Leseprobe Die Lady und das ungezähmte Land

Prolog

Winchester, England

1072

Lady Tanon Risande atmete so tief ein, wie sie nur konnte. Sie wollte einen markerschütternden Schrei ausstoßen und damit ihren Vater wissen lassen, dass sie in Gefahr war. Doch dann traf ein Stein ihre Schulter, und es kam ihr nur ein erschrockener Laut über die Lippen. Sekundenlang schwankte sie auf dem dicken Ast, auf dem sie sich niedergelassen hatte, vor und zurück und riss entsetzt ihre grünen Augen auf. Mit rudernden Armen versuchte sie vergeblich, irgendwo Halt zu finden – dann plumpste sie ins Gras.

Wären da nicht diese Lichter gewesen, die vor ihren Augen hin und her tanzten, hätte sich Tanon zweifellos übergeben. Oh, wäre es nicht wunderbar gewesen, wenn sie dabei Roger deCourtenay getroffen hätte? Daran musste sie denken, während sie außer ein paar Grashalmen auch einen kleinen Kieselstein ausspie.

Tanon hörte Roger lachen, noch bevor sie den Kopf heben konnte, um ihn finster anzusehen. Jedenfalls war es das, was sie eigentlich machen wollte. Oui, so wie ihr Vater die Köchin angeschaut hatte, als er sich an einem Stein im Brot fast einen Zahn ausgebissen hätte. Sie versuchte, ihre Nasenflügel aufzublähen und die Augen düster und bedrohlich zusammenzukneifen, ganz so, wie William es ihr beigebracht hatte. Aber ihre Unterlippe begann zu zittern, und dann stiegen ihr auch noch Tränen in die Augen.

Roger lachte noch lauter als zuvor, so laut sogar, dass ihm schier die Luft wegblieb. Er krümmte sich vor Lachen, drückte eine Hand auf seinen Bauch und hielt sich die andere vor den Mund. Dabei schien ihm auf einmal der Gedanke zu kommen, jemand, der zufällig des Wegs kam, könnte vielleicht nicht verstehen, worüber er so schallend lachen musste. Also nahm er die Hand vom Mund und zeigte stattdessen mit dem Finger auf Tanon, während er zu erneutem Gelächter ansetzte. Auch ohne Zuschauer wäre das ganze Schauspiel für sie äußerst demütigend gewesen, aber selbst diese Schmach blieb ihr nicht erspart, denn die meisten auf Winchester Castle lebenden Kinder waren anwesend.

Tanon konnte es Hilary und Janie Pendleton nachsehen, dass sie über sie lachten, weil sie noch etwas jünger waren und gar nicht wussten, wie unhöflich ihr Benehmen eigentlich war. Henry und Thomas Drake hatten nervös dreingeschaut, als Roger mit Steinen nach ihr warf. Doch so wie alle anderen schwiegen auch sie beharrlich. Lieber Tanon als ich, sagte sich jedes der Kinder insgeheim. Sie alle hatten Angst vor Roger, und Tanon erging es ganz genauso. Allerdings war das nicht der Grund, warum sie nicht den Stein aufhob und ihn nach Roger warf. Sie verkniff es sich, weil er es dann seinem Vater, dem Earl of Blackburn, und der es wiederum dem König erzählen würde. Und Tanon wollte auf keinen Fall, dass William ihr böse war. Angst hatte sie vor dem König nicht, ganz im Gegenteil, sie liebte den König fast so sehr wie ihren eigenen Vater. Er konnte die besten Grimassen schneiden, noch besser als die finstere Miene, die Mamas Kammerzofe Elsbeth manchmal aufsetzte.

Tanon wusste, Roger konnte sie nicht leiden. Nicht nur, dass sie sich weigerte, bei seinen grausamen Scherzen mitzumachen, wenn er Ameisen in die Ziegenmilch warf oder die Pfoten der Katze Chloe mit Baumharz einrieb. Nein, sie wies ihn auch jedes Mal zurecht, weil er ein solcher Tyrann war. Allerdings hielt ihn das nicht von seinen gehässigen Streichen ab. Als sie zu weinen begann, während sie zusah, wie Chloe vergeblich versuchte, ihre Pfoten vom Boden zu lösen, machten sich Roger und die anderen eine ganze Woche lang über sie lustig.

Im Augenblick war es ihr völlig egal, warum er sie nicht leiden konnte. Von ihm dazu angespornt, lachten die anderen Kinder sie aus und grunzten wie Schweine, wenn sie ihr begegneten, weil ihre beste Freundin Petunia ein Schwein war. Einen kleinen Trost gab es dennoch: Keines der Kinder hatte sie je geschlagen – bis heute. Immerhin war Tanon die Tochter von Lord Brand Risande. Und wenn jemand ihr etwas antat, dann konnte ihr Papa noch gemeiner sein als Roger.

„Tanon ist wie ein mageres Hühnchen aus dem Baum gefallen!“, jubelte Roger schadenfroh. Als er sah, dass Tanon ihre kleinen Fäuste ballte, wurde er sofort ernst und kam mit stampfenden Schritten auf sie zu. Zufrieden darüber, dass seine düstere Ausstrahlung sie vor Angst blass werden ließ, bleckte er die Zähne und fuchtelte mit der Faust vor ihrem Gesicht herum. Seine blonden Haare fielen ihm in die Augen und über die mit Sommersprossen gesprenkelte Stirn. „Wenn du davon ein Wort deinem Vater sagst, werde ich deinem Schwein die Haut abziehen und es zum Abendessen verspeisen.“

Entsetzt riss Tanon den Mund auf, zwei Tränen fanden den Weg über ihre langen schwarzen Wimpern und liefen über ihre Wangen. Roger sah genauer hin, dann krümmte er sich abermals vor Lachen und zeigte dabei auf ihren Mund.

„Die zahnlose Tanon!“, rief er und vollführte ein Tänzchen auf dem Rasen, wobei er sich wieder den Bauch halten musste.

Tanon presste die Lippen zusammen, fuhr aber mit der Zungenspitze über ihre Zähne, bis sie die Lücke bemerkte. Sie ließ ihren Blick über das hohe, sommerlich grüne Gras wandern, bis sie den fehlenden Zahn entdeckte. Bevor Roger etwas von ihrem Schluchzen mitbekommen konnte, machte Tanon auf der Stelle kehrt und lief davon.

Dabei rannte sie dem von ihr so geliebten William geradewegs in die Arme.

„Aber, aber, wohin willst du denn, Kleine?“ William legte seine riesigen Hände auf ihre Schultern und setzte ihrer Flucht ein jähes Ende. Als Tanon sich die Augen wischte und den Blick gesenkt hielt, hockte er sich vor sie hin, um ihr ins Gesicht zu sehen. Als Tanon zu ihm hochspähte, musterte er sie so ernst, dass sie sich wünschte, auch so finster dreinblicken zu können wie er. „Möchtest du mir sagen, wer dich zum Weinen gebracht hat?„, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf, dennoch entging ihr nicht, dass er Roger und die anderen am Fuß des Hügels argwöhnisch musterte. Im nächsten Moment hob William sie sanft hoch. Tanon war davon überzeugt, dass er größer sein musste als der Baum, von dem sie eben gestürzt war, aber er würde sie nie fallen lassen. Deshalb konnte sie sich auch bedenkenlos an seine breite Brust schmiegen. Endlich war sie in Sicherheit, denn er war der König.

„Ma précieuse“, sagte er erfreut, als sie ihm ihr dankbarstes, von Grübchen eingerahmtes Lächeln schenkte. „Wusstest du, dass dir ein Zahn fehlt?“ Daraufhin vergrub sie das Gesicht an seinem Hals und begann herzzerreißend zu weinen, während er über ihre schwarzen Locken strich.

Ihr Papa war von ihrem Anblick noch weniger erfreut als sie selbst, nachdem sie sich in Mamas winzigem Spiegel betrachtet hatte. Es gefiel ihr überhaupt nicht, doch sie würde ihren Papa anlügen müssen – ihr blieb einfach keine andere Wahl. Bestimmt würde Gott ihr vergeben, denn immerhin stand Petunias Leben auf dem Spiel.

„Ich sage dir doch, ich bin vom Baum gefallen, Papa“, beharrte sie, nachdem er sie in Williams Privatgemächern lange Zeit befragt hatte.

„Und niemanden trifft die Schuld an deinem Sturz, Tanon?“ Lord Brand Risande ging vor seiner Tochter auf und ab und hielt die Hände auf dem Rücken verschränkt.

Obwohl er sie mit einem wunderbar warmen Ausdruck in den Augen betrachtete, musste Tanon schlucken und beten, dass er ihr ihre Lüge nicht ansah. Sie schüttelte den Kopf, da sie Angst hatte, ein Wort zu sprechen. Vielleicht besaß ihr Vater eine geheime Fähigkeit, mit der er am Tonfall in ihrer Stimme erkennen konnte, dass sie nicht die Wahrheit sprach.

„William sagte mir, er habe Roger deCourtenay und die Drake-Jungs gesehen. Und die haben ganz sicher nichts damit zu tun, dass du vom Baum gefallen bist und dir einen Zahn ausgeschlagen hast?“

Tanon dachte die ganze Zeit nur an Petunias große braune Augen und an den rundlichen kleinen Körper des Tiers, um bei ihrer Darstellung der Geschehnisse zu bleiben. Niemals würde sie irgendjemanden in Gefahr bringen, den sie liebte, selbst wenn dieser Jemand ein Tier war. Dennoch konnte sie ihren Papa nicht ansehen, als sie antwortete, sondern spielte mit den farbenfrohen Stickereien auf ihrem Kleid. „Non, Papa. Die hatten damit nichts zu tun.“

Brand sah zu William, der es sich in einem großen Sessel neben dem Kamin bequem gemacht hatte. Er wusste, seine Tochter stolperte oft über ihre eigenen Füße, und sie konnte ohne Weiteres vom Baum gefallen sein, doch die Art, wie sie auf dem Stuhl hin und her rutschte, verriet ihm nur zu deutlich, dass sie ihn anlog. Wen wollte sie bloß beschützen? Als Antwort auf die unausgesprochene Frage zuckte William nur mit den Schultern.

„Tanon.“ Papas Stimme war so sanft und beschwichtigend, dass sie wie durch Zauberei den Kopf hob und ihm in die Augen sah. „Du bist meine älteste Tochter. Du darfst nie vergessen, dass du für deine Brüder stets ein gutes Vorbild sein musst und die Wahrheit sprechen sollst. Ich möchte es gern wissen, wenn es jemanden gibt, der dich unglücklich macht. König William hat uns für den Sommer in sein Heim eingeladen, weil er gehofft hatte, dass es dir Spaß macht und dass du vielleicht die eine oder andere Freundschaft schließt.“

„Oh, aber das habe ich doch gemacht, Papa.“ Sie grinste ihn an und präsentierte damit die Zahnlücke an jener Stelle, an der sich kurz zuvor noch ein Schneidezahn befunden hatte. „Petunia ist meine Freundin.“

„Petunia ist ein Schwein“, erwiderte ihr Vater freundlich und brachte William dazu, Tanon belustigt anzulächeln.

Tanon nahm keine Notiz von der geringen Meinung, die er von ihrer besten Freundin hatte. Sie liebte Petunia, und sie war sich sicher, dass Petunia sie im Gegenzug ebenfalls liebte.

„Deine Mutter hat sich über deinen Sturz sehr aufgeregt“, ließ Papa sie wissen, und schon wieder fühlte sie sich schrecklich. „Du hättest dir dabei das Genick brechen können, anstatt dir nur einen Zahn auszuschlagen. Jetzt sag mir, was wirklich geschehen ist.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie abwartend an.

Unruhig rutschte sie hin und her, dann sah sie zu William, der ihr zuzwinkerte. „Papa?“

„Oui?“

„Hast du mal einen besten Freund gehabt?“

„William ist mein bester Freund.“

Tanon lächelte William breit an und freute sich, dass Papa ihn fast so gern hatte wie sie selbst. „Würdest du nicht auch alles versuchen, damit böse Jungs ihm nicht wehtun?“

Ihr Papa nickte, dann kam er zu ihrem Stuhl und kniete sich vor ihr hin. „Haben böse Jungs dir gesagt, sie würden Petunia etwas antun?“

Erschrocken riss sie den Mund auf. „Non!“ Sie konnte nicht fassen, wie schlau ihr Papa war! Woher wusste er, dass sie Petunia meinte? Oh nein, jetzt würde die liebe, süße Petunia ganz sicher auf Roger deCourtenays Teller enden! Tränen stiegen ihr in die Augen, ihre Unterlippe begann zu zittern. Sie sah zu William, weil er ein so nettes Gesicht hatte. Sie musste aufhören zu weinen, damit ihr Papa nicht wütend wurde und Roger deCourtenay verprügelte.

„Dein Papa würde alles tun, damit mir nichts geschieht, meine Kleine“, ließ William sie wissen und stand auf. Mehr tat er nicht, aber er setzte damit Papas beharrlichen Fragen ein Ende. „Und ich würde es sogar als ehrbar bezeichnen, wenn jemand auch mal die Unwahrheit spricht, nur um jemanden oder etwas zu beschützen, das ihm am Herzen liegt.“ Er beugte sich vor und gab Tanon einen Kuss auf den Kopf. „Oui, wirklich ehrbar. Findet Ihr nicht auch, Brand?“

„Allerdings, William.“ Ihr Papa lächelte sie an, woraufhin Tanon erleichtert ausatmete. „Geh zu deiner Mutter, damit sie deine Frisur in Ordnung bringt. Und, Tanon“, rief er ihr nach, als sie von ihrem Stuhl sprang und zur Tür eilte, „du kletterst nicht wieder auf irgendeinen Baum.“

Sichtlich enttäuscht nickte sie, widersprach ihm jedoch nicht.

„Sie hat mich angelogen, um ein Schwein zu beschützen.“ Brand schenkte zwei Krüge Ale ein und reichte einen davon William, ehe er selbst Platz nahm.

„Oui“, gab William mit einem Lächeln zurück, das nicht zufriedener hätte sein können, würde jemand Hereward den Geächteten auf dem Burghof aufgeknüpft entdecken. „Es kommt selten vor, dass ein junger Mensch solchen Mut und derartige Hingabe besitzt, Brand. Brynna hat sie gut erzogen.“

Brand lachte leise und lehnte sich in seinem Sessel nach hinten. „Ihr seid ein verheirateter Mann, William. Wann werdet Ihr endlich aufhören, Euch nach meiner Frau zu verzehren?“

„Niemals“, antwortete der König, trank sein Ale in einem Zug aus und seufzte tief.

„Wales?“, fragte Brand, da er wusste, was seinem langjährigen Freund Sorgen bereitete.

Oui, Wales. Diese Waliser sind hartnäckige Bastarde. Merde, Brand, das sind Wilde.“

„So ist es mir zu Ohren gekommen.“

„Ich kann gut verstehen, warum sich der mercische König Offa vor Jahrhunderten so energisch dafür einsetzte, sie nicht nach England vordringen zu lassen. Ihre Prinzen bekämpfen sich gegenseitig mit dem gleichen Eifer, mit dem sie uns gegenübertreten. Zu unserem Glück haben all diese internen Auseinandersetzungen sie geschwächt. Meine Markgrafen waren in der Lage, sie am Überschreiten der Grenze zu hindern. Dennoch gibt es Widerstand gegen unsere Besetzung, und Herefordshire hat besonders hohe Verluste erlitten.“

„Ja, ich weiß“, entgegnete Brand. „Hugh La Morte hat dort im letzten Frühling seine gesamte Garnison verloren.“

„Oui.“ William nickte und schaute in das knisternde Kaminfeuer. „Brand, ich habe mich vor Kurzem mit einem walisischen Prinzen getroffen, einem Nachkommen von Fürst Rhodri und dem Sohn von Tewdwr Mawr, der vor vielen Jahren der Fürst von Deheubarth im Süden war. Rivalisierende Prinzen versuchen, ihm seine vererbten Territorialrechte streitig zu machen, doch ich zweifle nicht daran, dass er eines Tages über das gesamte südliche Wales herrschen wird. Ich habe noch keinen Mann so kämpfen sehen wie ihn. Er bewegt sich schnell wie ein Windhauch.“

„Plant Ihr, ihm dabei zu helfen, Fürst des Südens zu werden, William?“

Der König zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Er ist ein intelligenter Mann. Ich glaube, wenn es ihm gelingt, den Thron von Deheubarth zu besteigen, dann könnten wir durchaus in der Lage sein, einen stabilen Frieden zwischen unseren Völkern zu erreichen. Die Marken entlang des mittleren Abschnitts von Wales sind bereits so gut wie sicher, die Angriffe auf unsere Leute haben nahezu aufgehört. Ich wünschte nur, das könnte man auch vom Süden sagen.“

Brand nickte und hörte ihm aufmerksam zu. Er wusste, William machte in Wahrheit etwas viel Wichtigeres zu schaffen.

„Ich habe ihn nach Winchester eingeladen, damit er sich mit Euch trifft. In zwei Tagen trifft er mit seinen Neffen hier ein.“

„Mit mir treffen?“ Brand lachte ungläubig. „Wieso?“

Williams dunkle Augen begegneten Brands Blick. Das Bedauern, das Brand in diesen Augen sah, ließ ihn ernst werden. „Wieso, William?“, wiederholte er seine Frage, diesmal mit mehr Nachdruck.

„Weil ich Tanon Rhys’ Bruder Cedric versprochen habe, mon ami.“

Brand sprang mit einem Satz auf, seine Augen waren ungläubig aufgerissen, dann stieg Zorn in ihm auf. „Ihr wollt meine Tochter opfern, um Euch die Untertanentreue einer Horde von Wilden zu sichern?“

Diesmal wich William seinem Blick aus. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich vor Augen zu halten, wie sehr er Tanon und deren Eltern liebte. Dies war der Zeitpunkt, um König zu sein und Entscheidungen zum Wohle Englands zu treffen. „Non. Ich will mir die Loyalität einer Familie sichern, die genug Macht besitzt, um einem Widerstand ein Ende zu setzen, der noch hundert Jahre oder länger anhalten und mehr Menschenleben kosten könnte, als ich mir vorzustellen fähig bin. Ich selbst habe verfügt, dass die Markgrafen über das Land herrschen können, das sie bewohnen. Was sich dort abspielt, entzieht sich fast völlig meiner Kontrolle. Aber ich muss zeigen, dass ich den Frieden unterstütze.“

„Indem Ihr meine Tochter weggebt?“

„Mein Patenkind“, machte William ihm in düsterem Tonfall klar. „Verzeiht mir.“ Er legte eine Hand auf Brands Schulter, als er an ihm vorbeiging. „Ich bin von Feinden umgeben.“

 

Tanon war neugierig, seit sie gehört hatte, wie ihr Kindermädchen Rebecca sich über die Ankunft des „wilden Walisers“ auf Winchester unterhielt. Sie wusste nicht, wer dieser wilde Waliser sein sollte, sie war jedoch zu der Ansicht gelangt, dass er von großer Bedeutung sein musste. Als sie hörte, wie Papa ihrer Mama davon erzählte, William habe diesem Waliser etwas sehr Kostbares versprochen, da war Mama noch Stunden später in Tränen aufgelöst gewesen.

Tanon wollte hübsch aussehen an dem Tag, an dem der wilde Waliser hier eintraf, denn sie war Williams Freundin. Sie ließ sich sogar von Rebecca und Alysia an den Locken ziehen, ohne sich auch nur ein einziges Mal zu beklagen. Welchen Eindruck sollte es denn auf die Gäste machen, wenn Williams Freunde so schmutzig waren, als seien sie eben aus einem Schweinestall gekommen? Natürlich machte es Tanon selbst gar nichts aus, im Stall mit Petunia zu spielen. Es bereitete ihr sogar so viel Vergnügen, dass sie anschließend aus freien Stücken ein Bad nahm.

Sie wünschte nur, sie dürfte auch mit den Pferden spielen, vor allem mit Onkel Dantes weißem Pferd. Ayla war mit der schneeweißen Mähne und ihren wilden Augen eine solche Schönheit. Alle anderen hatten Angst vor ihr, nur nicht Tanon, und sie hoffte sogar, eines Tages auf diesem Pferd reiten zu dürfen.

„Na, du siehst heute Morgen ja wirklich reizend aus“, sagte William zu ihr, nachdem sie begleitet von ihren Eltern den Thronsaal betreten hatte und vor dem besonderen Stuhl stehen geblieben war, auf dem der König saß.

„Vielen Dank, William.“ Sie grinste ihn breit an, ohne an ihre Zahnlücke zu denken, und flüsterte ihm zu: „Ihr könntet das auch zu Mama sagen. Sie hat den ganzen Morgen nur geweint. Ich glaube, es liegt daran, dass sie bald dicker ist als die Kuh Clara. Ich hoffe, diesmal bekommt sie ein Mädchen, denn von Brüdern habe ich inzwischen genug.“

Erst als neben dem König ein Mann leise zu lachen begann, bemerkte Tanon ihn und mehrere Jungs, die sie anstarrten. Bei ihnen musste es sich um Williams Gäste handeln, allerdings hatte sie nicht erwartet, dass sie so zahlreich sein würden. Sie hoffte, ihre Mama würde niemals so viele Söhne haben.

Ihr fiel auf, wie seltsam sie aussahen. Wer hatte jemals von Jungs gehört, die Zöpfe trugen? Ihre Hosen waren aus grober Wolle, die gemusterten Waffenröcke wurden mit einem Stück Kordel zusammengehalten. Selbst der Kleinste der Jungs trug einen Dolch an sich. Sein wildes Erscheinungsbild hatte auf sie eine sonderbar ansprechende Wirkung. Sie lächelte ihn an, weil sie sich an ihren Unterricht in gutem Benehmen erinnerte, aber auch, weil er sie so freundlich anschaute. Einer der größeren Jungs musterte sie mit finsterer Miene, und sie entschied, dass sie ihn nicht leiden konnte – zumal er die gleichen gehässigen Augen wie Roger hatte, während die des Jüngeren von einem hübschen Blau waren.

Tanon machte einen Knicks vor dem jüngsten Gast. „Es ist mir ein Vergnügen.“

„Cyfarchion“, erwiderte der Junge.

Sie rümpfte die Nase und begann zu kichern. „Was heißt denn das?“

„Das ist Cymraeg, Walisisch“, ergänzte der älteste Mann amüsiert, damit sie den Begriff verstand. So wie bei dem Jungen war auch sein Lächeln nett. „Es bedeutet: ,Sei gegrüßt.‘ Meine Neffen haben eure Sprache noch nicht umfassend gelernt.“

Tanon hoffte, dass ihre Stimmen dann genauso melodisch klingen würden wie seine.

„Lady Risande“, sagte plötzlich William zu ihr. Sie straffte ihre Schultern, denn sie wusste, dass sie nun besonders höflich sein musste, wenn er sie mit ihrem Titel ansprach. „Das ist Prinz Rhys ap Tewdwr, und dies sind seine Neffen.“ Insgesamt nannte er ihr acht Namen, doch nur zwei davon merkte sie sich: Cedric, der gehässig schauende Junge, auf den William zuerst zeigte, und Gareth, der junge Bursche.

„Seid ihr auch alle Prinzen?“, fragte Tanon und musterte die Brüder einen nach dem anderen.

„Ich habe keine leiblichen Kinder. Wenn ich Fürst von Deheubarth werde …“, Prinz Rhys beugte sich vor und zwinkerte ihr zu, und sie musste kichern, als sie hörte, wie ihm das letzte Wort über die Lippen kam, „… mache ich meine Neffen zu Prinzen.“

Während Tanon noch lachte, hob Gareth einen Finger und drückte ihn sanft auf ihr Wangengrübchen. Cedric murmelte etwas, und auch wenn Tanon ihn nicht verstanden hatte, wusste sie, es war etwas Unhöfliches gewesen. Das verriet ihr sein Mienenspiel ebenso wie der verärgerte Blick, den Gareth ihm über die Schulter zuwarf.

Tanon nahm sich vor, Cedric nie wieder anzulächeln, weil er ein so schlechtes Benehmen hatte, während sie sich Gareth von ihrer strahlendsten Seite zeigte. Sie hoffte, sich mehr mit ihm unterhalten zu können, weil sie bei den ungewöhnlichen Worten der Gäste ein Kribbeln im Bauch verspürte.

 

Tanon war sich längst nicht mehr sicher, ob Gareth tatsächlich jemand war, mit dem sie befreundet sein wollte. Immerhin hatte er sich inzwischen als gleichermaßen unhöflich entpuppt wie seine Brüder. Seit ihrem ersten Kennenlernen vor zwei Tagen hatte er nicht ein einziges Wort mit ihr gewechselt. Wenn sie versuchte, sich mit ihm zu unterhalten, ignorierte er sie einfach. William bat sie wiederholt, sich Cedric gegenüber höflicher zu benehmen, doch er weigerte sich, englisch mit ihr zu reden, weshalb sie kein Wort verstand. Außerdem wusste sie von William, dass Cedric siebzehn war. Tanon war sich daher sicher, dass er ohnehin nicht mit ihr spielen wollte, also war sie nicht weiter freundlich zu ihm.

„Du bist sehr ruhig, nicht wahr?“, fragte sie Gareth schließlich, als sie neben ihm her in Richtung der Stallungen ging.

Ohne ein Wort zu sagen oder sie auch nur anzusehen, ging er zügig weiter. Tanon ließ die Arme sinken und ballte die Fäuste. „Ich finde, du bist sehr unhöflich für jemanden, der stumm ist.“

Das war der Augenblick, als ihr auffiel, wie fein sein Haar aussah. Sein locker geflochtener Zopf hing ihm den Rücken hinunter, zwei entwischte goldene Locken lagen auf seinen Schultern. Er drehte sich um und sah sie an, ohne jedoch einen Ton von sich zu geben. Stattdessen stand er nur da und wirkte zu alt für einen Jungen, der gerade einmal zehn Jahre alt war. Sein Gesicht hatte einen nachdenklichen Ausdruck, die blauen Augen waren stur auf sie gerichtet.

„Meine Brüder sagen …“, setzte er an, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Meine Brüder sagten mir, du bist mein gelyn – mein Feind.“

Die verärgerte Miene, die Tanon zu wahren versuchte, wich schnell einem Ausdruck herzzerreißenden Unglaubens. „Dein Feind? Aber wieso? Was habe ich dir getan?“

Er machte den Eindruck, als wolle er noch etwas sagen, drehte sich aber wortlos um und ging fort.

Die nächsten Tage verstrichen, ohne dass Tanon noch ein Wort mit Gareth sprach. Stattdessen folgte sie ihm überallhin. Sie beobachtete ihn, wie er auf Williams Land mit seinem Onkel und seinen Brüdern ausritt. Den Brüdern schien es Spaß zu machen, ihn zu verprügeln – oder es zumindest zu versuchen, denn die meiste Zeit über gelang es ihnen nicht. Selbst auf einem Pferd, das so groß war wie das ihres Papas, schaffte es Gareth, ihnen auszuweichen, indem er sich entweder in seinem Sattel flach machte oder seinen Rücken durchdrückte.

Im großen Saal beobachtete sie ihn heimlich beim Essen und musste kichern, als er einen Finger in die servierten Törtchen steckte, um festzustellen, ob sich etwas im Inneren befand, bevor er sich eines davon in den Mund steckte.

Am Ende der ersten Woche auf Winchester sprach Gareth schließlich Tanon an. Es war ein wunderbarer sommerlicher Nachmittag, und sie genoss es, ihn mit Petunia zu verbringen. Sie lief ausgelassen über ein Feld mit Gänseblümchen hinter der Scheune und sang ein Lied, das einige der Männer nach dem ausgiebigen Genuss von Williams Wein im großen Saal zum Besten gegeben hatten. Es war kein Text, der sich für ein junges Mädchen eignete, doch Tanon wusste das nicht, und abgesehen davon achtete sie ohnehin kaum auf ihre Stimme, da sie genug damit zu tun hatte, Gänseblümchen zu pflücken.

Daher bekam sie erst mit, dass sich Roger und die Drake-Brüder an sie herangeschlichen hatten, als sie von deren krächzenden Stimmen aus ihren Träumen geholt wurde.

„Tanon macht grunz, grunz, grunz!“ Der Beleidigung folgte eine Runde Gelächter, ehe eine andere Stimme rief: „Vielleicht schläft sie ja auch bei dem Schwein. Auf jeden Fall singt sie wie eines.“

Die drei Jungs kreisten sie und ihr Schwein ein, dann begann Roger Petunia zu jagen. Tanon schrie ihn an, er solle damit aufhören, aber er schnaubte nur herablassend und lachte weiter. Zum Glück war Petunia für ihn zu schnell, und als er versuchte, nach dem Tier zu treten, konnte ihm das Schwein eben noch ausweichen. Tanon kreischte und schüttelte die Faust.

„Lass sie sofort in Ruhe, Roger deCourtenay, sonst werde ich …“

„Sonst wirst du was?“, forderte er sie heraus. Wut blitzte in seinen Augen auf, als er Petunia entkommen ließ und sich stattdessen vor Tanon aufbaute. „Was wirst du dann machen?“

Er hob eine Hand, um Tanon zu schlagen, weshalb sie die Augen zukniff. Die Drake-Jungs schauten sich um, weil sie sicher sein wollten, dass sie unbeobachtet waren.

Doch das war diesmal nicht der Fall.

Tanon schlug die Augen gerade noch rechtzeitig auf, um mitanzusehen, wie Gareth Roger packte und ihn zu sich herumriss, damit er ihm in die Augen sehen konnte. Dann stieß er Roger mit so viel Wucht weg, dass der rückwärts taumelte und schmerzhaft auf seinem Hinterteil landete.

„Gwna mo chyffwrdd ’i!“, brüllte Gareth ihn an und machte dabei eine todernste Miene.

„Was?“ Sie sah, dass Roger deCourtenay nicht länger gehässig grinste, sondern dass seine Unterlippe nun zitterte.

„Bod cerddedig“, knurrte Tanons neuer Held ihn an und bedeutete Roger mit einer Geste, er solle schnellstens das Weite suchen.

Tanon wollte in die Hände klatschen, aber Roger und die anderen hatte bereits die Flucht ergriffen. Sie machte einen Satz nach vorn, stolperte über ihre Röcke und musste mit dem Gleichgewicht kämpfen, ehe sie sich wieder aufrichten konnte. „Du hast es geschafft! Du hast Roger deCourtenay Angst eingejagt!“ Noch nie in ihrem ganzen Leben war sie so glücklich gewesen wie in diesem Moment. Am liebsten wäre sie Gareth um den Hals gefallen, doch er drehte sich bereits von ihr weg.

„Warte bitte!“, flehte sie ihn an, da sie sich nicht bremsen konnte. Bevor er sie allein lassen konnte, fasste sie ihn an der Hand. „Du hast Petunia gerettet!“ Ob er sie überhaupt verstand, wusste sie nicht, darum lächelte sie ihn an.

Er stand nur da und musterte sie einen Moment lang, und dann tat er das, worauf sie so sehnlich gewartet hatte: Er erwiderte ihr Lächeln, und diesmal war es noch reizvoller als beim ersten Mal.

 

Von da an waren sie beide so gut wie unzertrennlich. Roger wurde ein paar Tage später in die Normandie geschickt. Da nun ihr Anführer fort war und ein neuer Held über Tanon wachte, wurde sie von den anderen Kindern in Ruhe gelassen. Den Rest des Sommers verbrachte sie damit, mit Gareth zu spielen.

Gerade als Tanon zu dem Entschluss gelangt war, dass sie Gareth sogar noch besser leiden konnte als Petunia, da war der Sommer auch schon vorüber, und sie musste nach Hause zurückkehren.

1. Kapitel

Zwölf Jahre später …

Er erreichte Winchester Castle in dem Moment, gerade bevor ein Unwetter einsetzte. Als er das große Burgtor passierte, hätte Tanon wissen müssen, dass er nach Winchester gekommen war, um jemandes Leben grundlegend zu verändern. Während seine Männer ihm folgten, fegte eine kräftige Windböe durch den Korridor und wirbelte das lange, seidige Haar um sein Gesicht. In seinem ärmellosen, mit einer indigofarbenen Bordüre bestickten ledernen Waffenrock wirkte er wie ein feuriger keltischer Held, der soeben der Geschichte eines Barden entsprungen war. Goldene Armbänder wanden sich um seine muskulösen Armen, und ein passender goldener Torques lag um seinen Hals. Etwas Wildes funkelte in seinen Augen und ließ sie wie polierte Saphire schimmern.

Mit diesen atemberaubenden Augen erfasste er Tanon, als sie die lange Treppe herunterkam, und prompt nahm sein Blick einen sanften Zug an, der sie an eine neugierige Berührung erinnerte. Dann verzog er die Mundwinkel zu einem gemächlichen, dekadent sinnlichen Lächeln.

Tanon geriet auf den zwei letzten Stufen ins Straucheln. Sofort war er bei ihr, um sie aufzufangen, und legte rasch seine kräftigen Hände um ihre Taille.

„Ich hab Euch!“

In seiner tiefen, rauchigen Stimme schwang etwas Hartes, Bedrohliches mit. Seine Augen erfassten ihren entsetzten Blick und verharrten lange genug, um ihr Herz schneller schlagen zu lassen.

„Das ist zu freundlich von Euch“, erwiderte Tanon, strich eine nicht vorhandene Falte aus ihrem burgunderfarbenen Kleid und eilte davon.

Erst am Eingang zum großen Saal von Winchester Castle blieb sie stehen und verdrängte den Fremden aus ihren Gedanken. Eine Dame schmolz beim Anblick eines Mannes nicht einfach dahin – schon gar nicht bei einem Mann, der eindeutig ein Heide war. Hastig atmete sie tief durch, dann zwang sie sich zu einem anmutigen Lächeln, ehe sie eintrat.

Es war keineswegs so, dass es ihr hier nicht gefiel. Die verschwenderisch große Burg von König William war ihr so vertraut wie ihr eigenes Zuhause in Avarloch. Aber der wichtige Platz an der Tafel des Königs erforderte von ihr höfische Etikette. Sie lächelte den steifen Adligen zu und verhielt sich Lords und Ladies gegenüber höflich, selbst bei denen, die sie gar nicht so gut leiden konnte. Niemals würde sie ihrer Familie Schande bereiten oder William enttäuschen, indem sie sich nicht ihrem Stand entsprechend benahm. Sie war schließlich kein Kind mehr.

Sie sah sich um und ließ ihren Blick über die hohen Wände schweifen, die mit großen Teppichen behängt waren und im Schein des Kaminfeuers golden leuchteten. Damen kicherten schüchtern oder ermahnten Kinder, die wie umherschwirrende Fliegen um die Tische rannten. Ein Barde saß neben einem der großen Kamine und trug ein trauriges Liebeslied vor, während er am Klang der Münze zu erkennen versuchte, wie groß die Gabe ausfiel, die soeben in seinem auf dem Boden liegenden, breitkrempigen Hut gelandet war.

Tanon strich eine einzelne schwarze Locke von ihrer Schulter, ehe sie den Rücken durchdrückte. Um diesen Abend zu überstehen, brauchte sie all die Geistesstärke, die sie aufzubringen fähig war. Unter den Gästen, die für das Sommerturnier nach Winchester gereist waren, befand sich auch Lord Roger deCourtenay, der Earl of Blackburn, dem sie versprochen worden war.

Natürlich entsprach diese bevorstehende Heirat in keiner Weise ihren eigenen Wünschen, aber sie war die Tochter eines Lords. Und wenn das nicht Grund genug gewesen wäre, sie mit einem Adligen zu verheiraten, der keinen geringeren Titel führen durfte, dann hätte spätestens die Tatsache den Ausschlag gegeben, dass sie von Englands König geschätzt wurde.

Roger war nicht länger der Teufel, der ihr das Leben so schwer gemacht hatte, als sie sechs war. Kurz nach jenem Sommer, in dem sie vom Baum gefallen war, schickte man ihn in die Normandie. Es wurde getuschelt, seine Zeit unter der Aufsicht von Königssohn Robert sei eine Bestrafung für sein Verhalten ihr gegenüber gewesen, doch Tanon hatte William nie die Wahrheit über den Zwischenfall gestanden. Daher bezweifelte sie, dass an diesen Gerüchten etwas dran war.

Am Hof war man der Ansicht, er habe seit damals einen Sinneswandel durchgemacht. Tatsächlich hatte seine Zeit in der Normandie aus ihm einen Mann von großem kämpferischem Geschick gemacht, der von anderen Adligen respektiert wurde, dennoch konnte Tanon ihn nach wie vor nicht leiden. Wenn es sich nicht vermeiden ließ, würde sie ihn eben heiraten, doch sie verabscheute die endlosen Stunden, die ihre Dienerinnen damit zubrachten, an ihren widerborstigen Locken zu ziehen und sie hochzustecken. Ebenso war es ihr zuwider, sich in eine Lage feinster Wolle nach der anderen einhüllen zu lassen, nur um für einen Mann hübsch auszusehen, der sich viel mehr für die üppigen und wesentlich spärlicher bekleideten Frauen am Hof interessierte. Ihr war es gleich, sollte Roger sie doch niemals eines Blickes würdigen, aber sie hasste es, so viel Mühe für nichts und wieder nichts über sich ergehen lassen zu müssen.

Allerdings konnte sie sich glücklicher schätzen als manch andere Tochter eines Earls, die dazu verdammt war, einen dreimal so alten Mann zu ehelichen oder ein noch schlimmeres Schicksal zu ertragen: eine Ehe mit Prinz Cedric von Wales. Sie hatte versucht, sich ihre unendliche Erleichterung nicht zu deutlich anmerken zu lassen, als sie von ihrem Vater erfuhr, dass Cedric aus seinem Land verstoßen worden war, weil er einen Mordanschlag auf seinen Onkel unternommen hatte. Das Eheversprechen war daraufhin aufgelöst worden. Sie konnte sich noch gut an die stumme Warnung in Cedrics Augen erinnern. Damals hatte sie es nicht gewusst, doch der Waliser war nicht gut auf die Normannen zu sprechen, die verhinderten, dass sie nach England gelangen konnten.

Nach jenem Sommer auf Winchester war es nie zu einem Wiedersehen mit ihrem tapferen Helden Gareth gekommen, aber sie hatte oft an ihn gedacht und sich in jedem Winter auf das kommende Frühjahr gefreut, weil er vielleicht im anschließenden Sommer zu ihr zurückkehren würde. Nach einigen Jahren gab sie ihre törichten Tagträume dann auf, und im letzten Jahr hatte sie schließlich für seine Seele ein Gebet gesprochen, nachdem sie hörte, dass Gareth im Norden von Wales getötet worden war.

Tanon entdeckte ihre Mutter, die bei ihrem Onkel Dante am anderen Ende des Saals saß. Lady Brynna Risande neigte den Kopf und hielt ihr Ohr dichter an Dantes Mund, um ihn trotz des Jubels vom Nebentisch verstehen zu können. Ein Stück von ihnen entfernt stand Tanons Vater Lord Brand Risande, der zwei Finger an seine Lippen legte und sie dann in Richtung ihrer Mutter ausstreckte. Als könne er es nicht ertragen, länger als ein paar Augenblicke von ihr getrennt zu sein, begab er sich zu ihr, wechselte ein paar Worte mit seinem Bruder und legte einen Arm um seine Frau, um sie an sich zu ziehen.

Während Tanon ihre Eltern beobachtete, rührte ihr Herz der Anblick jener Liebe an, von der jede Geste und Berührung, jedes Lächeln geprägt war. Ihre Mutter hatte sich nicht stundenlang frisieren und einkleiden lassen müssen, damit Tanons Vater bei ihrem Anblick der Atem stockte. Hier erlebte sie das, was sie sich schon als Kind erhofft hatte, wenn sie einmal heiraten würde: Liebe, Freundschaft, Leidenschaft, Zärtlichkeit. Sie hatte diese Hoffnung fahren lassen müssen, als sie von ihrer Verlobung mit Roger erfuhr. Aber es würde ihr gelingen, eine Ehe ganz ohne Liebe zu überleben. Ihr Blick wanderte weiter zu ihrem Kindermädchen, Rebecca saß an der Tafel ihres Vaters. Es war immer noch besser als eine der anderen Möglichkeiten.

Sie schaute zum Podest, auf dem sich König William niedergelassen hatte, und lächelte ihn an. Oh, wie sehr sie ihn doch liebte, fast so sehr wie ihren eigenen Vater. Sie wusste, William hatte nur das Beste für sie gewollt, als er sie Roger versprach. Lord Blackburns Familie war wohlhabend und besaß Ländereien in England und in der Normandie. Ihr König wollte, dass sie in Sicherheit war und es ihr an nichts fehlte. Diese Absicht konnte sie ihm nicht verübeln.

Armer William. Er sah müde und erschöpft aus, doch wen wunderte das, wenn die Dänen unablässig mit einer Invasion drohten und es an der Grenze zu Wales immer wieder zu Unruhen kam. Man hatte sie mit der Wales betreffenden Politik ein wenig vertraut gemacht, da man davon ausgegangen war, sie werde dort leben.

Nachdem über Jahre hinweg die Waliser immer wieder die Grenze zu England verletzt hatten, war William auf die Idee gekommen, einige seiner adligen Vasallen dazu zu bestimmen, die Marken entlang der Grenze zu bewachen. Dabei ließ er diesen Markgrafen freie Hand, mit den Wilden nach eigenem Gutdünken zu verfahren. Einige der Lords ließen daraufhin ihre Armeen bis weit nach Wales hinein vorrücken, um große Teile im Osten und Süden des Landes zu besetzen, was die Waliser wiederum zur Revolte veranlasste. Das walisische Kriegerheer brachte etliche Rebellen hervor, doch vor allem ein Mann namens Wyfyrn hatte es den Markgrafen über die Jahre hinweg besonders schwer gemacht. Ihm schrieb man die Ermordung von vier normannischen Oberherrn und die völlige Auslöschung ihrer Garnisonen zu.

Tanon schauderte allein bei dem Gedanken an solch blutrünstige Barbaren und dankte den Heiligen dafür, dass es ihrem König gelungen war, in England den Frieden zu wahren. Der gute William hatte sich sogar mit Hereward dem Geächteten ausgesöhnt, und er brauchte einen weiteren Freund an seiner Seite. Er verbrachte viel Zeit in der Normandie ohne Tanons Vater, der oft in Angelegenheiten des Königs unterwegs war oder sich um seine eigenen Ländereien kümmern musste.

Sie entdeckte ihren Verlobten, wie er mit Lady Eleanor Fitzdrummond scherzte und lachte, einer Schönheit, deren gewaltige Brüste genau zu ihrem ebenso gewaltigen Ego passten. Tanon konnte diese Frau nicht leiden, und sie hatte nichts für jene Männer übrig, die an ihr Gefallen fanden.

„Ein Freund von Euch?“, hörte sie eine Stimme hinter sich.

Ohne sich umzudrehen, seufzte Tanon: „Mein Verlobter.“

„Dummkopf.“

Schließlich wandte sie sich entrüstet um. „Wie bitte?“

Ein Mundwinkel war zu einem betörenden Lächeln hochgezogen. „Er. Nicht Ihr.“

„Oh.“ Ihre Gedanken verflüchtigten sich in alle Richtungen und nahmen Roger mit sich. Himmel, das war der Mann, bei dessen Anblick sie sich auf der Treppe fast das Genick gebrochen hätte. Bedauerlicherweise hatte seine Wirkung auf sie nicht nachgelassen. Ihr stockte der Atem, als sie seine warmherzige und irgendwie vertraute Miene betrachtete, die sie zu verführen versuchte, das Lächeln zu erwidern.

Das Gesicht des Fremden war bis auf ein kleines, tiefgoldenes Haarbüschel gleich unter der vollen, leicht vorgeschobenen Unterlippe rasiert, ein dunklerer Schimmer auf seinen Wangen vermittelte einen Hauch von Arroganz. Sein langes Haar breitete sich wie ein Wasserfall auf seinen Schultern aus und reflektierte das flackernde Kaminfeuer. Er strahlte Selbstbewusstsein und Männlichkeit aus. Tanon schien es, sie würde den Vertreter einer gänzlich anderen Spezies betrachten, der so fesselnd und wild wie ein stolzes, unzähmbares Pferd war. Ein Schotte, vermutete sie, während sie gegen die Hitze anzukämpfen versuchte, die ihre Wangen erröten lassen würde. Vermutlich war er mit einem der vielen Clans hergekommen, die am Turnier teilnehmen wollten. Noch hatte er nicht genug gesagt, um seinen klangvollen Akzent klar einordnen zu können, doch sie konnte auch jetzt schon sagen, dass er ein Ausländer war.

„Seid Ihr hier, um am Wettkampf teilzunehmen?“ Sie wusste, sie sollte sich entschuldigen und zu ihrem Vater eilen, doch der Funke von Intelligenz in seinen Augen weckte ihre Neugier.

„Aye.“ Er sah zu ihrem Verlobten, dann wieder zu ihr. „Das dürfte wohl der Fall sein. Ich war mir Eurer Verlobung nicht bewusst, Lady Risande.“

„Niemand ist das“, antwortete Tanon und schaute ihrerseits ebenfalls zu Roger. „Meine Heirat mit Lord deCourtenay wurde erst vor wenigen Monaten vereinbart, und heute Abend soll sie verkündet werden.“

„Lord deCourtenay?“, wiederholte der Fremde, warf einen Blick zu William und senkte den Kopf.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte sie.

„Nein.“ Er schaute sie erneut an. „Dann bedeutet er Euch etwas?“

Tanon hätte gelacht, wenn da auch nur ein Funke Glück in ihr zu finden gewesen wäre. So aber schüttelte sie den Kopf. „Non“, lautete ihre ehrliche Antwort.

Der Fremde schien diese Erwiderung mit Erleichterung aufzunehmen. Sein Blick nahm einen sanfteren Zug an.

Mit schräg gehaltenem Kopf musterte sie sein Gesicht. Es schien, dass sie ihn irgendwo schon einmal gesehen hatte, doch sie konnte ihn weder einem Anlass noch einem Namen zuordnen. „Ihr seid im Vorteil, Mylord“, sagte sie ohne Umschweife. „Ihr wisst, wer ich bin.“

„Aye.“ Die Art, wie er sie betrachtete, hatte etwas Vertrautes an sich. Als er dann jedoch einen Finger hob, um das Grübchen in ihrer Wange zu berühren, da wich sie vor ihm zurück, und ihr Herz begann wie wahnsinnig zu schlagen. Non, das konnte er nicht sein. Enttäuschung überkam sie, denn Gareth war tot.

„Ihr wurdet mir vor einigen Jahren von einem gemeinsamen Bekannten sehr genau beschrieben. Er sagte, Eure Augen könnten es mit dem grünen Moorland von Cymru aufnehmen.“ Während der Fremde sprach, nahm er ihre Hand und führte sie an seine Lippen. „Und dass Ihr die Nase kraus zieht, wenn Ihr lacht.“ Er drehte ihre Hand um und drückte seinen Mund auf ihr Handgelenk. Unter dichten, dunklen Wimpern hindurch sah er sie dabei an.

„Erlaubt mir, Euch zu Eurem Vater zu begleiten.“ Seine Finger strichen über ihre, als er ihre Hand in seine Armbeuge legte.

Ihr stockte noch immer der Atem, und sie brauchte einen Moment, um zu blinzeln und ihr rasendes Herz zur Ruhe zu zwingen. Sie hatte es geschafft, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, vor allem hier am Hof des Königs. Aber ihre Haut glühte, und ihr Mund war wie ausgetrocknet.

Gleich dort drüben saß ihr Verlobter. Es wäre unziemlich, sich am Arm eines anderen Mannes zu ihrem Vater bringen zu lassen. Langsam zog sie ihre Hand zurück.

„Vielen Dank für Euer freundliches Angebot, Mylord, aber ich …“

„Kommt“, unterbrach er sie leise und ließ sie mit seinem forschenden Blick und seinen warmen Fingern auf ihren zur Ruhe kommen. „Die Tafel Eures Vaters ist gleich dort drüben. Gestattet mir, einen Moment lang mit Euch zu reden.“

Obwohl er etwas Wildes an sich hatte, konnte Tanon nicht leugnen, dass er sich zu benehmen wusste. Sie nickte und reagierte mit dem ersten ehrlichen Lächeln, zu dem sie seit ihrer Ankunft auf Winchester fähig war. Eine weitere Locke löste sich aus dem Gewirr aus Nadeln auf ihrem Kopf und fiel ihr in die Stirn. Sie blies sie zur Seite. „Werdet Ihr mir Euren Namen sagen?“, fragte sie, ohne von der Belustigung Notiz zu nehmen, die seine Augen vor Wärme strahlen ließ, während sie sich über die Locke zu ärgern begann, die sich trotzig ihren Weg zurück auf ihre Stirn bahnte. „Oder soll ich Euch für den Rest des Abends ,Fremder‘ nennen?“

„Wenn Ihr versprecht, den Rest des Abends mit mir zu verbringen, dann werde ich Euch meinen Namen nennen.“

Ihr gefiel seine forsche und selbstsichere Art, die ihn gemächlich einen Fuß vor den anderen setzen ließ. Er hatte es nicht eilig, diese Begegnung hinter sich zu bringen, und ihr selbst erging es ganz genauso, obwohl ihr Verstand ihr etwas anderes sagte. „Ich fürchte, es ist mir nicht gestattet, einen solchen Handel mit Euch einzugehen, Mylord.“

„Zu schade.“ Plötzlich wurde er ernst und sah sogar noch atemberaubender als zuvor aus. „Ich werde mich geschlagen geben müssen.“ Er schaute hinter sich und winkte einem der Männer zu, die als sein kleines Gefolge die Burg betreten hatten. Der stämmige Rohling stieß das Ende einer Stange in den Boden und zog kräftig an einem kleinen Lederstreifen. Ein Banner wurde entrollt und enthüllte das rubinrote Bild eines vierbeinigen Drachen.

Tanons Vater und Onkel waren die Ersten, die von ihren Plätzen aufsprangen.

„Was hat das zu bedeuten?“, rief König William. Er musste die Stimme heben, um den Lärm zu übertönen, als die Sitzbänke auf dem Steinboden nach hinten geschoben wurden. Alle seine Männer – einschließlich Roger – standen ebenfalls auf, zum Kampf bereit.

Tanon betrachtete das Banner und erkannte den Drachen. Wales! Als sie den wehmütigen Blick des Fremden bemerkte, wich sie vor ihm zurück. Bei Gott, was hatten Waliser auf Winchester zu suchen? Sie fühlte, wie jemand ihr Handgelenk umschloss, dann zog ihr Vater sie weiter nach hinten und stellte sich schützend vor sie.

Von ihrem Platz hinter ihrem Vater ließ Tanon ihren Blick zu den Dolchgriffen wandern, die aus den Stiefeln des Walisers ragten, und musterte den breiten Gürtel um seine schlanke Taille. Er stand kerzengerade da, eine braune Hose aus Leder umschloss seine muskulösen Beine. Das eng anliegende Material betonte seine männlichen Attribute stärker, als es Tanon lieb sein konnte. Sein Körper strahlte eine nur mit Mühe gebändigte Energie aus, und der Mann schaute tatsächlich so hitzig drein, wie man es seinen Landsleuten nachsagte.

Der Mann mit dem Banner in der Hand trat vor und räusperte sich. „Seine Hoheit, Lord Gareth von Deheubarth, Prinzregent von Ystrad Towi.“

Tanons Herz machte einen Satz. Gareth? Unwillkürlich ging sie einen Schritt nach vorn, als der längst vergessene, alte Wunsch in ihr erwachte, wieder mit ihrem Freund zusammen zu sein. Non, das konnte nicht der kleine Junge sein, der sie vor so vielen Jahren mutig vor Roger gerettet hatte. Außerdem war Gareth in Norden von Wales im Kampf zu Tode gekommen. Sie griff nach der Hand ihres Vaters, damit er ihr Halt gab.

„Euer Gnaden.“ Der Prinz drehte sich zum König um. „Verzeiht meinem Onkel, dass er Euch keine Nachricht von meiner bevorstehenden Ankunft zukommen ließ.“

„Gareth?“, fragte der König, als könne er seinen Augen nicht trauen. „Man sagte mir, dass Ihr vor über einem Jahr getötet wurdet.“ Er ließ sich auf seinen Platz sinken. „Ich bin fassungslos.“

„Aye, und meinem Onkel erging es nicht anders, als er mich zum ersten Mal wiedersah“, erklärte Gareth mit ruhiger Stimme, obwohl hundert oder mehr erfahrene Ritter bereitstanden, ihn zu töten, sollte er einen Schritt auf den König zugehen. „Einer meiner Männer verriet mich in der Schlacht, und ich wurde fast ein Jahr lang in Lord Dafydds Feste im Norden festgehalten.“ Er verzog die Lippen zu einem Grinsen. „Seiner Tochter habe ich zu verdanken, dass ich noch lebe.“

Tanon starrte ihn ungläubig an. Sollte er wirklich dieser nette Junge sein, der damals in jenem Sommer ihr bester Freund gewesen war? Oui, das war er. Sein seidiges Haar war im Lauf der Jahre dunkler geworden. Das Gesicht war nicht mehr glatt, sondern hatte eine nahezu perfekte Rauheit angenommen. Nur die Augen waren noch immer so lebhaft blau, wie sie es in Erinnerung hatte. Warum konnte er ihr nicht sofort sagen, wer er war? Ihr Blick wanderte zu der kleinen Gruppe von Männern, die mit ihm auf die Burg gekommen waren und nun vor den Saaltüren standen. Sie waren bewaffnet, und einer sah todbringender aus als der andere.

„Wie habt Ihr mit Euren Männern die Marken überquert?“ William warf Gareth einen wachsamen Blick zu. So wie Offa’s Dyke, der vor Jahrhunderten errichtet worden war, um die kriegslüsternen Kelten davon abzuhalten, nach England vorzudringen, wurden auch die Marken von Oberherrn bewacht.

„Durch sorgfältige Planung, Mylord.“ Als William fragend eine Augenbraue hob, verriet das Gareth, was der König hören wollte. „Auf beiden Seiten ohne Blutvergießen.“

William musterte ihn skeptisch, denn er wusste, es gab nicht einen Waliser, den es nicht nach normannischem Blut dürstete. Er hatte mit Rhys ap Tewdwr eine Allianz geschlossen, bevor der Prinz Fürst von Deheubarth wurde, aber ihr Friedensvertrag war nie besiegelt worden. „Euer Onkel hätte wahrlich eine Nachricht schicken sollen, dass Ihr auf dem Weg hierher seid. Mein Erlass hätte Euch eine sichere Einreise nach England garantiert. So oder so freue ich mich aber, dass Ihr lebt, Gareth.“ William unterstrich seine Worte mit einem flüchtigen Lächeln, ehe er seine rauchgrauen Augen auf Tanon und dann auf ihren Vater richtete.

„Brand, Ihr erinnert Euch an den Neffen von Fürst Rhys?“

Gareth nickte Brand zu und nahm nur beiläufig Notiz davon, wie besitzergreifend er seine Tochter festhielt. „Mylord, es freut mich, dass Ihr bei guter Gesundheit seid. Seit wir uns das letzte Mal begegneten, sind viele Jahre vergangen.“

„Oui.“ Der Lord von Avarloch umfasste Tanons Hand noch fester.

„Eure Familie ist größer geworden“, sagte Gareth mit Blick auf die fünf kleineren Kinder, die ihn von der Tafel des Lords staunend betrachteten. Er wandte sich an Tanon. „Doch Ihr habt Euch nicht verändert. Ihr seid noch immer so schön, wie ich Euch in Erinnerung hatte. Allerdings fand ich Eure damalige Zahnlücke recht bezaubernd.“

Vor ihrem geistigen Auge sah sie Bilder seines knabenhaften Lächelns, die ihr Blut in Wallung brachten. Mit sechs Jahren hatte sie den ganzen Winter hindurch von Gareth geträumt. In diesen Träumen spielten sie wieder so zusammen wie in jenem Sommer, während sie ihm Geschichten von dem einen oder anderen Edelfräulein und den Rittern erzählte, die sie vor bösartigen Drachen retteten, die alle Roger hießen.

Als sie jetzt zu Roger schaute, sah sie, wie er von zu viel Wein und Ale schwankend dastand und mit glasigen Augen Gareth zu fixieren versuchte.

„Sagt mir, Gareth“, wurde sie von König Williams Befehlston aus ihren Gedanken gerissen. „Was führt Euch zurück nach Winchester? Ist Euer Onkel wohlauf? Und seine Familie?“

„Aye, ihnen allen geht es gut. Sein Sohn Gruffydd ist im letzten Frühling drei geworden. Vater zu sein, hat meinen Onkel in seinem Entschluss bestärkt, Frieden für Cymru zu schaffen.“

„Ah, das sind gute Neuigkeiten, wirklich gute Neuigkeiten.“ William hob seinen Krug hoch, um auf den Frieden anzustoßen, von dem Gareth sprach.

Gareth reagierte mit einem Lächeln und verschränkte die Hände auf dem Rücken. „Ich bin froh, dass Ihr auch noch immer nach Frieden strebt, Euer Gnaden.“

„Natürlich strebe ich danach. Wir haben auf beiden Seiten viele Menschen verloren.“

„Mein Volk zieht es vor, sich nicht von Eurem unterwerfen zu lassen, Sire“, gab Gareth in einem neutralen Tonfall zurück, der zu seiner Körperhaltung passte. Dennoch trat Roger vor, bis William eine Hand hob und ihm bedeutete, wieder Platz zu nehmen.

„Ich hege nicht den Wunsch, Wales zu erobern, Gareth.“

„Und doch haben Eure Lords Burgen entlang unserer Landesgrenze errichtet …“

„Um England vor walisischen Angriffen zu schützen“, stellte William mit ruhiger Stimme klar. Er hatte nichts gegen einen Mann einzuwenden, der den Mut aufbrachte, den Mund aufzumachen und seine Meinung auszusprechen.

„Sie rücken tiefer und tiefer nach Cymru vor und beanspruchen mehr von unserem Land, ohne dass Ihr darüber Euer Missfallen bekundet.“

Schließlich trafen sich ihre unnachgiebigen Blicke. „Und was unternimmt Euer Onkel, um Männer wie Wyfyrn davon abzuhalten, Englands Vasallen zu massakrieren? Immerhin wütet dieser Kerl entlang der gesamten Grenze zu Wales, von den südlichen Marken bis zum Norden.“

„Der Drache entzieht sich selbst unserer Kontrolle“, behauptete Gareth. „Aber sollte mein Onkel einen Mann jagen, nur weil der unser Land gegen die Oberherrn verteidigt, die unsere Dörfer in Schutt und Asche legen und unsere Frauen schänden?“

Der König beugte sich auf seinem Platz nach vorn und wirkte so, als würde er wegen der ausgesprochenen Vorwürfe Gareth jeden Moment anspringen wollen. „Wollt Ihr damit sagen, dass die von Wyfyrn ermordeten Männer all diese Gräueltaten begangen haben?“

„Das will ich damit sagen, Euer Gnaden“, bestätigte Gareth ruhig.

William schaute zu Brand und strich sich mit der Hand über die Wange. „Das war mir nicht bekannt.“

„Mit Verlaub, Euer Gnaden …“, Gareth deutete eine leichte Verbeugung an, „… aber es war Euch nicht bekannt, weil Eure Markgrafen zunächst freie Hand hatten und Ihr dann kein Interesse mehr daran gezeigt habt, was aus uns wird.“

„Ihr irrt Euch, Gareth. Es ist noch keine drei Jahre her, dass ich nach Wales ritt, um mit Eurem Onkel über einen Frieden zwischen unseren Völkern zu sprechen.“

„Dann bitte ich Euch, Mylord, jetzt mit mir über dieses Thema zu sprechen“, sagte Gareth. „Dieser Frieden ist der Grund, weshalb ich hergekommen bin, um das zu beanspruchen, was rechtmäßig mein ist.“ Weder zuckte er mit der Wimper, noch zeigte er eine anderweitige Reaktion, als Williams Blick ihn förmlich zu durchbohren schien.

Irgendwo hinter Brand schlug Tanons Mutter mit der flachen Hand auf den Tisch. „Ihr müsst verrückt sein, wenn Ihr glaubt …“

„Mylady.“ Gareth sprach mit ruhiger, beschwichtigender Stimme, zugleich jedoch so energisch, dass Tanon sich bis in ihr Innerstes getroffen fühlte. „Ich bin nicht gekommen, um zu kämpfen – oder um zu streiten.“ Wieder wandte er sich dem König zu. „Ich bin lediglich gekommen, um den Vertrag zu besiegeln, den Ihr vor zwölf Jahren auf Pergament festgehalten und auf den Ihr zusammen mit meinem Onkel einen heiligen Schwur geleistet habt. Es geschah zugunsten des Friedens zwischen unseren Völkern“, erklärte er voller Eifer. „Aber ich fürchte, dieser Frieden droht uns zwischen den Fingern zu zerrinnen. In manchen Teilen des Landes herrschen bereits Hungersnöte. Ich bin hergekommen, um dem ein für alle Mal ein Ende zu setzen.“

„William …“, begann Brand.

Der König hob seine Hand, damit Ruhe einkehrte. Er empfand tiefe Bewunderung, wie groß der Wunsch des jungen Prinzen war, sein Volk vor den Verheerungen des Krieges zu bewahren, und welchen Mut er aufbrachte, vor den König von England zu treten und diesen Wunsch auch noch auszusprechen.

„Ihr wart anwesend, als sich König William mit meinem Onkel traf“, sagte Gareth an Brand gerichtet. „Ihr wart der gleichen Meinung, dass nur so das Blutvergießen beendet werden kann. Ich bitte Euch, nicht jetzt Eure Zustimmung zu verweigern.“ Er sprach in selbstbewusstem Tonfall, und Tanon konnte sich nicht vorstellen, dass es viele Menschen gab, die sich je einem seiner Befehle widersetzt hatten.

„Er wird seine Zustimmung nicht verweigern“, versicherte William ihm überzeugt, wenngleich auch mit einem Anflug von Bedauern in seinem Tonfall. „Fürst Rhys und ich wollen Frieden. Hätte ich gewusst, dass Ihr noch lebt, dann hätte ich den Vertrag eher besiegelt.“

Gareth atmete erleichtert aus und verbeugte sich. Als er sich wieder aufrichtete, warf er den Kopf in den Nacken und wirbelte damit sein lohfarbenes Haar nach hinten. „In wenigen Wochen werde ich zur Festung meines Onkels in Llandeilo reisen. Ich werde Eure Worte dem Fürsten des Südens überbringen, er wird das Volk von Eurem anhaltenden Wohlwollen in Kenntnis setzen.“

„Macht das.“ William lehnte sich nach hinten und kniff die Augen voll tödlicher Überzeugung zusammen. „Aber seid Euch über eines im Klaren: Wenn ihr etwas zustößt, wird Euch das den Kopf kosten, ob Frieden oder kein Frieden.“

Mit einem zustimmenden Lächeln erwiderte Gareth: „Mir ist bewusst, was sie Euch bedeutet, Sire.“

William seufzte und fasste sich an den Nasenrücken. „Enfer, sie ist verlobt.“

„Das ist mir vor Kurzem zu Ohren gekommen.“ Gareth schaute über die Schulter und bemerkte Rogers unsteten Blick. Als er dann zu Tanon sah, verzog er den Mund zu einem ironischen Grinsen. „Wie es scheint, bin ich noch rechtzeitig eingetroffen.“

2. Kapitel

Tanon saß auf einem mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Stuhl in den Privatgemächern des Königs, die Hände gefaltet im Schoß, das Kinn hatte sie auf die Brust sinken lassen. Sie hörte ihre Mutter leise weinen, wagte aber nicht den Kopf zu heben, da sie fürchtete, dann ihre eigenen Tränen nicht länger zurückhalten zu können. Ihr Vater ging hinter ihr auf und ab, und Tanon kam es fast so vor, als könnte sie sein lautes, aufgebrachtes Zähneknirschen hören, während sich William mit ihr unterhielt.

Ma précieuse, Euch ist doch bewusst, dass es so geschehen muss, oder?“

„Selbstverständlich“, erwiderte sie leise. Ihre Augen blieben hinter den schwarzen Schleiern ihrer Wimpern verborgen.

„Es gibt keinen bedeutenderen Schwur als den, der um des Friedens willen gesprochen wird.“

Tanon nickte, äußerte sich dazu aber nicht. Sie weigerte sich, jene Frage über ihre Lippen kommen zu lassen, die ihr seit dem Tag zu schaffen machte, als sie zum ersten Mal von ihrer Verlobung mit Cedric und anschließend mit Roger erfuhr.

Was ist mit der Liebe?

Ihr Vater eilte zu seiner Frau Brynna, als die einen erstickten Schluchzer von sich gab. Tanon hob kurz den Kopf, um zu ihren Eltern zu schauen.

Gleich zweimal hatte sie in ihrem jungen Leben schon das Schicksal einer Ehe ohne Liebe akzeptiert. Es hatte sie all ihre Kraft gekostet, sich von ihren Hoffnungen zu verabschieden, jemals von einem Mann so geliebt zu werden, wie ihr Vater ihre Mutter liebte.

„Es hat sich eigentlich nichts geändert“, betonte William ihr und ihren Eltern gegenüber. „Dieser Kurs wurde vor vielen Jahren festgelegt.“

Oui, dachte Tanon. Sie war darüber niemals glücklich gewesen, und da hatte sie nicht einmal gewusst, welch ein barbarischer Ort dieses Wales war. Ihr Blick wanderte zu Gareth, der an einen Fensterbogen gelehnt dastand, die Füße gekreuzt und die Arme vor der Brust verschränkt. Er war einmal ihr Freund gewesen, sie war ihm wichtig genug gewesen, um ihr zu Hilfe zu kommen. Jahrelang hatte sie sich gewünscht, ihn anstelle seines Bruders zu heiraten. Aber das war lange her, lange bevor Tod und Verwüstung ihre beiden Völker entzweiten. Sie wusste so wenig über ihn wie über das wilde Land, aus dem er stammte.

„Wir dachten“, sagte Brynna und wischte ihre Tränen weg, „Tanon könnte in England bleiben, nachdem Cedric ins Exil geschickt worden war. William, Wales ist so schrecklich weit weg.“

Tanon kniff die Augen zusammen. Lieber Gott, es war wirklich so weit weg. Und wo um alles in der Welt war nur dieses Ystrad Towi? Zweifellos in Deheubarth, das genauso gut am anderen Ende der Erde hätte liegen können. Wenn sie schon aus einem anderen Grund als aus Liebe heiraten musste, dann war Roger immer noch die bessere Wahl. Seine Burg in Blackburn war nur einen Tagesritt von Avarloch entfernt.

„Was ist mit Roger?“, fragte Tanon den König leise.

„Was soll mit ihm sein?“, wollte Gareth wissen.

Sie legte den Kopf schräg, um ihn anzusehen, doch im gleichen Moment wünschte sie, sie hätte das nicht getan. Der Gareth aus ihrer Erinnerung existierte längst nicht mehr. An seine Stelle war ein Mann gerückt, dessen fesselnder Blick ihre ganze Aufmerksamkeit für sich beanspruchte.

Wortlos trotzte sie ihm und schaute weg. „Lord deCourtenay wird etwas dagegen einzuwenden haben, wenn unsere Verlobung nur wenige Wochen vor der Hochzeit aufgelöst werden soll. Vielleicht wäre es klüger abzuwarten und …“

„Ich habe so ein Gefühl, dass er darüber schnell hinwegkommen wird.“

Tanon drehte wütend den Kopf in seine Richtung. „Es war ausgesprochen unfreundlich, so etwas zu sagen!“

Er schien seine Worte nicht zu bereuen, vielmehr wurde sein Blick nur noch eindringlicher.

„Verzeiht mir.“ Sein spöttischer Tonfall ließ keinen Zweifel daran, wie seine Entschuldigung in Wahrheit zu verstehen war. „Ich dachte, es sei für Euch eine Erleichterung, wenn Ihr von ihm befreit würdet.“

„Um stattdessen in Wales zu leben?“ Tanon schnaubte zornig.

Gareth stieß sich vom Fenster ab und machte einen Schritt auf sie zu. Ein Anflug von Angst ließ ihr Herz schneller schlagen, als er sich ihr näherte und mit dem harten Ausdruck eines Kriegers musterte. „Wie könnt Ihr einem Land mit Verachtung begegnen, das Ihr noch nie gesehen habt?“

„Ich muss ein Land nicht erst sehen, um zu wissen, dass es vom Krieg zerrüttet ist“, gab sie mit einer Spur von Trotz in der Stimme zurück. Sie hatte ihn nicht beleidigen wollen, aber sie würde sich auch nicht von der Wut beeindrucken lassen, die in seinen Augen aufblitzte. „Ich weiß, es ist ein Land, das in viele kleinere Reiche aufgeteilt ist, und ich weiß, dass der Neffe eines Fürsten nicht vertrauenswürdig war und in die Verbannung geschickt wurde.“

Tanons Vater kam zu ihr und bedeutete Gareth mit einem warnenden Blick, dass der sich zurückziehen sollte. Aber der hatte noch nicht alles gesagt, was ihm wichtig war.

„Tanon.“ Die vertraute Zärtlichkeit in seiner Stimme ließ sie aufblicken. „Ihr sprecht so, als wärt Ihr mein Feind.“

„Gareth“, warf William ein, der erkennbar genug gehört hatte, doch Gareth wandte sich bereits von ihr ab und ging zurück zum Fenster.

„Er hat recht“, hielt Tanon den König davon ab, noch mehr zu sagen. Als Gareth sich zu ihr umdrehte, senkte sie abermals den Blick. „Ich werde tun, was von mir erwartet wird.“

Was von ihr erwartet wurde.

Verdammt, das war nicht die von ihm erhoffte Antwort gewesen! Gareth lehnte sich wieder gegen das Fenster. Er wusste nicht, was genau er sich erhofft hatte, doch das war es ganz sicher nicht gewesen. Ihm war klar, dass sein plötzliches Eintreffen auf Winchester beim König und bei den Risandes Bestürzung ausgelöst haben musste. Er hätte sogar eingeräumt, dass Tanon durchaus das Recht hatte, von einer Heirat mit ihm abgeneigt zu sein. Doch so, wie sie sich in diesem Moment in ihr Schicksal fügte, konnte man meinen, dass man sie mit einem Dämon aus ihrem schlimmsten Albtraum verkuppelt hatte. Das versetzte ihm einen Stich ins Herz, doch es war offensichtlich dumm von ihm gewesen zu glauben, sie würde sich über dieses Wiedersehen freuen. Aber warum auch? Einen einzigen Sommer hatten sie zusammen verbracht. Heute bei ihrer ersten Begegnung hatte sie ihn nicht mal erkannt. Vermutlich erinnerte sie sich überhaupt nicht an ihn, während seine Erinnerungen an sie noch so frisch waren wie am ersten Tag. Sie war diejenige gewesen, die sich von allen anderen unterschieden hatte. Diejenige, die so völlig frei von Arglist war, dass er auch auf die Gefahr hin lächeln musste, von seinen Brüdern dafür verprügelt zu werden. Oft hatte er an sie gedacht und sie sich als eine beseelte Schönheit vorgestellt. Zurückgekehrt war er aber zu einer kultivierten und gehorsamen normannischen Dame. Ihre Voreingenommenheit gegenüber Cymru schrieb er der Tatsache zu, dass sie an einem normannischen Hof aufgewachsen war. Der Himmel allein wusste, was man ihr über sein Volk beigebracht hatte. Vermutlich war sie seinetwegen außer sich vor Angst, und doch hatte sie eben ohne Murren und Klagen zugestimmt, ihn zu heiraten. Ihn ärgerte ihre Besorgnis um deCourtenay, andererseits jedoch hatte sie ihm gesagt, dass sie erst kurze Zeit verlobt waren und er ihr nichts bedeutete. Bei Gott, wie es schien, hatte sie dieses Schicksal ebenso ohne ein Widerwort akzeptiert.

In ihren grünen Augen war kaum noch eine Spur jener einnehmenden Ungezwungenheit zu entdecken, die er einst als so unwiderstehlich empfand. Aber ihr Gesicht hatte sich nicht verändert, denn ihr Anblick bewirkte immer noch, dass ihm der Atem wegblieb. Er dachte an ihre Art, wie sie ihn kurz nach seiner Ankunft fasziniert angeschaut hatte, wie ihr ein stummes Keuchen über die Lippen gekommen war, als er ihre Hand küsste. Fast hätte er glauben können, dass vor ihm noch kein Mann sie so behandelt hatte. Er war versucht gewesen, sich vorzubeugen und sie auf ihre korallenroten Lippen zu küssen.

„Und was machen wir mit deCourtenay?“, überlegte William laut und lenkte Gareths Konzentration von Tanons Lippen auf sich. „Tanon hat recht. Er könnte daran Anstoß nehmen und auf einem Kampf um ihre Hand bestehen.“

„Dann gestattet ihm diesen Kampf“, schlug Brand vor und bedachte Gareth mit einem abschätzigen Blick. „Ich würde gern sehen, ob der Prinz über die notwendigen Fähigkeiten verfügt, um meine Tochter zu beschützen.“

Mit einer respektvollen Verbeugung nahm Gareth diese Herausforderung an. „Morgen beginnt das Turnier. Erlaubt mir, dort mein Geschick unter Beweis zu stellen, indem Ihr mich gegen deCourtenay antreten lasst. Gewinne ich, dann wird Eure Tochter mich als meine Ehefrau nach Cymru begleiten, wo ich alles unternehmen werde, um für ihre Sicherheit zu garantieren, so wie ich es auch für mein Volk mache. Verliere ich, dann werde ich ihr viel Glück mit …“, ein flüchtiges ironisches Lächeln umspielte seine Lippen, „… ihrem fürsorglichen Ehemann wünschen und mich von ihr verabschieden.“

William betrachtete skeptisch den Prinzen. Er hatte viel über das große Geschick dieses Mannes gehört, doch deCourtenay konnte auch gut mit einem Schwert umgehen. Vielleicht würden die Risandes von der Selbstüberschätzung des Prinzen profitieren, und wenn deCourtenay gewann, konnte Tanon in England bleiben, ohne dass die Vereinbarung mit Fürst Rhys davon berührt wurde. Wenn er Gareths Vorschlag ablehnte, würden sie sich immer wieder fragen, was das Schicksal an diesem Tag eigentlich für Tanon vorgesehen hatte. „Ich werde es gestatten.“ Er seufzte angesichts des Gewichts all jener Entscheidungen auf seinen Schultern, die getroffen zu haben, er längst bereute.

„Ihr könnt jetzt gehen.“ Der König entließ Gareth mit einer entsprechenden Geste. „Sagt meinem Haushalter Rupert, er soll für Euch und Eure Männer für die Dauer Eures Aufenthalts Zimmer zur Verfügung stellen.“

Tanon stand auf und zog an Gareths Ärmel, nachdem er sich verbeugt und zum Gehen gewandt hatte. Argwöhnisch runzelte sie die Stirn, während sie sich auf die Lippe biss und damit Gareths Aufmerksamkeit auf ihren Mund lenkte. „Ich dachte, ich bin für den Frieden Eures Landes so wichtig. Warum riskiert Ihr dann das Leben jener, die Euren Worten zufolge in Gefahr schweben, indem Ihr riskiert, ohne mich heimzukehren?“

Gareth musterte ihre schillernden Augen und spürte, wie sich sein Pulsschlag beschleunigte. Gott stehe ihm bei, diese Frau bewirkte noch immer, dass er sich fühlte, als hätte ihm jemand einen Fußtritt gegen die Brust verpasst. „Ich riskiere gar nichts, Mylady …“, seine Stimme war ein schmeichelndes Murmeln, gleichzeitig zog er einen Mundwinkel zu einem selbstbewussten Grinsen hoch, „… weil ich nicht verlieren werde.“

Tanon sah ihm nach und kam zu dem Schluss, dass er von hinten betrachtet genauso reine Männlichkeit ausstrahlte wie von vorn. Überhaupt war alles an ihm pure Sinnlichkeit. Er hatte keinen Zweifel an seinem Sieg, offenbar war eine Niederlage eine Möglichkeit, die er gar nicht erst in Erwägung zog. Ihr Herz rebellierte bei dem Gedanken an ein Leben in Wales, aber das Blut schoss schneller durch ihre Adern. Gareths fast schon unverschämt selbstbewusstes Lächeln weckte den Teil ihres Ichs, der sich nach Aufregung und Abenteuer sehnte, nach Dingen, die ihr durch ihre Erziehung als Adlige versagt geblieben waren. Sein Blick weckte Gefühle, die sie wünschen ließen, sich in die schützenden Arme des desinteressierten Roger deCourtenay zu flüchten und jenes Schicksal zu besiegeln, auf das sie sich bereits eingestellt hatte. Doch da war auch noch der längst begrabene Teil von ihr, der wissen wollte, ob der Held ihrer Kindheit tatsächlich so gefährlich war, wie er aussah.

„Tanon.“ Die Stimme des Königs lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf ihre Familie. „Ich würde Euch nicht darum bitten, wenn nicht so viele Menschenleben davon abhingen.“

Sie nickte, da sie dazu erzogen war, sich den Wünschen ihres Königs zu beugen. Die sanftmütigsten aller Männer hatten stets für ihren Schutz gesorgt, und sie würde immer ihr Bestes geben, um diese Männer zufriedenzustellen – vor allem, wenn eine Bitte von einer solchen Tragweite geprägt war.

Ohne Rücksicht auf ihre Gefühle sah sie William in die Augen. „Ich werde Euch nicht enttäuschen.“

 

Eine Stunde, nachdem Brand mit seiner Frau Brynna die Privatgemächer verlassen hatte, kehrte er allein dorthin zurück und fand den König nach wie vor in seinem Sessel vor dem Kaminfeuer sitzend vor. Brand grüßte den Mann auf dem Platz neben William mit einem kurzen Blick, dann durchquerte er den Raum und schenkte sich etwas zu trinken ein. Obwohl mittlerweile vierzehn Jahre vergangen waren, seit Hereward der Geächtete in Peterborough eine Rebellion von beachtlichem Ausmaß gegen die Normannen angeführt hatte, konnte Brand noch immer nicht begreifen, dass der starke Angelsachse sein Schwert niedergelegt und William Treue geschworen hatte, ganz zu schweigen davon, dass er inzwischen einer der Gesandten des Königs und sogar sein guter Freund geworden war.

„Ich fürchte, Eure Frau wird mir das nie verzeihen können.“ William starrte in den Becher, den er in seinen fleischigen Fingern hielt, dann warf er ihn ins knisternde Feuer. „Je suis désolé, mon ami.“

Einen Moment lang schloss Brand die Augen. Der König sollte nicht das bedauern, was getan werden musste, um seinem Land und seinem Volk Frieden zu bringen. Brand war an dieser Entscheidung beteiligt gewesen, von der sie hofften, dass sie den Feindseligkeiten zwischen Normannen und Walisern ein Ende setzen würden. Auf Williams Bitte hin hatte er sich einverstanden erklärt, dass ihm seine älteste Tochter weggenommen wurde, damit sie fortan beim Feind der Engländer lebte und so den Wunsch der Normannen nach Frieden symbolisierte. Er presste die Lippen zusammen und bereute sicher zum tausendsten Mal seine Entscheidung. Viele Töchter wurden hergegeben, um im Gegenzug Land, einen Titel oder Frieden zu erlangen. Sogar seine eigene Frau war gezwungen worden, ihn zu heiraten, um zwischen Angelsachsen und Normannen Blutvergießen zu verhindern. Aber jetzt handelte es sich um seine Tochter, die zugleich Williams Patenkind war, und Brand war froh darüber, dass sein bester Freund seine Trauer teilte.

„Brynna weiß, welche Opfer der Frieden erforderlich macht. Tanon wird das auch noch verstehen.“ Brand biss die Zähne zusammen, als er mit seinem Becher zum Kamin ging und sich mit der Schulter gegen den geschwungenen Sims lehnte. „Was wissen wir über Prinz Gareth? Ich kann mich an Cedric erinnern, an seinen jüngeren Bruder dagegen habe ich kaum einen Gedanken verschwendet.“

„Wir wissen einiges über ihn“, entgegnete William und sah zu ihm hoch. „Vergesst nicht, dass Hereward vor einigen Jahren einen ganzen Winter bei Fürst Rhys und Gareth verbrachte.“

Brands Blick wechselte zu dem rothaarigen Angelsachsen. „Erzählt mir über ihn.“

Hereward schlug zunächst die Beine übereinander, um es sich auf seinem Platz bequemer zu machen. „Prinz Gareth herrscht über die nördliche Region von Ystrad Towi als Regent für Fürst Rhys.“

„Das weiß ich.“ Brand schnaubte ungehalten. „Ich weiß auch, dass er gegen einen der Prinzen des Nordens gekämpft hat und für tot gehalten wurde. Hereward, erzählt mir mehr über den Mann, der der Ehemann meiner Tochter werden soll. Ist er gleichmütig? Behandelt er sein Volk gerecht?“

„Nach allem, was ich bei meinem Besuch bei ihm beobachten konnte, ist er gleichmütig und mitfühlend. Sein vormaliges Aufbegehren gegen die Normannen galt dem Schutz seines Volks. Seine Leute respektieren ihn und befolgen sein Wort wie ein Gesetz. Er hat großes Ansehen erlangt, da er einen Teil von Lord Fitzgeralds Armee zurückhielt, als die Normannen versuchten, weiter Richtung Westen vorzurücken. Und das nicht nur einmal, sondern gleich dreimal. Als Führer besitzt er großen Scharfsinn und ebensolchen Charme, der ihm sogar bei einigen von Fürst Gruffydds Leuten in Gwynedd Sympathien eingebracht hat, aber er würde nicht zögern, jedem den Kopf abzuschlagen, der seinem Volk Schaden zufügen will. Ich habe erlebt, wie er das gemacht hat.“ Das Funkeln in Herewards blassgrünen Augen erinnerte Brand daran, dass der so sanftmütig wirkende Angelsachse einst im Burghof seines Vaters die Köpfe von fünfzig Normannen aufgespießt hatte. „Die zwanzig Mann, mit denen er hergekommen ist, sind Teil seiner Teulu, seiner Leibgarde, die sich aus den vortrefflichsten Kämpfern zusammensetzt. Vier dieser Männer sind seine engsten Freunde, die geschworen haben, ihr Leben zu geben, um seines zu beschützen. Allerdings benötigt er ihren Schutz gar nicht, da er selbst ein exzellenter Krieger ist. Er geht mit dem Schwert um, als sei es ihm bei der Geburt in die Wiege gelegt worden.“

Brand strich sich über die Wange und versuchte verzweifelt, das Unvermeidbare zu akzeptieren: Er hatte seine Tochter diesem Waliser anvertraut.

„Er wird dafür sorgen, dass ihr nichts zustößt“, versicherte Hereward ihm, als könnte er Brands Gedanken lesen. Er konnte die Risandes gut leiden, und er hatte sie sogar in jenen Jahren respektiert, als die Brüder ihn wegen des Mordes an ihrer Schwester jagten, der ihn in Wahrheit gar nicht betraf. Gegen Brand hegte er keinen Groll, obwohl die Frau, die er liebte, in den Earl verliebt war. Hereward bezweifelte, dass Brand sich überhaupt der Existenz von Tanons Kindermädchen Rebecca bewusst war. Seine ganze Aufmerksamkeit galt seiner Ehefrau und der Familie.

„Prinz Gareth ist kein Barbar, Brand“, erklärte Hereward. „Er ist intelligent, und er gibt einer diplomatischen Lösung immer den Vorzug. Tatsache ist, dass Eure Tochter mit ihm viel besser bedient ist, als es bei seinem Bruder jemals der Fall hätte sein können.“

„Da bin ich mir nicht so sicher“, antwortete Brand, der Herewards Zusicherungen zum Trotz besorgt blieb. „Ich möchte mit ihr nach Wales reisen.“ Er wandte sich an den König. „Ich muss mit eigenen Augen sehen, dass sie in ihrem neuen Zuhause akzeptiert wird.“

„Das könnt Ihr nicht machen“, widersprach William mit unüberhörbarem Bedauern in seinem Tonfall, da er sah, wie Brand sich auf einen Kampf gefasst machte. Der König gebot ihm Einhalt, bevor es überhaupt zu einer Auseinandersetzung kommen konnte. „Ihr seid mein hochrangigster Befehlshaber, mon ami. Jeder in Schottland, Wales und Frankreich weiß, wer Ihr seid. Sobald Ihr auch nur einen Fuß auf walisisches Territorium setzt, wird man argwöhnen, dass Ihr gekommen seid, um einen Krieg zu führen. Euer Leben und unsere Friedensvereinbarung werden dann null und nichtig sein. Gebt Gareth und seinem Onkel Zeit, damit sie ihr Volk von der Ernsthaftigkeit unserer Absichten überzeugen können. Dann könnt Ihr sie immer noch besuchen. Bis dahin wird Gareth ihr Wohlergehen sicherstellen.“

„Der Prinz kennt sie ja kaum!“, explodierte Brand. „Ihr habt mich heute Abend lediglich davon überzeugen können, dass das Volk für den Prinzen an erster Stelle steht. Aber wer wird Tanon beschützen, wenn sich sein Volk gegen ihn wendet?“

„Das werde ich machen.“

Brand drehte sich um und sah Hereward an, den einstmals mächtigsten Gegner von König William, der ihn nun schwach anlächelte und sein Versprechen wiederholte.

„Ich werde mit ihr reisen und sie mit meinem Schwert und meinem Leben beschützen.“

Brand wollte Tanon weder mit Hereward noch mit Gareth auf den Weg nach Wales schicken. Vor dreizehn Jahren hatten die Gefolgsleute dieses Mannes seine Schwester Katherine ermordet, und fast genauso viel Zeit war nötig gewesen, ehe Brand Hereward glauben konnte, dass er mit ihrem Tod nichts zu tun hatte. Allerdings war er deshalb noch lange nicht bereit, diesem Mann seine Tochter anzuvertrauen.

Schließlich stand Hereward auf und legte seine große Hand auf Brands Schulter. „Ich werde nicht zulassen, dass ihr etwas zustößt. Ihr habt mein Wort.“

Mit verbissener Miene verließ Brand daraufhin das Gemach.