Damen und ihre Mütter meiden.
Am frühen Nachmittag legten sie an. Kapitän Black fand einen Fuhrmann für Wills Koffer und schickte eine Nachricht an das Queen Hotel wegen Zimmern.
Eine Stunde später drückte Will die Hand des älteren Mannes. „Ich hoffe, wir sehen uns wieder, bevor Sie sich wieder auf den Weg machen.“
„Das lässt sich bestimmt einrichten.“ Black zwinkerte Will verschmitzt zu. „Sir, Sie finden einen Schneider in der Hauptstraße, die die Dänen Dronningens Gade nennen, und auch sonst fast alles, was Sie brauchen.“
„Gibt es dort auch einen Drucker?“ Selbst wenn er seine falsche Identität nur für kurze Zeit benutzte, würde er Visitenkarten benötigen.
Der Kapitän nickte. „Ja, gleich in der Nähe des Schneiders. Meine Herren, genießen Sie Ihren Aufenthalt. Es war mir ein Vergnügen, Sie an Bord zu haben. Vielleicht machen wir im Frühjahr die Rückreise.“
Will neigte seinen Hut. „Vielen Dank, Kapitän, für Ihre Hilfe.“
Kapitän Black deutete auf eine Frau, die einen bunten Rock trug und sich gegen die Tür eines Gebäudes lehnte. „Ein weiser Ratschlag. St. Thomas hat den Ruf, die gesunde Insel zu sein, aber das gilt nicht für die Bordelle.“
„Danke für die Warnung.“ Nach über vier Wochen auf See brauchte Will unbedingt weibliche Gesellschaft, aber sein Geschmack war eher auf Witwen als auf Angehörige eines Bordells gerichtet. Er hatte nie Probleme gehabt, willige Frauen zu finden, selbst als er den Namen Munford benutzt hatte.
Andrews Kammerdiener Blyton stand bei Tidwell und sorgte dafür, dass der Fuhrmann ihr gesamtes Gepäck einsammelte. Die meisten von Wills Mänteln mussten ersetzt werden. Der Mantel, den er trug, war an den Schultern so eng, dass jede plötzliche Bewegung die Nähte aufreißen könnte. Und um die Mitte herum war er lockerer.
Sie gingen eine Seitengasse hinauf zur Main Street, bogen dann nach Osten ab und gingen einige Blocks weiter, bis sie zu einem großen Gebäude in einem Garten kamen, an dem ein Schild ankündigte, dass es das Queens sei. Will betrachtete das dreistöckige Gebäude. Das Erdgeschoss und der erste Stock hatten große Fenster, deren Läden auf einer Seite gegen die Nachmittagshitze geschlossen waren. Unter einem Walmdach säumten Dachgauben den zweiten Stock. Dort oben musste es heiß sein. Er fragte sich, ob seine Bediensteten dort wohl schlafen mussten.
„Da wären wir, Sir“, sagte der Fuhrmann. „Das beste Gasthaus in Charlotte Amalie.“
Andrew und Will wurden bald in einer großen Suite mit zwei Schlafzimmern, Ankleidezimmern und einem Salon untergebracht, den sie sich teilen würden. Kleinere Zimmer für ihre persönlichen Bediensteten befanden sich auf demselben Stockwerk. Alle Fenster boten einen Blick auf den Hafen und sorgten für eine gute Brise.
Nachdem sie sich eingerichtet hatten, traf sich die kleine Gruppe im Salon. „Griff“, sagte Will, „du musst eine Kutsche organisieren.“
„Sie müssen zu Fuß gehen, Mylord.“ Der Knecht grinste. „Diese Stadt hier ist wie Bath. Nach dem, was der Fuhrmann gesagt hat, gibt es auf dieser Seite der Insel keine Pferde.“
„Das kann doch nicht wahr sein.“ Das war eine unwillkommene Überraschung. Will warf einen Blick auf die Hügel um ihn herum. Wenn er während seines Aufenthalts zu Fuß unterwegs sein würde, müsste er vielleicht bald auch einen Schuster aufsuchen oder eine flachere Insel finden.
Griff wischte sich mit dem Hemdsärmel über Stirn und Augen. „Ich hoffe, wir gewöhnen uns bald an diese Hitze.“
„Es könnte sich abschwächen“, sagte Andrew. „Laut dem Portier des Hotels sind wir bereits in der Sturmsaison und das Wetter wird sich abkühlen.“
„Ich würde viel dafür geben, jetzt im Regen zu stehen.“ Griff nahm sein Taschentuch heraus und wischte sich das Gesicht ab.
„Mylord.“ Tidwell trat vorsichtig in den Raum, als könnte der Boden sich wie ein Schiff bewegen. Es würde wohl eine Weile dauern, bis sie alle wieder sicher auf den Beinen waren. Selbst Will spürte noch das Schaukeln des Schiffes. Er stöhnte. „Ich werde nie damit durchkommen, Mr. Munford zu sein, wenn ihr mich alle weiter als Lord bezeichnet.“
„Tut mir leid, Myl…“ Tidwell wirkte zumindest verlegen. „Mr. Munford, Sir, ich habe eine Wegbeschreibung zu einem Schneider und einer Druckerei. Ich schlage vor, Sie erledigen diese beiden Besorgungen so schnell wie möglich.“
Wie schaffte es Tidwell, selbst bei dieser Hitze einen kühlen Kopf zu behalten? „Zuerst möchte ich ein Bad nehmen und mich rasieren. Dieser Bart juckt.“
Der Diener verbeugte sich leicht. „Das Bad ist auf dem Weg.“ Er warf einen Blick auf Andrew. „Auch für Mr. Grayson.“
Andrew schloss die Augen, als erwarte er Glückseligkeit. „Danke, Tidwell. Du hast meine Gebete erhört. Blyton, sieh zu, dass das Rasiermesser scharf ist. Mr. Munford ist nicht der Einzige, der eine Rasur braucht.“
„Andrew“, fragte Will, „wann willst du Wivenly Import besuchen?“
„Während Sie Besorgungen machen, werde ich Mr. Howden unter dem Vorwand, das Geschäft zu kaufen, kennenlernen.“
„Ich bin gespannt auf seine Antwort.“ Will würde nicht eher zufrieden sein, bis er den Schlamassel, in dem die Firma seines Onkels steckte, bereinigt hatte, falls es überhaupt ein Problem gab. „Sobald wir wissen, wie die Lage ist, werde ich wieder Lord Wivenly sein können und die Witwe treffen.“
***
„Marisole“, rief Eugénie ihrer Zofe zu, „bist du schon fertig?“
„Ich wäre es, wenn Sie es wären. Ich hole Ihre Haube, Miss. Ich weiß, dass Sie es nicht getan haben.“
Eugénie verzog die Lippen zu einem reumütigen Lächeln, als ihre Zofe aus dem Ankleidezimmer trat. „Ich glaube nicht, dass wir sie vergessen könnten.“
„Non.“ Marisole verzog das Gesicht. „Sogar Dorat hat es mir gegenüber erwähnt.“
„Mamans Zofe wollen wir sicher nicht involviert haben. Also gut, gib sie mir.“ Eugénie nahm die breitkrempige Kopfbedeckung von ihrem Dienstmädchen, setzte sie auf und band das breite schwarze Band unter ihrem Kinn fest. „Na, bist du nun zufrieden?“
Marisole sah Eugénie kritisch an. „Jetzt sind Sie bereit. Dorat hat recht. Sie sind fast dunkel genug, um eine Mulattin zu sein, und das graue Kleid tut nichts für Sie.“
„Das lässt sich nicht ändern. Ich bin in Trauer.“ Eugénie blickte in den Spiegel und musste zugeben, dass ihre Zofe Recht hatte. Mit ihrer Bräune und dem langweiligen Kleid wirkte sie älter als ihre einundzwanzig Jahre. Schwarz wäre vielleicht ein besserer Farbton gewesen, aber ihre Mutter bestand darauf, dass sie in Halbtrauer ging. Sie zog ihre seidenen Strickhandschuhe an und nahm den Sonnenschirm von ihrem Dienstmädchen entgegen.
„Dorat sagt, dass Sie nicht mehr in Trauer sein müssen und wieder Farben tragen sollten.“
Eugénie ignorierte ihr Dienstmädchen. Ihr Beau-Papa war der einzige Vater, den sie je gekannt hatte, und wenn sie weiter um ihn trauern wollte, würde sie das tun. Papa würde es verstehen.
Auf halber Strecke der Treppe zur Stadt packte eine behandschuhte Hand ihren Arm.
Ihre Freundin Cicely Whitecliff holte tief Luft. „Halt. Ich habe gewunken, aber du bist einfach vorbeigegangen. Warum bist du so in Gedanken versunken, und wohin willst du so eilig?“
„Tut mir leid.“ Eugénie lächelte reumütig. „Ich habe nur nachgedacht.“ Eine Idee schlich sich in ihren Kopf. Sie konnte Marisoles Position nicht aufs Spiel setzen, indem sie sie um Hilfe bat, aber Cicely wäre perfekt. Sie wusste alles, was es über das Versandgeschäft zu wissen gab. „Ich gehe ein paar Bänder kaufen. Willst du mitkommen?“
„Ja, das ist auch mein Ziel.“ Sie verschränkte ihren Arm mit Eugénies. „Die Schiffe werden bald für ein paar Monate nicht mehr ankommen. Ich möchte nicht riskieren, dass sie mir ausgehen.“
Das bedeutete, dass alle anderen Frauen, die hellblaue, rosafarbene oder weiße Kleidung oder Bänder brauchten, bis November kein Glück haben würden. „Ich bin froh, dass wir nicht dieselben Farben tragen. Ich würde nie finden, was ich brauche.“
Als sie die Kongens Gade erreichten, bogen sie rechts ab. Eugénie musste ihren Plan bald in die Tat umsetzen. Sie senkte ihre Stimme. „Ich muss mit dir allein sprechen.“
„Ich nehme an, du willst nicht, dass Marisole das mitbekommt?“
„Ganz genau. Was sie nicht weiß, kann sie nicht verletzen.“
„Nun, dann …“ Cicely warf einen Blick auf das Dienstmädchen. „Komm auf dem Rückweg in meine Zimmer mit. Marisole kann sich mit meinem Dienstmädchen unterhalten, und wir beide werden es uns gemütlich machen.“
„Danke.“ Eugénie drückte den Arm ihrer Freundin. „Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun würde.“
Cicely lächelte. „Sie müssen es nie herausfinden.“
Eine Last fiel von Eugénies Schultern ab. Wenigstens war sie nicht mehr allein damit. Einige Minuten später betraten sie den Kurzwarenladen. Wie sie vermutet hatte, war der Vorrat bereits beinahe erschöpft. Sie hatte gerade ihren Einkauf bezahlt, als Cicely aufkeuchte.
„Ich habe ihn noch nie hier gesehen!“
„Wen?“ Eugénie ging zu einem der Schaufenster hinüber.
„Der hochgewachsene Mann mit den breiten Schultern und den herrlich gewellten blonden Haaren“. Cicelys Tonfall war von atemloser Erwartung geprägt. „Er sieht wie ein Gentleman aus.“
Eugénie starrte den Mann auf der anderen Straßenseite an. „Ich kenne ihn auch nicht.“
Cicelys blaue Augen hatten sich leicht geweitet, und ihr Atem ging ein wenig schneller. Eugénie hob ihren Blick zur Decke und schüttelte den Kopf. Ihre Freundin flirtete mit mehr Begeisterung als jeder, den sie kannte. Zum Glück erkannten alle Gentlemen, die sie hier kannte, dass alles in Unschuld geschah. Ein Gentleman von anderswo vielleicht nicht. „Ich dachte, du hättest gesagt, du würdest dir keinen anderen Mann ansehen, bevor du für deine Saison nach England gehst.“
Der Mund ihrer Freundin öffnete und schloss sich. „So etwas habe ich sicher nie gesagt.“ Cicely blickte wieder aus dem Fenster. „Und selbst wenn ich es getan hätte, würde es nicht für ihn gelten.“
Eugénie nahm ihre Freundin am Ellbogen. „Komm, ich muss Papier für Maman kaufen.“
„Vielleicht schaffe ich es, ihn anzurempeln“, sagte Cicely hoffnungsvoll.
„Wahrscheinlicher ist, dass du über deine Füße stolperst, wenn du ihn anstarrst, oder gegen jemanden stolperst, wo du es nicht willst“, antwortete Eugénie in ihrem bissigen Ton. „Wie kannst du in so einem Moment überhaupt an Männer denken? Wenn meine Familie in so großen Schwierigkeiten steckt?“
„Nur weil du es nicht tust … Oh, sieh mal.“ Ihre Freundin hielt inne. „Er geht in das Lagerhaus Ihrer Familie.“
Auch Eugénie hielt ruckartig inne. Es stimmte. Was hatte er dort zu suchen? Könnte dieser Fremde ein Grund dafür sein, dass die Firma in Schwierigkeiten steckte, oder dass Mr. Howden log? Ihr Herz pochte schmerzhaft gegen ihre Rippen, als sie die Befürchtung niederkämpfte, dass das Unternehmen tatsächlich in Schwierigkeiten steckte. Sie holte tief Luft und schüttelte sich. Noch ein Grund mehr, Cicelys Hilfe in Anspruch zu nehmen, um herauszufinden, was vor sich ging, und zwar sofort.
***
Als Will die Druckerei verließ, sah er Andrew in eine Gasse zwischen zwei Lagerhäusern gehen. Hoffentlich würde sein Freund erfolgreich sein. Will machte sich auf den Weg zu Mr. Whites Schneiderei. Er wollte gerade das Geschäft betreten, als eine junge Frau, die anscheinend ihre Freundin die Straße hinunterschleppte, in ihn hineinlief. Er streckte eine Hand aus, um sie vor einem Fall zu bewahren, und blickte in die wärmsten braunen Augen, die er je gesehen hatte. Locken in der Farbe von gerösteten Kaffeebohnen lugten unter ihrem breitkrempigen Hut hervor, und aus irgendeinem Grund konnte er sie nicht loslassen. Eine ganz andere Art von Hitze, die nichts mit dem Klima zu tun hatte, stieg in ihm auf.
Gott, war sie schön. Ihre rosigen Lippen schürzten sich kurz, bevor sich die Ecken ein wenig kräuselten. Noch nie in seinem Leben hatte ihn eine Frau so schnell beeindruckt. Will nahm ihre Hand und beugte sich über sie, während er ihren vierten Finger der linken Hand abtastete. Unter ihren Handschuhen war kein Ring zu spüren. Er stieß ein kurzes Gebet aus.
Bitte lass sie eine Witwe sein.
„Entschuldigen Sie, Ma’am.“ Er lächelte. Wenn sie eine Miss wäre, würde sie ihn korrigieren. „Ich habe wohl nicht darauf geachtet, wo ich hingehe.“
Ihre Augen weiteten sich, als sie ihn kühn zurückanstarrte. Als sich ihre Lippen leicht öffneten, konnte er sich fast nicht zurückhalten, sie zu küssen. Ihre weichen Lippen zu spüren. Ihren Mund und den Rest ihres Körpers zu erforschen.
„Nein“, antwortete sie leicht atemlos. „Ich glaube, es war meine Schuld.“
Ein Kichern veranlasste sie, den Blick abzuwenden. Die Begleiterin der Dame, das perfekte Abbild einer englischen Jungfrau – goldhaarig, gekleidet in Musselin und Spitze – kicherte erneut und erinnerte ihn daran, warum er sein Zuhause verlassen hatte. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der dunkelhaarigen Frau zu und wollte, dass sie ihm wieder in die Augen schaute, aber der Moment war verloren.
Sie errötete und blickte auf seine Hand, die immer noch ihre hielt. „Meine Freundin und ich müssen gehen.“
Leider konnte er ihr Gesicht nicht mehr sehen, aber ihre anziehende, akzentuierte Stimme ließ jeden Muskel in seinem Körper anspannen. Wer zum Teufel war sie, und wann konnte er sie wiedersehen? „Sir.“ Ihr Ton wurde kälter. „Ich muss darauf bestehen, dass Sie mich loslassen.“
Will war überrascht, wie schwer es war, seine Hand von ihrer zu lösen. Einen nach dem anderen löste er seine Finger von ihr. „Ja, natürlich. Ich wollte nur sichergehen, dass Sie stabil auf Ihren Füßen stehen.“ Oh Gott. Das klang selbst für ihn lächerlich. Die schlichte Tatsache war, dass er sie gar nicht loslassen wollte. Irgendetwas an ihr brachte ihn dazu, sie an sich ziehen zu wollen und sicherzustellen, dass die Frau wusste, dass sie zu ihm gehörte.
Plötzlich wurde Will klar, dass sie ihn abwies. Er konnte sich nicht erinnern, wann das das letzte Mal passiert war. Oder an das letzte Mal, dass er sich wegen einer Frau wie ein Narr benommen hatte. Als sie eine wohlgeformte Braue hob, verbarg er ein Lächeln und verbeugte sich erneut. „Ich mache mich dann mal auf den Weg.“
Die Frau neigte den Kopf und ging weiter die Straße hinunter. Will sah ihr noch eine Weile nach, bevor er die Schneiderei betrat. Er musste herausfinden, wer sie war. Die Klingel läutete, als er die Tür öffnete.
„Guten Tag, Sir“, sagte ein Mann mit einem, wie Will vermutete, dänischen Akzent.
Will blickte in das dunklere Innere des Ladens und wartete darauf, dass sich seine Augen von der hellen Sonne erholten.
Ein stämmiger junger Mann mit hellblondem Haar kam hinter dem Tresen hervor. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“ Zumindest nahm Will an, dass er das gesagt hatte.
„Ja.“ Der Duft der Frau, den er noch nie gerochen hatte, lag in der Luft und verlockte ihn. Er musste sie wiederfinden. „Ich brauche neue Anzüge und kennen Sie diese Frau, die gerade vorbeiging?“
Der Verkäufer lächelte. „Hoop om indruk Juffrouw Villaret?“
Das klang wie eine Art Deutsch. Mist, der Mann war verdammt schwer zu verstehen, obwohl Villaret französisch klang, was ihren Akzent erklären würde. Will konnte Deutsch, und die Bezeichnung klang wie Frau. Was bedeuten musste, dass sie verheiratet war. „Ist das ihr Name, Frau Villaret?“
Der Mann grinste.
Das war genau die Wendung, die Will wollte. Seine Stimme war ruhiger, als er sich fühlte, als er an die Eroberung der schönen Fremden dachte. „Na dann, Anzüge.“
Der Verkäufer wies Will in den hinteren Teil des Ladens und sagte etwas, das fast wie „eine Handvoll Arbeit“ klang. Auch wenn Will nicht alle Worte verstehen konnte, war der Ton des Angestellten unverschämt. Er verspürte den plötzlichen Drang, dem jungen Mann eine Ohrfeige zu verpassen, weil er über sie auf diese Weise gesprochen hatte. Verdammt! Jetzt konnte er sich nicht mal mehr nach ihr erkundigen.
Ein dünner, bebrillter, älterer Mann, der das Englisch des Königs sprach, trat aus einem Nebenraum ein. „Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, Mr. Linden, konzentrieren Sie sich auf Ihre Arbeit und nicht auf die Damen.“ Der Mann wandte sich an Will. „Ich bin Mr. Smith, der Besitzer.“
„Munford. Ich bin vor kurzem aus England gekommen.“
„Wir freuen uns über Ihren Besuch, Sir. Wenn Sie mir folgen wollen, werden wir Sie vermessen.“
Etwa eine halbe Stunde später läutete es an der Tür. Will schaute hinüber, um Andrew eintreten und kurz nicken zu sehen. Das musste bedeuten, dass sein Treffen mit Howden gut verlaufen war. Gut, vielleicht würde dieses Unterfangen reibungslos verlaufen und Will die Gelegenheit geben, mehr über die anziehende Mrs. Villaret zu erfahren.
Smith trat zurück und machte einen weiteren Vermerk in seinem Notizblock. „Wenn Sie morgen früh wiederkommen, Mr. Munford, habe ich einen Mantel zur Anprobe für Sie.“
„Danke. Kennen Sie ein Gasthaus oder eine Taverne in der Nähe, wo ich kaltes Wasser trinken könnte?“
„Das Happy Iguana ist die Straße runter. Biegen Sie rechts ab, wenn Sie aus dem Laden rausgehen. Es hat eine Bar im Erdgeschoss und einen Speisesaal im ersten Stock. Wenn Sie genug von Wasser haben, ist der Rum ausgezeichnet, ebenso der Brandy.“
„Nochmals vielen Dank, Mr. Smith.“ Will warf Andrew noch einen kurzen Blick zu, bevor er zur Tür hinausging. Sie konnten sich in der Taverne unterhalten. „Wir sehen uns dann morgen früh.“
Als Will auf den Bürgersteig trat, suchte er die Straße ab, aber natürlich gab es keine Spur von Mrs. Villaret. Es musste doch sicher einen Weg geben, sie zu finden. Er musste nur noch herausfinden, wie.
Kapitel 3
Eine Stunde später betraten Eugénie und ihre Freundin den großen Salon im unteren Stockwerk von Whitecliff Haus. Cicelys Wohnbereich bestand aus einem großen Raum, der auf der einen Seite von ihrem Schlaf- und Ankleidezimmer und auf der anderen Seite von einem kleinen Salon mit ihrem Klavier und ihren Büchern flankiert wurde.
Cicely bat um Kokosnusswasser. Nachdem ihr Dienstmädchen gegangen war, wies sie auf eine Couch, die an der hintersten Wand stand. „Hier kann uns niemand hören. Also, sag mir, was los ist.“
Mit ihren flachsfarbenen Locken und den großen kornblumenblauen Augen wirkte Cicely wie ein albernes hübsches Ding, aber sie hatte den schärfsten Verstand von allen, die Eugénie kannte. Sie kaute auf ihrer Unterlippe. „Ich muss einen Blick in die Geschäftsbücher werfen, ohne dass Mr. Howden mich dabei erwischt.“
„Warum das?“, fragte Cicely und zog das Wort in die Länge.
„Er hat Maman erzählt, dass sie Geld verliert.“
Cicely stieß einen lauten Seufzer aus und deutete ihr, weiterzureden. Eugénie erzählte ihr von ihrem letzten Versuch, die Bücher einzusehen, und von Mr. Howdens Drohung, zu kündigen.
„Hmm.“ Cicely schürzte gedankenversunken ihre Lippen. „Ich weiß nur, dass mein Vater noch nicht gehört hat, dass es um das Unternehmen Ihrer Familie schlecht bestellt ist.“
„Mr. Howden sagte, er wolle es geheim halten.“ Eugénie löste ihre Hutschnüre und legte ihn neben sich hin. „Es ist schlimm genug, dass Papa … weg ist.“ Sie kämpfte gegen die Tränen an, die zu fallen drohten. „Das ist furchtbar, aber jetzt macht sich Maman auch noch ständig Sorgen ums Geld. Nichts kann sie aufheitern.“
„Und du kannst sie nicht zur Einsicht bringen?“
„Nicht in diesem Fall.“ Eugénie presste ihre Lippen aufeinander. Es war nicht so, dass sie es nicht versucht hätte. „Sie ist zu verängstigt.“
„Nun, dann.“ Cicely zog eine lange Hutnadel heraus und nahm ihre Kopfbedeckung ab. „Wir werden uns einen Abend aussuchen und in die Büros gehen. Es wird wahrscheinlich besser sein, wenn ich dich einlade, die Nacht bei mir zu verbringen. Dann brauchen wir uns nur darum zu kümmern, dass wir uns wieder in mein Haus schleichen, und das ist leicht zu bewerkstelligen.“ Sie runzelte die Stirn. „Wir werden nicht viel Zeit haben.“
„Ja, das ist eine ausgezeichnete Idee. Es wäre mein Pech, dass eine meiner Schwestern aufwachen würde, wenn ich versuchen würde, mich in mein Haus zurückzustehlen.“ Da ihre Freundin ein Einzelkind war, hatte sie das Stockwerk für sich allein. Niemand würde sie beim Weggehen oder Zurückkommen bemerken. „Weißt du, wonach du suchen musst?“
„Natürlich.“ Cicely grinste. „Mein Papa hat mir gezeigt, was ich brauche, um die Firma zu führen. Schließlich habe ich keinen Bruder, der sie übernehmen könnte. Natürlich ist es sein sehnlichster Wunsch, dass ich einen Gentleman mit Erfahrung im Versandwesen heiraten werde. Aber sag es nicht weiter. Mama sagt, es würde potenzielle Verehrer abschrecken.“
Die Spannung, die Eugénie Kopfschmerzen zu bereiten drohte, ließ nach. Vielleicht würde es ihr jetzt gelingen, ihre Familie zu schützen. „Ich bin so froh, dass ich mich entschieden habe, mich dir anzuvertrauen. Ich wusste, dass es mir allein schwerfallen würde.“
„Du bist nicht allein.“ Cicely umarmte Eugénie. „Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um dir zu helfen. Wenn es sein muss, werden wir meinen Papa einbeziehen. Und jetzt sag mir, was du von dem blonden Herrn, den wir vorhin gesehen haben, hältst.“
„Dazu habe ich keine Meinung, aber ich frage mich, was er von Mr. Howden will.“ Eugénie konnte nicht anders, als die Stirn zu runzeln. Irgendetwas fühlte sich sehr falsch an.
Cicely schloss gequält die Augen.
Wenn Eugénie nichts sagte, würde ihre Freundin so lange über ihn reden, bis sie etwas sagte. Cicely konnte den ganzen Tag über Männer reden. Eugénie kapitulierte. „Oh, na gut. Ich nehme an, er war gutaussehend.“ Sie hielt einen Moment inne, bevor sie hinzufügte: „Wenn man diese Art Mann mag.“
„Dann ist es gut, dass ich das tue.“ Cicely lachte. „Ich werde Papa bitten, ihn zum Essen einzuladen. Es wird nicht schwer sein, ihn zu finden. Es ist eine kleine Insel und er ist neu.“
„Cicely Elizabeth Whitecliff!“ Eugénie konnte nicht glauben, wie dreist ihre Freundin sein konnte. „Du weißt nichts über ihn!“
Ein listiger Blick erschien auf dem Gesicht ihrer Freundin. „Nein, aber wenn ich Interesse zeige, wird Papa alles Nötige herausfinden.“ Sie weitete die Augen. „Überleg nur, wie viel Geld ich ihm erspare, wenn ich keine Londoner Saison brauche.“
Cicely hätte sicher Erfolg bei ihrer Saison. Doch nach allem, was Eugénie über die Engländer gehört hatte, war ihre eigene Hautfarbe zu dunkel, als dass sie in London als Schönheit gelten könnte. Warum sollte sie an einen Ort gehen, an dem man sie wegen ihrer braunen Haare und Augen bemitleiden würde? Und jetzt hatte sie vielleicht nicht einmal mehr Cicely, die ihr Gesellschaft leistete. Eugénie ließ sich auf das Sofa zurücksinken. „Ich fürchte, ich werde keine Wahl haben, wenn es um eine Londoner Saison geht. Maman redet davon, dass wir alle nach England reisen werden.“
„Oh nein!“ Cicely sprang sehr undamenhaft auf. „Ich würde dich nie wiedersehen.“
Der Gedanke, nicht bei ihrer allerliebsten Freundin zu sein, schnürte Eugénie die Kehle schmerzhaft zu. „Du könntest mich besuchen.“ Doch selbst für sie klang ein Besuch von Cicely unwahrscheinlich. „Nicht, wenn du wie eine arme Verwandte des Grafen behandelt wirst.“ Cicely ließ sich wieder auf das Sofa plumpsen. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass arme Verwandte keine Besucher empfangen dürfen.“
„Du hast wahrscheinlich recht.“ Eher früher als später mussten sie die Bücher prüfen. Wenigstens würde sie dann die Wahrheit erfahren. Wenn Howden allerdings log, wusste sie nicht, wie sie Maman gegenüber das Thema ansprechen sollte oder was sie tun sollte. Eugénie würde das einfach auf später verschieben müssen. „Lass uns morgen Abend zum Lagerhaus gehen. Da ist sonst nichts geplant.“ Cicely nickte. „Ich werde Mama bitten, eine Nachricht an deine Mutter zu schicken.“
„Bon. Dann wird alles gut.“ Sobald Eugénie herausgefunden hatte, wie es um Wivenly Imports stand, würde sie vielleicht selbst an den Grafen schreiben.
„Und ich“, sagte Cicely grinsend, „werde mich auf den Herrn konzentrieren können, den ich heute gesehen habe.“
Eugénie war vielleicht nicht an dem blonden Herrn interessiert, aber der andere, dem sie heute Nachmittag begegnet war, hatte etwas in ihr bewegt.
Sie spürte noch immer die Wärme seiner Hand auf ihrem Arm und den Blick, den er ihr zugeworfen hatte, als könne er ihre Seele sehen. Seine Lippen waren so geformt, als hätte ein Bildhauer sie aus Marmor gemeißelt. Auch der Rest seines Gesichts hatte nichts Weiches an sich. Seine Nase hatte eine leichte Beule, als ob sie einmal gebrochen gewesen wäre, und das bewahrte ihn davor, zu hübsch auszusehen. Sein Haar, soweit sie es sehen konnte, war braun mit goldenen Strähnen. Seine Augen waren saphirblau. Sie erinnerten sie an die Farbe des tiefblauen Wassers zwischen den Inseln.
Dies war jedoch nicht der richtige Zeitpunkt, um an Männer zu denken. Man sah viele Seeleute und andere Reisende, aber es war seltsam, zwei so gutaussehende neue Herren gleichzeitig in der Stadt zu haben. Vor allem einen, der sich für die Geschäfte ihres Vaters interessierte. Sie hoffte um Cicelys willen, dass ihre Bedenken unbegründet waren.
***
Will saß an einem Ecktisch im Erdgeschoss des Happy Iguana, weit weg von den Fenstern, aber wo noch eine leichte Brise zu spüren war. Am liebsten hätte er direkt vor den großen Öffnungen gesessen, aber er wollte nicht, dass das, was er und Andrew zu sagen hatten, belauscht wurde.
Sogar hier schien die Bandbreite der Hautfarben unendlich zu sein. Es war so anders als in England, wo es viele blasse Hauttöne gab. Ein paar gut gekleidete Männer betraten die Bar. Ohne die rot-weißen Federn auf ihren Hüten hätte Will sie für Weiße gehalten. Aber sie waren freie Männer und offensichtlich wohlhabend. Dennoch weigerten sich die Dänen, ihnen die gleichen Rechte zu gewähren wie den weißen Männern ihres Standes, selbst wenn sie frei geboren waren. Zum Glück hatten die Engländer den Sklavenhandel beendet. Eine junge Kellnerin mit hellbrauner Haut brachte kaltes Wasser und Kaffee. Sahne und Zucker lehnte er ab. Nachdem er vom Kapitän von der Notlage der Sklaven auf den Zuckerrohrplantagen gehört hatte, würde er alles tun, um den Zucker zu vermeiden. Wenn er nach Hause zurückkehrte, würde er darauf achten, nur Zucker aus Rüben zu verwenden. Er nahm einen Schluck und stellte den heißen Kaffee zum Abkühlen wieder hin.
Gedanken an Mrs. – das musste das gewesen sein, was der schwer zu verstehende Angestellte auf Deutsch gesagt hatte – Villaret stahlen sich in seinen Geist. Er schüttelte sich innerlich. Dies war nicht die Zeit für Selbstzweifel. Sie war genau das, was er gewollt hatte, und man sollte einem geschenkten Gaul nicht ins Maul schauen. Wer auch immer sie war, die Frau war überhaupt nicht schüchtern gewesen, als er sie angesprochen hatte. Eine Begleiterin vielleicht für die andere junge Dame? Sie war zu gut gekleidet, um ein Dienstmädchen zu sein, doch das Grau ihres Kleides passte nicht zu ihr. Zuerst hatte er gedacht, ihre Haut sei von der Sonne gebräunt worden, aber jetzt, nachdem er die verschiedenen Schattierungen gesehen hatte – lag es an der Sonne? Vielleicht war sie eine hellhäutige Mulattin, und das war der Grund, warum der Verkäufer sie „eine Armvoll Arbeit“ nannte, anstatt respektvoller zu sein.
Er war sich fast sicher, dass sie keinen Ehering getragen hatte. Wahrscheinlich hatte sie ihn verkaufen müssen, um über die Runden zu kommen. Wer auch immer Mrs. Villaret war, er hatte vor, sie intim kennenzulernen. Endlich eine Frau, die ihn nicht verfolgte, und wenn er auch ein bisschen dafür arbeiten müsste, wäre seine Eroberung umso süßer. Eine reizvolle Aufgabe, der er sich widmen würde, sobald sein Geschäft abgeschlossen war. „Will.“ Er riss den Kopf hoch, als Andrew auf den Platz gegenüber von ihm rutschte.
„Was lenkt Sie denn so ab?“ Andrew gab der Bedienung ein Zeichen. „Ich musste mich zweimal wiederholen, bevor Sie mich gehört haben.“
Üppiges, kastanienbraunes Haar und kühne Augen in der Farbe von feinem Brandy, mit einer Figur wie geschaffen fürs Liebemachen.
„Nichts.“ Will nahm einen Schluck von seinem Kaffee, der jetzt lauwarm war. Als die Bedienung herüberkam, bestellte er zwei Grog. Als die Getränke eintrafen, fragte er: „Was haben Sie herausgefunden?“
„Ich habe mich mit Howden getroffen und ihm gesagt, dass ich einen Herrn vertrete, der hier in ein Unternehmen investieren oder es möglicherweise kaufen möchte.“ Andrew nahm einen Schluck von dem Rum. „Es dauerte eine ganze Weile, aber ich ließ ihn in dem Glauben, mein Auftraggeber hätte ein großes Schifffahrts- und Importgeschäft. Nach einer ganzen Reihe von Gesprächen erzählte er mir ganz im Vertrauen“ – Andrew rollte mit den Augen – „dass die Firma zum Verkauf steht, der Besitzer aber Stillschweigen darüber bewahren möchte – und dass sie in bester Verfassung ist, nach Bristol Manier.“ Seine Augen funkelten schelmisch. „Was für den Uneingeweihten bedeutet, dass es sehr gut läuft.“
„Sie sind ja ein richtiger Schlauberger.“ Will versuchte, finster dreinzuschauen, was ihm nicht gelang. „Ich weiß, was der Satz bedeutet. Fahren Sie fort.“
„Jemand anderes ist daran interessiert, das Unternehmen zu kaufen.“
Will setzte das Glas ab, das er an seine Lippen geführt hatte. Er glaubte nicht, dass ihm das, was jetzt kam, gefallen würde. „Und?“
„Mehr hat er mir nicht anvertraut.“ Andrew nahm einen langen Zug seines Getränks.
„Niemand ist an meinen Vater herangetreten, um Wivenly Import zu kaufen, und er könnte ohne die Zustimmung meiner Tante ohnehin keine Entscheidung treffen.“ Das einzige Szenario, das Will sich vorstellen konnte, stammte direkt aus den Liebesromanen, die seine Schwestern lasen: Der heimtückische Bösewicht überredet die arme Witwe zum Verkauf und bereichert sich so. Es würde nur die junge Tochter fehlen, die der Schurke heiraten wollte. „Sie wollen mir doch nicht sagen, dass dieser Howden die Frau meines Onkels belogen hat?“
„Ich weiß es nicht.“ Andrew zuckte mit den Schultern. „Es scheint auf jeden Fall weit hergeholt zu sein. Aber es sind schon seltsamere Dinge passiert.“
Das war grotesk. Will kippte den Rest seines Drinks hinunter. „Wie kann er es wagen, einem Mitglied meiner Familie so etwas anzutun! Ganz zu schweigen von dem zusätzlichen Kummer, den er der Witwe meines Onkels bereitet hat.“
„Ich muss Ihnen noch etwas mitteilen.“ Andrew hielt einen Moment inne. „Ich konnte seine Bücher nicht sehen. Er sagte, er müsse die Erlaubnis des Besitzers einholen.“
„Wir müssen uns beeilen, falls er versucht, etwas zu verstecken.“ Will lenkte die Aufmerksamkeit der Bardame auf sich und bestellte zwei weitere Drinks. „Es ist Zeit, wieder ich selbst zu werden.“
„Wenn Sie das tun, verschrecken Sie ihn womöglich.“ Andrew starrte aus dem Fenster auf der anderen Seite des Raumes und begann zu lächeln. „Es muss einen zweiten Satz Bücher geben, den ich der Witwe zeigen kann, falls sie danach fragt. Da Mr. Howden mir die Konten nicht zeigen wollte, sollten wir wohl einen Mitternachtsausflug zu Wivenly Imports machen.“
Auch Wills Lippen bogen sich nach oben. Er hatte schon lange keinen richtigen Spaß mehr gehabt. „Einbrechen, meinen Sie?“
Andrews Blick war verschmitzt. „Genau das meine ich.“
Sie konnten nicht wirklich in Schwierigkeiten geraten. Schließlich war Wills Vater ein Treuhänder, und er hatte Dokumente, die ihn ermächtigten, im Namen seines Vaters zu handeln. „Wann?“
Sein Freund hob sein Glas. „Morgen Abend. Wir müssen jemanden losschicken, der Wache hält und herausfindet, wann das Büro öffnet und schließt und ob es einen Wachmann gibt.“
„Ich schicke Griff. Er braucht eine Beschäftigung.“ Will hob seinen Becher zu einem Toast. „Auf eine Mission, die schnell gelöst wird.“
***
Am nächsten Abend, kurz vor Mitternacht, halfen sich Eugénie und Cicely gegenseitig, dunkle Kleider anzuziehen. „Warum musst du das tragen?“ Cicely rümpfte die Nase. „Es stand dir auch nicht, als es neu war. Ich weiß immer noch nicht, warum du es gekauft hast. Es ist überhaupt nicht wie deine anderen.“
„Es ist das einzige Kleid, das man nicht vermissen würde, wenn ihm etwas zustößt.“ Eugénie legte sich den Mantel über die Schultern. Ihre Freundin hatte Recht. Mit dem hohen, gesteckten Mieder aus Köper müsste man einen viel längeren Hals haben als sie, um es bequem zu tragen. Die dunkle Farbe, die eher dem matten Farbton des Gemüses ähnelte als dem schönen Purpurrot, das man normalerweise mit Auberginen assoziiert, ließ sie krank aussehen. Selbst nachdem sie den leuchtend gelben Saum entfernt hatte, war das Kleid immer noch hässlich.
Sie hatte es nur gekauft, weil ihr die Näherin leid tat. „Meine Magd sollte es für Lumpen zerschneiden, aber ich habe ihr gesagt, dass ich es schon gemacht habe. Ich wusste, dass es eines Tages nützlich sein würde.“
Cicelys Lippen verzogen sich. „Wer weiß, was die Leute denken würden, wenn sie dich so sehen würden.“
„Das Wichtigste ist, nicht gesehen zu werden.“ Eugénie drückte Cicelys Mantel in ihre Hände. „Können wir nun bitte losgehen?“
Als sie das Tor erreichten, das auf die Step street führte, erwartete Cicelys Diener Josh sie. Er musste in sie verliebt sein, um ein solches Risiko einzugehen. Wenn man sie erwischte, würde man ihn entlassen. Aber Cicely konnte Männer schon immer um den Finger wickeln.
Die drei gingen vorsichtig die Step Street hinunter und bewegten sich so leise wie möglich. Ob es nun an dem Wasser lag, das die Insel umgab, oder an etwas anderem, der Schall verbreitete sich hier schnell. Nachdem sie die Dronningens Gade erreicht hatten, hielten sich Eugénie, Cicely und Josh an den Seiten der Gebäude in den Schatten. Bald erreichten sie die langen, rechteckigen Lagerhäuser, die sich bis zum Wasser hinzogen. Jedes Gebäude war durch eine schmale Gasse von seinem Nachbarn getrennt. Brandgefahren, hatte Papa sie genannt. Er war der Erste, der sein Lagerhaus aus Ziegeln gebaut und ein zweites Stockwerk hinzugefügt hatte. Schließlich erreichten sie das Gebäude, in dem sich der Zugang zu Wivenly Imports befand.
„Wie bist du an den Schlüssel gekommen?“, flüsterte Cicely.
„Ich bin davon ausgegangen, dass Maman vergessen hat, ihn aus Papas Schreibtisch zu nehmen. Und jetzt seien Sie still. Wir können nicht riskieren, dass uns jemand hört.“
Sie bog in die stockfinstere Gasse ein, in der der Eingang lag. Selbst die Sterne konnten die Dunkelheit hier nicht durchdringen. Eugénie fuhr mit den Fingern an der verputzten Wand entlang, bis sie an der erhöhten Kante einer Türöffnung ankam. „Josh, mach die Laterne ein wenig auf. Ich muss das Schloss sehen können.“
Ein schmaler Lichtstrahl bewegte sich, bis er vor der Tür stehen blieb. Eugénie zog vorsichtig den Schlüsselbund aus ihrer Manteltasche, wobei sie versuchte, das Klirren zu vermeiden, und begann, die Schlüssel auszuprobieren, die am ehesten passen würden. Das einzige Geräusch war ihr Atem und das Klopfen ihres Herzens in ihren Ohren. Ihre Hände waren plötzlich feucht, als das Geräusch des sich öffnenden Schlosses viel lauter erschien, als es wahrscheinlich war.
Die Tür schwang auf gut geölten Scharnieren auf. „Komm, schnell.“ Cicely fegte vorbei, gefolgt von Josh. Eugénie schloss die Tür.
Ihre Freundin nahm dem Lakaien die Laterne ab. „Josh, du bleibst hier.“ Die Laterne schwenkte durch den Raum. „Wo müssen wir hin?“
„Nach oben.“
Wenige Augenblicke später betraten sie ein schlicht eingerichtetes, mit Regalen ausgestattetes Zimmer. Eugénie war dankbar, dass alle Fensterläden fest verschlossen waren und kein Licht durchdringen konnte. „Also, wo fangen wir an?“
„Beginnen wir mit dem Bankbuch, das direkt nach dem Tod Ihres Vaters datiert ist.“ Cicely zog geschäftsmäßig ihre Handschuhe aus. „Das sollte uns sagen, wann die Dinge anfingen, schiefzulaufen.“
Reihenweise füllten dicke Aktenbücher die Regale. Eugénie hatte nicht bedacht, wie viele es waren. Würden sie in der kurzen Zeit, die ihnen blieb, finden, was sie brauchten? „Weißt du, wie sie aussehen?“
„Gib mir das Licht“, antwortete Cicely. „Ich werde es wissen, wenn ich sie sehe.“
Eugénie übergab die Laterne und beobachtete beeindruckt, wie Cicely die Bücher schnell durchblätterte, bis sie das Gewünschte gefunden hatte.
„Das ist es.“ Sie trug zwei der Bücher zum Schreibtisch hinüber und setzte sich hinter den Schreibtisch. „Mal sehen, was es mir sagt.“
Eugénie wusste nicht, was sie tun sollte, und holte einen kleinen Holzstuhl heran, um sich neben ihre Freundin zu setzen.
Eine Stunde später, nachdem sie die Geschäftsbücher der letzten sechs Monate durchgesehen hatte, rieb sie sich die Augen. „Nichts davon macht Sinn. Dem Unternehmen geht es noch besser als zuvor. Warum sollte …“
„Sieh an, sieh an“, kam eine tiefe Stimme von der Tür. „Was haben wir denn hier?“
Eugénie sank das Herz und klopfte unwillkürlich schnell. Es war der Mann, dem sie gestern begegnet war. Während sie mit dem Sprechen kämpfte, richtete Cicely ihre großen blauen Augen auf den Begleiter des Mannes. Wollte sie tatsächlich in einem solchen Moment flirten? Eugénie öffnete den Mund, um zu sprechen, aber es kam nichts heraus.
Cicely erhob sich von ihrem Stuhl so geschmeidig, als wäre sie auf einem Ball. „Ich fürchte, meine Herren, wir sind im Nachteil.“
Großer Gott, sie würde ihnen noch mehr Ärger einbringen. Eugénie erhob sich, sodass sie neben Cicely stand, und strich mit der Hand über ihre Röcke, bereit, ihren Dolch zu ziehen, wenn es nötig war. Sie würde vielleicht sterben, aber nicht ohne einen Kampf.
Der dunkelhaarige Mann verbeugte sich. „Mr. William Munford, zu Ihren Diensten. Dies“, sagte er und deutete auf seinen Begleiter, „ist Mr. Andrew Grayson.“ Mr. Grayson verbeugte sich ebenfalls.
Sie warteten, wahrscheinlich darauf, dass sie und Cicely ihre Namen nennen würden, aber selbst Cicely würde nicht so weit gehen. Als die beiden Herren ins Licht traten, identifizierte Eugénie den zweiten Mann als den, den ihre Freundin gestern noch angehimmelt hatte. Doch im Vergleich zu Mr. Munford war Mr. Grayson leicht abzutun. In dem abgedunkelten Raum sah Mr. Munford noch besser aus als auf der Straße, und die Art, wie er sie musterte, ließ ihn noch gefährlicher erscheinen. Das Licht der Laterne fing Goldnuancen in seinem braunen Haar ein und ließ sie wie spanische Münzen glänzen. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals runter. „Was machen Sie hier und wo ist Josh?“
Mr. Munford hob eine Braue, und sein Mund verzog sich zu einem schmalen Strich. „Ich nehme an, Sie meinen mit Josh den Jungen, der unten bei der Tür schnarcht?“
Sie warf Cicely einen Blick zu, die mit den Schultern zuckte, als ob es nichts ausmachte, dass ihre Wache nicht wach bleiben konnte und sie von zwei sonderbaren Männern angesprochen wurden.
„Und wir sind hier“, fuhr Mr. Munford fort, „da ich beauftragt wurde, den Status des Unternehmens zu überprüfen.“
Eugénie holte tief Luft. Konnte es sein, dass Hilfe gekommen war? „Von wem?“
Er durchbohrte sie mit einem strengen Blick. „Von Watford, natürlich. Als Familienoberhaupt ist er um das Wohl von Mrs. Wivenly und den Kindern besorgt.“
„Der Graf von Watford?“
„Natürlich, wer sonst?“
Ihr kurzes Gefühl der Erleichterung wich der Beklemmung. Sie unterdrückte den Drang, zu stöhnen. Das wurde nur noch schlimmer. Was, wenn er zu ihr nach Hause ging? Wenn Maman von ihrem nächtlichen Ausflug erfuhr – ein Schauer lief ihr über den Rücken –, wäre das katastrophal. Und Mr. Munford! Er würde ihre Identität aufdecken, und aus irgendeinem Grund, abgesehen von der Wahrscheinlichkeit, dass er sie an Maman verraten würde, wusste Eugénie, dass das eine sehr schlechte Sache wäre. Sie musste jede weitere Begegnung mit ihm vermeiden. Vielleicht sollten sie und Cicely die Bücher den Männern überlassen. Vorausgesetzt, sie würden sie und Cicely gehen lassen. Wie waren sie nur in diesen Schlamassel geraten, und was wollten sie nun tun?