Leseprobe Die Lady und ihr geheimer Verführer

1. Kapitel

Yorkshire, England

September 1760

Nachdem die Kutsche zusammengebrochen war und kurz bevor die Pferde auf und davon galoppierten, wurde Lady Georgina Maitland gewahr, dass ihr Gutsverwalter ein Mann war. Nun ja, eigentlich wusste sie natürlich, dass Harry Pye ein Mann war, denn sie erlag keineswegs dem Irrglauben, dass er ein Löwe oder ein Elefant oder ein Walfisch oder irgendein anderes Exemplar des Tierreiches sei – so man denn einen Wal zu den Säugetieren zählen konnte und nicht nur einen überaus großen Fisch in ihm sah. Nein, was sie damit sagen wollte, war, dass sie sich auf einmal seiner artspezifischen Männlichkeit sehr bewusst geworden war.

Während sie nun so auf dem trostlos verlassenen Fuhrweg stand, der zur East Riding in Yorkshire führte, runzelte George die Stirn. Um sie her erstreckte sich schier endlos das Hügelland, voller Ginsterbüsche bis an den grauen Horizont. Wegen des heftigen Unwetters setzte die Dunkelheit früher ein und weitaus rascher als erwartet. So trostlos und verlassen war es hier, dass sie sich genauso gut am Ende der Welt hätten befinden können.

„Würden Sie einen Wal zu den Säugetieren zählen oder ist ein Wal nur ein sehr großer Fisch, Mr. Pye?“, schrie sie gegen den Wind an.

Harry Pye zog seine Schultern hoch, die übrigens nur von einem völlig durchnässten Batisthemd verhüllt waren, welches sich in überaus reizvoller Weise an seine Haut schmiegte. Kurz zuvor hatte er sich schon seines Rocks und seiner Weste entledigt, um John Coachman dabei zu helfen, die Pferde von dem umgestürzten Gefährt abzuschirren.

„Ein Säugetier, Mylady.“ Wie immer war Mr. Pyes Stimme ruhig und tief mit einem leicht rauen Unterton.

Noch nie hatte George ihn seine Stimme erheben oder anderweitig seinen Unmut bekunden hören. Weder als sie darauf bestanden hatte, ihn auf ihren Landsitz nach Yorkshire zu begleiten, noch als der Regen eingesetzt und ihr Reisetempo erheblich gedrosselt hatte, und auch dann nicht, als die Kutsche vor zwanzig Minuten schließlich umgekippt war.

Wie außerordentlich enervierend! „Glauben Sie denn, dass Sie die Kutsche wieder flottbekommen?“ Sie zog sich ihren triefnassen Umhang bis über das Kinn und betrachtete zweifelnd das ramponierte Gefährt. Der Schlag hing lose an nur noch einem Scharnier und klapperte kläglich im Wind, zwei Räder waren gebrochen, und die Hinterachse ragte in einem höchst unnatürlichen Winkel hervor. Zugegeben, die Frage war sehr töricht.

Doch Mr. Pye ließ weder in seinem Verhalten noch durch seine Worte erkennen, dass er sich der unsäglichen Dummheit ihrer Frage bewusst wäre. „Nein, Mylady“, erwiderte er völlig ernst.

George seufzte.

Wirklich, es grenzte an ein Wunder, dass sie beide und der Kutscher bei dem Unfall nicht verletzt oder gar umgekommen waren. Der Regen hatte die Straßen und Wege in Schlammpisten verwandelt, und als sie eben eine Kurve umrunden wollten, war die Kutsche ins Rutschen geraten. Bis ins Innere des Wagens hatten sie und Mr. Pye das laute Fluchen des Kutschers gehört, als er vergeblich versuchte, das Gefährt wieder auf Kurs zu bringen. Geschmeidig wie eine Raubkatze war Harry Pye von seinem Sitz aufgesprungen und hatte sich auf sie gestürzt. Bevor sie auch nur ein Wort herausbringen konnte, hatte er sie schützend festgehalten. Seine Wärme umfing sie, und da ihre Nase sich recht vertraulich in sein Hemd gegraben hatte, konnte sie den Geruch von frischem Linnen und von Männerhaut tief in sich aufsaugen. Mittlerweile hatte die Kutsche bedenkliche Schräglage, und es schien unausweichlich, dass sie in den Graben stürzen würden.

Quälend langsam war das Vehikel dann schließlich mit einem unheilvollen Krachen in sich zusammengestürzt. Die Pferde hatten lauthals gewiehert und die Kutsche ein Ächzen von sich gegeben, als beklage sie ihr missliches Schicksal. George wähnte sich am Ende ihrer Tage und klammerte sich an Mr. Pyes Rock, und Mr. Pye wiederum stöhnte vor Schmerz. Und dann war alles still. Das Gefährt war auf der Seite zu liegen gekommen, und Mr. Pye lag wie eine große warme Decke auf ihr. Allerdings fühlte Harry Pye sich sehr viel solider an als jedwede Decke, mit der sie sich jemals bedeckt hatte.

Sehr förmlich und korrekt hatte er sich entschuldigt, hatte sich eilends von ihr frei gemacht und war auf den Sitz geklettert, um den Wagenschlag über ihnen aufzustemmen. Behände war er hinausgeklettert und hatte sie mit festem Griff aus dem Wagen gezogen. George rieb sich das Handgelenk, an dem er sie gepackt hatte. Er war beunruhigend stark – was man nicht unbedingt vermuten würde, wenn man ihn sich so ansah. Kurzzeitig hatte sie gar mit ihrem ganzen Gewicht an seinem Arm gehangen, und sie war keineswegs eine zierliche Frau.

Der Kutscher stieß einen Schrei aus, der zwar sogleich vom Wind davongetragen wurde, sie aber dennoch aus ihren Gedanken riss. Die Stute war erfolgreich vom Gespann abgeschirrt.

„Seien Sie so gut und reiten Sie auf ihr in die nächste Ortschaft, Mr. Coachman“, wies Harry Pye ihn an. „Sehen Sie zu, dass Sie eine Kutsche finden, die uns geschickt werden kann. Ich bleibe derweil mit Ihrer Ladyschaft hier.“

Der Kutscher stieg aufs Pferd und winkte ihnen kurz zu, bevor er im strömenden Regen verschwand.

„Wie weit ist es denn bis zur nächsten Ortschaft?“, fragte George.

„Zehn oder fünfzehn Meilen.“ Er lockerte einem der verbliebenen Pferde das Geschirr.

Während er so arbeitete, besah sie ihn sich etwas ausführlicher. Mal abgesehen davon, dass er nun bis auf die Haut durchnässt war, sah Harry Pye eigentlich noch immer genauso aus wie heute Morgen, da sie von einem Gasthof in Lincoln aufgebrochen waren. Er war noch immer ein Mann von mittlerem Wuchs und eher schmaler Statur. Sein Haar war braun. Weder kastanienbraun noch rotbraun, sondern einfach nur braun. Er hatte es sich zu einem schlichten Zopf zurückgebunden und sich nicht die Mühe gemacht, es mit Pomade oder Puder zu frisieren. Und gekleidet war er auch in Braun: braune Breeches, braune Weste, brauner Rock – ganz so, als wolle er sich hier in der tristen Landschaft tarnen. Einzig seine Augen verliehen ihm etwas Farbe: Sie waren von einem dunklen Smaragdgrün, das manchmal hell aufblitzte, was vielleicht auf doch vorhandene Gefühlsregungen hindeuten mochte.

„Ich frage nur, weil mir ziemlich kalt ist“, murmelte George.

Mr. Pye sah sofort von seiner Arbeit auf. Sein Blick fiel auf ihre zitternden Hände, mit denen sie ihren Umhang am Hals zusammenhielt, und schweifte dann weiter zu den Hügeln, die sich hinter ihr erstreckten.

„Verzeihen Sie, Mylady. Mir hätte natürlich auffallen sollen, dass Sie frieren.“ Damit wandte er sich wieder dem verängstigten Wallach zu, den er gerade zu befreien versuchte. Seine Hände mussten gewiss ebenso taub vor Kälte sein wie die ihren, doch er arbeitete stetig und unbeirrt weiter. „Nicht weit von hier ist eine Schäferkate. Wir könnten diese beiden hier nehmen und dorthin reiten.“ Er deutete mit einer knappen Kopfbewegung auf den Wallach und das Pferd gleich daneben. „Das andere lahmt.“

„Wirklich? Woher wissen Sie das?“ Ihr wäre nicht aufgefallen, dass das Tier verletzt war. Alle drei Pferde zitterten vor Kälte und verdrehten, vom Heulen des Windes verängstigt, wild die Augen. Die beiden, die sie zu dieser Kate tragen sollten, sahen keinen Deut weniger mitgenommen aus als das vermeintlich verletzte.

„Weil sie ihre rechte Vorderhand anzieht“, knurrte Mr. Pye, der just in diesem Moment alle drei Tiere von der Kutsche abgespannt hatte, wenngleich noch alle zusammen im Geschirr steckten. „Ho! Hiergeblieben, meine Gute.“ Er packte das Zugpferd beim Zaum und streichelte es, fuhr sanft mit seiner gebräunten Rechten über den Hals des Tieres. An seinem Ringfinger fehlten die beiden oberen Glieder.

Sie wandte sich ab und blickte auf die weiten Hügel um sie her. Dienstboten – und mal ganz ehrlich, ein Gutsverwalter war doch schließlich auch nur ein etwas besserer Dienstbote – sollten keinerlei Geschlecht haben. Natürlich war ihr durchaus bewusst, dass auch Domestiken Menschen waren und ein Eigenleben führten und so weiter und so fort, aber es vereinfachte einem das Leben doch erheblich, wenn man sie sich als geschlechtslose Wesen dachte. Oder gleich ganz als leblose Dinge. So wie einen Stuhl. Ein Stuhl diente dazu, sich daraufzusetzen, wenn man müde war. Ansonsten machte man sich wenig Gedanken über den Stuhl, und genau so sollte es sein. Wie verdrießlich wäre es doch, würde man sich darüber den Kopf zerbrechen, ob der Stuhl bemerkt hatte, dass einem die Nase lief, oder man sich wünschen würde zu wissen, was der Stuhl dachte oder gar bemerkte, dass der Stuhl eigentlich recht schöne Augen hatte. Stühle hatten natürlich keine Augen, weder schöne noch anderweitig, aber Männer hatten welche.

Und so auch Harry Pye.

George wandte sich ihm wieder zu. „Was werden Sie denn mit dem dritten Pferd machen?“

„Wir werden sie hierlassen müssen.“

„Im Regen?“

„Ja.“

„Das dürfte ihr nicht gut bekommen.“

„Nein, Mylady.“ Abermals zog Harry Pye die Schultern hoch, was George wundersamerweise eine sehr faszinierende Reaktion fand. Sie wünschte sich, sie bekäme ihn dazu, das öfter zu machen.

„Vielleicht könnten wir sie ja mit uns nehmen?“

„Ausgeschlossen, Mylady.“

„Da sind Sie sich ganz sicher?“

Seine Schultern strafften sich, und langsam wandte Mr. Pye den Kopf zu ihr um. Im grellen Schein eines Blitzes, der genau in diesem Moment den Fuhrweg erhellte, sah sie seine grünen Augen funkeln, und ein Schauer lief ihr den Rücken hinab. Der nachfolgende Donner krachte so laut, als wolle er den nahenden Weltuntergang ankündigen.

George zuckte zusammen.

Harry Pye richtete sich auf.

Und die Pferde gingen durch.

„Oje“, sagte Lady Georgina, derweil ihr der strömende Regen von ihrer schmalen Nase troff. „Nun sitzen wir wohl ein wenig in der Bredouille.“

Ein wenig in der Bredouille! Dass er nicht lachte. Ein schöner Schlamassel war das. Harry kniff die Augen zusammen und schaute den Pferden nach, die davongaloppierten, als sei der Leibhaftige hinter ihnen her. Aber schon waren die schreckhaften Biester seinem Blick ganz entschwunden. Weit und breit nichts mehr von ihnen zu sehen. Und so, wie die sich aus dem Staub gemacht hatten, würden sie gewiss noch eine halbe Meile weiterpreschen. Völlig sinnlos, ihnen jetzt, inmitten des Unwetters, nachzustellen. Also wandte er den Blick von der verlassenen Straße ab und der Dame zu, die seit gerade einmal sechs Monaten seine Dienstherrin war. Lady Georginas aristokratische Lippen waren blau gefroren, und der Pelzbesatz ihres Umhangs hatte sich in einen triefnassen Mopp verwandelt. Sie sah einem Bettlermädchen in ramponiertem Putz weit ähnlicher als der Tochter eines Earls.

Was hatte sie hier draußen eigentlich zu suchen?

Wäre Lady Georgina nicht gewesen, so würde er zu Pferd von London her zu ihren Gütern in Yorkshire geritten sein. Gestern schon wäre er auf Woldsley Manor eingetroffen. Jetzt gerade säße er vor dem Kamin in seinem kleinen Cottage und würde sich an einer warmen Mahlzeit erfreuen, statt sich hier den Hintern abzufrieren, mitten auf dieser gottverlassenen Landstraße zu stehen, noch dazu im strömenden Regen, derweil das ohnehin schon dürftige Tageslicht stetig schwand. Aber als er zuletzt in London gewesen war, um seiner Herrin wie üblich Bericht zu erstatten, hatte Lady Georgina beschlossen, mit ihm zurück nach Woldsley Manor zu reisen. Was bedeutete, dass man die Kutsche zu nehmen hatte, die nun als ein Haufen geborstenen Holzes im Graben lag.

Harry verkniff sich ein Seufzen. „Könnten Sie wohl laufen, Mylady?“

Lady Georgina sah ihn aus großen Augen an, die so blau waren wie Drosseleier. „Aber gewiss doch. Ich kann laufen, seit ich elf Monate alt war.“

„Gut.“ Harry streifte sich Weste und Rock über, machte sich indes nicht die Mühe, sie zuzuknöpfen. Beides war ebenso durchnässt wie alles, was er am Leibe trug, und er wollte die Sachen so schnell wie möglich wieder ausziehen. Er kletterte die Böschung hinunter, um die Felldecken aus dem Wrack zu holen. Wenigstens die waren trocken. Er rollte sie zusammen und nahm auch die Kutschenlaterne, die glücklicherweise nicht erloschen war. Dann fasste er Lady Georgina fest beim Ellenbogen – nur für den Fall, dass sie ihre Fertigkeiten überschätzte und sich nach ein paar Schritten auf unebenem Grund auf ihr aristokratisches Gesäß setzen würde – und marschierte den ginsterbestandenen Hang hinauf.

Zunächst hatte er ihren Wunsch, nach Yorkshire zu reisen, für eine kindische Laune gehalten. Die Laune einer Frau, die nie auch nur einen Gedanken daran verschwendete, wo das Fleisch auf ihrem Teller herkam oder die Juwelen an ihrem Hals. Denn seines Wissens hatten all jene, die sich ihren Lebensunterhalt nicht selbst erarbeiten mussten, des Öfteren derlei verrückte Ideen. Doch je mehr Zeit er mit ihr verbrachte, desto eher zweifelte er daran, ob auch sie eine dieser Frauen war. Natürlich sagte sie manchmal Sachen, bei denen man sich nur an den Kopf greifen konnte, wohl wahr, aber ihm war schon ziemlich bald aufgefallen, dass sie es vor allem deshalb tat, um sich darüber zu belustigen. Sie war schlauer als die meisten Damen der guten Gesellschaft. Er hatte so eine Ahnung, dass Lady Georgina nicht nur aus einer flüchtigen Laune heraus mit ihm nach Yorkshire reiste, sondern einen sehr guten Grund dafür hatte.

„Ist es noch weit?“ Sie schnaufte, und auf ihrem üblicherweise blassen Gesicht blühten zwei rote Flecken.

Harry ließ den Blick über das feucht verhangene Hügelland schweifen und versuchte, in der Düsternis einen Anhaltspunkt auszumachen, wo sie sich befanden. Kam ihm diese verkrüppelte Eiche dort hinten an dem Felsvorsprung nicht irgendwie bekannt vor? „Nein, nicht mehr weit.“

Zumindest hoffte er das. Es war Jahre her, seit er das letzte Mal über die Hügel geritten war, und vielleicht erinnerte er sich ja nicht mehr so genau daran, wo die alte Schäferkate lag. Oder sie war in der Zwischenzeit längst zusammengefallen.

„Ich will nur hoffen, dass Sie sehr geschickt darin sind, ein Feuer zu machen, Mr. P…Pye.“ Sein Name bibberte auf ihren Lippen.

Sie musste sich aufwärmen. Wenn er diese Kate nicht bald fände, würde er ihr einen Unterschlupf aus den Decken machen müssen, die er bei sich trug. „Aber gewiss doch. Ich mache das, seit ich vier war, Mylady.“

Das brachte ihm ein verschmitztes Grinsen ein. Ihre Blicke trafen sich, und er wünschte … Ein jäher Blitz riss ihn aus seinen halb garen Gedanken, und in seinem grellen Schein sah er auf einmal eine steinerne Wand nicht weit von ihnen.

„Da ist es.“ Gott sei Dank.

Wenigstens stand die kleine Kate noch. Vier Wände aus grob behauenem Stein und ein Strohdach, das im Laufe der Jahre vom Regen völlig schwarz geworden war. Er stemmte sich mit der Schulter gegen die morsche Holztür, und nachdem er ein- oder zweimal kräftig dagegen gestoßen hatte, gab sie nach. Harry taumelte jäh hinein und hielt die Laterne hoch, um sich umzusehen. Kleine Schatten flüchteten eilig in die dunklen Winkel. Mit Mühe unterdrückte er ein Schaudern.

„Puh! Das stinkt aber hier.“ Lady Georgina kam herein und fächelte mit der Hand vor ihrer rosig geröteten Nase herum, als könne sie so den Geruch von Schimmel und Moder verscheuchen.

Mit einem Knall ließ er die Tür hinter ihr zufallen. „Das tut mir sehr leid, Mylady.“

„Warum sagen Sie mir nicht einfach, dass ich endlich meinen Mund halten und froh sein soll, im Trockenen zu sein?“ Sie lächelte und streifte sich ihre Kapuze ab.

„Wie könnte ich, Mylady.“ Harry trat an die Feuerstelle und schob ein paar halb verkohlte Holzscheite zusammen.

„Ach, nun kommen Sie schon, Mr. Pye. Sie wissen genauso gut wie ich, dass Sie das gerne w…w…würden.“ Sie fror immer noch so sehr, dass ihr die Zähne klapperten.

Um einen schiefen Tisch herum standen vier klapprige Holzstühle. Harry stellte die Laterne auf dem Tisch ab, griff sich einen der Stühle und schlug ihn gegen den Kaminsims. Der Stuhl ging mit dumpfem Krach entzwei, die Lehne fiel zu Boden, und der Sitz barst.

Hinter sich hörte er Lady Georgina erschrocken aufschreien.

„Nein, das würde ich keineswegs, Mylady“, sagt er.

„Wirklich nicht?“

„Nein.“ Er kniete sich hin und begann, einige der Holzsplitter um die angekohlten Scheite herum aufzuschichten.

„Na, dann eben nicht. Dann sollte ich wohl versuchen, ein bisschen netter zu Ihnen zu sein.“ Harry hörte, wie sie sich einen Stuhl heranzog. „Das sieht wirklich sehr gekonnt aus, was Sie da machen.“

Er hielt die Flamme der Laterne an die Holzsplitter, wartete, bis sie Feuer gefangen hatten, und schichtete dann ganz vorsichtig größere Bruchstücke des Stuhls dazu, immer sorgsam darauf bedacht, die Flamme nicht gleich wieder zu ersticken.

„Mmmh. Das fühlt sich doch schon sehr gut an“, erklang es hinter ihm. Ihre Stimme war ein wenig heiser.

Einen Moment erstarrte Harry, weil er sich vorstellte, was ihre Worte und ihr Ton in einem anderen Zusammenhang bedeuten mochten, doch dann verbannte er diesen Gedanken rasch und wandte sich um.

Lady Georgina streckte ihre Hände dem prasselnden Feuer entgegen. Ihr rotblondes Haar trocknete ihr in winzigen Locken um die Stirn herum, und ihre blasse Haut erglühte im Feuerschein. Doch noch immer zitterte sie.

Harry räusperte sich. „Ich denke, Sie sollten Ihr nasses Kleid ausziehen und sich in eine der Decken einwickeln.“ Schnellen Schrittes ging er zur Tür, wo er das Bündel mit den Decken hatte fallen lassen.

Hinter sich vernahm er ein atemloses Lachen. „Ich wüsste wahrlich nicht, wann ich jemals eine unschickliche Aufforderung so schicklich vorgetragen gehört hätte.“

„Ich meinte es nicht unschicklich, Mylady.“ Er reichte ihr die Decken. „Es tut mir leid, wenn ich Sie brüskiert habe.“ Kurz begegneten sich ihre Blicke, und er schaute einen Moment in ihre Augen, die so blau waren und seinen Blick sichtlich belustigt erwiderten, dann wandte er ihr den Rücken zu.

Hinter ihm raschelte es. Er versuchte, seine Gedanken zu zügeln. Nein, er würde sich nicht vorstellen, wie ihre blassen, entblößten Schultern sich über ihren …

„Natürlich sind Sie nicht unschicklich, wie Sie sehr wohl wissen, Mr. Pye. In der Tat beginne ich langsam zu glauben, dass Sie gar nicht dazu in der Lage wären.“

Wenn sie nur wüsste! Er räusperte sich, enthielt sich aber jeglicher Bemerkung. Lieber widmete er seine ganze Aufmerksamkeit einer kurzen Bestandsaufnahme der Örtlichkeiten. Doch viel gab es nicht zu sehen. Kein Vorratsschrank, nur der Tisch und die Stühle. Ein Jammer, denn ihm knurrte der Magen.

Am Feuer hatte es derweil zu rascheln aufgehört. „Sie können sich jetzt wieder umdrehen.“

Er machte sich auf alles gefasst, bevor er tat, wie ihm geheißen, doch Lady Georgina war von oben bis unten in dicke Felldecken gehüllt. Erleichtert sah er, dass ihre Lippen schon wieder etwas rosiger waren.

Sie befreite einen ihrer nackten Arme aus dem Fellbündel und zeigte auf eine einzelne Decke, die am Kamin lag. „Eine habe ich Ihnen übrig gelassen. Ich finde es geradezu behaglich, als dass ich mich von der Stelle rühren wollte, aber ich werde die Augen zumachen und verspreche Ihnen, nicht zu gucken, wenn Sie sich auch umziehen wollen.“

Harry riss seinen Blick von ihrem entblößten Arm los und fand ihre klugen blauen Augen auf sich gerichtet. „Danke.“

Und schon war der Arm auch wieder verschwunden. Lady Georgina lächelte und senkte die Lider.

Einen Augenblick lang sah Harry sie nur an. Die rötlich geschwungenen Bögen ihrer Wimpern legten sich flatternd auf ihre blassen Wangen, und ein leicht amüsiertes Lächeln umspielte ihren Mund. Ihre Nase war schmal und über die Maßen lang, ihre Züge etwas zu scharf geschnitten. Wenn sie neben ihm stand, war sie fast ebenso groß wie er. Eine schöne Frau war sie nicht, aber dennoch ertappte er sich immer wieder dabei, wie er in ihrer Gegenwart seine Blicke zügeln musste. Vielleicht lag es daran, wie sie sichtlich vergnügt die Mundwinkel hob, wenn sie ihn neckte. Oder daran, wie ihre Augenbrauen sich ihre hohe Stirn hinaufschwangen, wenn sie lächelte. Ihr Gesicht zog seine Blicke so unweigerlich an wie ein Magnetit Eisenspäne anzog.

Rasch entledigte er sich seines Rocks, seiner Weste und des Hemdes und wickelte sich die verbliebene Decke um den bloßen Oberkörper. „Sie können Ihre Augen jetzt wieder aufmachen, Mylady.“

Jäh schlug sie die Augen auf. „Sehr schön. Und nun sehen wir beide aus wie Russen, die sich für den sibirischen Winter dick eingemummelt haben. Schade, dass wir nicht auch noch einen Schlitten mit kleinen Glöckchen daran haben.“

Er nickte. In der nachfolgenden Stille war nur das Knistern und Prasseln des Feuers zu hören, und Harry überlegte angestrengt, was er noch für sie tun könne. Es gab hier nichts zu essen, und ihnen blieb wenig mehr zu tun, als den nächsten Morgen abzuwarten. Was stellten die feinen Herrschaften bloß mit ihrer Zeit an, wenn sie im Salon beisammensaßen?

Lady Georgina zupfte eine Weile an ihrem Fellgewand herum, doch auf einmal faltete sie entschlossen ihre Hände im Schoß, als wolle sie sie zur Ruhe zwingen. „Kennen Sie irgendwelche schönen Geschichten, Mr. Pye?“

„Geschichten, Mylady?“

„Ja, Geschichten. Märchen, um ganz genau zu sein. Ich sammle Märchen.“

„Ah ja.“ Harry fehlten die Worte. Märchen sammeln! Manchmal war es schon sehr befremdlich, zu erfahren, was den Adel in seiner Muße so umtrieb. „Und wie … wie gehen Sie dabei vor, wenn ich fragen darf?“

„Indem ich die Leute frage, ob sie mir welche erzählen.“ Oder wollte sie sich etwa über ihn lustig machen? „Sie würden sich wundern, wie viele Geschichten die Leute noch aus ihrer Kindheit kennen. Alte Ammen sind natürlich die ergiebigsten Quellen. Mittlerweile habe ich wahrscheinlich all meine Bekannten darum gebeten, mich ihren einstigen Kinderfrauen vorzustellen. Lebt Ihre Amme noch?“

„Ich hatte keine Amme, Mylady.“

„Oh.“ Ihre Wangen röteten sich. „Aber irgendjemand … nun, vielleicht ja ihre Mutter … wird ihnen doch Märchen erzählt haben, als Sie klein waren?“

Er bückte sich, um noch ein Stück zerbrochenen Stuhls auf das Feuer zu legen. „Das einzige Märchen, an das ich mich erinnern kann, ist ‚Hans und die Bohnenranke‘.“

Lady Georgina bedachte ihn mit einem bedauernden Blick. „Etwas Besseres fällt Ihnen nicht ein?“

„Nein, tut mir leid.“ Ansonsten kannte er nur Geschichten, die nicht unbedingt für die Ohren einer Dame geeignet waren.

„Nun denn. Ich habe kürzlich eine sehr interessante Geschichte gehört. Von der Tante meiner Köchin, als sie in London zu Besuch war. Soll ich sie Ihnen erzählen?“

Nein. Mit seiner Dienstherrin noch vertrauter zu werden, als die Umstände es ihm bereits aufgezwungen hatten, hatte ihm jetzt gerade noch gefehlt. „Wenn Sie wünschen, Mylady.“

„Es war einmal ein König, der hatte einen verwunschenen Leoparden in seinen Diensten.“ Sie hielt inne und setzte sich auf ihrem Stuhl zurecht. „Ich weiß, was Sie jetzt denken, aber es kommt ganz anders.“

Harry blinzelte verdutzt. „Mylady?“

„Der König stirbt gleich am Anfang, er ist also nicht der Held.“ Sie schaute ihn erwartungsvoll an.

„Ah.“ Mehr fiel ihm dazu nicht ein.

Doch das schien zu genügen.

Lady Georgina nickte. „Der Leopard trug eine goldene Kette um den Hals, denn wie wir ja bereits wissen, stand er in Diensten des Königs und war seiner Freiheit beraubt, aber wie es dazu gekommen war, weiß ich nicht. Die Tante meiner Köchin hat es mir nicht verraten. Doch wie dem auch sei, als der König im Sterben lag, hieß er den Leoparden versprechen, dem neuen König ebenfalls zu dienen, dem Sohn des alten Königs.“ Sie runzelte die Stirn. „Eigentlich sehr ungerecht, finden Sie nicht auch? Ansonsten wird dem treuen Diener an dieser Stelle doch immer die Freiheit geschenkt.“ Wieder setzte sie sich auf dem knarzenden Holzstuhl zurecht.

Harry räusperte sich. „Vielleicht fänden Sie es ja auf dem Boden bequemer, Mylady. Ihr Umhang ist schon fast getrocknet. Ich könnte Ihnen ein Lager vor dem Feuer bereiten.“

Sie strahlte ihn an. „Eine fantastische Idee.“

Er breitete ihren Umhang auf dem Boden aus und rollte seine Kleider zu einem Kissen zusammen.

Lady Georgina huschte in ihre Felldecken gewandet herbei und ließ sich auf das einfache Lager sinken. „Ach“, seufzte sie, „das ist schon besser. Wenn Sie möchten, können Sie sich auch hinlegen. So, wie es aussieht, werden wir ja hier bis zum Morgen ausharren müssen.“

Herrgott aber auch! „Das hielte ich für wenig ratsam.“

Streng sah sie ihn an. „Mr. Pye, diese Stühle sind furchtbar unbequem. Bitte kommen Sie her und ruhen sich aus. Ich verspreche auch, Sie nicht zu beißen.“

Blieb ihm denn eine andere Wahl? Er holte tief Luft. Das war ja praktisch ein Befehl. „Danke, Mylady.“

Behutsam nahm Harry neben ihr Platz – der Teufel solle ihn holen, wenn er sich neben diese Frau legen würde, Befehl hin, Befehl her – und hielt sorgsam Abstand. Er schlang die Arme um seine Knie und versuchte, nicht weiter darauf zu achten, dass Lady Georginas Duft ihm in die Nase stieg.

„Sie sind ganz schön störrisch, was?“, murmelte sie.

Er sah sie an.

Sie gähnte. „Wo war ich stehen geblieben? Oh ja. Kaum ist der junge König gekrönt, sieht er das Bildnis einer schönen jungen Prinzessin und verliebt sich in sie. Ein Bote oder ein Gesandter oder wer auch immer hat ihm das Bildnis gezeigt, aber eigentlich ist das auch gar nicht weiter wichtig, wer es war.“

Wieder gähnte sie, und diesmal entfuhr ihr dabei ein leises Quieken, und aus irgendeinem unerfindlichen Grund fand er das sehr erregend. Oder war es vielleicht doch nur ihr Duft, der ihn umfing, ob er wollte oder nicht? Sie roch nach Gewürzen und exotischen Blumen.

„Die Prinzessin hatte eine Haut so weiß wie Schnee, Lippen so rot wie Blut und Haare so schwarz wie … ach, so schwarz wie Pech oder Ebenholz oder was weiß ich. Und so weiter und so fort.“ Lady Georgina hielt inne und blickte gedankenverloren ins Feuer.

Harry fragte sich, ob sie mit ihrer Geschichte wohl fertig und seine Qual zu Ende wäre.

Dann seufzte sie. „Ist Ihnen eigentlich auch schon mal aufgefallen, dass diese Märchenprinzen sich immer in wunderschöne Prinzessinnen verlieben, ohne auch nur irgendetwas über sie zu wissen? Blutrote Lippen sind ja durchaus nicht zu verachten, aber was, wenn sie furchtbar schrill lacht oder beim Essen die Zähne aneinanderschlägt?“ Sie zuckte die Achseln. „Aber Männer neigen wohl zu allen Zeiten dazu, sich in schwarz gelockte Schönheiten zu verlieben, weshalb ich wohl nicht so spitzfindig sein sollte.“ Urplötzlich riss sie die Augen weit auf und wandte den Kopf, um ihn anzusehen. „Das war natürlich keineswegs persönlich gemeint.“

„Keine Ursache.“

„Hmmm.“ Sie klang nicht gerade überzeugt. „Sei’s drum. Er verliebt sich wie gesagt in dieses Bildnis, und dann erzählt ihm jemand, dass der Vater der Prinzessin sie dem Mann zur Frau geben würde, der ihm das Goldene Pferd bringt, welches sich in den Klauen eines schrecklichen Ungeheuers befand. Und so …“, Lady Georgina drehte sich mit dem Gesicht zum Kaminfeuer und schmiegte die Wange in ihre Hand, „… schickt er nach dem verwunschenen Leopardenprinzen und befiehlt ihm, sich rasch auf den Weg zu machen und ihm das Goldene Pferd zu beschaffen, und raten Sie mal, was dann passiert.“

„Ich weiß es nicht, Mylady.“

„Der Leopard verwandelte sich in einen Mann.“ Sie schloss die Augen und murmelte: „Stellen Sie sich das nur mal vor. Da war er all die Zeit über ein Mann …“

Harry wartete geduldig, doch diesmal sollte die Geschichte keine Fortsetzung mehr finden. Nach einer Weile vernahm er leises Schnarchen.

Er zog ihr die Decken bis zum Kinn hinauf, damit sie gut zugedeckt war. Seine Finger streiften ihre Wange. Er hielt inne und begutachtete den Kontrast zwischen seiner gebräunten Haut und der ihren, die so hell war, so zart und weich, während seine Finger rau und schwielig waren. Mit dem Daumen strich er leicht über ihren Mundwinkel. Wie warm und verlockend. Fast meinte er, sich an ihren Duft zu erinnern, als sei er ihm aus einem anderen Leben oder aus früherer Zeit vertraut. Er verzehrte sich nach ihr.

Wenn sie eine andere Frau wäre, wenn sie anderswo wären, wenn er ein anderer Mann wäre … Harry versagte sich derartige Einflüsterungen und zog seine Hand zurück. Sorgsam darauf bedacht, Lady Georgina nicht zu berühren, streckte er sich neben ihr aus. Er starrte zur Decke hinauf und verbannte alle Gedanken aus seinem Kopf und jegliche Empfindungen gleich mit. Endlich schloss er die Augen, wenngleich er wusste, dass er so bald nicht würde einschlafen können.

Ihre Nase juckte. George rieb sie sich und bekam warmes Fell zu fassen. Neben sich hörte sie es leise rascheln, dann war alles wieder still. Sie wandte den Kopf und blickte geradewegs in ein Paar grüne Augen, die angesichts der frühen Stunde geradezu unverschämt wach wirkten.

„Guten Morgen.“ Mehr als ein Krächzen brachte sie nicht zustande. Sie räusperte sich.

„Guten Morgen, Mylady.“ Mr. Pyes Stimme war so dunkel und warm wie heiße Schokolade. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden.“

Er stand auf. Die Felldecke, die er um sich geschlungen hatte, rutschte ihm dabei von der Schulter und enthüllte gebräunte Haut, bevor er sich rasch wieder bedeckte. Lautlosen Schrittes eilte er zur Tür hinaus.

George krauste ihre noch immer leicht juckende Nase. Vermochte diesen Mann denn gar nichts aus der Fassung zu bringen?

Als ihr indes aufging, was er aller Wahrscheinlichkeit nach dort draußen tat, schlug auch ihre Blase plötzlich Alarm. Hastig setzte sie sich auf und zog sich ihr zerknittertes, noch immer ein wenig klammes Kleid an und versuchte, es so weit wie möglich zu schließen. An alle Haken und Ösen kam sie zwar nicht heran, und eine gute Figur machte sie so gewiss auch nicht, aber zumindest fiel es ihr nicht gleich wieder vom Leib. George warf sich ihren Umhang um, damit ihr nur halb angekleideter Zustand verdeckt sei, und folgte Mr. Pye nach draußen. Finstere Wolken dräuten am Himmel und verhießen abermals Regen. Von ihrem Verwalter war weit und breit nichts zu sehen. Sie schaute sich um und entschied sich schließlich für einen verfallenen Schuppen, hinter dem sie sich erleichtern wollte, und machte sich auf den Weg.

Als sie fertig war und wieder hinter dem Schuppen hervorkam, stand Mr. Pye vor der Kate und knöpfte sich gerade seinen Rock zu. Er hatte sich seinen Zopf frisch gebunden, doch seine Kleider waren ebenso zerknittert wie die ihren und sein Haar längst nicht so ordentlich gestriegelt wie sonst. In Anbetracht dessen, wie ramponiert sie selbst aussehen musste, entlockte ihr dieser Umstand ein zufriedenes Lächeln, denn da schau an – nicht einmal Harry Pye gelang es, eine Nacht auf dem Boden einer armseligen Kate zu verbringen, ohne dass man es ihm am nächsten Morgen angesehen hätte.

„Wenn Sie dann so weit wären, Mylady“, sagte er, „würde ich vorschlagen, dass wir zur Straße zurückkehren. Der Kutscher dürfte uns bereits erwarten.“

„Oh, das will ich hoffen.“

Sie gingen denselben Weg zurück, den sie am Abend zuvor gekommen waren. Nun, da es hell war und meist bergab ging, stellte George überrascht fest, dass es gar nicht so weit war. Als sie gerade die letzte Anhöhe erklommen hatten, tat sich unter ihnen auch schon die Straße auf. Sie lag leer und verlassen da – einmal abgesehen von dem Kutschenwrack, das bei Tage besehen ein noch erbärmlicheres Bild bot als gestern Abend.

George tat einen schweren Seufzer. „Nun denn. Da wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben als zu laufen, Mr. Pye.“

„Sieht ganz so aus, Mylady.“

Schweigend trotteten sie den Fuhrweg entlang. Über dem Boden lag feiner feuchter Nebel, von dem ein schwacher Geruch nach Moder und Verfall aufstieg. Kalt und klamm drang er unter ihren Rock und kroch ihre Beine hinauf. George erschauerte. Sie sehnte sich nach einer Tasse heißem Tee, und gegen einen frisch gebackenen Crumpet, von dem Butter und Honig tropften, hätte sie auch nichts einzuwenden gehabt. Der Gedanke war so köstlich und verlockend, dass sie fast verzückt geseufzt hätte – als sie auf einmal hinter sich ein dumpfes Rumpeln vernahm.

Mr. Pye hob seinen Arm, um den Karren des Bauern anzuhalten, der eben um die Wegbiegung kam. „He, anhalten! Wir würden gern mitfahren.“

Der Bauer zog an den Zügeln und brachte sein Pferd zum Stehen. Er schob sich seinen Hut aus der Stirn und starrte ihn an. „Harry Pye, stimmt’s?“

Mr. Pye verzog keine Miene. „Stimmt. Der Gutsverwalter von Woldsley Manor.“

Der Bauer spuckte aus und verfehlte Mr. Pyes Stiefel nur knapp.

„Lady Georgina Maitland müsste nach Woldsley gefahren werden.“ Noch immer war Harry Pyes Gesicht völlig ausdruckslos, doch seine Stimme hatte nun einen frostigen Ton angenommen, der nichts Gutes verhieß. „Es war ihre Kutsche, die da hinten im Graben lag.“

Der Bauer ließ seinen Blick langsam zu George wandern und schaute sie an, als habe er sie eben erst bemerkt. „Aye, Mam, will mal hoffen, Sie haben sich nichts getan.“

„Nein.“ Sie lächelte ihn gewinnend an. „Aber wir würden wirklich sehr gern mit Ihnen mitfahren, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

„Na, da helfe ich doch gern. Hinten ist noch Platz.“ Der Bauer zeigte mit seinem schmutzigen Daumen über die Schulter.

George dankte ihm und ging beherzt um den Karren herum. Doch als sie sah, wie hoch die Ladefläche war, zögerte sie unschlüssig. Sie reichte ihr fast bis zum Hals.

Mr. Pye trat neben sie. „Wenn Sie erlauben, Mylady.“ Sie hatte noch kaum genickt, da packte er sie auch schon um die Taille und hob sie hoch auf den Karren.

„Danke“, hauchte George atemlos.

Sie sah ihm zu, wie er sich mit den Händen auf die Ladefläche stützte und sich anmutig wie eine Katze hinaufschwang. Kaum war er oben, setzte sich der Wagen mit einem so gewaltigen Ruck in Bewegung, dass Mr. Pye unsanft gegen die Seitenbretter geworfen wurde.

„Haben Sie sich verletzt?“ Sie reichte ihm die Hand.

Mr. Pye würdigte ihre Hand keines Blickes und setzte sich auf. „Alles in Ordnung.“ Er sah kurz auf und fügte hinzu: „Mylady.“

Mehr sagte er nicht. George lehnte sich zurück und ließ die Landschaft an sich vorüberziehen. Ab und an tauchten graugrüne Felder aus den unheimlichen Nebelschwaden auf, und niedrige Steinmauern waren zu erkennen, bevor sie wieder in einem dichten Dunstschleier verschwanden. Nach der letzten Nacht sollte sie eigentlich froh sein, nun wenigstens nicht den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen zu müssen, sondern gefahren zu werden, wenngleich es sich auf diesem rumpelnden Karren nicht gerade komfortabel fuhr. Doch die Feindseligkeit des Bauern gegenüber Mr. Pye beunruhigte sie. Er schien einen tiefen Groll gegen ihren Verwalter zu hegen.

Als sie eine Anhöhe erklommen, ließ George ihren Blick über eine Schafherde schweifen, die nahebei weidete. Starr wie kleine Statuen standen die Tiere da – als wären sie im Nebel erfroren. Nur ihre dunklen Köpfe bewegten sich kaum merklich, während sie stetig am Ginster rupften. Einige lagen auch einfach nur auf dem Boden. George runzelte verwundert die Stirn. Sehr still lagen sie da und rührten sich nicht. Sie beugte sich vor, um mehr erkennen zu können, und da hörte sie Harry Pye neben sich leise fluchen.

Mit einem Ruck blieb der Wagen stehen.

„Was ist denn mit diesen Schafen los?“, fragte George an Mr. Pye gewandt.

Aber es war dann der Bauer, der ihr antwortete, und seine Stimme war düster: „Die sind tot.“

2. Kapitel

„George!“ Lady Violet Maitland kam durch die schweren Eichentüren von Woldsley Manor gerannt, ohne dem tadelnden Gemurmel ihrer Gesellschafterin Miss Euphemia Hope Beachtung zu schenken.

Violet konnte sich gerade noch beherrschen, nicht enerviert die Augen zu verdrehen. Euphie war eine ganz Liebe, eine kleine, rundliche Frau, schon etwas betagt, mit grauem Haar und gütigen Augen, aber fast alles, was Violet sagte oder tat, ließ sie tadelnd murmeln.

„Wo warst du denn so lange? Wir haben dich schon vor Tagen erwartet und …“ Der Kies knirschte unter ihren Schuhen, weil sie jäh stehen blieb und den Mann anstarrte, der ihrer Schwester von diesem absonderlichen Gefährt herunterhalf.

Als er sie herbeieilen hörte, sah Mr. Pye kurz auf und nickte ihr zu, seine Miene ausdruckslos wie immer. Weshalb war er denn gemeinsam mit George gereist?

Violet musterte ihn argwöhnisch.

„Hallo, Euphie“, sagte George.

„Oh, Mylady, wir sind ja so froh, dass Sie endlich eingetroffen sind“, stieß die Gesellschafterin schnaufend hervor. „Das Wetter war nun wahrlich nicht so, wie man es sich wünschen würde, und wir waren ernstlich um Ihr Wohlergehen besorgt.“

George lächelte zur Erwiderung und schlang dann die Arme um ihre Schwester. „Hallo, mein kleiner Liebling.“

Das rotblonde Haar ihrer Schwester, etwas heller als Violets feuerroter Schopf, roch nach Jasminblüten und frischem Tee, den besten und beruhigendsten Gerüchen der Welt. Violet spürte, wie ihr Tränen in den Augen brannten.

„Es tut mir leid, dass du dir meinetwegen Sorgen gemacht hast, aber so sehr habe ich mich ja nun auch wieder nicht verspätet.“ George gab ihr einen kleinen Kuss auf die Wange und trat dann einen Schritt zurück, um ihre Schwester anzuschauen.

Violet wandte sich hastig ab, um das Gespann zu begutachten – ein heruntergekommener alter Karren, der so gar nicht zu George passte. „Weshalb bist du eigentlich auf diesem Ding hergekommen?“

„Oh, das ist eine lange Geschichte.“ George streifte ihre Kapuze ab. Ihre Frisur war in ausnehmend desaströsem Zustand – selbst für Georges Verhältnisse. „Das werde ich dir beim Tee erzählen. Ich bin völlig ausgehungert. In dem Gasthof in Lincoln, wo wir die Kutsche anspannen ließen, haben wir ein paar Brötchen gegessen, und seitdem nichts mehr.“ Sie wandte sich zu dem Verwalter um und fragte ihn fast schon schüchtern: „Würden Sie uns gern Gesellschaft leisten, Mr. Pye?“

Violet hielt die Luft an. Sag jetzt bloß nein! Sag nein, sag nein, sag nein.

„Nein danke, Mylady.“ Mr. Pye verbeugte sich in gewohnt düsterer Manier. „Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen würden – die Arbeit ruft.“

Erleichtert atmete Violet tief aus.

Doch zu ihrem großen Entsetzen insistierte George. „Das kann doch gewiss eine halbe Stunde warten, meinen Sie nicht auch?“ Und sie lächelte ihn auf ihre bezaubernde Art an, die ihr ganzes Gesicht erstrahlen ließ.

Violet betrachtete ihre Schwester fassungslos. Was dachte sie sich eigentlich dabei?

„Ich fürchte nein“, erwiderte Mr. Pye.

„Nun denn, schade. Aber ja, für die Arbeit habe ich Sie schließlich auch eingestellt, nicht wahr?“ George gebärdete sich ziemlich beleidigt, aber zumindest war nun die Gefahr gebannt, dass Mr. Pye zum Tee bliebe.

„Ich bitte um Entschuldigung, Mylady.“ Er verbeugte sich abermals, sehr knapp und steif diesmal, und ging davon.

Fast tat er Violet leid – aber auch nur fast. Sie hakte sich bei ihrer Schwester unter und steuerte zurück gen Woldsley Manor. Das Herrenhaus stand schon seit Hunderten von Jahren und fügte sich so natürlich in die Landschaft, als gehöre es seit jeher an diesen Ort. Die vier Geschoss hohe Fassade aus rotem Backstein war von Efeu bewachsen, dessen dunkelgrüne Ranken um die hohen Sprossenfenster herum stets ordentlich beschnitten wurden.

„Die Köchin hat heute Morgen Zitronentörtchen gebacken“, kündigte Violet an, als sie die breite Vordertreppe hinaufgingen. „Euphie schleicht deshalb schon den ganzen Tag in der Küche herum.“

„Oh nein, das stimmt nicht, Mylady“, beschwerte die Gesellschafterin sich. „Nicht wegen der Zitronentörtchen. Für Früchtekuchen habe ich ja wirklich eine Schwäche, doch, das muss ich zugeben, so wenig distinguiert es auch ist.“

„Sie sind der Inbegriff von Distinguiertheit, Euphie. Wir mühen uns alle vergebens, Ihrem Beispiel zu folgen“, versicherte George ihr.

Euphie strahlte und spreizte ihr Gefieder wie eine graue Bantamhenne.

Violet wurde von leichten Schuldgefühlen befallen, weil sie selbst immer so ungehalten mit ihrer lieben, doch leider sehr törichten Gesellschafterin umsprang, und sie nahm sich fest vor, in Zukunft etwas netter zu der Guten zu sein.

Als sie das Haus durch die schweren Eichentüren betraten, nickte George auch Greaves, dem Butler, freundlich zu. Durch das Lünettenfenster über der Tür fiel helles Licht auf die beigebraunen Wände und den alten Parkettboden.

„Hast du denn schon etwas gefunden, um dir in Woldsley die Zeit zu vertreiben?“, fragte George ihre Schwester, als sie die Eingangshalle durchquerten. „Ich war zugegebenermaßen etwas überrascht, als du meintest, du wolltest dich nur mit Euphie aufs Land zurückziehen. Für eine Fünfzehnjährige erscheint es mir hier etwas abgeschieden, wenngleich du natürlich jederzeit willkommen bist.“

„Ich habe gezeichnet“, erwiderte Violet betont leichthin. „Die Landschaft ist hier ja ganz anders als in Leicestershire – und Maman kann auf Dauer auch recht ermüdend sein. Sie glaubt, schon wieder eine Geschwulst in ihrem rechten Bein entdeckt zu haben, und hat sich einen belgischen Quacksalber kommen lassen, der ihr ein ganz furchtbares Zeugs verschrieben hat, das nach gekochtem Kohl riecht.“ Violet warf George einen kurzen, aber sehr vielsagenden Blick zu. „Du weißt ja, wie sie ist.“

„Oh ja, das weiß ich.“ George tätschelte ihr mitfühlend den Arm.

Violet sah beiseite und war froh, um weitere Erklärungen herumgekommen zu sein. Ihre Mutter hatte seit dem Tag, da Violet geboren war, ihren baldigen Tod vorausgesagt und nach unheilvollen Anzeichen dafür Ausschau gehalten. Die meiste Zeit verbrachte die Countess daher zu Bette, wo sie sich von ihrer leidgeprüften und geduldigen Zofe aufwarten ließ. Hin und wieder wurde diese Ruhe vom Aufblühen eines neuen Symptoms durchbrochen. Wenn es mal wieder so weit war, raubte Maman mit ihrem unerträglichen Gebaren Violet schier den Verstand.

Sie betraten das rosa Morgenzimmer. George streifte ihre Handschuhe ab. „Und nun erzähl mir mal, was es mit diesem Brief auf sich …“

„Pssst!“ Violet riss den Kopf herum und deutete auf Euphie, die gerade damit beschäftigt war, das Hausmädchen anzuweisen, ihnen den Tee zu bringen.

George hob zwar die Brauen, fing sich aber rasch wieder, dem Himmel sei Dank. Sie presste die Lippen zusammen und warf ihre Handschuhe auf einen kleinen Tisch.

Laut sagte Violet: „Du wolltest uns doch erzählen, warum du unterwegs in dieses Vehikel umgestiegen bist.“

„Ach ja, das.“ George krauste die Nase. „Meine Kutsche ist gestern Abend von der Straße abgekommen. Sie ist in einen Graben gestürzt und nur noch ein Wrack, um ganz genau zu sein. Und wisst ihr, was dann passiert ist?“ Sie nahm auf einem safrangelben Sofa Platz und stützte den Kopf auf die Hand. „Die Pferde haben Reißaus genommen. Sie haben mich und Mr. Pye einfach so stehen lassen – im strömenden Regen und praktisch am Ende der Welt.“

„Herr…“, Violet fing Euphies tadelnden Blick auf und mäßigte sich, „…jemine. Und was habt ihr dann getan?“

Genau in diesem Augenblick kamen einige Dienstmädchen mit Tabletts hereinmarschiert, und George hob die Hand, um Violet zu bedeuten, dass sie fortfahren würde, wenn aufgedeckt sei. Euphie machte sich daran, den Tee einzugießen.

„Ahhh.“ Zufrieden seufzte George in ihre dampfende Tasse. „Wenn man ihn in ausreichender Menge zu sich nimmt, dürfte Tee auch noch die schlimmsten Leiden lindern.“

Violet hopste ungeduldig auf dem Sofa herum, bis ihre Schwester sich ihrer erbarmte.

„Glücklicherweise wusste Mr. Pye von einer verlassenen Kate ganz in der Nähe, wo wir Unterschlupf finden und uns aufwärmen konnten“, fuhr George beiläufig fort. „Dort haben wir den Morgen abgewartet.“

„Oh Mylady! Völlig allein – und noch dazu, wo Mr. Pye nicht mal verheiratet ist!“ Die schockierende Enthüllung, dass George eine ganze Nacht in Gesellschaft eines Mannes verbracht hatte, schien Euphie weit mehr zu beunruhigen als der Kutschenunfall. „Ich wage ja kaum daran zu denken, nein, ich darf gar nicht daran denken, welches Ungemach Ihnen das bereitet haben muss.“ Sie lehnte sich entsetzt zurück und fächelte sich Luft zu, bis die braunen Bänder ihrer Haube heftig flatterten.

Violet verdrehte die Augen. „Er ist doch nur der Verwalter, Euphie. Etwas anderes wäre es gewesen, wäre er ein Gentleman aus guter Familie, aber so … Und außerdem“, fügte sie hinzu, „ist George schon achtundzwanzig. Sie ist viel zu alt, um noch für einen Skandal zu sorgen.“

„Danke, meine Liebe“, meinte George trocken.

„Ein Skandal!“ Euphie klammerte sich an ihre Teetasse. „Ich weiß, dass Sie sich gerne mal einen Spaß erlauben, Lady Violet, aber ich denke wirklich nicht, dass man mit dem Wort Skandal so leichtfertig um sich werfen sollte.“

„Nein, nein, gewiss nicht“, murmelte George beschwichtigend, derweil Violet – allen guten Vorsätzen zum Trotz – schon wieder sehr offensichtlich die Augen verdrehte.

„Das war nun wahrlich zu viel der Aufregung für mich.“ Euphie stand mühsam auf. „Würde es Sie sehr verdrießen, Lady Violet, wenn ich ein kurzes Nickerchen machte?“

„Nein, natürlich nicht.“ Violet verkniff sich ein Grinsen. Jeden Tag nach dem Tee brachte Euphie mit der Pünktlichkeit eines Uhrwerks eine Ausrede dafür hervor, sich für ein kurzes Schläfchen hinzulegen. Auch heute hatte Violet nur darauf gewartet, dass es endlich so weit wäre.

Sowie die Tür sich hinter Euphie schloss, sah George Violet fragend an. „Und? Dein Brief war über alle Maßen theatralisch, meine Liebe. Wenn ich mich recht erinnere, hast du gleich zweimal das Wort diabolisch verwendet. In Anbetracht dessen, dass du mich hierher nach Yorkshire beordert hast, erscheint mir das doch etwas übertrieben, denn nicht einmal der Teufel würde sich hierher verirren. Ich will wirklich hoffen, dass du einen guten Grund dafür hattest. Deinetwegen musste ich fünf Einladungen ausschlagen, unter anderem die Herbstmaskerade der Oswalts, die ausgerechnet dieses Jahr sehr skandalträchtig zu werden versprach.“

„Es gibt einen guten Grund.“ Violet beugte sich vor und flüsterte eindringlich: „Irgendjemand vergiftet die Schafe auf Lord Granvilles Ländereien!“

„Ach.“ George hob die Brauen und biss in ein Törtchen.

Violet schnaubte hörbar ungehalten. „Ja, und der Schafsmörder soll jemand von deinen Ländereien sein – vielleicht gar jemand von Woldsley Manor!“

„Unterwegs haben wir auch ein paar tote Schafe gesehen.“

„Beunruhigt dich das denn gar nicht?“ Violet sprang auf und ging vor ihrer Schwester auf und ab. „Die Dienstboten reden von nichts anderem mehr. Unter den Bauern kursiert das Gerücht von einer Hexe, und Lord Granville hat bereits damit gedroht, dich zur Verantwortung zu ziehen, sollte sich herausstellen, dass der Täter einer deiner Leute ist.“

„Mmmh. Was du nicht sagst.“ George steckte sich den letzten Bissen Zitronentörtchen in den Mund. „Woher will er denn wissen, ob die Schafe vorsätzlich vergiftet worden sind? Könnten sie nicht einfach irgendwas gefressen haben, das ihnen nicht bekommen ist? Oder einfach einer Seuche erlegen sein?“

„Die Schafe sind ganz plötzlich gestorben, und so viele auf einmal …“

„Sage ich doch – Seuche.“

„Und neben den Kadavern hat man Giftpflanzen gefunden!“

George setzte sich auf, um sich Tee nachzuschenken. Ihre Miene war ein wenig belustigt. „Aber wenn niemand weiß, wer der Giftmörder ist … das weiß doch bislang noch niemand, oder?“

Violet schüttelte den Kopf.

„Woher wollen sie dann wissen, dass es jemand von Woldsley Manor ist?“

„Wegen der Fußspuren!“ Violet blieb vor ihrer Schwester stehen und stemmte die Hände in die Hüften.

Fragend hob George eine Augenbraue.

Ungeduldig beugte Violet sich vor. „Bevor ich dir geschrieben habe, hatte man bereits zehn tote Schafe bei einem von Granvilles Pächtern auf dem Feld gefunden, gleich hinter dem Fluss, der deine Ländereien begrenzt. Von den Kadavern führten Fußspuren die Böschung hinab – und dann wieder hinauf, weiter auf deinen Besitz!“

„Hmm.“ George nahm sich noch ein Törtchen. „Das beweist gar nichts. Was sollte denn jemanden von Lord Granvilles Leuten davon abhalten, erst durch das Wasser zu laufen und dann wieder zurück, damit es so aussieht, als wäre er von Woldsley gekommen?“

„George.“ Violet setzte sich neben ihre Schwester. „Niemand von Granvilles Leuten hat einen Grund, diese Schafe zu vergiften. Aber auf Woldsley hat jemand sehr wohl einen Grund.“

„Ach ja, und wer?“, fragte George und führte das zweite Törtchen zum Mund.

„Harry Pye.“

George hatte eben abbeißen wollen und verharrte reglos. Violet lächelte triumphierend. Endlich hatte sie die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Schwester.

Sehr bedächtig legte George das Törtchen zurück auf ihren Teller. „Und aus welchem Grund sollte mein Verwalter Lord Granvilles Schafe töten?“

„Aus Rache.“ Violet nickte heftig, als sie Georges ungläubigen Blick bemerkte. „Mr. Pye hegt wegen etwas Unaussprechlichem, das vor langer Zeit geschehen ist, einen tiefen Groll gegen Lord Granville.“

„Und das wäre?“

Violet sackte in sich zusammen. „Das weiß ich ja gerade nicht“, gestand sie ein. „Niemand will es mir sagen.“

George begann lauthals zu lachen.

Beleidigt verschränkte Violet die Arme vor der Brust. „Aber es muss doch etwas ganz Furchtbares gewesen sein, oder etwa nicht?“, übertönte sie Georges lautes Prusten. „Immerhin ist er ja deshalb nach so langer Zeit hierher zurückgekehrt, um sich ganz diabolisch an Lord Granville zu rächen!“

„Oh, mein kleines Schwesterchen“, japste George. „Da haben dir die Dienstboten, oder wer immer dir diesen Unsinn erzählt hat, aber einen schönen Bären aufgebunden! Oder kannst du dir vielleicht vorstellen, wie Mr. Pye bei Nacht und Nebel über die Felder schleicht und Granvilles Schafe mit Giftpflanzen füttert?“ Abermals brach sie in schallendes Gelächter aus.

Violet ließ ihren Verdruss an dem Zitronentörtchen aus und stupste es vom Teller. Das ärgerlichste Problem mit großen Geschwistern war, dass sie einen nie ernst nahmen.

„Es tut mir wirklich leid, dass ich nicht bei Ihnen war, Mylady, als der Unfall passierte“, schnaufte Tiggle am nächsten Morgen hinter Georges Rücken hervor. Die Zofe war damit beschäftigt, die endlose Reihe von Haken und Ösen an dem saphirblauen Kleid zu schließen, das George sich zu tragen entschlossen hatte.

„Ich wüsste nicht, was Sie hätten tun können, außer mit uns im Graben zu landen“, meinte George über die Schulter gewandt zu Tiggle. „Zudem bin ich mir sicher, dass Sie den Besuch bei Ihren Eltern sehr genossen haben.“

„Das habe ich, Mylady.“

George lächelte. Tiggle hatte sich einen freien Tag bei ihrer Familie redlich verdient. Und da ihr Vater der Wirt jenes Gasthofes in Lincoln war, wo sie auf ihrer Reise nach Woldsley Rast gemacht hatten, bot sich die Gelegenheit doch geradezu an, allein weiterzureisen und Tiggle am Tag darauf nachkommen zu lassen. Wegen des Unfalls war sie letztlich kaum später als ihre Herrin in Yorkshire eingetroffen, was sehr gut war, denn ohne ihre Zofe hätte George nur wieder ein heilloses Durcheinander aus ihren Haaren gemacht. Wenn es darum ging, ihre widerspenstigen Locken zu bändigen, bewies Tiggle sich als wahre Künstlerin.

„Ja, nur … mir gefällt der Gedanke gar nicht, dass Sie meinetwegen mit diesem Mr. Pye allein sein mussten, Mylady“, ließ Tiggle sich nun hörbar angestrengt vernehmen.

„Aber warum denn? Er hat sich wie ein vollendeter Gentleman benommen.“

„Na, das will ich auch hoffen!“, entrüstete sich Tiggle. „Trotzdem. So ganz geheuer ist er mir nicht.“ Sie legte ein letztes Mal Hand an und trat dann zurück. „So, fertig.“

„Danke.“ George strich sich über das Mieder ihres Kleides.

Tiggle hatte schon in ihren Diensten gestanden, bevor George ihr Debüt gehabt hatte, und das war ja nun auch schon einige Jahre her. Sie musste gewiss schon Abertausende ihrer Kleider auf- und zugeschnürt und ungezählte Male mit George über deren eigenwillig sich kräuselndes, unfrisierbares orangerotes Haar lamentiert haben. Tiggle hingegen hatte seidig glattes, goldblondes Haar, wie es die Prinzessinnen im Märchen haben. Ihre Augen waren blau und ihre Lippen leuchtend rot wie Rubine. Sie war wirklich wunderschön. Wäre das Leben ein Märchen, würde George die Gänsemagd und Tiggle die Prinzessin sein.

Aber da sie keine Gänsemagd war, trat sie an den Toilettentisch und kramte in ihrer Schmuckschatulle nach den Perlenohrringen. „Weshalb ist Mr. Pye Ihnen denn nicht geheuer?“

„Haben Sie ihn schon jemals lächeln sehen?“ Im Spiegel sah George, wie Tiggle ihre Nachtwäsche zusammensuchte. „Und wie er einen anschaut! Ich komme mir dann immer vor, als wäre ich eine Kuh, deren Wert er zu schätzen versucht und sich überlegt, ob ich wohl noch eine Saison gut kalben werde oder ob er mich nicht besser schon ins Schlachthaus verfrachten soll.“ Sie hielt das Kleid hoch, das George bei dem Unfall getragen hatte und musterte es prüfend. „Trotzdem scheinen die Mädels hier in der Gegend ihn ziemlich anziehend zu finden.“

„Ach ja?“ George wollte betont beiläufig klingen, doch was herauskam, war eher ein Quieken. Sie streckte ihrem Spiegelbild die Zunge raus.

Aber Tiggle sah gar nicht auf, sondern runzelte nur die Stirn, da sie eben ein Loch knapp über dem Rocksaum entdeckt hatte. „Aye, Mylady. Die Küchenmädchen reden andauernd von seinen schönen Augen und seinem knackigen Hintern.“

„Tiggle!“ George ließ einen der Ohrringe fallen. Er kullerte über die spiegelblanke Oberfläche des Toilettentischs und blieb inmitten einiger Bänder liegen.

„Oh!“ Tiggle hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund. „Tut mir leid, Mylady. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist, das zu sagen.“

George hingegen begann hemmungslos zu lachen. „Darüber wird also in der Küche geredet? Über die Hinterteile von Gentlemen?“

Tiggle errötete, doch ihre Augen funkelten vergnügt. „Schon, ja. Und nicht zu selten, wie ich fürchte.“

„Vielleicht sollte ich doch öfter mal in der Küche vorbeischauen.“ George lehnte sich vor und sah sehr konzentriert in den Spiegel, als sie sich die Ohrringe ansteckte. „Einige Leute, darunter auch Lady Violet, sagen ja, ihnen seien Gerüchte über Mr. Pye zu Ohren gekommen.“ Sie trat zurück und wandte den Kopf, um die Ohrringe zu begutachten. „Haben Sie davon gehört?“

„Gerüchte, Mylady?“ Bedächtig legte Tiggle das Kleid zusammen. „Seit meiner Ankunft war ich noch nicht in der Küche. Aber während ich bei meinem Vater war, hab ich was gehört … Da war ein Bauer auf der Durchreise, der einer von Granvilles Pächtern ist. Der meinte, der Verwalter von Woldsley bringe nur Ärger, er würde den Tieren was zuleide tun und in Granvilles Stallungen sein Unwesen treiben.“ Tiggle sah auf und begegnete Georges Blick im Spiegel. „Meinten Sie das, Mylady?“

George holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. „Ja, genau das meinte ich.“

Am Nachmittag desselben Tages ritt Harry tief in den Sattel gekauert durch den steten Nieselregen. Von dem Moment an, da sie Woldsley erreicht hatten, hatte er damit gerechnet, ins Herrenhaus beordert zu werden. Doch überraschenderweise hatte Lady Georgina sich einen ganzen Tag und eine ganze Nacht Zeit gelassen, bis sie nach ihm schicken ließ. Harry trieb seine Stute im Trab die lange, sich windende Auffahrt nach Woldsley Manor hinauf. Vielleicht lag es ja daran, dass sie eine Dame war.

Als er erfahren hatte, dass Gut und Ländereien, die er verwalten sollte, einer Frau gehörten, war er zunächst recht erstaunt gewesen, denn es war keineswegs üblich, dass eine Frau über eigenen Grundbesitz verfügte. Und wenn sie trotzdem ein Gut ihr Eigen nannte, so stand ihr in aller Regel ein Mann zur Seite – Sohn, Gatte oder Bruder –, der bei allen Entscheidungen das Sagen hatte. Aber obwohl Lady Georgina durchaus drei Brüder hatte, so war doch sie es, die alles in der Hand hatte. Mehr noch: Sie war keineswegs durch eine Heirat in den Besitz der Ländereien gelangt – denn Lady Georgina hatte nie geheiratet –, sondern durch eine Erbschaft. Eine Tante hatte ihr Woldsley vermacht und darüber hinaus in ihrem Testament verfügt, dass Lady Georgina die alleinige Verfügungsgewalt über den Besitz und alle Erträge haben solle.

Harry schnaubte. Von Männern schien die alte Tante nicht viel gehalten zu haben. Kies knirschte unter den Hufen der Stute, als er in den großen Hof von Woldsley Manor einritt. Er hielt auf die Stallungen zu, schwang sich aus dem Sattel und warf die Zügel einem jungen Pferdeknecht zu.

Der indes rührte sich nicht, und die Zügel fielen zu Boden.

Die Stute scheute zurück und schleifte die Zügel mit sich. Harry sah langsam auf und begegnete dem Blick des Jungen, der reglos dastand und ihn mit wacker erhobenem Kinn und gestrafften Schultern anstarrte. Wie der Heilige Sebastian sah er aus, der sich mutig auf den Ansturm der Pfeile gefasst macht. Eilte ihm denn mittlerweile so ein übler Ruf voraus?

„Heb sie auf“, wies Harry ihn leise an.

Der Junge zögerte. Die Pfeile schienen schärfer als erwartet.

„Sofort“, flüsterte Harry. Dann drehte er sich auf dem Absatz um, ohne sich weiter darum zu kümmern, ob der Junge seiner Anweisung nachkam, und hielt raschen Schrittes auf das Haus zu. Zwei Stufen auf einmal nehmend eilte er die weite Vordertreppe hinauf.

„Lassen Sie Lady Georgina Maitland wissen, dass ich hier bin“, sagte er zu Greaves. Er drückte einem der Lakaien seinen Dreispitz in die Hand und betrat ungebeten die Bibliothek.

Hohe, mit moosgrünem Samt drapierte Fenster nahmen die äußere Wand ein. Wäre es ein sonniger Tag gewesen, würde die Bibliothek in helles Licht getaucht sein. Aber es war kein sonniger Tag. In diesem Teil Yorkshires hatte die Sonne sich schon seit Wochen nicht mehr blicken lassen.

Harry durchquerte die Bibliothek und schaute aus dem Fenster. Vor ihm erstreckten sich das weite Hügelland, Felder und Weiden, so weit das Auge blicken konnte, ein Flickenteppich aus Grau, Grün und Braun. Die alten Bruchsteinmauern, die die Felder begrenzten, hatten schon viele Jahrhunderte vor seiner Geburt dort gestanden und würden auch dann noch dort stehen, wenn seine Knochen längst zu Staub verfallen waren. Für ihn war es die schönste Landschaft, die er sich denken konnte, deren Anblick ihm das Herz aufgehen ließ, wann immer er sie sah, aber irgendwas stimmte nicht. Um diese Jahreszeit müssten Schnitter und Heuwagen auf den Feldern sein, doch Korn und Gras waren zu feucht, um eingebracht zu werden. Wenn der Regen nicht bald nachließe … Harry schüttelte den Kopf. Entweder würde der Weizen auf den Feldern verrotten, oder er müsste eben trotz des Regens geerntet werden, was nur hieße, dass er später in den Scheunen verrotten würde.

Er stützte die geballte Faust an den Fensterrahmen. Kümmerte es sie überhaupt, was seine Entlassung für die Ländereien und die Bauern bedeuten würde?

Hinter ihm ging die Tür auf. „Mr. Pye, mir scheint, dass Sie einer jener berüchtigten Frühaufsteher sind.“

Er ließ die Hand sinken und wandte sich um.

Lady Georgina kam in einem tiefblauen Kleid auf ihn zu, das ihre Augen noch leuchtender erstrahlen ließ. „Als ich heute Morgen um neun nach Ihnen schicken ließ, hat Greaves mich angesehen, als hätte ich den Verstand verloren und mich wissen lassen, dass Sie um diese Zeit längst außer Haus und bei der Arbeit wären.“

Harry verbeugte sich. „Sollte ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet haben, so tut es mir leid, Mylady.“

„Das sollte es auch.“ Lady Georgina ließ sich auf ein grün und schwarz gemustertes Sofa sinken und breitete ihre blauen Röcke um sich her. „Greaves schafft es immer wieder, dass man sich wie ein dummes kleines Kind vorkommt.“ Sie schüttelte sich. „Ich wage mir kaum vorzustellen, wie entsetzlich es sein muss, als Lakai unter seiner Fuchtel zu stehen. Wollen Sie sich nicht setzen?“

„Wie Sie wünschen, Mylady.“ Er entschied sich für einen der Sessel. Was sollte das alles nur?

„Ich wünsche es.“ Hinter ihr tat sich abermals die Tür auf, und zwei Hausmädchen kamen mit Tabletts herein. „Und nicht nur das, fürchte ich, ich bestehe sogar darauf, dass Sie mit mir Tee trinken.“

Die Mädchen richteten Teekanne, Tassen, Teller und was es nicht noch alles für die Teestunde des Adels bedurfte auf einem niedrigen Tisch zwischen ihnen an und verschwanden wieder.

Lady Georgina hob die silberne Teekanne und goss ein. „Nun sollten Sie nur noch versuchen, mir einen Gefallen zu tun und nicht so finster dreinzuschauen.“ Als er sich abermals entschuldigen wollte, winkte sie ab. „Milch und Zucker?“

Er nickte.

„Gut. Und sicher reichlich von beidem, denn ich bin mir sicher, dass Sie insgeheim eine Schwäche für Süßes haben. Deshalb bekommen Sie auch gleich zwei Stücke Shortbread. Nun heißt es tapfer sein und es durchstehen.“ Sie reichte ihm einen Teller.

Er sah auf und begegnete ihrem Blick, der seltsam herausfordernd war. Kurz zögerte er, dann nahm er den Teller entgegen. Für den Bruchteil einer Sekunde streiften seine Finger die ihren, die so weich und warm waren, dann lehnte er sich rasch zurück. Das Shortbread war butterzart und zerging auf der Zunge. Das erste Stück war in zwei Happen gegessen.

„Geschafft.“ Mit einem tiefen Seufzer lehnte auch sie sich mit ihrem Teller zurück. „Jetzt weiß ich, wie Hannibal sich gefühlt haben muss, nachdem er die Alpen überquert hatte.“

Seine Mundwinkel zuckten belustigt, als er sie über den Rand seiner Teetasse hinweg beobachtete. Die Alpen wären gewiss zurückgewichen und hätten um Gnade gefleht, wenn Lady Georgina mit einer Heerschar Elefanten auf sie zumarschiert wäre. Ihr rotblondes Haar umfing ihr Gesicht wie ein Heiligenschein. Wie ein Engel würde sie ausgesehen haben, hätten ihre blauen Augen nicht so schelmisch gefunkelt. Als sie in ihr Shortbread biss, brach es entzwei. Mit dem Finger pickte sie einen Krümel von ihrem Teller auf und steckte ihn sich auf wenig damenhafte Weise in den Mund.

Nein, wies Harry sich streng zurecht. Keine Gelüste. Nicht für diese Frau.

Bedächtig stellte er seine Teetasse ab. „Weshalb wünschten Sie mich zu sprechen, Mylady?“

„Nun ja, wie soll ich es sagen?“ Auch sie stellte ihre Tasse ab. „Es ist wohl so, dass man sich einiges an Gerüchten über Sie erzählt.“ Sie hob die Hand und begann an den Fingern abzuzählen. „Da wären einer der Lakaien, der Stiefeljunge, vier … nein, fünf … der Hausmädchen, meine Schwester, Tiggle – und sogar Greaves. Unglaublich, aber wahr. Ich war wirklich überrascht, denn ich hätte nicht gedacht, dass Greaves sich jemals dazu herablassen würde.“ Abwartend sah sie ihn an.

Ohne mit der Wimper zu zucken, hielt Harry ihrem Blick stand.

„Und das alles in den wenigen Stunden seit unserer Ankunft gestern Nachmittag.“ Sie ließ die Hand sinken.

Harry erwiderte nichts. Er begann zu hoffen, doch gewiss vergebens. Warum sollte sie anders sein als die anderen?

„Sie alle scheinen ernstlich zu glauben, dass Sie die Schafe des Nachbarn mit irgendwelchen Kräutern vergiftet haben.“ Sie runzelte die Stirn. „Wenngleich ich mir wahrlich nicht erklären kann, weshalb wegen ein paar Schafen – zugegeben, ein paar ermordeten Schafen – solches Aufheben gemacht wird.“

Fassungslos sah Harry sie an. Wahrscheinlich meinte sie das nicht ernst, oder? Doch andererseits … Schließlich kam sie aus der Stadt. „Schafe sind für die hiesige Bevölkerung sehr wichtig, Mylady.“

„Ja, ich weiß schon, dass die Bauern hier in der Gegend sich gern welche halten.“ Sie inspizierte die Kuchenplatte und ließ ihre Hand unschlüssig darüber kreisen. „Natürlich kann ich verstehen, dass einem diese Tiere durchaus ans Herz wachsen können, aber …“

„Es sind keine Haustiere, die zum Spaß gehalten werden.“

Sein scharfer Ton ließ sie aufblicken und überrascht die Brauen heben.

Er war unverschämt, das wusste er wohl, aber Teufel noch mal – war sie wirklich so ahnungslos, wie sie sich gab? „Sie sind die Lebensgrundlage der Bauern und ihrer Familien. Schafe geben Fleisch und Wolle, sie liefern den Bauern das Auskommen, von dem sie die Pacht an den Grundherrn zahlen. Ohne Schafe kann hier niemand überleben.“

Ganz still saß sie da, ihre blauen Augen sehr ernst. Irgendetwas spürte er, kaum merklich nur und schwer zu greifen, das ihn mit dieser Frau verband, die gesellschaftlich so weit über ihm stand. „Der Verlust eines Tieres bedeutet für den Bauern, dass seine Frau sich kein neues Kleid leisten kann. Vielleicht wird es auch keinen Zucker mehr in der Vorratskammer geben. Ein paar tote Schafe könnten seine Kinder die Schuhe für den Winter kosten. Irgendwann wird er die Pacht nicht mehr zahlen können“, erklärte er mit unbewegter Miene, „und wird den Rest der Herde schlachten müssen, damit seine Familie überhaupt etwas zu essen hat.“

Mit großen Augen sah sie ihn an.

„Von da ist es nicht mehr weit bis zu seinem völligen Ruin.“ Harry schloss die Hände fest um die Sessellehnen, versuchte, sein Anliegen deutlich zu machen, damit sie verstand, worum es ging. „Das Armenhaus, verstehen Sie.“

„Ah ja. Die Lage ist somit ernster, als ich zunächst dachte.“ Sie seufzte und lehnte sich zurück. „Es scheint so, als müsste ich etwas unternehmen.“ Mit, wie ihm schien, bedauerndem Blick sah sie ihn an.

So, jetzt war es so weit. Endlich. Er machte sich auf das Schlimmste gefasst.

Da hörte er, wie draußen die Tür zugeschlagen würde.

Lady Georgina neigte verwundert den Kopf. „Was …?“

In der Eingangshalle polterte und rumste es, und Harry sprang rasch auf. Streitende Stimmen und Unruhe waren zu vernehmen und kamen stetig näher. Harry stellte sich schützend zwischen Lady Georgina und die Tür. Mit der linken Hand tastete er nach seinem Stiefelschaft.

„Und ob ich sie jetzt sprechen werde, Sie Tölpel! Aus dem Weg!“ Die Tür zur Bibliothek wurde aufgerissen, und ein rotgesichtiger Mann stürmte herein.

Greaves folgte ihm dicht auf den Fersen, schnaufend und die Perücke verrutscht. „Mylady, bitte verzeihen Sie vielmals …“

„Schon gut“, meinte Lady Georgina. „Sie können uns jetzt allein lassen.“

Der Butler sah wenig begeistert aus, doch als er Harrys gestrengen Blick auffing, sagte er nur „Mylady“, verbeugte sich und schloss die Tür.

Der ungebetene Gast fuhr herum und wandte sich an Lady Georgina, ohne Harry Beachtung zu schenken. „So kann das nicht weitergehen, Madam! Mir reicht’s. Wenn Sie diesen Bastard, den Sie da in Ihren Diensten haben, nicht in den Griff bekommen, werde ich mich der Sache selbst annehmen, und das mit dem größten Vergnügen, das sage ich Ihnen!“

Das massige Gesicht unter der weiß gepuderten Perücke besorgniserregend gerötet und die Fäuste drohend geballt, kam er auf sie zu. Er sah fast ebenso aus wie an jenem verhängnisvollen Morgen, der mittlerweile achtzehn Jahre zurücklag. Auch im Alter waren seine braunen Augen unter den schweren Lidern auffallend schön. Arme und Schultern waren die eines starken, kräftigen Mannes, bullig wie ein Stier. Die Jahre hatten sie einander im Wuchs zwar nähergebracht, doch noch immer war Harry einen halben Kopf kleiner. Und dieses selbstgefällige Grinsen, das ihm wohl nie von den vollen Lippen wich – das war unverkennbar. Die Erinnerung an dieses Grinsen würde Harry noch bis ins Grab verfolgen.

Der Mann stand nun praktisch vor ihm, schien ihn aber gar nicht zu sehen, hatte er seinen Blick doch unverwandt auf Lady Georgina gerichtet. Harry streckte den rechten Arm aus, um ihm Einhalt zu gebieten. Der Eindringling wollte ihn brüsk beiseitedrängen, Harry hingegen blieb unerbittlich.

„Was zum Teufel …“ Der Mann verstummte und schaute ungläubig auf Harrys Arm. Auf dessen rechte Hand.

Die Hand, an der ein Finger fehlte.

Langsam sah er wieder auf und begegnete Harrys Blick. Jäh flackerte die Erkenntnis in seinen Augen auf.

Harry bleckte die Zähne in einem freudlosen Lächeln, denn nie war ihm weniger freudig zumute gewesen als jetzt. „Silas Granville.“ Auf den Titel verzichtete er ganz bewusst.

Silas erstarrte. „Verflucht sollst du sein, Harry Pye.“